[1]Die Sommersonne schien warm auf die weiße Stadt Terendol und ihre Umgebung. Der Himmel war blau, der Wind sanft, verschiedene Vögel zogen ihre Bahnen durch die Lüfte, und in den Straßen der Hauptstadt begann allmählich das geschäftige Treiben.
Jurij
Jurij hatte Hauptmann Arsan aus dem Palastviertel ohne Probleme gefunden, und nach einer kurzen Prüfung eine Anstellung - zunächst - als Hilfswache erhalten. Nach einem Monat, so erklärte Arsan, würde er zu einer vollwertigen Gerichtswache der Hauptstadt werden.
Das war nun zwei Tage her. Seine neuen Kollegen nahmen ihn ebenso freundlich auf, wie er es auch sonst in diesem Land gewohnt war. Er ging mit einem Mann namens Reyka auf Patroullie, ein beeindruckender Hüne, der stets einen mächtigen Zweihänder an seiner Seite trug. Die kleineren Streitereien, mit denen Jurij und er in den ersten beiden Tagen zu tun hatten, endeten meist schon, wenn Reyka nur die Szene betrat; er wusste mit dem Eindruck, den er vermittelte, umzugehen.
Wenn sie unter sich waren, zeigte sich allerdings, dass Reyka alles andere als ein harter Soldat war: Er erzählte Jurij von seiner Frau Maica und seiner Tochter Lisbess, die gerade zwei Jahre alt geworden war. Das Leuchten in seinen Augen, wenn er von seinen "beiden Mädchen" sprach, zeigte deutlich, wie sehr er die beiden liebte. Am Ende des zweiten Tages verabschiedete sich Reyka sogar mit einer Einladung: Jurij solle doch in den nächsten Tagen einmal abends bei ihm vorbeischauen, dann würden sie gemeinsam mit der Familie essen.
Zurück in dem kleinen Zimmer, das er sich angemietet hatte - die Gaststätte hieß "Das Portal zum Himmel und zur Hölle", sein Zimmer war aber gänzlich irdisch -, legte er sich zunächst einmal in sein Bett. Die Betten in dieser Welt waren nicht gerade luxuriös, zumindest nicht die, die er kennengelernt hatte, aber es reichte für ihn.
So weit dies in einer fremden Welt möglich war, in die er durch unerklärliche Dimensionssprünge hineingelangt war, war er
angekommen. Mit diesen wohligen Gedanken schlief er ein...
...und wurde am nächsten Morgen durch ein seltsames, gurgelndes Geräusch geweckt. Er schlug die Augen auf, noch zu müde, um zu verstehen, was gerade geschah. Doch dann kam der Adrenalinschub. Jemand war in seinem Zimmer!
Jurij sprang auf, die Augen nun weit geöffnet - und stolperte fast wieder zurück in sein Bett. Auf dem Boden vor seinem Zimmer lag ein Mann. Er sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, die Hände um die Klinge eines Schwerts gelegt, das ihm jemand mitten durch den Bauch gerammt hatte. Blut lief ihm an der Wange entlang, und hatte sich zu einer kleinen Lache neben seinem Kopf gesammelt.
Der Fremde trug eine beeindruckende schwarze Rüstung, einzelne Metallplatten, die übereinander geschichtet waren. Er sah Jurij an, fast ruhig, als würde er sich auf seine letzten Momente vorbereiten.
Harry & Henry
Sie hatten Brückenstadt verlassen, endlich. Sie waren in den Nebel getreten, und dann... ja, was war dann geschehen? Es war anders als bei den vorherigen Sprüngen. Der Nebel schien sie gänzlich zu umschließen, bevor er sich wieder lichtete. Zuerst Henry, dann Harry, fand sich auf einer Wiese wieder, von wilden Blumen durchzogen. Mittelalterliche Bauernhäuser waren in der Ferne zu sehen, und Vieh, das weidete. In einer anderen Richtung lag eine Straße, keine hundert Schritt von den beiden entfernt. Denn, ja, es hatte geklappt: Die Brücke hatte sie nach der kurzen Trennung wieder zusammengeführt! Hier standen sie, keine zwei Meter voneinander entfernt, und eine warme, angenehme Sonne schien auf sie herab.
Die Straße, befestigt mit Pflastersteinen, führte zu einer Stadt, umgeben von einer vielleicht drei Meter hohen, weiß strahlenden Mauer. Dahinter ragten ebenso weiße Gebäude auf. Das Tor zur Stadt war höchstens eine Meile von den beiden entfernt.
Als sich die beiden weiter umsahen, einmal um sich selbst drehten, fiel ihnen ein Mann auf, der keine zwanzig Meter entfernt in der Wiese hinter ihnen stand. Er war um die 25 Jahre alt, mit kurz geschnittenen, glatten schwarzen Haaren, die zu einem strengen Seitenscheitel gekämmt waren. Als hätte er sie erwartet, hob er die Hand zum Gruß.
Er trug ein hautenges schwarzes, langärmeliges Hemd, das seinen durchtrainierten Körper zeigte, und eine ebenso schwarze, glatte Stoffhose. Darüber trägt er einen weiten schwarzen Mantel mit intensiv rotem Innenstoff. Beide Stoffe glänzten leicht seidig.
Rillfarsell
Rillfarsell sah sich um. Wie war es hier nur hereingeraten? Ängstlich sah es sich um, sah zu den anderen Wesen, die ebenso eingesperrt waren wie es selbst.
Dabei hatte alles so gut angefangen an diesem Ort. Die Welt, in der er sich befand, war schön; nicht so schön wie seine Heimat, aber immerhin. Es gab Früchte und Blumen und allerlei andere Leckereien in der Natur, und auch, wenn er mit seiner Andersartigkeit gegenüber den Einheimischen auffiel, behandelten sie ihn freundlich.
Nachts aber geschahen seltsame Dinge. Wann immer Rillfarsell schlief, schien er im Schlaf zu wandern, denn er wachte stets an einem anderen Ort auf. Bis, ja, bis er in dem steinernen Ort angekommen war, den sie "Terendol" nannten. Doch obwohl vieles hier im eng und eingesperrt vorkam, gab es viele kleine Orte voller wunderbarer Natur; "Gärten" nannten die Einheimischen sie.
An Nahrung zu kommen, war für Rillfarsell hingegen schwieriger geworden. Die Leute mochten es nicht, wenn er sich einfach etwas nahm; sie wollten dafür "Münzen" haben. Doch selbst diese Hürde überwand es schnell. Sein Gesang gefiel den Leuten, und sie waren bereit, ihm dafür Münzen zu geben. Er fand eine Anstellung als Barde in der Taverne "Zum gerösteten Hirschen". Jeden Abend sang er dort vor Publikum, das offenbar über sehr viele dieser Münzen verfügte.
Der letzte Abend aber war anders als die anderen. Jemand hatte mit Gowat, dem Besitzer der Taverne, einen Handel abgeschlossen; nur für ihn sollte Rillfarsell heute singen, und dafür die dreifache Menge an Münzen bekommen. Doch während er sang, geschah etwas seltsames. Von oben fiel ein Käfig auf die Bühne herab, hätte ihn fast am Flügel verletzt. Und er war darin eingesperrt. Der Gast lachte, aber es war kein freundliches Lachen; es machte Rillfarsell Angst.
In dem Käfig wurde er fortgebracht; seinen Fragen schenkte man keine Beachtung. Am Ende landete er in einem großen Raum in einem noch größeren Gebäude. Eine Frau namens Gräfin Avina Ferochia stellte sich ihm vor, und begrüßte ihn als ihren "neuen Liebling". Doch von ihrer Liebe bekam Rillfarsell nicht viel zu spüren. Regelmäßig lud die Frau Gäste zu sich ein, die es anstarrten und über Rillfarsell lachten. Doch war das Feenwesen nicht alleine. Mehr als zwanzig Wesen hatte die Gräfin hier eingesperrt, deren Namen Rillfarsell nach und nach mitbekam: Einen Löwen, einen Panther, einen Greifen, sogar ein Wesen, das Rillfarsell aus einer Heimat kannte: Ein Einhorn! Doch keines der anderen Wesen sprach mit ihm, nicht einmal das Einhorn. Nach einigen Tagen begriff Rillfarsell: Man hatte ihren Willen gebrochen. Sie hatten die Hoffnung, jemals wieder frei zu sein, aufgegeben.
Fünfzehn Nächte hatte Rillfarsell bereits an diesem Ort, eingesperrt in einen viel zu kleinen Käfig, verbracht. Heute Nacht, so viel hatte Rillfarsell schon mitbekommen, würde die Gräfin wieder Gäste haben. An diesem Tag landete ein wunderschöner, blauer Vogel auf Rillfarsells Käfig. Und zu Rillfarsells Überraschung konnte es seinen Gesang verstehen.
"Es ist Zeit für die Freiheit. Nicht nur deine, sondern die aller, die hier gefangen sind. Einer der Gäste wird dir heute aus einer Schale mit Wasser zu trinken geben. Trink daraus, und du wirst die Freiheit bringen."Ohne auf eine Reaktion Rillfarsells zu warten, flog der Vogel wieder von dannen.
Dann kam die Nacht, und mit ihr die Gäste der Gräfin. Wie bei einer jeden solchen "Feier" wurde Rillfarsell begafft und bestaunt, man bot ihm Beeren und Nüsse an, aber nur, wenn er den Leuten diese direkt aus der Hand nahm. Und dann kam er. Ein Mensch, so viel wusste Rillfarsell, in einem schwarzen Frack, mit langem schwarzem Haar und ebenso schwarzem Bart. Er trug eine Schale mit Wasser in der Hand, lächelte Rillfarsell zu und hielt ihm die Schale an die Gitterstäbe seines Käfigs.
"Trink, mein Kleiner", forderte er es auf.