Vor dem Sturm (Anzeigen)154 Jahre. Eine lange Zeit. Vor allem in Kenabres.
Damian weiß nichts über seine Geburt oder seine Eltern. Er ist ein Waise und seine Pflegeeltern haben nie ein Wort darüber verloren, wie er zu ihnen gekommen ist, auch wenn er zeitweise keine andere Frage hatte. Sie waren einfache Fischer, hatten ein Haus an den Klippen des westlichen Sellen und lebten ein einfaches Leben.
Ein Leben das wahrscheinlich auch Damian gelebt hätte, wäre nicht schon in jüngster Kindheit aufgefallen, dass etwas mit dem Jungen nicht stimmte. Erst hielt man Damian einfach nur für tollpatschig und man amüsierte sich über das Kind, dem jeder Krug herunter fiel und der über jeden Stein stolperte, doch als alltägliche Gegenstände in seiner Nähe wie von Geisterhand bewegt wurden oder gänzlich verschwanden, wich das Lachen angstvollem Raunen. Als sich dann auch noch die magischen Fähigkeiten des Jungen offenbarten, wäre es um Damian beinahe geschehen gewesen. Er war verhext, so das Urteil der übrigen Dorfbewohner und hätte sich ein Priester des Aroden nicht seiner angenommen, hätte er vielleicht das Leben eines Ausgestoßenen in der sarkorischen Steppe führen müssen.
Später hatte Damian oft darüber nachgedacht. Kenabres war nicht immer die Kreuzfahrerstadt, als die sie heute ganz Golarion bekannt ist. Vor dem Aufbrechen der Weltenwunde und dem Eindringen der dämonischen Horden in das zum Untergang verdammte Sarkoris war Kenabres ein kleines, geschäftiges Grenzdorf. Der nördlichste Ausläufer der zivilisierten Welt, umgeben von unberührter Wildnis. Sarkoris gehörte damals den Mammutfürsten, unbarmherzigen Barbaren der Steppe. Sie hassten Magie, kannten sie von den Winterhexen aus Irrisen, aber ihre Kultur war tief mit einem spirituellen Animismus verbunden. Natürlich konnte das niemand wissen, aber es war schon paradox, dass diejenigen, die Damian in seiner Kindheit am meisten fürchtete, ihm am meisten über seine zweitgrößte Angst hätten sagen können.
Der Vorwurf der Hexerei war damals noch kein so todbringendes Omen wie er es heute war, aber es reichte, um Damian vom Rest der kleinen Gemeinschaft zu separieren. So fand er die Gesellschaft von Samuel Keel, einem älteren Menschen und Priester des Aroden, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den wilden Norden im Namen Arodens zu zivilisieren. Immerhin hatte sich Aroden hier in der sarkorischen Steppe manifestiert, um den Dämonenfürst Deskari zu bekämpfen. Es musste also Arodens Wille sein, zumindest versicherte das Keel dem jungen Damian nur allzu oft und Damian war nur allzu bereit, die schützende Hand Arodens dankend anzunehmen.
Der Priester Arodens war ein strenger, wenn auch gutmütiger Lehrer. Er stammte ursprünglich aus einer adligen Familie Absaloms und vermisste die Vorzüge der Metropole. Das er ausgerechnet Kenabres gewählt hatte, lag nicht zuletzt daran, dass er es für ein rückständiges Kaff hielt. Zu Damians Glück fiel darunter auch die Abergläubigkeit, der der Junge zum Opfer fiel. Keel nahm den Jungen bei sich auf und versuchte, ihn zu unterrichten. Keel war zu dieser Zeit der einzige in Kenabres, der lesen und schreiben konnte und sogar einige Bücher in seinem Haus stehen hatte. Damian war zu diesem Zeitpunkt weit davon entfernt, ein Magier zu werden, doch er lernte schnell und bald schickte Keel Briefe, um weitere Bücher, Folianten und Schriftrollen zu bekommen, die der junge Damian verschlang. Auch wenn Keel nicht so richtig verstand, wie es Damian gelang, unterschiedlichste Zauber zu wirken, wies er den Vorwurf der Hexerei entschieden zurück und lehrte Damian, seine Begabung gezielt einzusetzen. Wenn überhaupt, waren Damians Fähigkeiten in Keels Augen eine Gabe der Götter und kein Zeichen von Hexerei. Die kleinen Missgeschicke, die Damian trotz allem passierten, führte Keel entgegen aller offenkundigen Anzeichen auf schlichte Tollpatschigkeit zurück und duldete keine Widerrede.
Es waren friedliche Jahre. Zwar beäugten ihn die anderen Dorfbewohner immer noch misstrauisch, aber es gab immer jemanden, der sich verletzt hatte, Hilfe brauchte und dann auch einen Heiler akzeptierte, der als Hexer verschrien war. Außerdem hatte Damian eine Begabung, Menschen auf ihrer letzten Reise zu begleiten. Er hatte keine Angst vor dem Tod und half, wie er nur konnte. Damian wurde so erwachsen und es war Keel, der ihn ermutigte, Kenabres zu verlassen. Es gab mehr in der Welt und Damian hatte es verdient, mehr zu erleben als Misstrauen. Es brauchte nicht viel, um ihn zu überzeugen und so verließ Damian kurz nach seinem zwanzigsten Lebensjahr Kenabres Richtung Süden.
Es war in Ustalav, als er zu Pharasma fand. Das Unvergängliche Fürstentum ist nur noch ein bemitleidenswerter Schatten seines alten Ruhms. Das Land ist ein Durcheinander aus mehreren nur lose verbündeten Grafschaften, die von Adeligen geführt werden, die sich untereinander um Macht und Einfluss befehden, nachdem das Land jahrhundertelang der Sklaverei durch die untoten Armeen des Wispernden Tyrannen unterworfen gewesen war. Ein Land, in dem der Tod zum ständigen Begleiter geworden ist, auch wenn der Schrecken der Untoten der argwöhnischen Vorsicht der Kirche Pharasmas gewichen ist.
Pharasma faszinierte Damian nicht so sehr in ihrem Aspekt als strenge Beobachterin des Lebens und des Todes, sondern mehr als Wächter der verschlungenen Bahnen des Schicksals und der Prophezeiungen. Damian hatte nämlich noch eine andere Gabe, von der er bisher kaum jemanden erzählt hatte; er hatte Visionen. Manchmal war es nur eine Ahnung. Dass sich das Wetter drehen würde, auch wenn es dafür keine Anzeichen gab oder dass etwas Unheil oder Glück bedeuten würde. Manchmal war es aber mehr. Träume, so real, dass Damian nach dem Aufwachen Schwierigkeiten hatte, sie nicht für die Wirklichkeit zu halten. Er hatte seine Visionen für einen Fluch gehalten und sie verdrängt, so gut er konnte, doch in Ustalav lernte er zum ersten Mal, sie als Gabe aufzufassen.
Die Pharasmiten erachteten Damians Fähigkeiten als Zeichen ihrer Göttin. Sie waren es, die Damian sein göttliches Blut offenbarten und ihm die Möglichkeit gaben, in den Bibliotheken ihrer Tempel mehr über sich und seinen vermeintlichen Fluch herauszufinden. In der Gesellschaft dieser Menschen fühlte sich Damian zum ersten Mal aufgenommen. Er nahm seinen Platz in der Kirchenhierarchie ein und unterstützte mit seiner Magie und seinem Wissen die Kirchenoberhäupter so gut er es vermochte. Dass das schaurige Ustalav nicht seine endgültige Heimat werden sollte, lag einzig und allein an einer Frau.
Iuni. Eine Kelishitin und Klerikerin der Sarenrae aus Kathapesh trat in Damians Leben als dieser gerade drauf und dran war, sich in Ustalav niederzulassen. Iuni befand sich zu dieser Zeit auf einer Mission für den strahlenden Kreuzzug, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die untote Bedrohung in Ustalav im Auge zu behalten. Da die Kirche Pharasmas ähnliche Ziele verfolgte, sicherte man den Kreuzfahrern Unterstützung zu und so kam es, dass Damian Iuni zur Seite gestellt wurde.
Ihre Mentalitäten hätten unterschiedlicher nicht sein können. Iuni war mehr Krieger als Priester und Damian mehr Gelehrter als Untotenjäger, aber sie verliebten sich trotzdem ineinander und als Iuni wieder abkommandiert wurde, sagte sich Damian von Ustalav los und begleitete die Klerikerin zuerst nach Letztwall und dann nach Varisia. Langfristig wollte Iuni wieder zurück in den Süden und Damian wäre ihr wahrscheinlich auch dorthin gefolgt, hätte Arodens Tod nicht alles verändert.
Mit seinem Tod begann ein neues Zeitalter, keines der Erfüllung, sondern das Zeitalter der verlorenen Omen. Aroden war es bestimmt, Golarion zu neuem Ruhm und Glanz zu verhelfen und wenn nicht einmal ein Gott seine eigene Prophezeiung erfüllen konnte, wie können dann andere wahr werden? Der Tod Arodens zeichnete die Welt mit Stürmen und Wahnsinn. Im Norden platzte die Weltenwunde auf und die verfaulenden Armeen des Abyss ergossen sich aus dem Riss über Sarkoris. Im Süden wurde der wunderschöne Golf von Abendego von einem beständigen Orkan verschlungen, dessen Winde und Wellen ganze Nationen untergehen ließen. Und im Kernland der Region der Inneren See, dem Ort, an den Aroden der Prophezeiung nach zurückkehren würde, brach ein Bürgerkrieg aus und Tausende starben, bevor das teuflische Haus Thrune die Macht ergriff.
Bevor Iuni mit dem Schreiben ihres Kommandanten vor ihm stand, wusste Damian bereits, dass er wieder zurück in seine alte Heimat gehen würde. Ein Traum hatte ihn über all die Jahre verfolgt. Die sarkorische Steppe, wie sie aufbrach und Dämonen ausspuckte. Nun wusste er, dass er sich seinem Schicksal nicht entziehen konnte und so kam es, dass Damian sich mit Iuni dem ersten Kreuzzug anschloss und um 4.622 AK wieder den Boden von Kenabres betrat. Alles, was er aus Kindertagen gekannt hatte, war verschwunden und Kenabres, die einst kleine Grenzstadt, sollte sich im Laufe der Kreuzzüge zu einer Festungsstadt wandeln.
Damian durchlebte alle vier Kreuzzüge. Er schloss sich einem Regiment Heiler an und tat, was in seiner Macht stand, während Iuni bis tief in die Weltenwunde vordrang. Er beschwor sie oft, hinter den Mauern zu bleiben, aber sie sah es als ihre heilige Pflicht an, zur Speerspitze des Kreuzzugs zu gehören und so kam das, was Damian seit langem gefürchtet hatte; Iunis geriet am Ende des dritten Kreuzzugs in einen Hinterhalt der Dämonen und ihr gesamter Trupp wurde aufgerieben. Als sie sich mit letzter Kraft zurück nach Kenabres rettete, starb sie wenige Tage später. Sie war zu diesem Zeitpunkt etwas über sechzig Jahre alt und hatte ihr gesamtes Leben im Dienst Sarenraes gekämpft.
Das war nun auch wieder fast fünfzig Jahre her. Zeit war ein relativer Begriff für Damian. Seitdem Kenabres ein Sammelbecken für alle möglichen Völker Golarions geworden war, begegnete man seinem langsamen Alterungsprozess mit weniger Abscheu, aber er hatte es immer in Iunis Zügen gesehen. Sie war eine sehr junge Frau gewesen als er sie kennengelernt hatte, doch bereits zu Beginn des zweiten Kreuzzugs war ihr das Alter deutlich mehr anzusehen als ihm. Es bereitete ihm oft Kummer, doch sie lächelte dann nur und riet ihm, die wenige Zeit zu nutzen, die ihnen bleiben würde. Er hatte sie nicht nur einmal gebeten, Kenabres zu verlassen und den Kreuzzügen den Rücken zu kehren, doch sie hatte ihn immer bestimmt an ihre heilige Pflicht erinnert. Selbst an ihrem Totenbett verlangte sie ihm den Schwur ab, nicht eher zu ruhen bis die die Weltenwunde geschlossen ist.
Er leistete diesen Schwur. Iuni hatte bis zuletzt geglaubt, dass sich das Blatt für die Kreuzfahrer wenden würde, dass sie bis Iz vordringen und die Dämonen wieder zurück in den Abyss treiben würden. Damian war sich da nicht mehr so sicher. Das Böse lauerte längst nicht mehr nur außerhalb der Mauern und der vierte Kreuzzug bezeugte nur allzu deutlich, dass ihre Kräfte beinahe erschöpft waren. Hätte Damian Iuni nicht geschworen, hier zu bleiben, hätte er Kenabres wahrscheinlich aufgegeben.
Da in Kenabres jede Hand gebraucht wurde, die eine Waffe halten konnte, entschied sich Damian dafür, seinen Dienst fortan bei den Kundschaftern der Grenzwache zu leisten. Er war kein Fährtenleser, aber seine Träume hatten ihn immer wieder weit hinaus in die Grenzlande geführt und er wusste, dass ihn etwas dort draußen erwartete. Außer den Grenzwächtern hätten ihn wohl sonst auch nur noch Söldner akzeptiert; Pharasma hatte keinen allzu guten Stand unter den Dienern der Iomedae. Die Grenztruppen waren durch die ständigen Kämpfe mit den Dämonen allerdings nicht wählerisch. Damian konnte Magie wirken, wusste viel über Dämonen und gab Soldaten, für die jede Hilfe zu spät kam, die letzte Ölung. Er war kein guter Kämpfer, aber er leistete seinen Beitrag und konnte so immer tiefer in die Weltenwunde vordringen, ohne so recht zu wissen, was er hier draußen eigentlich suchte.
Seitdem seine letzte Einheit beinahe vollständig aufgerieben wurde, dient er unter Hauptmann Anevia Tirabade in einem patrouillierenden Grenztrupp, dem auch Baldark angehört. Er war für die Identifizierung des Feindes und für die Verwundeten zuständig und hatte sich aufgrund seiner langjährigen Erfahrung den Rang eines Leutnants erworben. Sonderlich stolz war Damian darauf nicht, aber es half, unangenehme Fragen zu vermeiden.
Inmitten der Asche (Anzeigen)Die Invasion der Weltenwunde hatte Damians Leben grundlegend verändert. Viel war geschehen, dass Damian sich nicht erklären konnte und es fällt ihm immer noch sichtlich schwer, das Erlebte als Wirklichkeit zu begreifen. So sehr es ihn befreit, Iunis Geist in Erlösung gesehen zu haben, so ratlos steht er der Manifestation Pharasmas in der Halle der Helden gegenüber. Sollte die Herrin der Gräber persönlich Anteil an seinem Schicksal nehmen? Dies widersprach grundlegend der Kosmologie der Ebenen, die Pharasma absolute Neutralität zuwies. Aber was bedeutet dann ihr Auftauchen inmitten der dämonischen Horden am Abgrund der Weltenwunde. Damian war kein Geweihter Pharasma. Ja, er verstand ihr Wirken und hatte vielen Wesen auf der Schwelle des Todes die Angst vor Pharasmas Reich genommen, doch Damian verkündete weder ihr Wort, noch suchte er Anhänger in ihrem Namen. Selbst seine Magie, so wusste Damian mittlerweile, ist arkaner, nicht göttlicher Natur, auch wenn er die seltene Gabe hat, Magie ganz eigener Natur zu wirken, die sich den konventionellen Grenzen entzieht.
Auch wenn er diesen Gedanken nie gegenüber seinen Gefährten äußern würde, tut sich Damian generell schwer, das Wirken der Götter in den apokalyptischen Ereignissen zu verstehen, die über ihn hereinbrechen. Wie war es Vorlesh überhaupt gelungen, die Ebenen dauerhaft aufzureißen und gleich mehreren mächtigen Dämonenfürsten zu erlauben, ihren verdorbenen Einfluss auf Golarion auszuüben. Warum hatten die Götter des Lichts dies nicht verhindern können? Welche Rolle spielte Arodens Tod oder Verschwinden in diesen Ereignissen? Damian steht all diesen Fragen ratlos gegenüber und kann nur hoffen, dem gewachsen zu sein, was ihm bevorsteht.