Rhamedes beobachtete Katarina jetzt eingehender, verlor für den Moment Khoon, Timbar und Iana etwas aus dem Blickfeld. Was Katarina ansprach war interessant, nicht einmal wegen der dieser ungewöhnlichen, wie nicht sehr wahrscheinlich Aussicht, dass es einfach nur eines Artefaktes bedurfte, um eine wirkliche Hoffnung auf Rettung zu haben. Das Problem war viel vielschichtiger. Wenn es unterschiedliche Interessengruppen gab, und die gab es, dieser Ort war schließlich keiner voller Brüder und Schwestern, dann würden unterschiedliche Leute versuchen, diesen Gegenstand zu beherrschen. Rhamedes blickte zu Esulilde. Ihre Aussage war bestenfalls vage. Sie erzählte nichts über Rituale. Wusste sie nichts darüber oder wollte sie nichts darüber sagen? Lieber rechtfertigte sie ihre Position. Die Priesterschaft des Aguas würde also nicht ohne Weiteres ermöglichen, in die Geheimnisse ihrer Zusammenkunft Einblick zu nehmen. Den Untod beherrschen zu können oder ein Werkzeug in der Hand zu haben, sie fernzuhalten, wäre für sie genau so attraktiv wie für die restlichen Lichtpriestern, zu denen Rhamedes' Blick jetzt schweifte. Für beide wäre es notwendig, dieses Artefakt zu besitzen, weil es ihnen die Möglichkeit gäbe, ein glaubhaftes Werkzeug zu besitzen, welches den Glauben in ihre Götter stärken wird. Wenn sie in deren Namen Sicherheit gewähren, wäre das sehr wertvoll für die jeweilige Religion.
Rhamedes legte eine Hand nachdenklich an sein Kinn. Damit hatte er bereits einen Konfliktpunkt herausgearbeitet, doch neben solchen religiösen Gesichtspunkten, gab es auch ganz weltliche Sorgen dazwischen, die eben nicht alleine auf diesen Schutz vertrauten. Auch wenn Iana Esulilde zuhörte, sie würde dieses Artefakt auch versuchen zu nutzen, wenn sie ihren Sohn damit schützen könnte. Dieser Grundgedanke war nachvollziehbar, aber Iana würde ihren Sohn jederzeit über das Wohl der Anderen setzen. Und andere würden das auch tun, ohne das bösartig zu meinen. Liebe hatte eben auch ihre Nebenwirkungen.
Der alte Mann kraulte sich den Bart und rümpfte dabei die Nase. Wäre er nur einen Deut weiser, er würde viel mehr potenzielle Probleme sehen können, was ihren Zusammenhalt anging, denn war gesichert, dass das Artefakt alle schützte?
Zweifelsohne war es die Reise wert, wenn es nur einen schützte, aber hatten sie Gewissheit darüber? Rhamedes überlegte fieberhaft, ob er schonmal auf seinen Reisen etwas über dieses Artefakt gehört hatte
[1].
Was bedeutete Gewissheit? Was bedeutete Artefakt? Artefakt bedeutete dem Worte nach lediglich das handwerklich Gemachte. Das bedeutete also, jenes, welches von den Händen humanoider Völker geschaffen wurde
[2], beispielsweise im Gegensatz zum Geofakt
[3], also jenen wundersamen, leicht mit dem Artefakt zu verwechselnden Dingen, welche die Natur und die ihr innewohnende Magie natürlich geschaffen hat. Aber was stand denn dahinter? Dass es von Menschen oder anderen Humanoiden geschaffen war, und das bedeutete doch nichts anderes, als dass alles, was von Sterblichen erschaffen wurde, auch von Sterblichen wieder zerstört werden konnte. Oder meinte Katarina im Volksmund etwas anderes? Rhamedes erinnerte sich, dass viele Menschen unter Artefakten sehr mächtige, magische Gegenstände vermuteten, gewoben aus Übertreibung, also jenen Stoffe, aus denen Legenden sind. Sowas direkt unter ihnen? Konnte sowas real sein? Ja, immerhin war auch dieser negativ-energetische Nebel real. Doch auch hier galt, dass wenn es von Menschen geschaffen wurde, von diesen wieder zerlegt werden konnte. Und wenn es nicht Menschen taten, vielleicht hatte die Zeit schon dieses übernommen? War Magie denn schließlich ewig? War es etwas Verbrauchbares, und wenn ja, war es regenerativ, ohne Zutun, oder war es wie das Wachsen von Holz? Man könnte es verbrennen für Wärme, doch es dauerte eben seine Zeit, bis es wieder nachwuchs und wenn man dies wirklich wollte, musste man aus Wäldern Forste machen.
Dem alten Mann gingen viele Gedanken durch den Kopf und er konnte sich nicht so wirklich - auf rein rationaler Ebene mit seinem durchaus begrenzten Wissen über das Arkane - mit dieser Idee anfreunden. Er wollte den Mund öffnen und was sagen.
"Mhm.", entwich es ihm nur. Er hielt sich selbst zurück. Eine andere Eingebung kam ihn. Obwohl nicht gesichert war, was sie damit machen würden und wie sie es finden konnten, weil eben - wie Katarina sagte - viele Vielleichts angemessen waren, konnte er auch nichts dagegen sagen. Vielmehr gab es ihm eine andere Möglichkeit. Dieser Ort kam ihm langsam wie ein Gefängnis vor und er wollte etwas tun, sich nämlich vor allem mit den Geistern der Vergangenheit versöhnen. Und das - bei Merao - konnte er nicht, wenn er hier hinter den Mauern vor sich hinvegetierte, nicht bei seinem Alter, nicht bei dem, was bereits in ihm schlummerte. Er musste hier raus und sich aktiv mit den Geistern versöhnen. Es blieb ihm nichts anderes über, denn wenn es an diesem Ort die Überhand gewann, dann... Rhamedes setzte ein unschuldiges Lächeln auf, als er merkte, dass die anderen ihn anblickten, als hätte er eigentlich etwas sagen wollen und tat ihnen jetzt den Gefallen.
"Ich gebe Katarina vollkommen recht. Ich war nie ein besonders devoter Diener Shenahas und sicher kein Student ihrer Künste, aber ich behandelte in den Landen Lugatus einst einen Veteranen. Ein Dorf mit einem kleinen Fort war ihm zur Verteidigung überlassen gewesen, nicht mehr als eine Motte[4], über die er befehligen konnte. Sie hatten ihn besiegt und fast alle seine Männer abgeschlachtet, obwohl diese Motte hätte reichen sollen, um das Dorf zu verteidigen, immerhin hatten die Feinde weder Feuer, noch irgendeine Form von Mineuren[5] in ihren Reihen, und doch hatten sie verloren. Der Mann war ein gestandener Verteidiger und als ich in das Dorf kam, lag er verblutend im Graben der nicht mehr existenten Motte. Er war, wie gesagt, ein Veteran und sicher ein weiser Mann, doch die letzte Weisheit seines Lebens erkannte er in dem Moment, in dem ich sein Leben wegen seines Blutverlustes nicht mehr retten konnte. Er sagte: Starre Befestigungen sind Monumente menschlicher Dummheit. Wenn Bergketten und Ozeane überwunden werden können, dann kann alles von Menschenhand errichtete überwunden werden.[6]"Rhamedes nahm einen Schluck Wasser zu sich. Er hatte seine Aussage in der Länge ziehen müssen, um sich eine Argumentation zu überlegen. Er lächelte wieder unschuldig, jetzt jedoch auch dann freundlich. Er wollte ihnen Mut machen, damit sie nicht erkannten, welchen Hintergedanken er hegte.
"Ich sehe ein, dass die Befestigung uns etwas Schutz gibt und wir sie nicht unnötig leeren sollten. Aber wir können uns eben hier auch nicht ewig verkriechen und können nicht darauf setzen, dass unsere Probleme sich in Wohlgefallen auflösen und wir das alles durch schiere und reine Verteidigung aussitzen können. Ich bin - wie gesagt - kein besonders versierter Diener Shenahas, aber muss sie unsretwegen unnötige Blutstränen vergießen, weil wir keine Chancen auf den Sieg mehr wahrnehmen wollen? Ja, wir müssen die Unschuldigen, vor allem die Kinder, schützen und das geht an diesem Ort besser als auf der Straße. Ja, wir müssen uns auf den Angriff durch die dunklen Brüder vorbereiten, aber wir müssen eben auch ein paar Risiken eingehen. Lasst uns auch auf Zida vertrauen, das Spiel wagen und hoffen, dass er eben nicht fair zu uns ist, sondern dass er uns gut zuspielt." Er blickte zu Gelirion, hoffnungsvoll.
"Ich verstehe, wenn die Gefahr groß ist, wenn wir uns nur um ein Buch zu kümmern scheinen. Sicher ist das unsere große Hoffnung, doch es ist vielmehr, auf das wir hoffen können auf dieser kleinen Expedition. Wir opfern unser Leben nicht nur für eine vage Hoffnung allein! Wenn in dieser Akademie Krieger ausgebildet wurden, finden wir vielleicht auch etwas, was uns hilft, unsere Ausbildungen hier fortzutreiben. Materialien, Anleitungen, Versatzstücke, vielleicht auch etwas Ausrüstung. Wenn wir auf dem Weg noch mehr Zombies stellen oder finden, haben die Gelehrten die Möglichkeit, noch mehr über sie zu erfahren und über die Verwandlung zu erfahren, vielleicht auch über die Rituale, über die selbst die Aguaspriester in diesem Haus wenig zu wissen scheinen. Und vielleicht finden wir dort auch noch Überlebende! Wie Katarina sagt, es ist nicht weit weg und vollen wir aus lauter Furcht unser Leben noch mehr riskieren? Weil wir wie ein geblendetes Reh im Lichte stehen bleiben, ehe der Jäger es richtet? Und wollen für diese Angst noch mehr Überlebende in der nahen Umgebung, so es sie gibt, sterben lassen?"Rhamedes ließ die Fragen etwas wirken, stand auf und ging zu Katarina, um auf ihrer Karte ostentativ einen Weg zwischen Sanatorium und Akademie mit dem Finger nachzuzeichnen. Es sollte Entschlossenheit widerspiegeln, doch eigentlich interessierte Rhamedes viel mehr, ob der Friedhof, auf den seinen Eltern liegen könnten, auf der Karte verzeichnet war und ob er erreichbar schien. Nach all den Jahren hatte er Aradans Orte nicht mehr vor Augen. Sein Hirn wurde zu einem unnützen Sieb. Er hasste diesen Umstand.
"Ich bin ein alter Mann und wir haben viele Heiler in diesem Haus. Ich werde auf die Dauer möglicherweise aufgrund meines Alters eher zu einer Belastung. Ich kann dann vor Schwäche irgendwann dieses Haus nicht mehr so gut verteidigen, wie die Jugend es alsbald können wird. Aber noch habe ich die Kraft mit Katarina zu gehen und so will ich das tun. Ihr Plan erscheint mir sinnvoll und wir dürfen die Hoffnung nicht töten, ehe wir die Wahrheit erfahren haben. Ich bin bei dir, Katarina![7]"Rhamedes tätschelte sie am Arm und humpelte zurück zu seinem Platz, um sich wieder in den Stuhl plumpsen zu lassen. Kurz überlegte er noch, ob er die möglichen Verwerfungen, die selbst bei Inbesitznahme des Gegenstandes entstehen würden, doch da es seiner Argumentation kaum zuträglich war, nahm er lieber noch einen Schluck Wasser zu sich.