"Ob ich es bin?" entgegnet Tristan.
"Natürlich bin ich's. War ich denn je ein anderer? War ich nicht immer ich selbst...?"Seine Stimme klingt keinesfalls verwirrt, sondern herausfordernd. Vielleicht ahnt er inzwischen, was geschehen ist, warum seine Hände gefesselt sind. Sein eigenes Weib wird er jedenfalls wohl kaum auf diese Weise herausfordern wollen.
"Selbst damals, als die Pfaffen versuchten, mich zu einem anderen zu machen – mich zum Verstummen zu bringen – blieb ich doch ich selbst. Kein Strafe gab es, die sie mir hätten androhen oder antun können, welche die Töne in mir hätten auslöschen können, ich musste singen, brauchte es zum Leben so sehr wie den Atem oder Speis' und Trank. Weißt du, was ich glaube?" Diese Erkenntnis scheint ihm tatsächlich gerade erst zu kommen, so verblüfft wirkt sein Stirnrunzeln.
"Ich glaube, sie wussten damals, was wir waren. Ich glaube, die anderen waren alle wie ich. Deshalb das Schweigegebot. Deshalb die Strafen. Unsere Natur wollte man uns austreiben, unsere Gabe, unseren Zauber. Doch wir konnten nicht anders, als so zu sein, wie wir waren. Unsere Natur, sie wollte heraus... war stärker als alle Strafe und Predigt, alles Drohen und Zetern der Mönchlein und auch all ihre Versprechungen. Feenfluch, Feengabe, nenne es, wie du willst... es war stärker als alles..."Tristans Blick, welcher sich in der Ferne verloren hat, kehrt zu seinem Weib zurück.
"Ich verstehe es nicht. Du etwa? Warum sie uns so hassen. So fürchten. Der Mutter Kinder sind wir nicht weniger als sie... unser Zauber ist Gajas Zauber... Aber die Erdmutter hassen sie ja auch... Was war zuerst? Der Hass auf uns, weil wir Gaja näher sind, oder auf Gaja, weil sie uns gebiert? Und steckt dahinter Neid oder Machthunger oder beides?"Zu Lîfs Verwunderung schmunzelt er plötzlich.
"Glaubst du, der Prophet hatte wirklich was mit der Quelle? Ob es wohl Nachwuchs gab, das tät ich Ninae noch gern fragen..." Dann wird er wieder ernst.
"Sie werden Hilfe brauchen. Wenn hier demnächst die Ordensritter einfallen... mir schaudert bei dem Gedanken. Uther und Bruder Meirik scheinen ja wenigstens auf ihrer Seite zu sein und die Heilerschwestern auch, nehme ich an, aber dennoch...Man will hoffen, der Fürstensohn reißt sich endlich mal zusammen und zeigt, dass er zum Fürsten taugt. Dass die Männer ihm folgen... aufs Meer hinaus, durch Sturm und Wetter, durch die endlose Ungewissheit und Tage ohne Hoffnung, einer Nussschale gleich auf schäumenden Wogen tanzend... zuletzt in die Schlacht und in den Tod..."Gegen Ende wird seine Stimme immer leiser, verträumter. Sein Kopf sinkt in den Nacken zurück, bis er damit gegen das Gitter stößt. Erschöpft schließt Tristan die Augen.
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Rogar erinnert sich an die Hilferufe, die er vorhin aus dem Keller dringen hörte, als Uther nach den Mägden rief
[1]. Zwei Gänge gehen von der Halle ab, eine im Süden, die andere im Norden, beide vergittert, doch eine Tür im Gitter befindet sich nur in dem nördlichen Gang, genau dort, wo Tristan angebunden sitzt.
Noch stehen alle ratlos herum. Keiner scheint zu wissen, was als nächstes zu tun ist. Oder sie wissen es genau, aber scheuen die letztendliche Entscheidung, egal wie unumgänglich diese ist? Scheuen die Verantwortung, die Gewissenslast? Wollen nicht die ersten sein, die es zur Sprache bringen, noch weniger derjenige, der die Klinge führt, so sehr es auch eine Gnade wäre? Erlösung für alle Erkrankten im Heilerzelt, für alle Hungerkreaturen und sonstige Verfluchte, die vielleicht noch durch die Gegend streifen? Für deren nächstes Opfer?
Auch auf Rogars Anweisung reagiert so recht niemand.
Nur zwei bewegen sich über das stille Schlachtfeld: Lîf eilt zu ihrem Gatten, und Uther nähert sich langsam, aber unaufhaltsam – ohne Blick für andere Dinge – seinem Vater. Erst vor dem Podest bleibt er stehen, als wagte er die letzten drei Schritte dann doch nicht.
"Das meintet Ihr also...", murmelt er.
"Trug... Halluzination... Fluch...! Nicht ihr wart verzaubert... ich war es..." Hinter seiner Miene – fassungslos, entsetzt, angewidert, hilflos – arbeitet es.
"Seuche... ihr sprachet von einer Seuche... Ihr sagtet, ihr kenntet Euch damit aus... Ist er...? Könnt Ihr etwas für ihn tun...?"Mit der letzten Frage wendet er sich nach Lîf um, deren Aufmerksamkeit jedoch ganz dem Gatten gilt. Daraufhin wandert Uthers Blick zu Merles Werkecke, wo seine Frau kurz zuvor noch Gerätschaft und Zutaten verräumt hat, und hält dort inne.
"Verzaubert", murmelt er.
"Meine Schwester kann es nicht gewesen sein, ich habe Solveig seit zwei Wochen oder länger nicht mehr gesehen. Die Bachschwestern wären nicht fähig, sich so etwas auszudenken... viel zu kompliziert und was hätten sie davon? Dann muss also irgendjemand hier zaubern können, von dem ich es nicht ahnte, oder aber es bleibt nur noch... nur noch... aber wenn sie es war, dann ist auch hier die Frage: warum? Sie hasst mein Vater und hat einigen Grund dazu, ja, aber das hier...? Und warum mich derart blenden? Um mich zu schützen...? Aber was war ihr Plan...? Wie lange hätte das hier noch so weitergehen sollen...? Wie lange geht es schon... eine Woche, zehn Tage?" Und wie sollte es enden?Er schüttelt den Kopf, als könne er so die Verwirrung abschütteln.
"Du hast versucht, es mir zu sagen", fährt er fort, abermals in Lîfs Richtung gewandt.
"Du hast mich geradeheraus gefragt: 'Wünscht Ihr nicht, den Dingen ins Auge zu sehen, statt von liebevoller Hand gegängelt zu werden... von liebevoller Hand...'" Dann geht ein Ruck durch ihn. Er richtet sich auf.
"Wo ist meine Frau? Ich will sie selbst befragen."