Lange suchen musste Arashi nicht, denn ohne sein Wissen hatte der Schiffer ihn direkt in das Jadequartier der Stadt gebracht, und was er für den eigentlichen Stadtkern hielt, war in Wirklichkeit das Zentrum dieses Viertels, das seit Generationen bereits das bevorzugte Ziel von Einwanderern aus Minkai und dem gesamten Kontinent Tian bietet. Und es schienen einige zu sein - Arashi war verwundert, wieviele seiner Landsleute offenbar den beschwerlichen Weg über die Krone der Welt auf sich genommen hatten, um hier ein neues Leben zu beginnen.
Auf den ersten Blick war ihm dies kaum aufgefallen. Die Züge der meisten Leute erschienen ihm vertraut, und erst beim genaueren Nachdenken erkannte er, dass dies eigentlich etwas war, das ihm hätte komisch vorkommen sollen. Nun begann er erst, sich die Stadt und die Bewohner genauer anzusehen: Es waren nicht nur Tianstämmige, die ihm entgegenströmten, sondern auch zahlreiche für ihn fremdländisch aussehende Einwohner Avistans, und manche Passanten konnten auch nicht verbergen, dass sie die Einflüsse beider Seiten in sich vereinigten: So wäre er beinahe in einen Gemüsestand gestolpert, weil seine erstaunten Augen an einem blonden Hünen klebten, dessen Augenpartie jedoch deutlich die klassischen Züge Minkais aufwies.
Auch die Architektur war erstaunlich. Auf seinem Weg hatte er bereits einige Dörfer passiert und so einen Eindruck gewonnen von der Bauweise in diesen Landen. Hier jedoch verschmolz diese mit derjenigen aus seiner Heimat zu etwas neuem, das eine ganz eigene Ästhetik aufwies.
Doch trotz aller neuen Eindrücke waren diese nicht der Grund, weshalb er nach Kalsgard gekommen war, und er gedachte, seinen Auftrag so schnell wie möglich zu erledigen. Zunächst jedoch musste er für eine Unterkunft sorgen, und schließlich stand er nach einigen Erkundigungen vor einer Gaststätte, die eine hölzerne Drachenskulptur mit gelbem Anstrich und ein zweisprachiges Schild - auf Tian und der Handelssprache Avistans - als den "Goldenen Drachen" auswies. Sie bot keinen überschwänglichen Luxus, war jedoch erschwinglich und befand sich nahe des Zentrums des Jadeviertels. Außerdem hatten alle, die er um Auskunft gebeten hatte, ihm versichert, dass die Betten weitgehend ungezieferfrei, das Essen genießbar und die Zimmer sicher waren. So betrat er das Haus und befand sich sofort in einer größeren Schankstube, in der zu dieser Tageszeit nur einige vereinzelte Personen - wahrscheinlich Übernachtungsgäste, wie Arashi vermutete - ihr Mittagsmahl einnahmen
[1]Ein gemütlich wirkender Wirt mit schelmisch funkelnden Augen, die ihn deutlich als Tian kennzeichneten, und einem üppigen Bauchumfang, lächelte den Neuankömmling von hinter dem Tresen aus an:
"Sieh da, ein neuer Gast!" begrüßte er Arashi auf Tian.
"Was kann ich für euch tun? Mein Name ist Takeda Ichizura, und ich bin der Besitzer des Goldenen Drachen. Sucht Ihr eine Unterkunft? Ich lasse Euch sogleich ein Zimmer herrichten! Und sicher wollt ihr etwas essen. Wir haben heute erst frischen Lachs bekommen, meine Frau wird Euch ein Festmahl zaubern!
HILDA! WIR HABEN GÄSTE!"Das letzte rief er nach hinten, und einige Augenblicke später steckte eine Ulfenfrau, die ihrem Mann von der Körperfülle in nichts nachstand, ihn dabei aber gut und gerne um eine Handbreit überragte, ihren Kopf durch eine Tür, die wohl zur Küche führen musste.
"Schrei nicht so, meine Ohren sind noch gut." schalt sie den Wirt in stark dialektgefärbtem Tian, strahlte dann jedoch Arashi mit einem breiten Lächeln an.
"Herrje, ihr seht ja komplett verhungert aus! Kommt, setzt Euch, ich bringe Euch erstmal eine große Kartoffelsuppe und einen gescheiten Krug Bier. Der Fisch ist dann in ein paar Minuten fertig, ich stelle gleich eine Pfanne auf."Sie verschwand wieder in der Küche, nur um zehn Atemzüge später mit einer hölzernen Schale und einem -
gebogenen Horn? fragte sich Arashi - wieder zurückzukehren; und ohne dass Arashi sich versah, saß er bereits vor einer dampfenden Schüssel, deren zwar fremdartiger, aber verlockender Duft ihn fast vergessen ließ, weshalb er eigentlich hergekommen war. Zufrieden nahm er einen Schluck des dunklen, schweren Bieres - denn das war es, womit das Horn gefüllt war - und ließ sich, zum ersten Mal seit Wochen entspannt, in seinen Stuhl fallen.