"Der Angeklagte möge sich erheben", befahl der vorsitzende Richter, ein dünner kleiner Mann mit erstaunlich kräftiger Stimme, flankiert von den Schöffen, die er nur deshalb so gerade eben überragte, weil sein Pult um zwei Stufen erhöht war,
"und dem Gerichtsschreiber die Richtigkeit seiner aufgenommenen Personalien bestätigen, sowie den Hergang seiner Verhaftung."Will erhob sich. Ebenso der Gerichtsschreiber, der an einem Tisch unterhalb der drei Richterpulte saß. Während die Richter alle einen roten Talar trugen und schwarzgelockte Perücken, der vorsitzende aber eine weißgepuderte, bezeugte lediglich eine rote Armbinde auf der schlichten schwarzen Kleidung die Zugehörigkeit des Gerichtsdieners.
"Ihr seid William Marlowe, 28, auch genannt 'Kid' Marlowe, wohnhaft in der Gauklergasse 3, Familienstand ledig, gebürtig in Aradan, Eltern unbekannt, aufgewachsen im Tamburintheater, wo sich die dortigen Schausteller gemeinschaftlich Eurer Erziehung angenommen haben, sodass Ihr selbst bereits mit acht Jahren den Beruf des Schaustellers ergriffet und Euch, seit Eurem achtzehnten Lebensjahr, zudem noch als Stückeschreiber verdingt, dem wir solche Werke wie 'Das Massaker von Liurda' und 'Die Zähmung der widerspenstigen Kaufmannstochter' verdanken? Bitte bestätigt, dass diese Angaben vollständig und korrekt Eure berufliche und private Situation schildern.""Ich bestätige es", sagte Will. Wie subtil der Gerichtsdiener eine ironische Betonung auf 'verdanken' gelegt hatte. Doch Will war dies inzwischen gewohnt, dass man seine Werke auseinander nahm, um darin die Spuren seines üblen Charakters zu erkennen. Er ließ sich nach außen hin zu keinerlei Reaktion hinreißen, auch wenn sein Innerstes vor Spott bebte.
Im Ernst? Diese beiden Stücke wählst du als Beispiele aus? Teil der Anklage schon, wie mir scheint? Frühwerke, die ich als dummer Jüngling schrieb. Auftragswerke noch dazu. Die Geschichten von Marcello vorgegeben, weil so etwas 'das Volk ergötzt'—allein die Reime sind von mir! Und dennoch wollt ihr mir den Strick daraus drehen. Wollt mir nachweisen vor allen Leuten: schon mit achtzehn war dieser Mann der Auffassung, eine widerspenstige Kaufmannstochter dürfe man mit Gewalt zähmen! Schon mit zwanzig besaß er eine derart grausame Phantasie! Ja was! Als ob die Meinung meiner Charaktere stets die meine wär! Überhaupt, ich erfinde nicht, ich beobachte, ich halte einen Spiegel vor. Darum sagen meine Stücke nicht halb so viel über mich, wie sie über euch sagen! Wenn ich darin Gewalttaten beschreibe, dann weil sie von Menschen begangen werden. Die Schlüsselszenen aus dem 'Massaker' stammen eins zu eins aus den Geschichtsbüchern. Ach ja, und das Stück war der tollste Erfolg des Tamburintheaters in fünf Jahren gewesen, denn, 'du siehst, Will, das ist es, was das Volk sehen will.' Heuchler allesamt!"Und ist es richtig", fragte der Gerichtsdiener, nachdem er ein wenig umständlich in seinen Unterlagen geblättert hatte,
"dass Ihr bei Eurer Verhaftung vor einem Monat durch Hauptkommissar Bloom Widerstand geleistet habt, der auf ein schuldbeladenes Gewissen deutet?""Es war nur der Schreck", sagte Will.
"Nicht das Gewissen. Und ich bin auch nur einen Schritt zurückgewichen und habe gestammelt: 'Was? Wie bitte? Das muss ein Irrtum sein. Ich habe doch nichts verbrochen!'"Ja, und da hatten die beiden Gardisten ihn schon auf ein Nicken Hauptkommissar Blooms hin gepackt und ihm die Hände auf dem Rücken in Ketten geschlagen.
Der Gerichtsschreiber runzelte die Stirn und blätterte abermals in seinen Papieren.
"Hauptkommissar Bloom gab zu Protokoll, dass Ihr Euch massiv gewehrt habt. Das klingt nach mehr als nur: einen Schritt zurücktreten und überrascht stammeln. Was sagt Ihr dazu?"Nun gut. Er hatte die Beine erst in den Boden, dann gegen den Türrahmen gestemmt, während er den Hauptkommissar angefleht hatte, ob man denn nicht bitte das Gebäude über den Schaustellereingang verlassen könne, da käme man ja auch leichter durch. Zur Antwort zog man ihm mehrmals eins mit dem Knüppel über, legte ihm dann auch noch Fußketten an und führte ihn solchermaßen gefesselt und zugerichtet quer durch den sich erst allmählich leerenden Zuschauerraum, zum großen Eingangsportal hinaus und stieß ihn, vor aller Augen und unter wüsten Beschimpfungen, in die vergitterte Kutsche.
"Es war der Schreck", wiederholte er.
"Ich war verwirrt, übermüdet von dem langen Tag, trunken von der aufregenden Vorstellung, ich habe die Situation nicht richtig erfasst."Die Scham war es. Die Scham, dass mein Publikum mich so sehen sollte. Aber das Wort 'Scham' nehme ich hier lieber nicht in den Mund, sonst wird es mir gleich darin verdreht und auf mein angebliches Verbrechen bezogen!Der Richter verzog spöttisch das Gesicht und beugte sich zu seinem rechten Beisitzer, um ihm etwas ins Ohr zu sagen, worauf dieser nickte. Der Schöffe auf der anderen Seite wirkte gelangweilt. Hinter Will, in dem kleinen, aber bis zum letzten Stehplatz besetzten Zuschauerraum wurde ebenfalls gewispert. Einzig der Gerichtsdiener behielt seine sorgfältig einstudierte neutrale Miene, als er fortfuhr:
"Folgendes habt Ihr während des Verhörs zugegeben und zur Aussage gebracht: dass Ihr vor inzwischen bald einem halben Jahr, an das genaue Datum könntet Ihr Euch nicht erinnern, Euch über den Balkon und das Efeu an der Hauswand Zutritt zur Kammer von Viola Alberti, Tochter des Klägers Fabianus Alberti, verschafft habt und Euch in jener Nacht mehrmals an dem sechzehnjährigen, unschuldigen Mädchen vergangen habt.""Mit Verlaub!" meldete sich zum ersten Mal Will's Anwalt, Carl Orsino, zu Wort.
"Mein Klient hat niemals, auch nicht nach Einnahme eines Wahrheitstrunkes, ausgesagt, sich an dem Mädchen vergangen zu haben. Auch fand der anwesende Kleriker nicht den geringsten Hinweis auf etwas derartiges in Wills Gedanken. Eine Liebesnacht im besten Einvernehmen, das allein waren seine Worte und Gedanken.""Ich korrigiere", sagte der Gerichtsdiener gelassen.
"Ihr habt Euch in jener Nacht in das Haus Alberti ohne Wissen des Hausherrn eingeschlichen wie ein Dieb durch das Fenster und habt seine Tochter zum mehrfachen Beischlaf 'überredet'. Ist das korrekt?"Carl Orsino öffnete den Mund zu einem erneuten Protest, doch Will wusste, dass es keinen Zweck hatte. Er selbst sah auf Anhieb noch ein halbes Dutzend Arten, wie der Gerichtsdiener seine Worte verdrehen konnte, um den einfachen Umstand eines Stelldicheins wie ein Verbrechen aussehen zu lassen.
"Ja, das ist korrekt", sagte Will.
"Die Balkontür war verschlossen, also habe ich geklopft, und Viola öffnete."Der Richter bedachte Will mit einem bösen Blick:
"Der Angeklagte möge sich zu diesem Zeitpunkt darauf beschränken, auf die Fragen des Gerichtsdieners mit Ja oder mit Nein zu antworten. Er wird später die Gelegenheit erhalten, sich zu den Vorwürfen zu äußern."Hämisches Gelächter ertönte im Zuschauerraum auf Klägerseite, worauf der Richter seinen grimmigen Blick sofort in Richtung der Verursacher lenkte. Das Gelächter verstummte. Will knirschte derweil ob der Verwarnung mit den Zähnen. Ja, er würde seine Seite noch darstellen dürfen, aber erst, nachdem die Anklage so oft und in derart reißerischer Darstellung wiederholt worden war, dass sie sich bildhaft in den Köpfen aller Anwesenden festgesetzt hätte und damit fast schon als so geschehen akzeptiert wäre. Dennoch blieb er ruhig. Jetzt zu widersprechen brächte gar nichts. Auch wenn die Karten gezinkt waren und schlecht für ihn standen: er musste seine Hoffnung ganz auf seine Verteidigungsrede setzen. Solange musste er sich noch gedulden.
Der Richter befahl ihm, wieder Platz zu nehmen, und forderte die Gegenseite auf, sich zu erheben. Der Gerichtsdiener durchlief mit Vater und Tochter dieselbe Prozedur der Personalienerfassung und kündigte dann an, den 'Tathergangs aus Sicht des Opfers aufzuzeigen'. Da spitzte auch Will die Ohren. Bislang hatte er Viola immer nur flüchtig zu Gesicht bekommen, meist mit der gesamten Länge des Gerichtsflurs dazwischen. Den Wortlaut ihrer Aussage hatte ihm bis jetzt noch niemand verlesen.
Viola trug das Kleid, in dem Will sie kennengelernt hatte: weiter Rock, enges Mieder, und überall verspielte Schleifchen, die laut nach Männerhänden riefen, um sie zu entwirren. Nur der Blick auf den üppigen Busen war heute züchtig verwehrt durch ein weißes Brusttuch. Das Mieder war auch nicht ganz so eng geschnürt und darunter quoll der Bauch hervor. Dort wuchs also, bereits im sechsten Monat, sein Kind heran. Wenn es denn seines war. Und dann begann auch schon die Vorstellung.
Sie war gut. Bei den Göttern! Marcello, wenn er hier gewesen wäre, er hätte sie vom Fleck weg engagiert. Die feine Röte im Gesicht, der keusch zu Boden gerichtete Blick, das zitternde Stimmchen, ein Schluchzer hier, ein verschämtes Wischen des Augenwinkels da—niemals zu viel, niemals übertrieben!—und erst, als der Gerichtsdiener verlas, was Will ihr angeblich alles gegen den Willen angetan habe, wobei der gute Mann unnötig in die Einzelheiten ging, versteckte sie das Gesicht hinter dem Rücken des Vaters und brach in bitterliche Tränen aus.
Hm, ja, das alles hatte Will ja mit ihr angestellt, nur eben nicht gegen ihren Willen. Hatte man ihr denn keinen Wahrheitstrunk verabreicht? Und wenn doch, wie hatte ihnen dieses doch nicht unwichtige Detail entgehen können? Oder war sie raffiniert genug, auch die Magie zu täuschen?
Will hob die Hände und klatschte. Er konnte nicht anders. Die Vorstellung war einfach zu gut gewesen. Sie warf ihm um den Rücken ihres Vaters herum einen bitterbösen Blick zu, er verneigte sich vor ihr, klatschte noch lauter und rief:
"Zugabe! Zugabe!" Einige Zuschauer auf seiner Seite des Gerichtes lachten.
[4]Den Blick des Vaters dagegen konnte er nicht deuten. Wütend bis mordlustig, ja, aber die Frage war: kannte er die Wahrheit oder hatte seine Tochter auch ihm ein Theater vorgespielt? War diese Farce hier seine Idee oder ihre? Will war inzwischen geneigt, letzteres zu glauben. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Aber das, was er da gerade miterleben durfte, das ging nicht so einfach mal auf väterliches Kommando, da steckte ein echtes Talent dahinter. Und eine Kaltblütigkeit, die so gar nicht zu dem hübschen Gesicht, den zarten Gliedern, dem weich-anschmiegsamem Leib, den verzückten Seufzern passen wollte...
Das Gerede ging schier endlos weiter. Zeugen traten vor: solche, die die moralische Unantastbarkeit des Mädchens beschworen, und andere, die ihn diskreditieren sollten. Da wurde jeder kleine Händler, bei dem er ein paar Silberlinge Schulden hatte, herbeizitiert und jede "Dame", mit der er jemals im Heu verschwunden war—nur die drei echten Damen, die Will außer Viola noch beglückt hatte, waren dem Auge des Gesetzes entgangen—insgesamt jedenfalls ein gutes Dutzend wurden vorgeführt, um seine lästerliche Lüsternheit anzuprangern. (Im Ernst: die Worte "lästerliche Lüsternheit" fielen.)
Es war später Nachmittag und die Augenlider der meisten Leute im Gerichtssaal waren sichtbar schwer, als Will und sein Anwalt endlich aufgerufen wurden, ihre Verteidigung zu präsentieren.
Und Will war in seinem Element. Die Bühne gehörte ihm. Eine Aufführung wie jede andere. Nach wenigen Sätzen schon hatte er das Publikum in der Hand. Fast alle waren auf seiner Seite oder würden sich noch herüberziehen lassen, das spürte er, sogar—verhalten zunächst, verschämt, fast gegen ihren Willen—die Zuschauer auf Klägerseite. Auch einer der beiden Schöffen sah inzwischen sehr wohlwollend auf ihn herab. Carl hatte ihm gute Tipps gegeben, was er sagen solle, und was dieser selbst dazwischen anbrachte war auch bühnenreif, und überhaupt lief alles ungleich besser als bei ihrer Generalprobe.
Zum Abschluss beteuerte Will ein letztes Mal:
"Ich habe mich diesem Mädchen nicht aufgedrängt. Ich würde mich niemals einem Mädchen aufdrängen, zum einen weil ich es nicht nötig habe, zum anderen hege ich einen zu großen Respekt für die Damenwelt, um an so etwas überhaupt zu denken. Die von der Anklage hierher zitierten Damen haben doch zu Genüge bestätigt, dass meine Zärtlichkeiten genau dies sind: zärtlich. Im Übrigen würde ich meine Talente niemals freiwillig an ein undankbares Publikum vergeuden."Den letzten Satz fand er selbst etwas riskant in seiner Arroganz und er hatte vorher lange überlegt, ob er ihn anbringen sollte, doch offenbar hatte er recht daran getan, es zu wagen, denn genau damit erntete er die meisten erleichterten Blicke und zustimmenden Seufzer.
Neben Vater und Tochter gab es nur zwei Personen im Saal, die sich von Wills Rede gänzlich unbeeindruckt zeigten: der Richter und auch der Schöffe zu dessen Rechten. Die beiden blickten immer finsterer drein und tuschelten immer öfter miteinander. Als der Schöffe auf der anderen Seite dies bemerkte, sah er plötzlich sehr betreten aus und suchte immer wieder den Blickkontakt mit Will, als müsse er sich für etwas entschuldigen.
Und wenn Will gehofft hatte, dass man ihm an jenem Abend wenigstens das letzte Wort überließe, damit seine Rede über Nacht ihre Wirkung entfalten könne, so hatte er sich getäuscht: es wurde ihm genommen. Und zwar vom Anwalt der Anklage.
"Eine schöne Rede", höhnte dieser.
"Auch schön dramatisch vorgetragen, um nicht zu sagen: professionell. Wie soll meine arme Klientin da mithalten können? Sie ist nur ein einfaches Mädchen von gutbürgerlicher Erziehung. Singen, Handarbeit, ein Instrument, eine Fremdsprache, ein wenig Geschichte. Dieser Mann dagegen, ja, er hat viele hier im Saal überzeugt mit seinen Worten, hat Zweifel gesät, doch man darf nicht vergessen, was er von Beruf ist: Schauspieler, seit dem achten Lebensjahr. Aufgezogen von Schauspielern. In anderen Worten: ein professioneller Lügner. Seit zwanzig Jahren lügt er jeden Tag, zweimal am Tag, seinem Publikum das Blaue vom Himmel herunter."In diesem Ton fuhr der Anwalt noch eine ganze Weile lang fort. Schließlich, auf dem Höhepunkt seiner Rede, stellte er ein halbes Dutzend Fragen in den Raum, die er durch suggestive Wortwahl auch gleich selbst beantwortete:
"Doch wo sind seine Schaustellerkollegen vom Tamburintheater? Warum sitzen sie heute nicht hier im Publikum, kein einziger von ihnen, um ihn moralisch zu unterstützen? Aufgezogen wie einen Sohn haben sie ihn in ihrem Etablissement, sind für ihn die einzige Familie, die er je gekannt hat: und doch lassen sie ihn in dieser Notlage allein. Haben sie ihn vielleicht durchschaut? Sie, die ihn von kleinauf kennen, die Tag für Tag mit ihm zusammen sind, die seine Schauspielkunst von seiner wahren Person unterscheiden können, wissen sie bereits, was wir hier noch versuchen zu klären? Bleiben sie dem Gericht fern, weil sie erkannt haben, dass er schuldig ist?"Nein, weil sie Angst davor haben, dass man ihnen das Theater schließt, oder schlimmeres. Als Schausteller stehen wir doch alle zu jeder Zeit mit einem Fuß im Gefängnis! Da werden wir doch von der Obrigkeit von vorneherein mehr zum Gesindel denn zur rechtschaffenen, arbeitenden Bevölkerung gezählt. "Etablissement"—was sind wir, ein Hurenhaus? Aber eine Gemeinsamkeit besteht tatsächlich: ein Theater wird genauso schnell wie ein solches mal geschlossen, wenn der Obrigkeit etwas daran nicht passt, und wovon soll die Truppe dann leben? Nein, ich kann es ihnen nicht verdenken, wenn sie auf Abstand zu mir gehen. Sollte ich fallen, da nützt es niemandem, wenn ich sie mit hinunterziehe. Abgesehen davon haben sie alle zusammengelegt und mir den Anwalt verschafft, unter der Bedingung, dass es niemand erfahre.Und damit endete der erste Tag im Gericht. Noch war kein Entschluss verkündet, doch schien die Sache längst beschlossen. Jedenfalls verließ der Anwalt des Klägers den Saal mit triumphierendem Leuchten in den Augen, während Carl Orsino mit hängenden Schultern davonschlich und Will—unnötig grob, wie immer—von den Wachen davongezerrt wurde. Als berufsmäßiger Lügner disqualifiziert! Ja was, sollte für ihn allein gelten: je überzeugender seine Argumente, desto weniger dürfe man ihm glauben? Wie soll sich ein Mensch da verteidigen?
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Zehn Jahre Zwangsarbeit, hatte Albertis Anwalt gefordert.
Zehn Jahre! Das war alles, woran Will in dieser Nacht denken konnte.
Wer überlebt schon zehn Jahre Zwangsarbeit! Die meisten gehen schon noch zwei, drei Jahren ein, wie man so hört! Das können sie mir doch nicht antun... es gibt doch keinerlei Beweis, keine Zeugen... es steht doch Aussage gegen Aussage!Am Morgen des nächsten Tages wartete Will allerdings vergeblich darauf, dass man ihn holte. Der Vormittag verging schleppend, ohne Nachricht. Etwas stimmte da nicht! Das "Mittagessen" kam—er ließ es stehen. Dann endlich: schwere Schritte von mindestens zwei Wachen näherten sich seiner Zelle. Endlich holte man ihn. Alles, selbst die schlimmste Gewissheit, war besser als das Warten!
Im Gerichtssaal erwartete ihn dann aber eine freudige Überraschung: ein neuer Schöffe. Konnte er wahrhaftig ein solches Glück haben? Sollten die Götter so unverhohlen mit ihm gewesen sein? Jedenfalls war der rechte der beiden Schöffen—jener, welcher ihn schon abgeurteilt zu haben schien—am Vorabend gestorben. Im Kreise seiner Familie hatte der Mann beim Nachtmahl ein zu großes Stück Fleisch auf einmal verschlingen wollen, es war ihm im Halse stecken geblieben und er war daran, vor seiner Frau, dem Bruder, den eigenen Eltern und vier kreischenden Kindern elendig erstickt.
Für das Gericht hieß das: alles musste für den neuen Schöffen noch einmal vorgetragen werden, wenn auch in verkürzter Form. Für Will hieß es: eine zweite Chance. Eine zweite Verteidigungsrede. Aus dem Stehgreif leicht modifiziert, damit es nicht zu langweilig wurde für die, die sie schon gehört hatten—dadurch kam er auch an zwei, drei Stellen ein wenig durcheinander, was vielleicht sogar 'ehrlicher' klang als die gestrige, allzu glatte Version—jedenfalls meinte er gegen Ende hin, dass
beide Schöffen ihn immer freundlicher ansahen und auch an den richtigen Stellen zustimmend nickten. Die beiden Schöffen, das würde ja schon reichen! Es kam ja nicht oft vor, dass diese es wagten, gemeinsam gegen den Richter zu stimmen, aber gelegentlich—und möge dies eine der Gelegenheiten sein!—gelegentlich kam es eben doch vor.
Als Will an jenem Tag abgeführt wurde, raste sein Herz vor Hoffnung. Auch der nächste Tag verlief günstig für ihn. Jedenfalls wurde das Gesicht des Richters immer länger und das von Violas Vater immer röter, immer verzerrter. Ja, fast glaubte Will die Freilassung in der Tasche zu haben! Morgen, morgen sollte die Entscheidigung gefällt werden. Und mit etwas Glück stünde er übermorgen schon wieder auf den Brettern, die die Welt bedeuten!
Die halbe Nacht lief Will in seiner Zelle auf und ab und probte seine Reden: die kurze Dankesrede an Carl, die "Ich bin wieder da, meine lieben Freunde" Rede im Tamburintheater und jene, mit der er das Publikum begrüßen wollte an seinem ersten Abend zurück...
Doch man holte ihn nicht. Am Morgen nicht, am Mittag nicht, der Abend kam und ging und noch immer wartete Will ohne Nachricht, ohne Erklärung, was denn jetzt schon wieder los sei.
Am nächsten Morgen kam der Inquisitor.
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Eine neue Klage stünde im Raum, erfuhr Will, die nicht vor einem Schöffengericht verhandelt werden könne, denn es sei keine Zivilklage. Diese neue Klage, da schwerwiegender, habe nun erst einmal Vorrang; bevor sie nicht verhandelt sei, müsse das andere Verfahren pausieren. Bedingt durch die Schwere des Verbrechens—und weil es eben keine Zivilklage mehr, sondern die Stadt selbst der Kläger sei—habe man einen Experten mit der Befragung des Angeklagten beauftragt, damit erst einmal die Fakten ans Licht kämen.
Zu dem Zeitpunkt dieser Erklärung lag Will schon nackt auf der Streckbank, während Inquisitor Henslow bedächtig seine Werkzeuge auspackte und bereitlegte. Es war sehr warm in der kleinen Kammer. Zwei Feuer brannten: ein Holzfeuer im Kamin und ein Kohlefeuer in einem Becken gleich neben dem Inquisitor. Oh ja, es würde definitiv noch heißer werden für Will. Er wand sich verzweifelt. Er begriff nicht, wie ihm geschah. Er hatte doch nur getan, was jeder andere Mann an seiner Stelle auch getan hätte! Sich genommen was ihm derart wohlfeil angeboten worden war!
"Was denn nur?" murmelte er bestimmt zu tausendsten Male.
"Sagt mir doch endlich: was soll ich bloß noch alles angestellt haben, welch unausprechlicher Schandtat beschuldigt man mich jetzt?"Inquisitor Henslow nahm eine Zange, fischte damit ein glühendes Kohlestück aus dem Becken, und trat heran.
"Spionage", sagte er.
"Ihr habt für die liurische Krone spioniert."Will lachte. Es war kein frohes Lachen. Er wusste: mit ihm war's aus. Eine solch lächerliche Anklage! Niemand konnte das wirklich glauben. Es war ein abgekartetes Spiel, von Anfang an gewesen. Der Tod des Schöffen—aus Sicht der Verschwörer ein dummer Zufall, eine nicht vorhersehbare Komplikation—würde sie nicht abhalten von ihrem Plan, Will restlos zu vernichten.
Dann schrie er. Er schrie eine ganze Weile lang. Dazwischen antwortete er, so gut er konnte, auf Fragen, die keinerlei Sinn ergaben. Trank, was immer Henslow ihm vor die Lippen hielt. Sagte Ja, wenn Henslow es hören wollte; nein, wenn er Nein hören wollte. Auf diese Art kam Will relativ glimpflich durch den ersten Tag.
Wie sich alles relativiert! Wie sich die Ansprüche eines Menschen herunterschrauben! Am Abend wurde ihm ein Zettel hingelegt; er unterzeichnete nicht. Am nächsten Abend bot Henslow ihm denselben Zettel zur Unterschrift an. Er rührte sich nicht. So ging es eine Woche lang. Als er dann am siebten Abend endlich seinen Namen darunter setzte, konnte er die Feder kaum noch halten. Die Aussicht aufs Schafott jedenfalls machte ihm keine Angst mehr.
Kaum hatte Inquisitor Henslow, was er wollte, heilte er Wills Wunden. Niemand außer ihm hatte Will in der ganzen Woche zu Gesicht bekommen; niemand außer ihm und Will wussten, dass das Geständnis durch Folter erzwungen worden war. Und niemand würde es Will ansehen können.
Wie praktisch, dachte Will.
Das würd' ich auch gern können.~~~
"Warum?" fragte Carl Orsino.
"Warum nur hast du das unterschrieben?"Statt einer Antwort, lachte Will. Für einen Anwalt konnte Carl manchmal ganz schön naiv sein. Er war noch jung—in Wills Alter, aber Will fühlte sich gerade doppelt so alt—er glaubte noch an das Rechtswesen, dem er sich verpflichtet hatte, auch wenn diese letzte Wende einen Keim des Zweifels in ihm gesät haben mochte.
"Damit haben sie uns völlig in der Hand! Das langt fürs Schafott, das muss dir doch klar gewesen sein!"Will lachte abermals. Es war mehr ein Krächzen. Die Wunden waren verheilt; die Heiserkeit von einer Woche wie am Spieß schreien war geblieben.
"Sie wollen mich nicht auf dem Schafott. Nicht wegen Spionage. Also raus damit, was hat man dir gesagt? Haben sie ein Angebot gemacht?"Carl wurde blass und nickte.
"Drei Jahre. Drei Jahre Zwangsarbeit im Steinbruch—das ist noch besser als die Minen!—aber du musst gestehen. Du musst ein öffentliches Geständnis ablegen, dass du Viola mit Gewalt genommen hast. Ein öffentliches, überzeugendes, ehrlich klingendes Geständnis."Drei Jahre? Das
konnte man überleben. Aber Will war misstrauisch.
"Warum nur drei Jahre? Ursprünglich wollten sie zehn. Wer sagt mir denn, dass der Richter mir nach meinem Geständnis nicht doch so viele verpasst? Da wähl ich lieber den schnellen Tod und die Welt möge Viola kennen als das Flittchen, das sie ist.""Will, sei kein Narr!" rief Carl entsetzt.
"Das Angebot, es ist das beste, was ich dir erhandeln konnte, und es gilt, der Richter gab sein Ehrenwort.""Ehrenwort?" Will schüttelte sich vor Lachen, bis es nur noch husten konnte.
"Ehrenwort?" keuchte er.
"Ehrenwort?""Ja, Ehrenwort", sagte Carl ruhig.
"Und er wird sich daran halten, denn so kann er dann für sich diesen Prozess in Erinnerung behalten: dass er ihn ehrenhaft beendet habe."Will schlug sich auf die Brust in dem Versuch, das Husten zu unterbinden. Ja, das sah Carl vielleicht sogar richtig. Diese Bürger gaben immer schrecklich viel auf ihre "Ehrbarkeit." Er spuckte aus.
"Und wie will er das begründen? Auf Vergewaltigung mit 'Folgen' stünden mindestens acht Jahre, hast du mir gesagt.""Du musst sagen, dass du an dem Abend stark betrunken warst. Dass du die abweisenden Zeichen des armen Mädchens womöglich missverstanden habest..."Will schüttelte nur den Kopf und barg das Gesicht in den Händen.
Drei Jahre Steine klopfen, das mochte er überleben, aber selbst wenn: alles wäre dahin. Sein ganzes Leben ruiniert. Die Karriere, futsch. Seine Werke, oh, auch auf seinen Werken würden sie herumtrampeln! Auch diese würden, gemeinsam mit ihm, verurteilt, verachtet, verbannt und vergessen! Und was war mit all jenen, die er nun nicht mehr schreiben würde, oder selbst wenn doch, die niemand mehr würde spielen wollen? Sein Leben war nichts dagegen! Was war es schon wert ohne seine Kunst? Was war es wert, wenn er nie wieder auf der Bühne stehen durfte!
Andererseits würde sein Tod auf dem Schafott an all dem auch nichts ändern. Vielleicht konnte er ja, wenn alles überstanden war, ins Ausland gehen und dort neu beginnen? Überhaupt: Alles vergeht, nur die Kunst besteht!
"Also gut", sagte er.
"Viola soll ihr Geständnis haben. Gib mir einen Tag dazu, Papier und Schreibwerkzeug. Es soll eine schöne Rede werden."Und es wurde eine schöne Rede. Die mitreißendste, die er je geschrieben hatte. Er war Ramirez:
"Öffne dich, Erde, zu meinen Füßen und verschlinge mich! Birg meine Schande, meine Untat, meinen Fehltritt vor der Welt!" Er war Sultan Farakir:
"Vom Glück gesegnet möge sich schätzen, wer noch nie in Versuchung geführet ward, denn so ahnt er nicht die Zerbrechlichkeit seiner Rechtschaffenheit!" Er war Eduardo:
"Ihr Götter! Dass ein Mann den flüss'gen Feind ins eigene Maul schütten sollt', damit das Hirn ihm der entwende! Dass wir—mit Freude! Wollust! Und Vergnügen!—uns selbst auf diese Art in Tiere transformieren!" Er war Barnabas:
"Reue ist das Gift meiner Tage; Schlaflosigkeit das meiner Nächte!" Er war Claudio:
"Oh, was Männer tun! Was Männer wagen zu tun! Was sie täglich tun ohne zu ahnen, dass es Sünde ist: Vergebt mir!" Am Ende hatte er fast sogar sich selbst davon überzeugt, dass er ein reuiger Sünder sei.
Doch weder Farakir noch Barnabas noch Claudio halfen ihm drei Tage später, als man ihn, in Lumpen gehüllt, in die Gefangenenunterkünfte des Strafarbeitslagers nur eine Tagesreise nördlich der Stadt stieß, wo man ihn als
"den berühmten Schauspieler und Poeten William 'Kid' Marlowe" vorstellte und ihm schadenfroh empfahl, sich mit seinen
"neuen Freunden" bekannt zu machen. Angesichts dieser "Freunde"—grobschlächtige, muskelbepackte, hämisch grinsende Hünen, die bei seinem Anblick die Knöchel knacken ließen, durch ihre Zahnlücken spuckten und langsam den Kreis um ihn schlossen—da nutzten ihm all seine Vorsätze nichts, da schlotterten ihm einfach nur die Knie, da beseelte ein einziger Gedanke seinen Geist:
Ich schaff das nicht. Ich schaff das nicht. Bei allen Himmels- und allen Sternengöttern, ich steh das nicht durch.