Auch wenn Lucia nicht wirklich auf Levins Spitze reagiert hat, denn dies auch noch mit einer Reaktion zu würdigen, wäre die Zeit und den Atem nicht wert gewesen, hat sie dieses Verhalten ihr gegenüber gedanklich notiert. Lucia kennt schon, dass manche Art von Mann dazu neigt, sie als Detektivin nicht ernst zu nehmen und über ihre Vorgehensweise Scherze zu machen – sei es, weil sie eine Frau ist oder jung oder beides. Sie interessiert sich jedoch, wie gewohnt, eher wenig für solcherlei Oberflächlichkeiten, solange diese sie nicht direkt am Ermitteln hindern, indem sie sie in etwa in ihrer Konzentration stören. Dass Liliana draußen bleiben will, ist Lucia herzlich egal, denn damit will sie sich nicht befassen – es gibt Wichtigeres, zumal sie sich zum Thema Zusammenbleiben schon geäußert hat und Menas bereits darauf reagiert.
Die junge Detektivin blendet einfach alles aus, was sie stören könnte, und widmet sich ganz der Begutachtung des Foyers. Sauber ist es hier – als hätte Taergan Flinn eine überaus eifrige Schar von putzenden Dienern… Normalerweise finden sich in bewohnten Räumen Hinweise, Benutzungsspuren, irgendetwas, das sie als aufmerksame Ermittlerin entdecken und deuten könnte. Hier jedoch herrscht Leere. Die erste Frage ist, ob Flinn wohl derart verschroben ist, dass er pingelig auf Reinlichkeit achtet, und die zweite Frage, die sich stellt, ist, wie lange das Anwesen wohl schon verlassen ist. Sehr merkwürdig ist dieser erste Raum in jedem Fall.
„Kein einziges Staubkorn“, murmelt Lucia vor sich hin, während sie sie umsieht und dabei im Eingangsraum umhergeht. „Die Türen nicht gesichert…“ Zumindest eine Sache, die für Wohnräume nicht ungewöhnlich ist, wenn man von den Eingangstüren oder Türen zu privaten Bereichen einmal absieht. Das hier jedoch etwas nicht stimmt, ist für Lucia bereits längst klar. Dass Flinn von Reinlichkeit besessen ist, kann auf den ersten Blick durchaus sein (was sich kurz darauf wieder ausschließen lässt, als Levin die Tür zum vollkommen verstaubten Speisesaal öffnet), aber die Stille, die über dem Anwesen liegt, wirkt sehr unwirklich. Die Haustür offen, keine Bediensteten zu sehen… Ob dies der Tatort eines Verbrechens ist?
„Ausgezeichnet!“, äußert Lucia, immer noch im leisen Selbstgespräch und keinesfalls mit Sarkasmus, sondern ehrlicher Begeisterung. Die Aussicht auf ein Unheil wirkt für sie nicht unbedingt so abschreckend, wie es bei anderen Menschen der Fall sein würde. Verbrechen bedeuten Beschäftigung und Arbeit für sie – und das ist, ganz egoistisch gesehen, etwas Gutes für sie. Das Rätsel, das über diesem Ort lag, macht die Sache erst recht interessant. Gewöhnliche Verbrechen langweilen sie.
„Der Hausherr hält wohl nicht viel von Besuch“, kommentiert Lucia dann, eigentlich immer noch nicht mit jemandem der anderen redend, nachdem sie ebenfalls einen kurzen Blick in den Speisesaal geworfen hat, den Zustand des Raumes, der anscheinend schon eine halbe Ewigkeit nicht benutzt worden ist. „Aber dies haben die Crandels ja bereits erwähnt.“
Warum hier putzen, wenn ohnehin kein Besuch erwartet wird oder willkommen ist? Diese Denkweise erscheint Lucia recht logisch. Manch einer hat gewiss Abneigung dagegen, sich allein zum Essen an eine Tafel zu setzen – denn zusammen mit der Dienerschaft speist man nicht, wenn man sich so ein Heim und ein eigenes Gebäude für die besagte Dienerschaft leisten kann. Der Einfachheit halber könnte Flinn die Angewohnheit haben, woanders zu essen. Allein der krasse Gegensatz zum Foyer macht die Staubbeschichtung in diesem Raum interessant.
„Möglicherweise steht das Anwesen aber auch schon seit Längerem leer und niemand hat es bemerkt…“, überlegt Lucia.
Die Erkundung der anderen Räume würde Aufschluss darüber bringen. Doch wenn auch der Rest des Gebäudes in Staub ersticken sollte und die eigentlichen Bewohner schon seit einiger Zeit nicht mehr hier gewesen sind, warum hat irgendjemand dann gerade das Foyer gesäubert – beziehungsweise von Spuren befreit? Eine höchstinteressante Frage. Lucia will noch nicht den voreiligen Schluss ziehen, dass man hier ein Verbrechen vertuschen will, denn dass ein Verbrechen geschehen ist, ist noch nicht geklärt – und nur Einfaltspinsel machen Schlussfolgerungen ohne sich sicher zu sein, alle Informationen eingeholt zu haben, die es einzuholen gibt.
Momentan wendet auch Lucia sich lieber der nächsten Tür zu, die auch Levin sich bereits auserkoren hat, und ignoriert Mendenhall, ganz in ihrer Erkundung versunken, im ersten Moment völlig. Offenbar handelt es sich bei diesem Raum um die Küche.
„Auch Ihr scheint fähig genug, um Türen zu öffnen“, wendet Lucia sich dann auch doch beiläufig an Levin, während sie auch diesen Raum analysiert.
[1] „Nachdem Ihr mit Bravour gezeigt habt, dass Ihr diese hohe Kunst gemeistert habt, könnt Ihr nun darin versuchen, weniger im Weg zu stehen.“