Kapitel 1: Kerker des Geistes
(http://screenphoenix.de/orpg/tavern.jpg)
Stunden sind seither vergangen, als die kleine Gruppe die mollig warme Taverne am späten Abend betreten hat. Rufe und Gelächter schallten durch den holzgetäfelten Raum, in dessen Mitte eine steinerne Feuerstelle gemächlich brannte. Barmädchen liefen mit schnellen Schritten geschickt durch die Reihen von ausgestreckten Beinen und schweren Stiefeln – in jeder Hand ein paar volle Krüge – um die angetrunkene Kundschaft nicht warten zu lassen, während an den meisten Tischen lederne Becher und ein paar Würfel für die Abendunterhaltung sorgten.
Die Stimmung war ausgelassen und den Neuankömmlingen gefiel es. Das Essen war gut, ihre Krüge nie leer. Untereinander sprachen sie nicht, keiner hatte das Bedürfnis dazu. Auch bemerkten sie erst spät, dass eigentlich niemand von ihnen hier so richtig hinpasste. Sie alle trugen nur weiße Nachthemden mit aufgestickten Zahlen, deren Bedeutung ihnen unbekannt war, doch hatten sie kein Verlangen ihre Bedeutung zu erkunden.
Viele Gäste mussten wohl ortsansässig sein und doch kannte die kleine Gruppe niemanden. Als stille Beobachter schweiften ihre Blicke über den nächtlichen Trubel und die manchmal unsittlichen Spielereien derer, die zu tief ins Glas gesehen hatten. Nicht verwunderlich, das die Neuankömmlinge den gelblichen Nebel, der durch Fenster und Türspalte in den Raum zog, zuerst bemerkten. Lautlos zog er wie ein dicker Teppich knöcheltief über den Boden und füllte den Raum gänzlich. "He, du... Sach ma spinn ich o-o-der hat sichhh der Boden gelb gefärbt?" quasselte einer der betrunkenen Gäste rülpsend, dessen Gesicht seit geraumer Zeit in der Lache seines letzten Bieres lag, während er über die Tischkante hinab sah und am beiläufig am Ärmel seines eingeschlafenen Sitznachbarn zog.
Musik (https://www.youtube.com/watch?v=folmbwwcMss)
Die Eingangstür zerbarst mit einem lauten Knall in tausend Teile. Eisiger Wind fegte von draußen über die Köpfe der Gäste, ein paar Frauen schrien erschrocken auf. Der Wind verebbte so schnell, wie er gekommen war. Stille lag über dem Schankraum. Einige Gäste die Schutz gesucht hatten, spähten vorsichtig aus ihren Verstecken hervor. Dort wo gerade noch die Tür war, blickte man nun in die Schwärze der Nacht. Nichts war zu erkennen, doch konnte man etwas hören. Erst war es wie ein leises Keuchen, dann wurde es zu einem kehligen Flüstern. Ein Säuseln begann und wurde schnell lauter. Unsicher griffen einige Männer an ihre Waffengürtel, doch es war bereits zu spät. Der gelbe Nebel am Boden erhob sich wie stürmende Wellen auf See. Die Feuerstelle erlosch, Laternen gingen zu Bruch und es wurde stockfinster. Panik brach aus, Tische und Bänke wurden umgestoßen. Das Keuchen wurde lauter, irgendetwas hatte den Schankraum betreten. Schreie hallten durch den Nebel und erstarben plötzlich.
Schützend vor den umherrennenden Gästen hatte die kleine Gruppe sich auf die Eckbänke zurückgezogen. Für einen kurzen Moment lichtete sich der Dunst und eine kreischende Bedienung, ihr Gewand voller Blut, kam auf sie zu gerannt. In Todesangst riss sie humpelnd ihre Hand nach vorne um die Tischkante zu ergreifen, doch sie stockte mitten in der Bewegung. Zitternd und mit weit aufgerissenen Augen sah sie ungläubig an sich herunter. Aus ihrem Oberkörper ragte das Ende einer Bandage, die sich wie eine Schlange von Geisterhand wand und nun langsam weiter durch ihren Körper wanderte, ihren Hals umschlang und fester zudrückte. Mit letzter Kraft versuchte die Frau um Hilfe zu rufen, doch mit einem schnellen Stoß schoss das Ende der Bandage in ihren Mund und erstickte ihr im sterben liegendes Stöhnen. Wie eine Puppe wurde sie im Bruchteil einer Sekunde in den Nebel zurück gerissen. Mehr Todesschreie, mehr Gedränge. Blut spritzte neben den weiß gekleideten Gestalten an die Wand, ehe die Angst jeden von Ihnen übermannte und sie im Affekt in die Richtung rannten, in der sie den Ausgang vermuteten. Der Nebel schien nun jeden Winkel der Taverne zu füllen. In den Schwaden nahe der Tür erblickten sie eine wabernde Gestalt. Über und über mit Bandagen umwickelt, packte sie einen von euch und schleuderte ihn mit gewaltiger Kraft durch eines der Fenster nahe des Ausgangs. Von Furcht übermannt erreichte der Rest wie durch ein Wunder die eisige Gasse und stürmte nach draußen.
Für einen Moment schien es, als hätte man ihnen die Möglichkeit zu hören genommen. Es war still. Leichter Regen hatte begonnen. Nur. 42 lag zuckend mit gebrochenem Rückrat auf den nassen Pflastersteinen zwischen den Scherben des Fensterglases. Die Kleidung war zerrissen, Knochen ragten aus dem blutigen Rücken und eines seiner Augen war herausgerissen. Der Nebel schwappte aus dem Eingang der Taverne ins Freie und breitete sich schnell aus. Erneut durchbrach eine Bandage den Dunst und durchbohrte den sterbenden Körper. Die vier Verbleibenden zuckten zusammen. Wie eine Marionette wirbelte der halbnackte Körper durch die Luft und klatschte mit lautem Knacken gegen die nächste Wand, ehe er mit einem Ruck in das Haus zurückgezogen wurde. An der Wand lief Blut hinab. Ungläubig erkannten die vor Furcht erstarrten Männer, wie das Rot in Bahnen lief und plötzlich ein Wort ergab, "Mich".
Zuerst ergriff der Düstere den Arm von einem der anderen Männer und zerrte ihn mit aller Kraft mit sich. Auch die Frau konnte sich aus ihrer Starre befreien, doch einer der spärlich Bekleideten blieb stehen. Er hatte eine Klinge gezogen und stellte sich der Silhouette, die am Rande des Nebels auftauchte. Ein Peitschenhieb der Gestalt reichte, um den Kopf des Angreifers von seinem Körper zu trennen. In hohem Bogen überholte er die Flüchtenden und landete vor ihnen in der Ecke einer Weggabelung. Wieder hatte das Blut ein Wort geformt, "Rette" stand dort deutlich über die Straße geschmiert. Immer weiter rannten sie durch die Dunkelheit. Die Wände der Gasse rückten näher, als würden die wind- und wettergeprügelten Ziegelwände über dem Weg zusammenstürzen. Der dunkelrote, fast bläuliche, an einen üblen Bluterguss erinnernde Zwielichthimmel war kaum noch zu sehen. Wieder gabelte sich der schmierige Pflastersteinweg vor ihnen, ein Pfad führt aufwärts, der andere in gefährlicher Neigung abwärts. Hinter ihnen rückten der gelbe Nebel und die Schritte des gnadenlosen Verfolgers näher. Sie teilten sich auf, zwei nach oben und einer nach unten. Die Muskeln in ihren Beinen schmerzten, die Brust holte nur noch schwer Luft und ein Blick nach hinten verriet, dass sie ihren Verfolger nicht abgeschüttelt hatten.
Er hatte sie fast eingeholt, als die Schwaden sich teilten und die Gestalt in grauen Lumpen heraustritt. Die Stoffbandagen wirkten nun eher mehr Haut als Tuch und wanden sich fest um einen fast menschlichen Körper – die Gestalt war aber zu schlank und viel zu biegsam und beweglich. Gazeartige graue Fäden griffen nach den Verbliebenen, weitere Bandagen schlossen sich um ihre Hälse und tasteten gierig nach weniger irrealem Fleisch. Ihre Körper brannten. Sie wurden zu Tode gewürgt, während die Gestalt mit mehreren Klingen auf ihre wehrlosen Körper ein stach. Blut spritzte um sie herum und bildete weiter Worte an den Wänden der Gasse. "auf", "Wach", "verdammt". Ihre verstümmelten Körper waren taub geworden, die Folter spürte keiner mehr, nicht einmal die Kälte der Nacht oder den Regen, der das Blut von ihren bleichen Gesichtern spülte. Ihnen wurde schwarz vor Augen.
****
Musik (https://www.youtube.com/watch?v=N6z6pHenLTw)
Dumpfe Töne drangen an eure Ohren. Sie klangen weit entfernt und waren anfangs nicht verständlich, doch mit jeder Sekunde wurden sie deutlicher. Es waren Worte, jemand rief etwas. Eure verklebten Augen und verkrampften Glieder zitterten, als ihr langsam wach wurdet.
"WACHT ENDLICH AUF, VERDAMMT! HILFE!" schrie ein Mann, der außerhalb eurer Zellen[1] an einen Tisch gefesselt war und sich rüttelnd hin und her wälzte. Seine Panik schnitt wie ein Messer durch den klaustrophobisch fast dunklen Raum. Eine andere Gestalt umkreiste beiläufig den Tisch. Sie war beunruhigend dürr und trug einen blutverschmierten Arztkittel. Ab und an blieb sie stehen und inspizierte eine der Wunden des Mannes, dann tauschte sie das Stück Metall in ihrer Rechten mit einem anderen Gegenstand in der Schublade des Tisches. Das schwache Licht der Deckenlaterne schimmerte im Metall der zerbrochenen Heckenschere, welche sie nun locker wie ein Messer in die Hand nahm und sanft über das Bein des zitternden Gefesselten strich. "Schrei so laut du willst, dir kann hier niemand helfen." sagte sie, ihr Gesicht nun das erste Mal als das einer jungen Frau mit schwarzen Haaren und überlegenem Gesichtsausdruck erkennbar. Daraufhin übte sie mit grausamer Neugier Druck auf die Klinge aus und entlockte ihrem Gefangenen ein gequältes Aufheulen. "Bitte, NEEEEIIIIN!!! AHHHHH, HÖRT AAAAUF! AHHHHAAHAAA"
Eure Köpfe dröhnten, doch euch wurde schnell bewusst, dass ihr euch zusammen in zwei gegenüberliegenden Zellen befandet, gekleidet in weißen Nachthemden, auf deren Brusttasche eine Zahl gestickt war. Ihr hattet keine Ahnung, wo und wann ihr wart, doch was noch viel schlimmer war. Ihr wusstet nicht einmal, wer ihr wart.