Fliegen! Genau das war es, was Harry sein ganzes Leben lang vermisst hatte, ohne es zu ahnen; genau diesen thrill hatte er bei seinen wechselnden Liebschaften gesucht, aber nie gefunden, weil auch der aufregendste (notwendigerweise safer) sex nicht an das heranreichte, was ihn gerade erfüllte. Nenn es Glück! Triumph! Ekstase! Freiheit!
Er flog! Zerschnitt die Luft wie ein Samuraischwert die Butter mit seinem durchsichtig-schimmernden Schuppenleib. Der Wind umstrich und umschmeichelte ihn, füllte seine Schwingen, die sich links und rechts von ihm wölbten wie Segel. Anders aber als auf der Yacht seines Vaters—der ihn genau einmal auf einen Segeltörn quer über den Lake Michigan mitgenommen hatte, um mit seinem Sohn "das Gespräch" zu führen—anders als damals wusste Harry jetzt ganz genau, was er tun musste. Ein leichtes Anspannen im rechten Flügel leitete eine sanfte Linkskurve ein, ein Drehen in den Wind gab etwas mehr Auftrieb, bei Seitenwind musste man die Abdrift einkalkulieren, jede Bö veränderte die Richtung des scheinbaren Windes, doch wenn Harry den Kopf an seinem langen Hals weit vorstreckte, spürte er das Auffrischen der Lüfte als erstes an der Nasenspitze und hatte noch genügend Zeit, die Spannung in den Flügeln anzupassen oder das Körpergewicht entsprechend zu verlagern...
Und der Blick über die Stadt! Die klare Luft! Die unendliche Weite! Ein heiserer Jubelschrei entfuhr seiner Kehle. Stundenlang hätte er soch weiterfliegen mögen!
Doch wenn dies ein Zauber war, so wusste Harry nicht, wie lange er andauern mochte. Im Geiste sah er sich schon vom Himmel plumpsen... Man bräuchte einen zweiten Zauber für diesen Fall, überlegte er sich, der einen sanft wie eine Feder zu Boden schweben ließe, und nicht wie ein Brathähnchen abstürzen! Der Wortlaut dazu kam ihm auch sofort in den Sinn. Lapsus plumae. (Zu irgendwas musste das Latein ja gut sein, dass er als Junge hatte pauken müssen...) Aber jetzt musste er sich erst einmal einen Platz zum Landen suchen.
Er wandte sich also der Bibliothek zu, von wo aus er gestartet war, nur um festzustellen, dass das Gebäude gänzlich in einen schwarzen Nebel gehüllt war, der ölig glänzte und zähflüssig wie Teer war—so entdeckte Harry zu seinem Horror, als er hineinflog.
Mitten im Flug jäh gebremst, hing Harry zappelnd in der Luft wie eine Fliege im Honigglas. (Wenn man es Luft nennen wollte—zumindest atmen konnte er noch.) Außerdem war es stockfinster, dunkler noch als die schwärzeste Nacht. Das seltsamste aber war die Temperatur: Körpertemperatur. Überhaupt fühlte der Nebel sich wie Haut auf seiner Haut an und das leichte Wabern war wie das Heben und Senken eines Brustkorbs durch lebendigen Atem.
Der Nebel lebte! Er, Harry, steckte in einer lebendige Masse fest. Trotzdem fühlte es sich an, als wäre der Nebel in ihn eingedrungen statt andersherum, als würde er durch Nase, Ohren und die fest zusammengepressten Lippen in Harrys Leib eindringen, wie bitteres Gift lag er ihm auf der Zunge, brannte in seiner Nase, in seinem Rachen, alles dort stach wie von tausend Nadeln, dann wurde es langsam taub, bis Harry kaum noch schlucken konnte, kaum noch Luft bekam. Nebenbei fiel ihm auf, dass er kein Drache mehr war, sondern wieder ganz Mensch, dass er mit Armen und Beinen in dieser Masse herumruderte wie ein Schwimmer in einem Schlammloch...
So kämpfte er sich mühsam vor, Zoll für Zoll, Richtung Bibliothek, die hier irgendwo mittendrin sein musste, ein so riesiges Gebäude würde Harry ja wohl kaum verfehlen können. Endlich hörte er Stimmen nicht allzu weit entfernt. Sie klangen verzerrt, sodass er nicht hätte sagen können, wer dort sprach, doch gaben sie ihm neuen Mut. Der Nebel schien lichter zu werden, weniger klebrig.
Dann, ganz plötzlich, war Harry hindurch und bekam auch wieder Luft. Neben ihm redete eine Frau, deren Stimme er nicht kannte. Er blinzelte.
Doch halt, das ist doch die Frau, auf die Rubin uns gerade aufmerksam gemacht hat. Die, die noch nicht gesagt hat, ob sie für oder gegen uns ist. Wie war doch gleich der Name? Kara. Genau. Aber warum knie ich denn vor ihr auf dem Boden? Und wovon redet sie schon die ganze Zeit? Irgendwas seltsames von wegen Theater spielen und Charakterisierung und von meinem Körper hat sie's auch. Warte mal, ich habe mich doch gerade nicht wirklich in einen Drachen verwandelt und einen Rundflug über die Stadt gemacht, oder? Das war doch bloß ein Traum? Ach, müssen denn alle auf einmal reden, da dreht sich einem ja der Kopf! Mit wem diskutiert unsere Fee da gerade? Richtig böse klingt sein Stimmchen. Und Henry reißt an meiner Hand und betet laut. Und was hat die Frau da eben mit Kampf gemeint? Was für'n Kampf? Moment, richtig, da war doch was. Dieser Andhaka oder Asura oder Markent i'Tayani, der hat doch... und dann hat er... und dann..."Feuer!" rief Harry entsetzt und sprang auf die Füße.
"Feuer! Schnell raus hier! Wo ist denn der freche Kerl hin, hat das jemand gesehen?"[1]