Oldor hatte eine passende Stelle auserkoren und mit Hilfe des schweigsamen Tieflings war auch alsbald ein Grab ausgehoben. Sé besah sich indessen noch die Pfeile genauer, die aus dem Leib der Frau stammten.
An der Zeremonie nahm sie als Außenseiterin teil. Sie lauschte dem Abschied und den Trauerbekundungen. Zwar hatte sie schon ein paar solcher Zeremonien erlebt, aber noch niemals von Zwergen angeleitet. Die aufmerksame Frau versuchte alles in sich aufzunehmen und etwas mehr davon zu verstehen, wie die Männer die Welt, das Leben und den Tod wahrnahmen. Mit ihrem Druidenmeister im Wald hatte Sé vom Tod selten als endgültigem Abschied gesprochen, sondern stets als Teil eines großen Kreislaufes, einer fortwährenden Veränderung und Verwandlung von einer Energie in eine andere. Die Zwerge sahen dies wohl ganz anders. Sé verhielt sich ruhig. Sie wollte die ernste Zeremonie nicht stören.
Später, als sie sich mit den anderen zum Lagerfeuer setzte, welches sie zuvor mit Hilfe ihrer Druidenflamme entzunden hatte, drehte sie einen der Pfeile in ihren Händen. Nachdem auf Yazrins Anstoß hin geklärt worden war, in welcher Reihenfolge gewacht werden sollte, wandte sie sich an die Gruppe, um ihren Gedanken noch an diesem Tage Ausdruck zu verleihen:
"Nyall hat gemeint, die Frau wäre vielleicht von oben erschossen worden. Dagegen spricht, dass die Pfeile so wie ich es gesehen habe, nicht von oben, sondern von gerade hinten in den Körper gedrungen sind. Der verlorene Schuh deutet darauf hin, dass sie gelaufen ist und zwar in solcher Eile, dass es undenkbar gewesen wäre den Schuh aufzuheben. Vielleicht hat sie auch das Kind gehindert, das sie vielleicht getragen hat, ich denke aber nach wie vor, dass es zu schwer gewesen wäre mit einem Kind so weit und schnell zu laufen. Darüberhinaus gibt es keine Kinderspuren in der Nähe.
Die Frau und die Person mit den schweren Stiefeln waren, wie wir gesehen haben, nicht miteinander unterwegs, sondern nacheinander. Die Frau ist allerdings nicht in Richtung Heimat gelaufen, sondern nach Norden. Ist sie wirklich vor dieser zweiten Person geflüchtet?"
Sé reichte den Pfeil weiter: "Erkennt jemand diesen Pfeil? Ist es vielleicht ein elfischer?" Das Feuer knackte und der Schein zeichnete seltsame Schatten in die Finsternis um sie herum. Das Lager war ein wenig abseits aufgeschlagen worden, nahe einer kleinen Baumgruppe mit guter Übersicht über das umliegende Gelände. "Die Frau hat vielleicht jemanden verfolgt, oder wollte einen Ort erreichen, als sie von drei dieser Pfeile durchbohrt worden ist. Zwei steckten in der linken Schulter, einer darunter. Ist es nicht denkbar, dass wir es hier mit elfischen Bogenschützen zu tun haben, die eben keine Spuren hinterlassen haben? Wir können nicht sicher sein, dass der, dem die schweren Stiefel gehören, auch ihr Mörder ist. Ich glaube außerdem, dass sie erst nach den Schüssen gefallen ist. Die Senke war ja nicht so tief. Nach der Anordnung der Wunden zu urteilen, handelt es sich entweder um mindestens zwei Schützen, die unterschiedlich groß sind, oder um einen unbegabteren, der sicher gehen wollte, dass sein Ziel stirbt. Trotzdem erscheinen mir drei Pfeile etwas übertrieben. Was denkt ihr?"
Sé sah die ernsten Gesichter um sie herum und versuchte die morbide Stimmung etwas zu heben. Sie lächelte und meinte: "Bestimmt finden wir morgen mehr als nur weitere Fragen, wenn wir die andere Spur verfolgen!" Die junge Druidin fühlte sich erschöpft. Sie wartete ab, ob jemand weiter Gedanken zu dem seltsamen Fall anbieten würde und bereitete nebenbei ihre Schlafstätte vor.