"Als Knecht oder Magd wird man geboren[1]", stellt Tristan klar,
"genau wie jemand als Mann geboren wird oder als Frau. Wer bestimmt das? Gaja, sagen wir. Der Eine, sagen die Pfaffen. So oder so ist es die Ordnung der Welt. Ein Mann kann nicht die Aufgaben einer Frau erfüllen; ein Knecht nicht die eines freien Mannes. Zu jedem Recht gehört eine Pflicht."Während sich nun alle erheben und ihre Schilde oder Wanderstäbe ergreifen und sich ein letztes Mal umschauen, ob niemand etwas hat liegenlassen, antwortet auch Tristan noch auf Rogars Frage.
"Schwert und Schild und ins Horn stoßen", fasst er seine kämpferischen Fähigkeiten zusammen. Da auch die Zwerge ähnliche Signale in der Schlacht verwenden, weiß Rogar, was er mit letzterem meint: dass er der ist, der zum Angriff bläst, der als einer der ersten vorstürmt, die anderen mitreißt, sie in die rechte Kampfeslust versetzt, ihnen mit dem eigenen Todesmut Vorbild ist.
"Und am Abend zuvor den jungen Kämpfern, die das erste Mal dabei sind, Mut zusprechen, ohne dass irgendjemand bemerkt, wie sehr sie einer solchen Zusprache bedurften, am wenigsten sie selbst."Dann ist man endlich unterwegs.
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Nachdem soeben noch alle laut und erregt durcheinander sprachen, mutet es seltsam, fast schlafwandlerisch an, wie leise sie jetzt gemeinsam erst die Treppe hinuntersteigen, dann in den Hof hinaus—natürlich hat man vorher sehr genau ausgespäht, dass dort alles ruhig ist—und weiter zum Osttor, durch das der falsche Jarus sie gestern nachmittag hineinließ. Kein Laut ist zu hören außer dem schnaufenden Atem der Kranken und Verängstigten—und dem Knirschen und Schaben und Scheppern des schwerbepackten Zwergen. Doch kein Mönch zeigt sich. Kein Schuss fällt aus dem Hinterhalt. Niemand stellt sich ihnen in den Weg.
Draußen übernimmt Talahan die Führung. Lîfs Zauber hat ihn doch sichtlich gestärkt. Er geht aufrecht und sein Blick ist etwas klarer. Als die beiden Gruppen sich schon trennen wollen, hat er eine Idee.
"Begleitet uns noch bis zur Wegkreuzung kurz vor dem Abstieg", schlägt er vor.
"Bestimmt werden wir beobachtet. Vielleicht können wir sie so täuschen, dass sie denken, wir zögen uns alle zurück?" Darauf sieht Aeryn sofort:
"Und dann schlagen wir uns dort in die Bäume und schleichen uns in einem Bogen wieder heran und kommen fast bis an die Seite der Kapelle." Also ist die Sache so beschlossen.
Gott sei Dank, wie sich herausstellt. Diesmal ist es Lîf, die—wie schon bei Betreten des Pilgerturms—versucht, wie ein Krieger auf feindlichem Gebiet zu denken und dabei entdeckt:
"Wenn ich jemanden daran hindern wollte, dass er entkommt und anderen berichtet, was hier los ist: ich würde mich da drüben auf die Lauer legen und warten, bis der Feind unter mir auf dem steilen Hang marschiert, und eine Erdlawine lostreten, die ihn unter sich begräbt oder in die Tiefe reißt." Und wie man gemeinsam dort nachschaut, Hjálmarr bei den Pilgern zurücklassend, da scheucht man tatsächlich einen falschen Mönch und zwei Hungerkreaturen aus dem Gebüsch und macht, dank der Überzahl, kurzen Prozess mit ihnen.
Dann ist wirklich Zeit zum Abschied.
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Auch Aeryns Plan geht auf. Nur auf den letzten hundert Schritt finden sich weder Baum noch Strauch noch Fels, die Deckung geben könnten. Man muss daher hoffen, dass der Gegner nicht in diese Richtung schaut. Schon beim Näherhuschen fällt ihnen der verbrannte Geruch auf, der durch die Fenster des Gotteshauses dringt. Ein vorsichtiges Spähen durch den Türspalt, ein Wink mit der Elbenhand—die Luft ist rein!—dann stehen sie alle im kühlen Inneren und betrachten, nach kurzer Gewöhnung der Augen, die Verwüstungen der Sturmnacht.
Selbst die hintersten Bänke sind umgestoßen, als die zum Nachtgebet versammelten Mönche offenbar erschrocken aufsprangen und zu fliehen versuchten. Rogar deutet auf die schmale Tür im Eingangsbereich gleich rechts und erklärt leise:
"Die führt am Speisesaal vorbei zur Krankenstube." Ab etwa der Mitte des Schiffes finden sich dann die ersten Blutspritzer, eingetrocknet auf Bank und Boden, und deren Verursacher: Glas- und Holzsplitter. Denn auf der westlichen Stirnseite der Kapelle muss sich ein großes Glasfenster befunden haben—Zwergenarbeit, zweifellos!—kreisrund bis auf die vier Eckpunkte eines Kreuzes, die über den Kreisrand hinausragen. Doch von der ganzen Pracht sind nur noch einige bunte Glassplitter übrig, die in ihrem Rahmen stecken wie abgebrochene Zahnstümpfe und unter den Füßen der langsam weiter vordringenden Gefährten knirschen.
[2]Freydis fällt noch etwas auf. Nicht nur das Glasfenster ist zerstört: jedes Zeichen des Einen wurde verschandelt. Sie hebt eines der verstreuten Gebetsbücher auf: tatsächlich! Das Reifkreuz auf dem Ledereinband ist zu Unkenntlichkeit verbrannt—zielgenau. Der silberne Kerzenhalter dort—zerschmolzen zu einem unförmigem Klumpen. Die Stoffe, die an den Wänden hingen und sicherlich mit heiligen Symbolen oder Bildern bestickt waren: verbrannt bis auf einige rußige Fetzen. Die Sache scheint ihr eindeutig: hier hat jemand seine Wut auf den Einen und seine Anhänger hemmungslos ausgetobt.
Schließlich erreichen sie das Chorhaupt. Der Boden hier besteht aus einem Mosaik, das—wen wundert's, ein Reifkreuz zeigt. Die Endpunkte des Kreuzes liegen hier auf dem Kreis und reichen nicht—wie im Fenster—darüber hinaus. Vielleicht, weil er sich von den Brand- und Blutflecken ablenken will und dem fauligen Geruch, welcher sich hier dem Brandgeruch beimengt—jedenfalls fällt Abdo dieser Unterschied auf und er fragt nach seiner Bedeutung.
"Das Symbol nennt sich Reifkreuz", erklärt Tristan bereitwillig.
"Der Kreis steht für das Jenseits, das Kreuz für das Diesseits, und zusammen steht das Kreuz im Kreis für die ewige Herrschaft Gottes auf Erden. Wenn aber die Eckpunkte den Kreis durchstoßen, so steht das Reifkreuz für die Aufgabe aller Gläubigen, das Wort Gottes in die Welt hinauszutragen und es so unter sämtliche Völker zu bringen, bis sich die ganze Welt zu Gottes Wahrheit bekennt und überall Frieden einkehrt." Dies sagt er erstaunlich neutral, ganz ohne seine sonstigen Seitenhiebe auf die Behadrim. Es klingt allerdings auch wie etwas, dass ein Schüler einst hat auswendig lernen müssen.
Und wie Abdo dann auf seine weiteren Entdeckungen zeigt—
"In der Mitte des Kreuzes muss einer gestanden haben und von dem Blitz, den Rogar erwähnte, getroffen worden sein und seht, wie die Brandspuren das Kreuz nachzeichnen, als sei der Blitz von der Mitte zu allen vier Eckpunkten gesprungen"—so eilt ihm Tristan abermals erklärend zur Seite, das Reifkreuz abschreitend und dabei mit dem Finger deutend:
"Hier in der Mitte wird Abt Halfir gestanden haben. Die Mitte des Kreuzes repräsentiert das Element Luft, im höheren Sinne die Seele, oder auch Gott. Vertreten durch den Abt, als obersten Gläubigen des Klosters. Hier das Fenster geht nach Westen und dort ist bei den Behadrim die Kälte zuhause, aus keinem anderen Grunde, als dass im alten Glauben hier das Reich der Feuerriesen liegt. Also wird unser Freund Jarus hier gestanden haben, denn er lädt die Pilger ins Haus und lässt sie nicht in der Kälte stehen. Das Feuer aber sehen die Behadrim im Norden, denn Norden ist für sie gleich oben und oben am Himmel steht über allem die Sonne. Hier wird Edgar, der Bibliothekar seinen Platz haben, denn damit das Feuer des Glaubens sich ausbreitet, muss die heilige Schrift und das heilige Wort verbreitet werden, aufdass die Wahrheit Gottes allerorts die Herzen entflamme. Hier im Osten dann das Wasser, also der Novizenmeister, denn Wasser ist ein formloser Stoff, so wie die Novizen in seiner Obhut noch formlos in ihrem Denken sind. Oder vielleicht soll's auch für ihren Wissensdurst stehen, den er zu stillen gedenkt. Und zuguterletzt: hier auf dem Südpunkt wird der Infirmar gestanden haben, denn für die Behadrim ist die Erde das niedrigste der Elemente. Vermutlich konnte er sich mit einem Sprung in den Treppenaufgang retten, denn laut Rogar war er nicht unter den Opfern der Sturmnacht und hier auf der Treppenstufe, schau, da hat er sich die Hand aufgeschlagen."[3] Tatsächlich sieht man auf der sechsten Stufe der Wendeltreppe zum Turm einen Handabdruck aus getrocknetem Blut. Im Norden dagegen ist der Boden fast vollständig von Blut- und Rußspuren bedeckt. Tristan bemerkt, wie seine Gefährten ihre Blicke nicht davon losreißen können.
"Zum Nachtgebet müssen nur die älteren Novizen erscheinen, die schon fast für die Priesterweihe bereit sind. Die jüngeren... dürfen die Nacht durchschlafen."Auch hier weiß Rogar zu sagen, wohin die Tür führt:
"Einige Schlafkammern, danach die Treppe in den Keller und nach oben, dann die Bibliothek."