Als die Stimmen plötzlich in der Dunkelheit um sie aufklingen, erschrickt das Mädchen doch. Die eine so voller Hohn beängstigt sie besonders, doch die zweite, belustigte, verwirrt Lîf, und jene dritte, aus weiter Ferne, lässt irgendeine Saite in ihrem Inneren schwingen, so dass ihr ganz weh ums Herz wird... Stumm lauscht sie dem Widerhall der Worte, die hin und her zu fliegen scheinen, krampft ihre kleinen Händchen ineinander, wagt kaum zu atmen. Doch wie die drei Weiber – wer mögen sie wohl sein – so streiten, lachen, spotten, sinnen, wird ihr nach und nach klar, worüber sie sprechen. Und obwohl es stockdunkel ist, fühlt sie ihre Wangen rot glühen. "Aber ich... aber..." versucht sie einige Male mit ihrer dünnen Kinderstimme einzufallen, ohne sich durchsetzen zu können. Orientierungslos schwebt sie durch die Finsternis, jagt den Stimmen nach, die immer wieder an anderen Stellen aufzuklingen scheinen, während sie bemerkt, wie ihre Gefühle sich langsam zu verwirren beginnen, den Stimmen sich anzugleichen. Ja, sie empfindet Zorn und Empörung, wenn die erste spricht, spürt ein spöttisches Lachen in ihrer Kehle aufsteigen, Unverständnis, wenn die zweite sich meldet, und wenn die Stimme der dritten erklingt, wird ihr so weich ums Herz, so warm und sanft...
Dann hat sie das Gefühl, sich an etwas zu erinnern. An etwas, das sie nie erlebte und doch Teil ihrer Vergangenheit ist. Einer Vergangenheit, die sie auch jetzt noch nicht berührt, ja, noch nicht einmal aus weiter Ferne erahnt hat. "Ulmentochter..." wispert sie leise. Der Klang des Wortes hat etwas vertrautes, das sich anfühlt wie ein Lieblingskleid, das man schon lange getragen und liebgewonnen hat, das sich dem Körper angepasst hat und sich nun warm und glatt an die Haut schmiegt. "Ich bin... bin ich... bin ich ihr?" fragt sie in die Dunkelheit hinein. Und sie fühlt wieder den Zorn und die Scham, die Wärme und die Liebe, alles zugleich. "Ich bin... eine von euch" wiederholt sie, die helle, klare Mädchenstimme erhebend, die nun mit einem Mal die Weiten der dunklen Höhle mit ihrem Klang auszufüllen scheint, obgleich sie nicht schreit. Die Wände aus feuchter, fruchtbarer Erde werfen sie zurück, lassen sie tanzen zwischen dicken Wurzeln, großen Steinen und schweren Erdklumpen. Und das Mädchen streckt die Arme zur Seite aus und beginnt ebenfalls zu tanzen.
Leicht wie Libellenflügel breitet sich ihr Kleid aus, entfaltet sich zu einer Blüte aus Stoff, getragen von einem Wind, der nicht hörbar und nicht spürbar ist. Und die kleine Lîf dreht sich um ihre Achse, legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen und lässt sich treiben, eine schwebende kleine Blume mitten im Schoß der Großen Mutter. Die Stimmen der drei Weiber klingen noch in ihren Ohren, sie weiß nicht: reden sie noch zu ihr, oder ist es die Kraft der Erinnerung, die sie am Leben erhält? Ein Lächeln breitet sich auf dem kleinen Gesicht mit den weichen, kindlichen Zügen aus, als sie fühlt, wie sich die widerstreitenden Weiber in ihr vereinen, um ein einziges, facettenreiches und doch harmonisches ganzes zu bilden, das so widersprüchlich erscheinen mag, dass es eine Mannsperson in den Wahnsinn treiben kann, das sich manchmal selbst nicht versteht, das oft mehr nach dem Herzen als nach dem Verstande urteilen wird und doch spürt, dass es von der Großen Mutter selbst so gewollt ist, wie es ist: ein Weib. Ein Weib namens Lîf. Und das Weib öffnet die Augen, die nun die Dunkelheit durchdringen, ein düsteres Dämmerlicht erfassen. Es erinnert sich und beginnt nach einem zu suchen, der ihm sagen kann, was es zu wissen begehrt.
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Röchelnd und würgend bäumt sich Inga unter Tristans Griff auf, kommt aber nicht gegen die Kraft eines Mannes an. Er schlingt seine Arme von hinten um sie, presst sie an die Stuhllehne und gibt so Esja und der Magd genug Spielraum. Die Alte tritt dicht an das panische junge Weib heran, hebt ein Knie und setzt es ihr ohne viel Federlesens am Unterbauch an, nagelt sie mit Tristans Hilfe auf dem Stuhl fest und drückt mit einer ihrer hageren Hände auf die Stirn Ingas, fixiert ihren hin und her zuckenden Kopf. "Jetzt, Mädchen – los doch!" befiehlt sie der sichtlich eingeschüchterten Magd, die es nach mehreren erfolglosen Versuchen schafft, Inga die Holzstäbe in die Mundwinkel zu stecken. Als ihr die Kiefer aufgehebelt werden und sie mit zwangsweise aufgesperrtem Mund bewegungsunfähig auf dem Stuhl sitzt, gehen Ingas krampfartige Zuckungen in ein Zittern und ein ängstliches Gurgeln über. Mit geweiteten Augen, in denen nackte Angst sitzt, sieht sie zu der alten drudkvinde empor. Die brummt leise: "Hab keine Angst, Kindchen, ich helf' dir ja nur..." Das hindert sie aber nicht daran, das kleine, im Licht aufblitzende Metallwerkzeug von dem Kettchen zu nehmen und, mit gerunzelter Stirn und einigen prüfenden Blicken, in Ingas Rachen einzuführen. Tristan spürt, wie sie daraufhin wieder in Panik zu kämpfen beginnt, würgend und mit den Beinen strampelnd.
Esja beugt sich tief über Inga, mahnt einige Male gereizt Tristan und vor allem die blasse Magd, das junge Weib ruhig zu halten, und scheint nach etwas zu suchen. Bange Momente vergehen, in denen auch von den Zuschauern niemand sich rührt oder einen Ton von sich gibt. Nur das gequälte Röcheln Ingas und das Knistern eines kleinen Feuers unterbrechen die Stille. Die weichherzige Gertrud legt Egil eine Hand auf den Unterarm. Der Schmied, dessen großen, knochigen Fäusten so riesige Kraft innewohnt und von dem alle denken, schier nichts könne einen solchen Hünen erschüttern, schaut nun hilflos zu, blass, Schweißperlen auf der Stirn. Er muss sein junges Weib sehr lieben, denn bei jedem Wimmern, jedem Aufbäumen Ingas beißt er sich auf die Lippen, ballt die Fäuste, stöhnt leise.
Da endlich zieht Esja die Hand zurück, hebt das schimmernde Instrument, eine einfache Pinzette, und hält sie triumphierend in die Höhe. Darin kann man im schwachen Licht undeutlich eine Art Dorn ausmachen – eine Gräte, jedoch von ungewöhnlicher Länge. "Das war's – da haben alle bösen Geister ihre Finger im Spiel gehabt" meint die Alte und betrachtet sich das Ding von allen Seiten. "Hatte sich ausgerechnet in den Kehldeckel gespießt..." Die zitternde und röchelnde Inga ist nun erschlafft und bietet Tristans Armen keinen Widerstand mehr. Auf Esjas Nicken hat die Magd auch ihren Mund wieder freigegeben. Totenblass hängt sie auf dem Stuhl. Doch die drudkvinde meint resolut zu dem herbeieilenden Egil: "Nur die Ruhe, Jungchen! Es hätte sie nicht umgebracht. Hat ihr nur das Gefühl gegeben, keine Luft zu bekommen, und da ist das dumme Ding kopflos geworden. Wahrscheinlich hatte sie starke Schmerzen, und vielleicht hätt' sich's auch noch entzündet, auf Dauer." Sie schüttelt brummend den Kopf, als der hünenhafte Mann an Ingas Seite eilt und sichtlich mit Tränen der Erleichterung kämpft.
Doch dann wird ihr faltiges Gesicht bei diesem Anblick weicher, und sie fügt etwas sanfter hinzu: "Na, na, ist ja nun alles überstanden! Bring dein Weib rüber ins Langhaus. Ich mische ihr einen Trunk mit Honig, den soll sie langsam in kleinen Schlucken trinken. Dann sind die Schmerzen bald vorüber." Sie zwinkert Tristan und der Magd zu, während Egil stumm nickt, sein Weib auf die Arme hebt und hinausträgt, an den starrenden Zaungästen vorüber, die von der Alten alsbald hinausgescheucht werden. Nachdem sie auch die Magd wieder in den anderen Raum geschickt hat – die Tristan und ihr noch einen scheuen Blick zuwarf, ehe sie verschwand – wendet sie sich an ihn und meint mit einem bärbeißig wirkenden Schmunzeln: "Ich werde ihr sagen, dass die wunde Stelle schneller verheilt, wenn sie schweigt. Dann steht ihr loses Mundwerk wenigstens mal für ein paar Tage still." Ihr Kichern klingt nicht bösartig, aber es lässt sie für einen Moment fast wie ein junges Mädchen erscheinen, das sich an einem Schabernack erfreut.