Halluzination (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=7773.msg855616#msg855616)
Hintergrundstory (Anzeigen)
Arjen Bucalo
Sechs Jahre sind eine lange Zeit.
Ich war mit sechzehn zur Musterung des Heeres bei uns im Dorf angetreten. Mutter hatte geweint, Vater hatte geschrien. Aber auf der einen Seite standen die Verheißungen von Abenteuer, Ruhm und Erfolgen, auf der anderen die Aussicht darauf, in endloser Schleife Jahr für Jahr auf den kargen Feldern von Fendra mein Leben zu vergeuden, wie mein Vater. Nicht mal die Götter selbst hätten mich umstimmen können.
Der Offizier musterte uns abgemagerte Bauernburschen so geringschätzig, wie man die Totgeburten in einem Ferkelwurf mustern würde – aber er nahm uns; Liur expandierte. Liur brauchte Soldaten – und sei es nur, um Latrinen auszuheben, oder Feuerholz zu sammeln.
Und genau das war unser Alltag in den ersten Monaten. Als Frischling bist du in der Truppe ganz unten. Drill und niedere Arbeiten, dazu die Herumschubserei der älteren Soldaten – doch das Schuften zahlt sich aus. Ich legte an Muskelmasse zu und wurde besser mit dem Schwert. Ich habe mich nie beschwert und habe die Härte schweigend ertragen. Das verschafft einem einen Platz im Heer und Respekt unter den Männern.
Nach einem Jahr hat mich einer der Offiziere zu sich gerufen und Lord Haroldson, einem der Befehlshaber des Heeres, als Knappen zugeteilt. Ich war überrascht – diese Aufgabe fiel meist Sprösslingen aus Adelsfamilien zu – doch ich erfuhr, dass Lord Haraldson das schon immer anders gehalten hatte.
Zwei Jahre lang kümmerte ich mich als Knappe um sein Pferd, seine Rüstung und seine Waffen. Richtete sein Zelt, machte sein Feuer, kochte sein Essen. Es waren weiterhin niedere Arbeiten, wenn auch nun für einen hohen Herren. Aber Lord Haraldson war auch dafür bekannt, seine Knappen mit Bedacht zu wählen und sie zu Offizieren zu formen. Er ließ mich bei jeder Besprechung schweigend im Zelt sitzen und erklärte mir oft im Nachgang Sachverhalte. Ich lernte von ihm Taktik und Strategie. Lernte, wie man mit Offizieren und einfachen Soldaten spricht. Wie man Gelände und Wetter berücksichtigt. Welche Truppen gegen welche Feinde am effektivsten sind. Wann zahlenmäßige Übermacht von Bedeutung und wann sie bedeutungslos wird. Was die Moral einer Truppe ausmacht und wie sie zu pflegen ist. Wie das Lager vor und nach einem Kampf und wie es während des Marsches aufzuschlagen ist. Wie man den nötigen Nachschub berechnet und absichert. Kurz: Er lehrte mich, Krieg zu führen.
Als er fand, dass ich genug gelernt hatte, wurde ich selbst zum Offizier ernannt. Zwanzig, dann fünfzig, dann 200 Mann unter meinem Kommando. Wir haben viele Schlachten geschlagen und meine Männer waren so gut, wie Haraldson mich gemacht hatte: hohe Disziplin, verlässlich, unbeugsam - oft die niedrigsten Verluste bei fast immer hohen Opferzahlen.
Es war Krieg – viele der Männer, gegen die wir zogen, verdienten den Tod. Andere waren Soldaten wie wir, die für ihre Sache kämpften – und wir kämpften für die unsere. Ich hatte nie ein Problem mit dem Töten. Es war eine bedauerliche Notwendigkeit, mit der man zu leben hatte.
Aber es hat mir auch nie Freude bereitet. Und ich habe nie verstanden, wie manche der Männer im Heer – Offiziere, oder auch einfache Soldaten – so viel Freude an dem Schlachten haben konnten. Ich habe diesen Funken in ihren glasigen Augen gesehen, als sie sich ins Getümmel stürzten. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr war ich davon überzeugt, dass dieser Funke gefährlich sein musste für alle von uns.
Bei einem unserer Gespräche im Lager teilte ich diese Gedanken mit Lord Haraldson. Er nickte nur bedächtig, als ich sprach. „Ich weiß, Arjen. Darum habe ich dich ausgewählt.“ Er deutete mit seinen Armen auf die Krieger um uns herum. „Die meisten dieser Soldaten sind anständige Männer. Aber das Tier haust in jedem von uns – und die meisten Menschen können in der Schlacht nicht zwischen sich und dem Tier unterscheiden. Ohne Männer wie dich, würde das Heer kein Recht und keine Ordnung bringen, sondern wäre eine blutrünstige Bestie. Du musst die Männer um dich herum im Zaum halten, wenn das Tier sie überkommt. Männer wie du müssen das Heer lenken.“
„Aber Herr“ fragte ich, „wenn das so ist, warum nehmen wir überhaupt diese Männer ins Heer auf?“
Da lächelte er mich nur bitter an. „Du missverstehst da etwas, Junge. Diese Männer sind das Heer.“
Also lenkte ich das Heer, so gut es ging – zumindest meinen unendlich kleinen Teil davon. Ich wählte besonnene Männer als Unteroffiziere und hielt meine Kämpfer zurück, wenn die Schlacht vorbei und nur noch ein unnötiges Gemetzel zu erwarten war. Ich hielt das Tier im Zaum. Und ich hatte meinen Frieden damit.
Es war mein sechstes Jahr im Heer. Ein kalter Novembermorgen, der Nebel nahm uns die Sicht – bis auf wenige Fuß umgab einen nur milchiges Weiß. Die ersten Strahlen der Sonne zeigten sich matt und unscharf hinter dem Dunstvorhang am Horizont – kaum Licht.
Es sollte ein Überraschungsangriff werden. Das Angriffsziel waren die befestigten Stellungen des Feindes in einem Dorf vor uns. Ich hatte bei der Offiziersbesprechung am Morgen meine Bedenken geäußert: der Nebel nahm uns jede Sicht, an geordnete Truppenbewegungen war nicht einmal zu denken. Aber der Kommandant winkte ab – die Sicht sei ein noch größeres Hindernis für den Feind. Also hatte ich meine Männer versammelt und gab den Befehl, die feindliche Stellung im Galopp zu stürmen.
Als erstes sahen wir die Pfeile aus dem Nebel auftauchen und auf uns zufliegen. Aber der Feind hatte ebenso schlechte Sicht wie er – wir sahen ihn nicht und das bedeutete, dass er auch uns nicht sah. Die Schützen hörten wahrscheinlich uns heran galoppieren und zielten auf das Geräusch. Kein einziger Pfeil traf sein Ziel. Dann schälten sich langsam die schwarzen Umrisse einer niedrigen Palisade aus angespitzten und schräg in den Grund gerammten Holzstämmen aus dem milchigen Grau heraus – und dann endlich die undeutlichen, schwarzen Silhouetten der Schützen dahinter.
Wenn ich Männer in den Kampf schicke, dann ist es nur recht und billig, wenn ich sie auch anführe. Ich ritt voran und war als erster an der Palisade, meine Truppe folgte in loser Formation dicht auf. Zwei der Schützen standen vor mir auf der anderen Seite der Befestigung und legten auf mich an. Ich gab dem Pferd die Sporen - mein Hengst holte aus und übersprang die Palisade mit Leichtigkeit. Seine Vorderhufen trafen einen der beiden im Brustkorb und rissen ihn zu Boden. Mein Hengst landete auf ihm und ich hörte die Knochen des Mannes unter ihm brechen. Gleichzeitig holte ich selbst mit dem Schwert aus und öffnete dem anderen Schützen den Brustkorb, bevor er seinen Pfeil auf mich abfeuern konnte.
Aber ein anderer Pfeil schälte sich aus dem Nebel und schlug im Hals meines Hengstes ein. Das arme Tier bäumte sich auf und brach dann wiehernd zusammen. Dabei begrub es mein linkes Bein unter sich. Gequält wieherte es immer weiter und warf seinen Hals hin und her. Ich versuchte mich unter ihm herauszuziehen, doch ich kam nicht frei.
Um mich herum brachen meine Männer durch die Palisade und machten die Feinde nieder. Wir hatten das Dorf erstürmt. Wer immer der Schütze gewesen war, entweder hatte ihn einer meiner Männer erwischt, oder er hatte zumindest keine Sicht mehr auf mich, denn es kam kein weiterer Pfeil.
Wieder versuchte ich, mich unter dem sterbenden Hengst herauszuziehen, aber dann fuhr ein stechender Schmerz mein Bein hoch und zwang mich zum Innehalten – anscheinend war es gebrochen.
Plötzlich nahm ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr – einer der Schützen pirschte sich dicht an die Palisade gedrängt an Freund und Feind vorbei. Seine Gestalt schälte sich langsam aus dem Nebel - und dann rannte er auf mich zu. Seinen Bogen hatte er fallen lassen und dafür ein langes Messer gezogen, mit dem er sich nun auf mich stürzte.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass mir im Sturz das Schwert aus der Hand gerutscht war. Es lag nun gut einen Fuß von mir entfernt. Ich wusste, dass es gleich vorbei sein würde, wenn ich es nicht zu packen kriege. Also streckte ich mich mit aller Kraft. Ich bekam es gerade rechtzeitig zu fassen, um damit das heransausende Messer zu Seite zu lenken. Die Klinge schnitt nur wenige Zentimeter an meinem Gesicht vorbei durch die Luft. Der Angreifer verlor durch die abgelenkte Klinge für einen Lidschlag das Gleichgewicht, taumelte und öffnete dadurch seine Deckung. Ich nutzte die Möglichkeit und stach zu. Die Klinge bohrte sich mitten durch den Bauch und brach aus dem Rücken heraus. Die Klinge ließ einen Ruck durch den ganzen Körper des aufgespießten Schützen fahren. Während seine Beine unter ihm nachgaben, drückte er die Brust heraus und warf seinen Kopf zurück. Dabei fiel auch die Kapuze seines Umhangs zurück, die bis dahin sein Gesicht verborgen hatte.
Ich schrie und riss entsetzt die Augen auf. Es war ein junges Mädchen – vielleicht dreizehn Jahre alt – dass mich da mit einer Mischung aus Überraschung und Schmerz anschaute. Erst jetzt erkannte ich, wie schmächtig der Angreifer gewesen war – wie leicht ich sein Gewicht auf der Klinge hielt. Einige Strähnen ihres braunen Haares hingen ihr von der Stirn herunter ins Gesicht. Die Augen waren weit aufgerissen und die smaragdgrünen Pupillen fixierten mich. Dann röchelte sie und ihr Körper rutschte an der Klinge auf mich zu.
„Nein!“, flüsterte ich entsetzt. Sie begann zu röcheln und Blut lief ihr aus dem Mund. Dann fiel ihr das Messer aus der Hand.
„Nein! Nicht!“ Ich senkte das Schwert und packte sie mit der anderen Hand an den Schultern, legte sie langsam auf dem Boden ab. Aber da war der Blick in ihren Augen bereits gebrochen – sie war tot. Wie in Trance starrte ich auf ihr hübsches Gesicht, das jetzt blutbesudelt und leblos war.
Dann kam mir ein furchtbarer Gedanke. Ich sah zum toten Schützen herüber, dem mein Hengst den Brustkorb zerschmettert hatte, und erkannte einen grauhaarigen Greis. Und als ich hinüberschaute zum anderen Angreifer, sah ich eine stämmigen Bäuerin, der ich mit meinem Schwert den Brustkorb geöffnet hatte.
Plötzlich flog ein Wurfgeschoss wenige Zentimeter von mir entfernt durch mein Blickfeld und der Lärm des Kampfes holte mich wieder zurück. Ich schaute auf und sah meine Männer die Bewohner dieses Dorfes – Greise, Frauen und Kinder – niedermetzeln. Ich öffnete den Mund, um einen Befehl zu geben, konnte aber keinen Laut herauspressen. Erst beim zweiten Versuch gelang es mir, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken und ich schrie mit rissiger Stimme: „Angriff abbrechen! Das sind Bauern. Angriff sofort abbrechen!“
Einige der Männer hielten inne und schauten zu mir hinüber. Aber die meisten hatten mich nicht gehört und machten weiter.
Ich holte noch einmal aus. „Angriff sofort abbr…“ – plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz in der Schläfe und alles versank in Dunkelheit.
Ich wachte mit einem Keuchen auf und versuchte, mich aufzurichten. Da spürte ich Hände an meinen Schultern, die mich zurück auf das Feldbett drückten. Gesdol, mein Stellvertreter, beugte sich über mich. „Ruhig, Hauptmann.“ Als ich mich umsah, erkannte ich, dass ich im Feldlazarett lag.
Mein linkes Bein war steif und unbeweglich bandagiert und meine Schläfe pochte vor Schmerz. Als ich mir an die Stirn fasste, ertastete ich einen verkrusteten Verband. Ich ließ den Kopf wieder auf die trage sinken.
„Was ist passiert?“, fragte ich.
Gesdol deutete auf meine Beine und dann auf den Kopf. „Der Hengst, der dich unter sich begraben hatte, hat dir das linke Bein gebrochen. Und du wurdest von einem Stein an der Stirn getroffen und hast das Bewusstsein verloren. Es war ein Junge mit einer Steinschleuder – kaum zehn Jahre alt.“
Er hielt kurz inne, holte tief Luft. „Dieser Nebel, dieser verdammte Nebel – wir haben erst gemerkt, gegen wen wir kämpfen, als du den Befehl gegeben hast. Ich und die anderen, die dich gehört haben - wir haben ihn weitergegeben und die meisten Männer haben sofort die Waffen gesenkt. Aber dann kam Verstärkung aus dem Lager, angeführt vom Kommandanten. Er…“, Gesdol zögerte, als wüsste er nicht, wie er es ausdrücken sollte. „Er gab Befehl, weiterzumachen, Hauptmann. Wir sollten niemanden im Dorf am Leben lassen.“
„Was bitte?“ Ich starrte ihn ungläubig an, als wäre das alles ein böser Fiebertraum.
„Viele der Männer wichen überrascht zurück. Sie waren entsetzt.“ Gesdol wandte den Blick ab. „Aber viele andere waren es nicht. Es hat niemand überlebt.“
Ich schloss die Augen und schluckte die bittere Galle hinunter. Vor meinen geschlossen Lidern sah ich wieder das Gesicht des jungen Mädchens auf mich herabschauen. „Frauentöter. Kindermörder.“ Ich schüttelte den Kopf. „Für unsere Taten kann es nie Vergebung geben, Gesdol.“
Er sagte nichts. Es gab nichts mehr zu sagen. Ich hörte nur, wie der er die Luft einsog, sich dann die Hände vors Gesicht schlug. Wir verharrten einige Zeit so.
Irgendwann kam ein Sanitäter vorbei, um meinen Kopfverband zu wechseln und Gesdol stand zum Gehen auf. „Der Arzt sagte mir, dass du erst in einigen Wochen wieder laufen können wirst“, sagte er mit entrückter Stimme. „Wir werden dich auf einem der Materialwagen transportieren. Wir brechen morgen zurück in die Heimat auf.“
Dann ging er.
Am ersten Tag, an dem ich wieder laufen konnte, bat ich darum, zu Lord Haraldson vorgelassen zu werden. Ich wollte wissen, wieso. Und er sagte es mir.
Seit mehr als einem halben Jahrhundert waren die Dörfer dieses Landstrichs die Quelle immer neuer Unruhen und Aufstände gewesen. Auf jede Befriedung war eine neue Erhebung gefolgt. Nun hatte der König beschlossen, dieses Nest ein für alle Mal auszuräuchern. Die Menschen dieser Dörfer sollten verschwinden und gefügige Untertanen an ihren Platz ziehen. Haraldson bemühte sich, die Geschichte in einem sachlichen Ton vorzutragen. Aber ich hörte in seiner Stimme, wie sehr der Vortrag an ihm zehrte.
Als er geendet hatte, schüttelte ich ungläubig den Kopf. „Wusstet Ihr davon?“
Er nickte. „Ja, wusste ich. Ich habe versucht, den Kommandanten umzustimmen, aber ein Befehl des Königs steht nicht zur Debatte.“
„Ihr habt mir gesagt, dass Männer wie ich das Tier zähmen sollen“, sagte ich. „Doch wie soll ich das tun, wenn der König selbst nach diesem Gemetzel verlangt hat?“
„Da kannst du nichts tun, Arjen.“ Er deutete mit dem Finger nach Westen, in Richtung der vernichteten Dörfer. „Dieses Morden konntest du nicht verhindern. Manchmal ist das so. Aber du kannst dafür sorgen, dass so etwas so selten wie möglich passiert.“
Ich schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht akzeptieren.“
Er ließ die Hände sinken. „Dir bleibt nichts anderes übrig, Junge. Keinem von uns bleibt etwas anderes übrig.“
Ich schaute ihn an. Ich hatte gehofft, dass er mir etwas anderes sagen würde. Dass es etwas gäbe was, ich nicht bedacht hatte. Aber insgeheim hatte ich gewusst, dass es dem nicht so war. Und jetzt hatte ich keine Ausreden mehr, es weiter hinauszuzögern. Ich griff an den Kragen meiner Lederrüstung, machte die eisernen Insignien, die mich als Offizier des Heeres auswiesen los und legte diese auf den Tisch. „Doch – mir bleibt etwas anderes übrig. Kommandant Haraldson, ich bitte darum, mich meiner Pflichten zu entbinden. Ich möchte das Heer verlassen.“
Einige Augenblicke schaute Haraldson überrascht auf mich und dann auf die Stahlplakette zwischen uns. „Damit hilfst du niemandem,“ sagte er schließlich. „Nicht dir. Nicht deinen Männern. Nicht den Unschuldigen, die in diesem Dorf gestorben sind. Und auch nicht denen, die noch sterben werden.“
„Nein – das stimmt“, antwortete ich. „Aber ich sorge dafür, dass ich nie wieder einen anderen Menschen töten muss.“
Er schüttelte den Kopf. „Glaub‘ mir, mein Junge – so einfach ist es nicht. Um dieses Ziel zu erreichen, wirst du, fürchte ich, nicht nur diese Armee, sondern schon diese ganze verdammte Welt hinter dir lassen müssen.“ Er hielt kurz inne und schaute zu mir auf. „Aber ich werde dir deinen Willen nicht verweigern.“
Seine Rechte griff nach der Plakette auf den Tisch und steckte sie ein. Dann stand der Lord auf und streckte mir die Hand entgegen. „Hauptmann Arjen Bucalo, hiermit entspreche ich Ihrem Austrittsgesuch und entlasse Sie mit sofortiger Wirkung aus den Diensten des Königlichen Heeres von Liur.“
Ich stand auf und drückte dem Mann, der für mich zum Vater geworden war, die Hand. „Danke, Herr.“
Er nickte mir zu. Als ich seine Hand loslassen wollte, hielt er sie noch einmal fest und schaute mir in die Augen. „Pass auf dich auf. Ich wünsche dir, dass du den Frieden findest, den du suchst, mein Junge.“
Ich konnte nicht wieder nach Hause – ich wollte irgendwohin, wo mich niemand kennt. Wo es nicht viele Menschen gab. Wo ich von vorne anfangen konnte.
Lord Haraldson hatte dafür gesorgt, dass ich bei meinem Austritt für meine Dienste im Heer ausbezahlt werde. Nach Sechs Jahren im Feld, ohne Gelegenheit und Willen, etwas vom Sold auszugeben, summiert sich selbst die karge Entlohnung der Heerkasse zu etwas Spürbarem auf. Ich war kein reicher Mann. Aber ich hatte genug, um eine abseits gelegene baufällige Stallung samt Haus und ein paar Morgen Weideland zu kaufen, nahe einer kleinen Bauernschaft im Schatten Aradans.
Ich ging es langsam an. Die Abgeschiedenheit und die Ruhe dieses Ortes waren wie ein Segen. Ohne Eile besserte ich Haus und Stallungen aus. Nach den Jahren im Heer kannte ich die Tiere und wusste, mit Ihnen umzugehen. Ich begann, Wildpferde aus den umliegenden Ebenen zuzureiten und baute mir eine kleine Zucht auf. Zwei Jahre vergingen – in wohltuender Einsamkeit, aber ohne Frieden.
Es war an einem regnerischen Herbsttag auf dem Markt der Bauernschaft, als ich auf Diana traf und mich in sie verliebte. Wissen die Götter, wieso, doch anstatt mich fortzuschicken, ließ sie mich um sie werben. Ein halbes Jahr später hielt ich bei ihrem Vater um ihre Hand an und führte sie zum Altar und dann in mein Haus. Und ein Jahr später schenke sie mir Lukas – meinen Sohn.
Als Lukas fünf Jahre alt wurde, begannen wir drei, regelmäßig mit den Pferden in die Ebenen auszureiten. Bei einem dieser Ausritte, an einem heißen Sommertag, ritt Lukas voran und ließ seinen Hengst in Galopp verfallen. Ich schrie ihm nach, er solle langsamer machen, doch er kicherte nur. Und neben mir lachte Diana schallend. Da wurde mir plötzlich bewusst, dass ich seit fast einem Jahr nicht mehr von dem Mädchen mit den braunen Haaren geträumt hatte. Ich dachte, die Götter hätten mich vergessen. Ich dachte, ich hätte meinen Frieden gefunden.
Ich war gerade auf dem Rückweg nach Hause von einem der lokalen Pferdemärkte, als mir der Nachbarsjunge atemlos entgegengelaufen kam. Sobald er mich sah, begann er mit den Armen zu wedeln und nach mir zu suchen.
„Onkel Arjen, mein Vater sucht dich! Es ist etwas passiert!“
„Was ist los?“, fragte ich.
Doch der Junge schüttelte nur den Kopf. „Er sagte nur, ich soll dich sofort holen.“
Ich zog ihn zu mir aufs Pferd und trieb das Pferd so schnell an, wie ich konnte. Als wir uns unserem Gestüt näherten, spürte ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Vor unserem Haus erkannte ich einen einzelnen Mann. Es war Minstral – unser Nachbar, der Vater des Jungen. Er kniete vor etwas, was auf dem Boden lag, was ich aber zunächst nicht erkennen konnte.
Als wir näher kamen, erkannte ich, wovor er kniete und mein ganzer Körper verkrampfte sich. Ein Körper – bedeckt mit roten Blutspritzern. Ein braunes Kleid und die pechschwarzen Haare von Diana. Und drei Schritt weiter lag ein weiterer, kleinerer Mensch reglos auf dem Boden – mein siebenjähriger Junge.
Plötzlich bockte das Pferd auf und warf uns fast um. Ich habe das schillernde Wiehern des Hengstes nicht gehört, nur die Stimme des Jungen hinter mir: „Onkel Arjen! Onkel Arjen! Hör auf zu schreien, du erschreckst den Hengst Und lass seinen Hals los – du tust ihm weh!“
Ich ließ das Pferd los und galoppierte weiter. Wenige Schritte vor Minstral und Diana hielt ich es an und sprang ab.
Er hatte sie getötet. Dieses Tier – der Sohn des Bauernrats. Er hatte schon in der Vergangenheit sich einige Male an Diana ran gewagt, aber nachdem ich ihn mir zu Brust genommen hatte, hat er sich aus Angst ferngehalten. Ich hätte den Bastard gleich umbringen sollen.
Minstral erzählte mir, was er wusste. „Ich war in der Nähe, habe eines meiner Schafe gesucht – da hörte ich Diana schreien. Als ich hier ankam, sah ich nur noch von weitem, wie er weggallopierte. Er hat wohl versucht, sich ihr aufzuzwingen, aber sie hat sich gewehrt. Sieh nur das Messer in ihrer Hand – es ist blutig.“ Minstral stockte, eine Träne lief seine Wange hinunter. „Es tut mir so leid, Arjen. Sie muss ihn getroffen haben. Und er hat sie wohl aus Wut erschlagen.“ Er seufzte. „Er muss wohl Lukas erschlagen haben, damit es keine Zeugen gibt. Ich wünschte, ich wäre eher da gewesen. Es tut mir so leid.“
Ich sagte nichts. Ich saß nur da, mit schmerzverzerrtem Gesicht voll von Tränen und Rotz, die Augen geschlossen, und wiegte Lukas in den Armen, während Dianas Kopf in meinem Schoß lag.
Irgendwann trafen andere Nachbarn und Menschen aus der Bauernschaft ein. Es tat ihnen allen leid. Mistral, Mistrals Frau, den anderen Nachbarn. Dem Priester, der herbeigeeilt kam, um mir zu erklären, dass ich sie nicht einfach auf meinem Land begraben könne. Ganz besonders Begor, dem Scheriff der Bauernschaft.
Er beugte sich über mich und legte mir die Hand auf die Schulter. „Arjen, er ist geflohen, aber wir suchen ihn. Ich verspreche dir, wir werden ihn finden. Ich werde nicht aufgeben, bis der Bastard dafür bezahlt hat, hörst du? Ich gebe dir mein Wort darauf.“
Ich schwieg immer noch. Ich wusste, dass Begor es ehrlich meinte – er war ein guter Mann. Aber ich wusste auch, dass es so nicht geschehen würde. Bei einem Mord in einer Bauernschaft wird lokal ermittelt. Begor hätte bereits Mühe, in den umliegenden Siedlungen ernsthaft nach dem Mörder zu suchen, geschweige denn in der Stadt selbst. Und der Vater des Mörders hatte mindestens in drei der Bauernschaften von Aradan Verwandte und genauso auch innerhalb der Mauern. Alles, was dieses Tier zu tun brauchte, war ein paar Wochen in der Wildnis auszuharren, bis der Staub sich gelegt hatte, und dann an einem dieser Orte Unterschlupf zu suchen. Nein – wenn er dafür bezahlen würde, dann auf andere Weise. Und bei den Göttern, er würde dafür bezahlen.
Nach und nach wurde die Menschentraube kleiner. Nach und nach gingen die Nachbarn – allesamt gute Menschen. Viele boten ihre Hilfe an, doch ich schickte sie ab. Bei dem, was ich vorhatte, brauchte ich keine Hilfe.
Ich begrub meine Familie auf einer Anhöhe vor unserem Haus, auf dem Gestüt. Von hier aus hatten sie einen guten Blick auf unser Heim und die weiten Felder, auf die wir ausgeritten waren. Es hätte ihnen gefallen. Egal, was der Priester sagte – hier gehörten sie hin.
Dann ging ich zum Dachboden unseres Hauses und öffnete eine Kiste, die dort seit meinem Einzug vor mehr als neun Jahren ungeöffnet gelagert hatte. Die Angeln kreischten auf – sie hatten Rost angesetzt. Aber nicht mein Schwert. Es war noch so scharf, wie an dem Tag, an dem ich es weggesperrt hatte – verbannt hatte aus meinem Leben.
Ich gurtete es an und ging zu den Stallungen. Dort suchte ich mir mein schnellstes Pferd aus – eine wilde Stute aus dem Norden. Und dann ritt ich los.
Der Sohn des Bauernrats war kein geübter Reiter. Seine Spur ließ sich recht leicht verfolgen – zumindest für jemanden, der im Heer gedient und oft genug Erkundungstrupps angeführt oder abgefangen hatte.
Die Nacht war bereits angebrochen, als ich ihn fand. Er hatte sich in einem der umliegenden Wäldchen versteckt, aber wohl aus Angst nicht darauf verzichtet, ein kleines Lagerfeuer zu entzünden. In der Dunkelheit hätte ich seine Spur beinahe im Unterholz verloren, doch das Feuer führte mich geradewegs zu ihm. Als ich auf die Lichtung hinausritt, kauerte er ängstlich vor den Flammen. Dann bemerkte er mich und sprang entsetzt auf, um fortrennen. Er hatte noch keine zwanzig Schritt getan, als ich ihn einholte und mit einem Schlag auf den Hinterkopf mit dem Schwertschaft zu Fall brachte. Dann stieg ich ab.
In sechs Jahren als Soldat lernt man viele Arten, einen Menschen zu töten. Schnelle, gnädige, schmerzvolle, langsame. Im Kampf hat man nur selten die Wahl. Man schlägt zu, wenn sich einem die Gelegenheit bietet, denn es könnte die letzte sein. Wann immer ich aber die Wahl hatte, habe ich meinen Feinden einen schnellen Tod zu bereiten versucht. Auch heute hatte ich die Wahl. Und ich wählte für ihn die langsamste Art des Sterbens, die ich kannte.
Es sollte die ganze Nacht dauern – schleppend und voller Qualen. Und so war es dann auch. Am Anfang bettelte er um sein Leben. Danach bettelte er um seinen Tod. Zum Schluss drohte er mir, dass seine Schreie in der ganzen Umgebung zu hören seien, und dass es nur noch eine Frage von Stunden sei, bis ein ganzer Trupp von Gardisten hier auftaucht, um mich festzunehmen. Irgendwann verstummte er endlich und konnte nur noch ein leises Stöhnen von sich geben.
Ich habe in der ganzen Nacht kein Wort mit ihm gesprochen. Er war es nicht wert. Ich wusste, dass er recht hatte mit seiner Drohung. Bei seinen letzten Atemzügen hörte ich die galoppierenden Pferde näher kommen. Ein einfacher Stoß ins Herz oder ein sauberer Schnitt an der Kehle – ich wäre vor Eintreffen der Gardisten weg gewesen.
Aber es schien mir nicht richtig.
Es schien mir nicht richtig, diesem Bastard auch nur einen einzigen Augenblick seiner Qualen zu ersparen. Für das, was er Diana und Lukas angetan hatte, verdiente er jede Sekunde davon.
Und es schien mir nicht richtig, wegzulaufen. Ein Mann sollte sein Schicksal annehmen. Ich hatte schon einmal versucht, davor wegzulaufen, und meine Frau und mein Sohn hatten es mit ihrem Leben bezahlt. Ich würde diesen Fehler nicht wieder machen. Die Götter hatten meine Taten nicht vergessen. Ich war ein Mörder – nicht wegen dem Tier, dessen Leiche nun vor mir lag, sondern wegen dem Mädchen mit den braunen Strähnen, dem alten Mann und der Bäuerin. Damals, vor vielen Jahren – an diesem nebligen Novembermorgen. Und es war jetzt an der Zeit, die gerechte Strafe für diese Morde anzunehmen.
Als die Gardisten kamen, rührte ich mich nicht. Ich habe mich nicht gewehrt, als sie mir die Hände auf den Rücken banden und mich zum Gefangenenkäfig auf einem zweipferdigen Karren führten. Ich wusste, was die Strafe für Mord war – es war die Hinrichtung. Und die Götter hatten sie bereits vollzogen. Meine Seele war gestern Morgen auf der Anhöhe vor meinem Haus gestorben, als Diana und Lukas ihren letzten Atemzug getan hatten. Es lag nun an diesen Männern, auch den leeren Körper, der sie mal beherbergt hatte, seiner gerechten Strafe zuzuführen.