Boldon hörte Jurij aufmerksam zu. War seine Miene zunächst schwer zu deuten, zeigte sich während Jurijs Erzählung irgendwann leichte Irritation. Mehrfach sah er zu dem Mann, der die Tür geöffnet hatte - noch immer hielt er sich im Schatten, so dass Jurij nicht mehr erkennen konnte, als dass er etwa von seiner Größe war, aber deutlich breitete Schultern hatte.
Als Jurij schließlich von der Entführung erzählte, vergrub Boldon sogar einmal kurz sein Gesicht in seinen Händen, die Stirn gerunzelt. Als er wieder aufsah, war ihm die Verwirrung - für einen kurzen Moment - deutlich anzusehen.
Schließlich, nachdem Jurij geendet hatte, sah er den jungen Mann einige Sekunden nur schweigend an. Dann streckte er den Arm aus. "Die Tasche, bitte."
Jurij gab sie ihm, und Boldon sah alle Unterlagen sorgfältig durch. Kurz spürte Jurij, wie ein Gefühl der Verärgerung in ihm aufkam, ein Gefühl, das er nicht zuordnen konnte, doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, war es auch schon wieder verschwunden.
Boldon sah zu ihm auf. "Was ist dies für ein Ränkespiel?" stieß er schließlich aus.
Er stand auf, und übergab die Tasche seinem schattenhaften Gefährten. Leise wechselte er einige Worte mit ihm, dann kehrte er zu Jurij zurück.
Als Boldon nun vor ihm stand, konnte Jurij ihn etwas genauer betrachten. Er war kaum größer als 1,50 Meter, mit einem schon mehr als leichten Ansatz eines Bauches. Er war vermutlich irgendwo in der Mitte zwischen vierzig und fünfzig Jahren, und hatte ein insgesamt sehr gepflegtes Äußeres.
Er schritt einige Male vor Jurij hin und her, bevor er sich wieder setzte. "Jurij - ich darf doch Jurij sagen -, als ihr zur Tür kamt, dachte ich, einer der Anführer meines Gegners hat herausgefunden, wo ich mich zur Zeit versteckt halte, und will mir einen Hausbesuch abstatten. Auch als ihr anfingt, zu erzählen, habe ich noch lange Zeit geglaubt, das alles hier ist ein skurilles Spielchen. Aber es gibt einen Punkt, der dagegen spricht. Und zwar, dass ich euch glaube. Ich bin sehr gut in solchen Dingen. Leute beobachten. Und ich glaube euch, dass ihr keine Ahnung habt, was hier vor sich geht."
Er schüttelte den Kopf, fast ein wenig verzweifelt. "Nur ergibt das alles leider überhaupt keinen Sinn. Der Mann, der 'aussieht wie ihr', Obayifo, ist uns gut bekannt. Er tauchte, wie wir inzwischen wissen, wenige Tage nach eurem Auftauchen in der Stadt bei den Wölfen auf. Und hat dort eine rasend schnelle Karriere gemacht, wurde in kürzester Zeit zur rechten Hand des Anführers. Das jedenfalls war sein Leben in der Nacht. Am Tag, da spielte er den unschuldigen Jungen, der eine rechtschaffene Arbeit bei der Stadtwache sucht. Das jedenfalls war bisher unser Eindruck."
Wieder stand Boldon auf, und wandte sich an seinen Begleiter. "Gab es irgendwelche Lücken in der Überwachung? Wo hätte uns Obayifo entwischen können?"
Der "Schatten" antwortete mit fester Stimme. "Nur Sekunden. Wenn Obayifo im Schankraum saß, um zu essen, hatten wir ihn im Blick." Erneut verspürte Jurij für einen winzigen Moment Verärgerung in sich aufkommen. "Wir hatten ihn im Blick, wenn er die Treppe hochging. Und wir haben ihn durchs Fenster beobachtet, wenn er in sein Zimmer ging, so lange, bis er die Fensterläden schloss."
Boldon wandte sich zu Jurij um. Er zögerte einen Moment, setzte sich dann wieder. "Für uns gab es keinen Zweifel, dass wir nur über eine Person sprechen. Das einzige, was uns bereits die ganze Zeit über irritierte, war, dass Obayifo scheinbar keinen Schlaf brauchte. Wenn sich nun tatsächlich herausstellt, dass wir es mit zwei Personen zu tun haben, wäre zumindest dieses Rätsel geklärt."