Es war schon Abend, als Orbus den kleinen Vorbis zu sich rief. "Was soll ich nur mit dir machen?" begann er das Gespräch, während der Neunjährige ängstlich den Blick auf seine Zehenspitzen richtete. Er konnte sich nicht erinnern, in den letzten Tagen irgendetwas kaputt gemacht zu haben, oder sonst etwas angestellt, wodurch er sich den Unmut des alten Zwerges hätte zuziehen können. Aber das musste nichts heißen, und so harrte der Junge der Dinge, die da kommen sollten. Immer wieder schielte er auf den anderen Mann, der in Vorbis Zimmer stand - wenn er es auch vermied, den Blick weiter zu heben als bis zu dessem Bauchnabel.
Es war ein Priester, soviel war klar; und nach allem, was Vorbis wusste, einer von denen, die sich im Haus des Wissens verkrochen: Oghmas Diener. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht vorstellen, worüber einer von denen sich bei seinem Ziehvater beschwert haben könnte.
Vorbis Stimme klang gar nicht aufgebracht, sondern fast sanft, als er fortfuhr, und der Junge entspannte sich etwas. So schlimm würde es schon nicht werden.
"Du bist anders als die anderen Kinder, mein Sohn. Immerzu steckst du deine Nase in meine Bücher, und ich möchte wetten, du hast sie alle schon mindestens einmal gelesen.""Da hast du recht", dachte Vorbis. Es war auch keine große Kunst, es waren ja nicht gerade viele.
"Ich konnte dir das Lesen und das Schreiben beibringen, aber du saugst das Wissen auf wie ein Schwamm, und die Weisheit eines alten Zwerges ist begrenzt. Du bist nicht wie die anderen, die die meiste Zeit draußen auf den Straßen verbringen, und deshalb habe ich mit Bruder Faldorn hier gesprochen. Er hat sich bereiterklärt, dich als Novize in den Orden aufzunehmen - dort haben sie eine Bibliothek, die seinesgleichen sucht. Ich bin sicher, du wirst dich dort wohlfühlen!"~~~
Nur ein paar Worte, und sein Leben hatte sich schlagartig verändert. Raus aus dem Waisenhaus, weg von seinen Freunden - auch wenn Orbus ihm versprochen hatte, dass er dort immer eine Heimat haben würde. Eine völlig neue Welt, und immenses Wissen hatten sich ihm geöffnet. Natürlich war der Junge verängstigt gewesen, als er von zu Hause - denn nie hatte er eine andere Heimat kennengelernt gehabt - weg musste, doch die Aussicht auf
Bücher hatte die Angst gelindert.
Nun waren sieben Jahre vergangen, und längst hatte Vorbis sich im Haus des Wissens eingelebt. Orbus hatte recht gehabt - es war genau das, was er gebraucht hatte. Natürlich bestand seine Ausbildung nicht nur darin, in der Bibliothek Bücher zu wälzen; aber genau das war es gewesen, was er in jeder freien Minute getan hatte. Die sonstigen Pflichten eines Novizen erledigte er zwar mit gebremstem Enthusiasmus, doch er erledigte sie, und so gab es nur selten Grund zum Klagen für die Priester des Ordens.
Zumindest war es bis vor etwa einem Jahr so gewesen, als Orbis plötzlich den Drang entwickelte, andere Dinge zu sehen als nur das Haus des Wissens. Es schien, als hätte sich all die Zeit, die er als Kind nicht draußen mit den anderen verbracht hatte, aufgestaut, und forderte nun seine Aufmerksamkeit. Und in Baldr fand er eins seiner "Geschwister", der ihm nur zu gerne dabei half, alles nachzuholen. Der Zwerg zeigte ihm vieles, was es in der Stadt außer Büchern so zu entdecken gab - darunter auch gutes Essen, Bier und Wein. Und auch wenn Vorbis Verstand genug zeigte, dem Alkohol nur in Maßen zuzusprechen, so hatte sich doch im Laufe des letzten Jahres sein Wanst deutlich entwickelt.
Heute jedoch würde sich vieles ändern, denn der junge Mann wusste noch nicht, dass er auf eine weite Reise geschickt würde, wenn er zurück in das Haus des Wissens kam.