Das letzte Aufgebot
Es wurde Nachmittag und alle Gefährten fanden sich nach und nach auf der Stadtmauer ein. Faendrick von Westhafen schien sehr dankbar über ihr Erscheinen und begrüßte sie mit vielen freundlichen Worten. Wiederholt betonte er, wie wichtig es sei, fähige Männer hier oben zu oben, da das Stadttor ein strategisch wichtiger Punkt war in der Stadt. Würde das Stadttor durchstoßen, so wäre auch die Moral der Bewohner stark beschädigt. Bei diesem Satz ließ Faendrick den Blick über den Marktplatz schweifen und seine Stirn legte sich in tiefe Sorgesfalten. "
Die Moral ist ohnehin schon schlecht. Seht nur, wie wenig Menschen gekommen sind, ihre Stadt zu verteidigen. Und wir haben nicht genügend Zeit um sie hierher zu zwingen und jede Wache, die wir losschicken, wird uns im kritischen Moment fehlen." Faendrick presste bitter die Lippen aufeinander. Es waren vielleicht 400 Männer und Frauen auf dem Marktplatz versammelt. An vielen anderen Stellen wurde die Stadtmauer zwar ebenfalls verteidigt, doch es ließ sich erahnen, dass sich mindestens ebensoviele Menschen irgendwo versteckt hielten und warteten, bis die Belagerung vorüber war. Um ihr eigenes Leben willen nahmen sie in Kauf, dass die Schlacht verloren werden konnte und sie schließlich doch alle sterben würden.
In der Ferne hörten sie ein Geräusch wie von einem Horn. Sie drehten sich also um und versuchten, in der weiten, von Wäldern und Felsen durchzogenen Landschaft den Ursprung des Lautes auszumachen. Sie sahen eine Menge von Gestalten, die sich schnell vorwärts bewegten. Erst als sie auf einige Meilen herangekommen waren, war ihre Zahl so richtig abschätzbar. Es waren bestimmt nicht weniger als 300 Orks und eher waren es mehr. Außerdem sahen sie größere, sehnige Gestalten mit Buckel, deren lange Arme fast auf dem Boden schliefen. "
Trolle...", murmelte Faendrick.
Die Angreifer kamen bis auf 2 Meilen an die Stadttore heran, gerade so, dass sie außer Reichweite von Pfeilen und anderen Geschossen blieben. Dort blieben sie stehen, bildeten Haufen und warteten. Der Wind trug ihre kehligen Rufe heran. "
Verdammt! Worauf warten sie denn?", rief Faendrick verwirrt aus, während er sich auf eine Zinne stützte. "
Sie greifen nicht an, aber sie bauen auch keinen Wall und keine Zelte auf. Wollen sie uns verspotten oder zermürben?!"
Tatsächlich geschah lange Zeit nichts. Die Menge der Orks vergrößerte sich noch, aber nicht in dem Maß, dass es eine Verzögerung des Angriffs erklärbar machte. Es waren Nachzügler, vielleicht aus entlegenen Bergregionen und wenige an der Zahl. Vielmehr schienen die Orks auf etwas anderes zu warten.
Bär entschloss, dass er lange genug abgewartet hatte und dass er etwas unternehmen musste. Er verwandelte sich in einen Adler und flog in großer Höhe über den Orks hinweg, so dass kein Pfeil ihn zu treffen vermochte. Er flog weiter ins Landinnere und nach etwa einer halben Stunde entdeckte er etwas. Es waren drei riesenhafte Gestalten
[1], die mit großen Schritten in Richtung Niewinter stapften. Es sah schon beinahe niedlich aus, wie sie vor sich her stapften und jeweils an einem starken Seil ein Katapult hinter sich herzogen. Doch Bär wusste, dass es blutiger Ernst werden würde. Er kehrte zurück und war nach etwa einer halben Stunde wieder auf der Stadtmauer.
Die Orks hatten sich noch immer nicht bewegt und warteten. Doch mittlerweile hatten sie so etwas wie einen Schlachtgesang, ein schauerliches Grunzen und Schreien, angestimmt. Die Menschen auf dem Marktplatz wurden nervös und klammerten sich an einander. Die Sonne senkte sich und würde bald hinter den Bergkämmen verschwunden sein. Der Himmel färbte sich rot und würde bald völlig dunkel sein.
In der Nähe von Katharsion hatte sich knapp ein Dutzend von Männern versammelt, die ihn am Vormittag auf dem Marktplatz erlebt hatten. Sie fragten ihn, ob er irgendeine Art Kampfsegen oder ähnliches sie aussprechen werde. Ihre Gesichter waren ängstlich.
"
Was habt Ihr gesehen?", fragte Faendrick Bär ungeduldig. Die Menschen traten näher an Bär heran, denn jeder wollte mehr über die Lage erfahren.
Indessen hatten sich die Priester und Novizen des Ilmaters versammelt und Rat gehalten. Der Abt des Tempelklosters hatte kurz und ernst mit ihnen gesprochen. Er hatte sie ermahnt, sich nicht ihrer Verantwortung für die Menschen zu entziehen und dass dieser Krieg eine Prüfung für sie alle sei. Dann sprach er ein Gebet, in welchem er Ilmater um seinen Segen und seine Stärke anrief und Kelemvor bat, sich der Seelen der Verstprbenen gnädig anzunehmen. Anschließend trennten sie sich in kleinen Gruppen und verteilten sich über den Ring der Stadtmauer.
Alaric war Bruder Patrick zugeteilt worden. Schnell bemerkte Alaric, dass dies nicht unebdingt zur Freude des Bruders geschah. Seit dem Überfall an diesem Tag war er Alaric aus dem Weg gegangen. Er hatte ihm keine Vorwürfe gemacht, aber Alaric merkte, dass sich ihre Beziehung grundlegend verändert hatte und zwar zum Schlechten.
Als sie kurz vor dem Stadttor waren, trennte sich Bruder Patrick von Alaric. Sein Abschied blieb äußerst wage und distanziert. Er meinte, dass er noch etwas besprechen hätte mit der Wache und einigen anderen und dass er Alaric bis in einer Stunde auf der Mauer wiedertreffen würde.
So blieb Alaric mitten auf dem Marktplatz stehen, ratlos. Seine Augen fanden seine Retter vom Vormittag. Und bei ihnen stand auch Bruder Manus. Froh, ein bekanntes Gesicht zu sehen, eilte Alaric zu den Gefährten.