Abschluss-Montage Dr. Kirsten Roberts
Mit einem leisen Klicken beendete Dr. jur. Roberts das Ferngespräch. Es war sehr aufschlussreich gewesen. Eigentlich hatte er sich nur nach Ormond Sacker erkundigen wollen, dem Detektiv, den er seiner Frau hinterhergeschickt hatte, und der sich zu lange nicht mehr gemeldet hatte. Es gab keine einzige Spur mehr von ihm, zuletzt war er auf der Station im Eis gesehen worden. Einzig die verwirrte Aussage eines Hafenarbeiters über eine zerschmetterte Leiche, die unidentifizierbar im Eiswasser versunken sein soll, ist geblieben. Als erfahrener Star-Staatsanwalt wusste er, dass daraus kein Fall zu machen war. Kirsten war zu schlau, um Spuren zu hinterlassen oder über sowas verurteilt zu werden und ihm eine Scheidung leicht zu machen. Und der Skandal erst... Immerhin ersparte er sich das Wahnsinnshonorar, berichtet hatte er nämlich nichts.
"Kommt deine Frau etwa zurück?", ertönt eine angenehm junge, aber in ihrer Panik etwas schrille Stimme vom Gastsofa. "Keine Sorge, Schnuckelhäschen, ich habe alles im Griff. Kümmer dich weiter um deine Nägel." Sie war ja hübsch, aber nicht helle - zum Glück, dachte er. Den Protestlaut ignorierte er.
Er hatte die nervösen Männer am anderen Ende der Leitung gut vorbereitet, den miserablen Direktor und Vorgesetzten seiner Frau sowie den hirntot einfach gestrickten Sicherheitschef. Sie hatten ihm einiges Interessantes mitgeteilt: Sie hatten ein Problem mit noch einer Leiche, einem Schmuggelskandal und mit einem Zusammenbruch seiner Frau. Zu letzterem hatten sie ihm nur Diffuses erzählt. So etwas hatte er aber noch nie gehört. Die Eiskönigin auf dem Weg zum Psychater? Bei den anderen Dingen hatte er ihnen alle Sorgen genommen, er würde sich schon um ein vorteilhaftes Urteil kümmern - diese Naivlinge, grinste er innerlich. Dafür würden sie bestimmte Berichte an den Psychater senden. Sie waren sogar so nett gewesen, ihm die Kontaktdaten zu geben. Mit einem Lächeln auf den Lippen wählte er die Nummer.
Der Mann lag bewusstlos vor seinem Schreibtisch auf dem Boden seines Büros. Nur zwei Schmauchspuren an seinem Pulli an seiner Körperflanke zeugten vom geschehenen. Der Elektroschocker lag wieder friedlich auf dem Tisch, während Kirsten ihre frischeroberte Akte durchblätterte. Sie hatte schon mehr als einmal in den psychatrischen Sitzungen nach Einsicht verlangt und diese trotz ihres Rechts darauf nicht bekommen. Nun hatte sie sich den Zugang verschafft und begann zu verstehen, warum sie kienen bekommen sollte. Was da stand, war ungeheuerlich. Ihre ehemaligen Kollegen von McMurdo erzählten von Empathielosigkeit, sadistischen Zügen, eingebildeten Vergewaltigungen und ihren Erzählungen von Männern draußen im Schnee, wo keine gewesen wären. Eine Übertreibung jagte die nächste Lüge, das Bild, dass sich dabei formte, erschloss sich ihr sehr schnell. Doch ihre Familie war nicht besser. Ihr eigener Mann unterstellte ihr Hysterie, häusliche Gewaltanwendung und Wahnvorstellungen. Nebenbei las sie auch etwas über ihre Kinder: Ihr Sohn war wegen Selbstmordversuch in Behandlung, ihre Tochter musste zwangsernährt werden, da sie stark magersüchtig war. Am Ende stand die Analyse: Wahnhafte Psychose, DD schwerwiegende Persönlichkeitsstörung vom antisozialen Spektrum, erhebliches Eigen- und Fremdgefährdungspotenzial, fehlende Entscheidungsfähigkeit, fehlende Krankheitseinsicht, Schuldfähigkeit nicht gegeben, empfohlen wird eine Unterbringung in einer forensisch-psychatrischen stationären Einrichtung bis auf weiteres. Kirsten stand da wie betäubt. In all den Sitzungen hatte es nicht einen Hinweis auf diese Analysen gegeben. Ihr war klar, worauf das hier hinauslaufen würde. Draußen polterten schwere Schritte und die Polizei verlangte lautstark Einlass.
'Roberts versus Manzoni' stand der Titel breit und deutlich auf der Akte. Stolz präsentierte die frischexaminierte Staatsanwältin sie ihrem Chef: "Schauen Sie mal, was ich hier gefunden habe! Ein Wunder, dass sich noch niemand darum gekümmert hat, das ist ja quasi ein Selbstläufer. Ein bekannter Schwerenöter, Beweisphotos, eine glaubhafte Geschichte, die geschädigte Familie ist einflussreich und wird öffentlich keine Freiwilligkeit bei außerehelicher Aktivität einräumen wollen. Die Verteidigung wird einen Höllenjob vor sich haben. Das wäre doch ein guter Einstand, oder?" Ihr Chef schaut sie überrascht an, dann die Akte, woraufhin ihm die Augen endgültig übergehen: "Sind Sie von allen guten Geistern verlassen, da können Sie sich gleich einsargen lassen! Der Ex-Ehemann der Geschädigten ist DER Dr. jur. Roberts, den wollen Sie nicht als Feind! Der Angeklagte ist der berühmte Dr. Manzoni, dessen Arbeiten über Klima und Ökologie internationale Beachtung gefunden haben. Und die Geschädigte selbst ist für unzurechnungsfähig erklärt worden, entmündigt und eingewiesen worden! Was glauben Sie denn da gewinnen zu können? Sie machen sich nur zum Gespött. Wo haben Sie das überhaupt gefunden? Geben Sie her!" Geschockt und kleinlaut verließ die junge Dame das Büro und hörte, bevor sie die Tür schloß, das Rattern des Aktenvernichters.
Die Patientin war nun 20 Jahre bei ihnen gewesen, und Vater Staat hatte in seiner unendlichen Weisheit (entdecktes Einsparpotential) beschlossen, dass solche Langzeitpatienten, die längst rentenfäig wären, nun gesund wären und entlassen werden könnten. Das Abschlussgespräch würde ihm noch eine Weile nachhängen. Während er ihr zu verdeutlichen versuchte, dass sie genesen wäre, hielt sie dagegen. Ihre Alpträume vom ewigen Eis, ihr außerhalb der Station stehend und durch wandelnde Eisleichen den Rüchweg versperrt bekommend, waren nicht verschwunden, sondern hielten sie jede Nacht wach. Ihre Familie hatte sie nicht einmal besucht, sie wusste nicht einmal mehr, wer dazugehörte (hatte ihr Mann nicht neu geheiratet, hatten ihre Kinder Ehen und Kinder?) und wer noch lebte (ihre Kinder waren sehr krank gewesen). Sie hätte auch keine Zukunft, da ihr Vormund gemeinsam mit ihrem Mann ihr für die Rente angelegtes Geld genutzt hatten, da sie kein Mitspracherecht mehr hatte. Sie würde um Anerkennung sozialer Bedürftigkeit kämpfen müssen.
Genutzt hatte es nichts, er hatte sie entlassen müssen. Er sah sie durchs Fenster draußen stehen, mitten im Schneegestöber. Eine dunkle, hagere und hochaufgerichtete Person. Fast so unwirklich wie eine Geistergestalt.
Kirsten spürte die Kälte nicht, als sie ihre Brieftasche hervor holte und aufklappte. Dort war eigentlich nichts drin, nur eine verblichene Photographie: Eines von denen, die Whitaker von ihr und Marco geschossen hatte. Ihr Gesicht zeigte einen unergründlichen Ausdruck, der Entschlossenheit wich, als sie es wieder wegsteckte und ins Schneegestöber hineinstapft.