Ein wenig mulmelig wird Tristan zumute, je entschieder sein junges Weib die Meinung vertritt, die Göttin selbst müsse sie ihrem Gatten zugeführt haben. So eifernd, wie sie zuvor darauf bestand, so willig sie sich ihm auch hingab, er sei ein Räuber und ein Dieb, der sie entführt und gegen ihren Willen zu der Seinen gemacht habe, so begierig will sie nun verstanden haben, dass die Große Mutter sie zusammengeführt habe. Welch Szene hat sie ihm noch vor zwei Wochen gemacht, als er dem Schicksal zu danken wagte, das sie in seine Arme führte? Und das wollte er ja auch gerne glauben: dass da irgendwelche verborgene Kräfte am Werke waren, die die Geschicke der Menschen mal recht, mal schlecht lenkten, nur dachte er dabei eher an Geister, ob Ahnen, Rastlose oder Vergessene, oder an Feenwesen, die sich ebenso leicht unbemerkt unter die Sterblichen mischen konnten, in Tier- oder Pflanzengestalt, und die ihre eigenen, wunderlichen Ziele verfolgten. Vielleicht gar irgendwelche namlosen, nicht fassbaren Kräfte, die hier etwas Gutes, dort etwas Böses bewirkten, damit die Welt im Gleichgewicht bleibt und nicht aus den Fugen gerät. Aber gleich anzunehmen, die Göttin habe sich eingemischt, habe ein Interesse an ihnen! Wunschdenken einer jungen Frau, deren Stolz sie keine andere Erklärung finden lassen will, warum sie ihrem Entführer so zugetan ist—oder so will er hoffen! Denn wenn sie recht hat... "Wen der Eine auserwählt hat, der...", so beginnen zahlreiche Sprüche der Pfaffen, und die Konsequenzen daraus führen im besten Fall zu einem frühen Tod, öfters jedoch zu einem langen Martyrium. Dann doch lieber Geisterspuk oder Schabernack der Feen!
"Und dabei wollte ich doch einfach nur ein hübsches, tüchtiges Weib haben, um Heim und Leben mit ihr zu teilen, auf dass sie die einsame Stille aus beidem vertreibe", versucht er zu scherzen, denn widersprechen will er Lîf nicht. Dazu ist er zu froh, dass sie sich ihm endlich mit ganzem Herzen zuwendet. Wenn sie dafür diese Erklärung benötigt, so würde er sich hüten, sie ihr auszureden. Nur eine Sache kann er schwerlich auf sich sitzen lassen.
"Die Worte hat mir niemand eingehaucht", stellt er klar. "Oder wenn, dann die Dinge selbst. Die alte Ulme, die Lichtgeister mit ihrem Tanz, du... Sie alle sind wie Klänge in meinem Ohr, haben ihren eigenen Akkord, ihr eigenes Thema, oder sogar eine ganze Melodie." Und die ihre ist so schön und so rein, dass er, wenn er nicht achtgibt, sich ganz darin verliert.
"Oder hast du geglaubt, meine Seele sei mit trockenen Gesetzesvorträgen gefüllt? Dass mein ganzes Sinnen im Streit schlichten läge? Das ist nur die Aufgabe, welche die Gemeinschaft von mir verlangt, womit ich mir Stand und Anerkennung verdiene und zurückgebe, so gut ich kann, für alles, was ich den Leuten hier zu verdanken habe. Denn schau, niemand kann jederzeit der sein, der er gern wäre! Jeder muss sich nützlich machen, muss seine Kraft und sein Können zum Wohl der Gemeinschaft einbringen, sonst ist hier auf den Inseln kein Überleben möglich. Wieviel lieber wäre ich einfach nur Sänger! Würde den ganzen Tag den Melodien um mich herum lauschen und die schönsten darunter auf der Flöte nachspielen oder, mit Text versehen, auf Pergament festhalten. Aber Lieder werden auf Jarlsö selten gebraucht. So muss ich mich damit bescheiden, an den Festen ein wohlwollendes Publikum zu finden. Aber diese schönen Momente gäbe es gar nicht ohne das andere, ohne die Pflichterfüllung als Gesetzessprecher. Das rufe ich mir immer in Erinnerung, wenn letzteres mir mal wieder beschwerlich wird.
Vielleicht denkst du, wenn du dich das nächste Mal erhitzen willst, also lieber nicht an mich und die Schande, die du mir damit machst, sondern nur an dich: wie sehr es dich erfüllt, Heilerin zu sein, wie viel du noch von Esja zu lernen hast, wie stolz und glücklich es dich macht, von ihr als Schülerin erwählt worden zu sein, wie sehr du es dir wünschst, ihr eines Tages als drudkvinde nachzufolgen. Und dann benehme dich entsprechend! Wie eine zukünftige Weise Frau. Dazu wird Esja dir mehr raten können als ich, obwohl ich mir vorstellen könnte, dass ihre erste Ermahnung sein wird: auch eine Weise Frau wartet lieber, bis sie um Rat gebeten wird, bevor sie einen solchen gibt! Denn in meinen achtzehn Jahren hier habe ich es erst zweimal erlebt, dass Esja unaufgefordert einen gab! Ein zweiter Punkt gilt für die drudkvinde gleichermaßen wie den Gesetzessprecher: wir müssen neutral bleiben. Jeder Mann und jedes Weib auf Jarlsö muss das Gefühl haben, mit seinen Sorgen und Fragen zu uns kommen zu können, ernst genommen zu werden, und ehrlichen, unvoreingenommenen Rat zu erhalten. Dazu ist es nötig, dass wir uns aus den ganzen Alltagsstreitigkeiten, den kleinen Fehden, heraushalten. Würde Eirik Svensson morgen verletzt, müsste er da fürchten, dass du dich nicht mit derselben Sorgfalt um ihn kümmerst wie um einen anderen? Ich weiß, dass dies nicht so wäre, aber er könnte daran zweifeln oder auch sein Vater. Und stelle dir gar die Folgen vor, wenn er in deiner Obhut stürbe! Deshalb ist wichtig: wir mischen uns in nichts ein, hörst du? Sonst können wir beide unsere Arbeit nicht richtig tun.
Bedenke außerdem: als Weib des Gesetzessprechers wird dir fast jeder Streit, der auf den Inseln geschieht, zu Ohren kommen. Willst du da jedes Mal Partei ergreifen? Meinst du nicht, dass dich das ganz schnell ermüden würde? Vor allem aber: willst du wirklich jedes Mal, wenn irgendwer sich mit irgendwem streitet, dass wir beide darüber auch in Zank geraten?
Als drudkvinde und als Gesetzessprecher muss man ein wenig außerhalb der Gemeinschaft stehen, um ihr zu dienen. So ist das nun einmal. Du wirst dich schon daran gewöhnen. Wir haben ja einander. Daheim darfst du immer sein, wer du sein willst. Und ich darf dir von Melodien erzählen, die mir Feen oder Geister oder die Dinge selbst ins Ohr summen, ohne Hohngelächter oder Schlimmeres befürchten zu müssen."
Jetzt endlich tritt er doch heran und zieht Lîfs Kopf an seine Schulter. Sein Atemhauch streift ihr Haar.
"Und ich will dir auch etwas versprechen", sagt er leise. "Dass ich mich nicht mehr so arg darum kümmern will, was die anderen über uns sagen. Die Sache mit der Robbe etwa, oder das vor zwei Wochen im Methaus, was ist das schon? Sollen sie doch reden! Sollen sie doch lästern, die Liebe hätte einen Narren aus mir gemacht, ich hinge an deinem Schürzenzipfel, du hättest die Hosen an! Zu viele Jahre lang war ich es gewohnt, in allem allein vor mich hinzuwurschteln und mich nach niemandem richten zu müssen. Das ändert sich nun einmal, wenn man sich ein Weib nimmt. Ich werde mich also damit abfinden müssen, nicht mehr ganz allein für meinen Ruf verantwortlich zu sein, nicht mehr die alleinige Kontrolle darüber zu haben. Ich wollte ein Weib wie dich, das beherzt und entschlossen ist und sich zu wehren weiß, und bei Gaja, ein solches habe ich bekommen, also darf ich mich nun nicht beschweren. Nur was ich zuvor gesagt habe, über Neutralität und dem Dienst an der Gemeinschaft, das musst du dir zu Herzen nehmen, darauf musst du achten! Aber all die anderen Kleinigkeiten, mit denen du uns ins Gerede bringen könntest—sei's drum! Wenn du dir deswegen Sorgen machen wolltest, kämest du ja aus den Sorgen nicht heraus, also lass es!"
Und dann küsst er sie.