Henry ärgerte sich ein wenig über Jurij. Er hatte gehofft, dass er ihn ein bischen unterstützen würde. Es war schon schwer genug, mit einer fremden Person ein Gespräch anzufangen, zumal wenn man einen sympathischen Eindruck hinterlassen wollte. Für einen Moment überlegte er, ob er etwas zu Jurij sagen sollte, entschied sich dann aber dagegen.
"Ja, bitte begleite uns zur Akademie.", sagte Henry und wischte einen Krümmel vom Tisch, der unweit von ihm zum Liegen kam. "Hat Deine Familie schon immer hier gearbeitet? Hast Du Geschwister?", fragte er dann.
Beiläufig holte er den Zettel hervor, den er heute morgen auf dem Fußboden gefunden hatte. Er schrieb mit Bleistift etwas darunter und reichte den Zettel dann an Harry weiter:
Ergänzter Brief (Anzeigen)Henry,
du wirst dich darum kümmern, dass sich Tai'Lor nicht weiter in unsere Angelegenheiten mischt. Mir ist egal, wie du es tust. Tust du es nicht, kümmere ich mich um Aria.
Und noch etwas: Halte dich von den Kindern fern.
***
Mit Dir spreche und verhandle ich nicht, Dämon. Du kannst nur existieren in der Dunkelheit und der Schwäche meines Fleisches. Ich werde Dir entgegentreten mit der Fackel des Glaubens und der Stärke des Geistes. Alles, weswegen Du Macht über mich hast, werde ich von mir abwaschen mit dem Wasser meiner Taufe. Denn ich bin gewiss, dass nichts Hohes noch Mächtiges mich trennen kann von der Gnade meines Vaters, welche gegeben ist in Jesus Christus.
"Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes!" (Mt 19,14)
Henry hatte zurecht erwartet, dass es Aria schwer fallen würde, ihm zu glauben. Ebenso war es auch gekommen, da Aria sichtlich mit Worten rang und Vergewisserung von ihm forderte. Und doch war es Henry deutlich, dass sie bereit war, ihm Glauben zu schenken. Dies machte wiederum Henry sicherer und er gewann seine Fassung wieder.
Henry schlug ein Kreuz vor der Brust und murmelte: "Get thee behind me, demon: thou art an offence unto me: flee this humble flesh and give room for the Holy Ghost"
"Himmel, ich wünschte, ich würde Dich einfach auf den Arm nehmen. Aber Du glaubst mir schon und weißt, dass ich nicht lüge. Wir können unsere Andersartigkeit und unser Unwissen über diese Welt kaum länger verstecken. Früher oder später wärst Du misstrauisch geworden. Ich sage Dir die Wahrheit aus Wahrhaftigkeit und zur Warnung.
Es ist nicht wie in Dantes Göttlicher Komödie. Eher wie in Miltons Verlorenen Paradies. Vor Urzeiten haben die Kinder des Himmels gegen ihren Schöpfervater rebelliert und wurden besiegt und hinabgestoßen in die Finsternis der Höllen. Von dort harren sie ihrer Gelegenheit, doch noch den Thron zu besteigen. Doch da sie Gott auf dem offenen Schlachtfeld nicht bezwingen können, beschließen sie, ihn fortan mit List und Tücke zu bekämpfen. Und da sie wissen, dass des Vaters liebstes Geschöpf der Mensch ist, schleichen sie sich ins Paradies und verführen den Menschen, so dass er seine moralische Unschuld verliert. Hinfort findet der Kampf zwischen Gut und Böse in der Seele des Menschen statt.
Denn von dem Urquell alles Bösen konnte
Solch eine tiefe Bosheit nur entspringen;
Um bis zur Wurzel das Geschlecht der Menschen
Verderbend, Erd' und Hölle zu vermischen;
Wir sind Opfer eines besonders garstigen Anschlag geworden, indem dämonische Mächte von uns Besitz ergriffen und uns über Umwege in diese Dimension rissen. Seither übernehmen sie immer Nachts die Kontrolle.
Und dies dem großen Schöpfer nur zum Trotz;
Doch mehrt ihr Trotz nur seine Herrlichkeit.
Doch verderben können sie nur das Fleisch. Wir werden unsere Seele zu verteidigen wissen. Wir werden sie austreiben und besiegen durch alles, was der Schöpfervater uns gegeben hat. Wir brauchen eine Reliquie, die mächtig genug ist, diese Geister auszutreiben. Unser Erster Hinweis ist, dass es hier in der Akademie einen Kristall geben soll, der solches bewirkt."
Arias Gespräch mit Henry - nur für Henry zu lesen! (Anzeigen)Als Henry zu Aria in den Flur kam, lächelte sie ihn an - allerdings mit einer offensichtlichen Nervosität. Selbst nachdem Henry die Tür geschlossen hatte, drückte sie noch einmal dagegen, wie um ganz sicher zu gehen, und zog Henry dann noch einige Schritte von der Tür weg.
Sie biss auf ihre Unterlippe, bevor sie sprach - oder vielmehr, flüsterte. "Danke, Henry. Was ich zu sagen habe, fällt mir nicht leicht, insbesondere, da ich mir nicht ganz sicher bin. Unter anderem deshalb, wollte ich es auch nicht in der großen Runde besprechen."
Ihr Blick fiel wieder auf die Tür hinter Henry, sichtlich nervös. "Es geht um Harry. Ich... ich bin nicht sicher, ob er noch er selbst ist." Sie seufzte, vor Erleichterung, die Worte gesagt zu haben, und sah Henry dann fest in die Augen. "Vielleicht ist sein Verhalten alles nur eine Folge von diesem seltsamen Sand. Vielleicht liege ich ganz falsch. Er sagt, das Ereignis ließe ihn mit dem Drachen in ihm selbst kämpfen, und das würde vieles erklären. Vieles, aber aus meiner Sicht nicht alles."
Kurz flog ihr Blick wieder zur Tür. "Als wir bei der Bibliothek waren, nach dem Brand... er wies mich drauf hin, wie gut du aussiehst. Vielleicht war es nur ein Scherz. Aber auch hier... ja, Harry spricht über Gefühle. Seine eigenen. Aber die der anderen? Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll, aber er wirkt auf mich nicht nur hochgefahren, aufgebracht, sondern... weiblich."
Sie biss erneut auf ihre Unterlippe, und sah den englisch-irischen Krieger vor sich mit zweifelndem Blick an. "Übertreibe ich? Oder meinst du, ich könnte Recht haben?"
Henrys Gespräch mit Aria (Anzeigen)Auch Henry war ein bischen nervös, als er mit Aria vor die Tür trat - doch aus etwas anderen Gründen. Er war dann doch etwas überrascht, als es bloß um Harry ging. Aber er war auch überrascht, da er selbst noch gar nicht auf den Gedanken gekommen war. "Ich bin mir nicht sicher, ob ich Dich verstehe. Du meinst, dass der Dämon die Kontrolle über Harry gewinnt?" Henry rieb sich nachdenklich am Kinn. Er blickte die hübsche Aria an und fühlte sich etwas durcheinander. "Nunja, möglich. Also ich weiß nicht, aber daran habe ich noch gar nicht gedacht. Er scheint mir einfach etwas durcheinander und hysterisch."
Henry zwang sich, nicht mehr zu Aria zu sehen. Er blickte zur Tür, als ob dort Harry selbst stehen würde. Er atmete hörbar aus und sagte dann müde: "Ich mache mir momentan keine Sorgen. Ich kenne ihn schon ein bischen. Er war schon früher etwas unorganisiert. Er hangelte sich von Gelegenheitsarbeit zu Gelegenheitsarbeit. Die Perspektive reichte kaum über das Morgen hinaus. Seine magische Abstammung war schon früher eine offene Frage, aber noch kein drängendes Problem, solange alles andere einigermaßen unter Kontrolle war. Er wusste ungefähr, was er tun dürfte und was nicht, um die größten Katastrophen zu verhindern. Doch jetzt hat sich das alles geändert. Ich glaube, es wird gerade etwas zu viel für ihn. Und ich wünschte, er hätte etwas, an das er glauben könnte. Aber er glaubt ja nicht einmal an sich selbst. Weißt Du, er hat sich nicht nur nicht immer unter Kontrolle, sondern er ist auch überzeugt, sich nicht unter Kontrolle zu haben. Jetzt umso mehr, da da noch eine weitere Kraft in sich hat."
Henry schüttelte leicht den Kopf. "Ich weiß nicht. Ich denke Dir jedenfalls für Deinen Hinweis und ich verspreche Dir, dass ich darauf achtgeben werde. Ja, ich werde ein Auge auf ihn werfen, so oft es geht. Okay, wollen wir wieder reingehen?"
Nur für Henry (Anzeigen)Aria sah Henry einen Moment nachdenklich an. "Du kennst ihn besser als ich. Aber verzeih mir, wenn ich trotzdem wachsam bleibe." Sie sah zur Tür. "Dann lass uns zurück zu den anderen gehen."
Trotz ihrer Worte bewegte sie sich nicht gleich, sondern schien noch etwas sagen zu wollen. "Trotz des Themas, ich fand es schön, einen Moment mit dir allein zu haben." Kaum hatte sie es ausgesprochen, wurde sie sichtlich rot im Gesicht, und eilte an Henry vorbei zur Tür, bevor dieser etwas darauf antworten konnte.
Die Tür öffnete sich wieder, und Aria kam herein. "Entschuldigt die Unterbrechung." Sie ging zurück zu ihrem Platz und setzte sich, ohne jemanden anzusehen. Auch Henry kam wieder zur Tür herein, und ging zu seinem vorherigen Platz. Dann war es doch Aria, die sich wieder an die Gruppe wandte.
"Dann ist es wohl jetzt Zeit für eine Entscheidung? Ich werde mich raushalten, dies hier ist eure Sache - aber wofür auch immer ihr euch entscheidet, ich begleite euch, solange ihr mich dabei haben wollt."
Arias Worten folgte eine weitere, kurze Diskussion, die schließlich zu einer endgültigen Entscheidung führte: Sie würden den Drachen in Asemna kontaktieren, dabei als Geschichtsforscher auftreten, und bei einer Einladung des Drachen versuchen, durch Arias Kontakte einen Platz in einem nach Asemna reisenden Zeppelin zu ergattern - sofern ihre Annahmen in dieser Hinsicht stimmten. Da es sicherlich etwas dauern würde, bis alles organisiert war, würden sie in der Zwischenzeit dem ursprünglichen Plan nachgehen und versuchen, so vie, wie möglich über das verschwundene Mädchen herauszufinden.
Dabei gab es zwei Dinge zu beachten: Henrys Treffen mit dem Gelehrten in der Bibliothek, und sie mussten noch einen genauen Weg vereinbaren, wie sie eigentlich das verschwundene Mädchen suchen wollten. Der offensichtlichste Weg, den wiederum Aria in den Raum warf, war, dass Jurij sein "Doppelleben" nutzte: Wenn er als Obayifo auftrat, hätte er Zugang zu der Organisation der Wölfe, und könnte vielleicht Obayifos persönliche Notizen oder ähnliches einsehen. Aria riet dabei davon ab, dass Jurij alleine ging.
Gefährlich würde der Versuch ohnehin werden, und es war unklar, wie die Wölfe auf weitere "Gäste" reagieren würden. Aber nach allem, was Jurij wusste, hatte Obayifo eine hohe Position inne, und würde vermutlich kaum hinterfragt werden. Wenn es aber zu einer Enttarnung kommen sollte, dann wäre es gut, wenn Jurij nicht alleine wäre.[1]
Doch das größte Problem würde zunächst sein, die Wölfe überhaupt zu finden. Die beste Chance hätten sie vermutlich, wenn Jurij noch einmal zu Ferrigan ging und ihn um Unterstützung bat. Er würde mit Boldon Kontakt aufnehmen können, der ihnen dann hoffentlich verriet, wo die Wölfe eines ihrer Verstecke hatten, und wie Jurij dort hereinkam.
Somit stand der Plan - nur wenn sie bei Ferrigan nicht weiter kämen, müssten sie noch einmal diskutieren. Also verabschiedeten sie sich von Arias Bekanntschaft, der ihnen sein Haus zur Verfügung gestellt hatte, und machten sich auf den Rückweg zum Tempeldörfle. Dort angekommen, verabschiedete sich auch Aria, um alles Nötige zu organisieren. Im Portal wollten sie sich wiedertreffen.
Jurij führte die Gruppe zum Gebäude der Gerichtswache, wo sie - bis auf Jurij - in einen Warteraum geführt wurden. Jurij erhielt - zum Glück - schnell einen Termin bei Ferrigan. Der Inspektor schien wenig begeistert, nickte aber. "Das muss Boldon entscheiden, auch wenn ich es für eine schlechte Idee halte, wenn ihr dort hingeht." Jurij hatte ihm keine Details erzählt, dennoch kam der Inspektor seiner Bitte nach und schrieb einen entsprechenden Brief. Zehn Minuten später, die Jurij im Warteraum bei seinen Gefährten verbrachte, erhielten sie einen Antwortbrief.
Harry hatte die Zeit genutzt, eine Landkarte zu studieren, die in dem Raum an der Wand hing, und sich draußen auf dem Gang mit der einen oder anderen Gerichtswache zu unterhalten. Rillfarsell beschäftigte sich mit dem Singen eines kleinen Liedes, Henry wandte sich seinen Gebeten zu, und Kara dachte über ihr früheres Leben nach, und wie sehr die letzten Ereignisse sie verändert hatten.
Schließlich kam ein junger Mann der Wache mit einem versiegelten Brief zu ihnen. Jurij öffnete ihn. Der Brief zeigte eine Karte vom Tempelviertel, in der eines der Gebäude markiert war.[2]
Der Brief enthielt zudem einen Zettel mit einem einzigen Satz darauf: "Die Nacht gehört den Göttern." - vermutlich ein Code, den Jurij brauchen würde, um hereingelassen zu werden.
Damit waren sie soweit: Sie waren bereit, den Unterschlupf der gefährlichsten kriminellen Organisation der Stadt aufzusuchen. Ihnen blieb nicht viel Zeit: Den Rückweg zur Bibliothek eingerechnet, hatten sie noch eine gute halbe Stunde Zeit für ihre Aktion.
Auf einmal wurde Harry schwindelig. Benommen stolperte er zu einem der kargen Holzstühle, die an der Wand standen, und setzte sich hin...