Die Singende Ebene, im Frühsommer
Ein sanfter Windhauch geht über den Hügel, auf dem sich die Freunde wiederfinden. Die Grashalme, die auf der Leinwand bereits wie ein Meer gewirkt haben, sehen aus der Nähe betrachtet noch viel eindrucksvoller aus: Kniehoch ragen sie dicht an dicht über dem dunklen, schweren Boden auf, von einem Grün, wie es so intensiv und satt noch keiner von ihnen gesehen hat. Die Halme sind eigenartig dick und von ovalem Querschnitt, machen aber einen sehr biegsamen Eindruck. Sie scheinen leicht feucht und spenden eine angenehme Kühle, denn die Sonne scheint warm vom Himmel auf sie herab. Die Sonne: Ein tieforangefarbener Ball in einem Feld von Azurblau, unterbrochen von weißen Schäfchenwolken, die wie gemalt dort oben hängen und die bizarrsten Formen bilden. Es ist fast wie an jenen Tagen, an denen sie noch als kleine Kinder zum Himmel schauten und alle möglichen Formen in den Wolken erkannten. Hier ist es keine Einbildung, keine bloße Fantasie: Sie sehen lachende Gesichter, anmutige Vögel, große Segelschiffe und majestätische Drachen wie aus weißer Watte weit über sich träge dahinschweben.
Über der gesamten Szenerie liegt ein leises Klingen und Tönen wie von silbernen Glöckchen. Es schwillt beständig auf und wieder ab. "Das ist das Gras. Die Halme sind hohl und haben kleine Löcher – wie Pfeifen. Wenn der Wind durch sie fährt, klingen sie. Deshalb heißt das hier auch die Singende Ebene." Eddys Stimme ist nicht ganz leicht wiederzuerkennen, denn sie wirkt dunkler als gewohnt. Und als sie sich aufrichten, erschrecken sie bei seinem Anblick: Vor ihnen ragt eine Silhouette über dem hohen Gras auf, in der man den Schüler noch wiedererkennen kann – doch er hat sich verändert. Sicherlich um einen halben Kopf größer, als sie ihn in Erinnerung haben, mit Muskeln, die sich deutlich unter einer blassen Haut mit bläulichem Schimmer abzeichnen. Eine wilde schwarze Haarmähne umrahmt die vertrauten Gesichtszüge, während die leicht spitz zulaufenden Ohrmuscheln und vor allem zwei kurze, stumpfe Hörner auf seiner Stirn einen fremdartigen Eindruck machen. Eddys Kleidung scheint sich ebenso verwandelt zu haben wie er selbst: Sie besteht aus einer Hose und einer Art ärmelloser Tunika aus grobem Wollstoff, einem breiten Ledergürtel und zwei schweren, eisenbeschlagenen Stiefeln. Nur das Buch, das ihm Phelps gab, ruht unverändert in seinem Arm. Die Art, wie er Ayleen und Ricky angrinst, wirkt auf eine schwer zu erfassende Weise überlegen, fast verächtlich, und zugleich unsicher und beschämt.
"Oooh... was ist passiert? Mir ist noch ganz schwindlig" klagt plötzlich eine Mädchenstimme und reißt sie aus ihrer Erstarrung. Als sie sich an Laura Ann erinnern und ihre Blicke einer sehr viel kleineren Gestalt zuwenden, trifft sie der nächste Schock: Auch ihre Mitschülerin hat sich sehr verändert. Ihr ovales Gesicht wirkt etwas voller, als sie es in Erinnerung haben, und auch ihre gesamte Gestalt scheint deutlich mehr gerundet und auf eine Weise weiblich, die es Ricky mit einem Mal ziemlich heiß werden lässt und selbst Ayleen nicht ganz unbeeinflusst lässt. Die Attraktivität Laura Anns wird beiden mit fast quälender Intensität bewusst. Zumal auch das Mädchen höchst exotisch aussieht: Ihre Ohren laufen noch spitzer zu als die des riesigen Eddy hinter ihnen, während die Hörner auf ihrer Stirn im Gegensatz zu seinen klein und verspielt wirken. Gekleidet ist sie in eine helle Bluse mit kurzen Puffärmeln, einem geschnürten schwarzen Mieder, das die Rundungen ihres Körpers betont, und einen kaum knielangen, ausgestellten Rock in einem satten Rot. Fußbekleidung trägt sie nicht, und wenn man ihre Beine betrachtet, erahnt man auch den Grund: Unter dem Rock schauen zwei kräftige Oberschenkel hervor, an die sich athletisch wirkende, aber eigenartig geformte Unterschenkel anschließen. Beide sind dicht mit einem weich und seidig wirkenden, langen Fell bedeckt und enden in zwei zierlichen – Hufen! "Was schaut ihr so, als hättet ihr mich noch nie..." beginnt sie und starrt die beiden und Eddy dann fassungslos an.
Kaum wagen sie, sich gegenseitig anzuschauen, denn es stellt sich die bange Frage, was sie wohl zu sehen bekommen werden...
Auf Ayleens Frage lächelt das Orakel. "Du weißt es schon. Ich helfe dir, dich zu erinnern." Mit ihrer und Rickys – wenn auch zögerlicher – Zustimmung und nachdem auch Laura Ann, Sonnenauge und Eddy genickt haben, beginnt es mit den Vorbereitungen für eine Zeremonie, die mindestens dreien von ihnen fremd scheint: Um das Feuer in der Mitte werden verschiedene Lederbeutel und Tontöpfe gruppiert, deren Geruch zum Teil verrät, dass sie getrocknete, zerriebene Kräuter, Wurzeln und ähnliches enthalten. Eine zumindest milde halluzinogene Wirkung schwant den Gefährten nach ein paar prüfenden Atemzügen durch die Nase. Laura Ann murmelt leise etwas und schüttelt den Kopf. Gerüchten in Gatsburg zufolge steht sie beim dortigen Lehrkörper im Verdacht, schon erste Erfahrungen mit ganz ähnlichen Substanzen gemacht zu haben... Bei einigen anderen Beuteln vermutet zumindest Ayleen, dass es sich eher um Medizinbeutel handelt, die heilige Medizinen enthalten und nicht etwa im Feuer landen werden.
Dann bereitet das Orakel einen Sud vor, den sie alle trinken müssen – ein Gebräu, das zwar würzig, aber nicht gerade angenehm schmeckt und auf der Zunge ein pelziges Gefühl hinterlässt. Davon abgesehen verspüren sie zunächst keine Wirkung auf ihre Sinne. Jedenfalls keine negative. Im Gegenteil: Sie stellen erstaunt fest, wie intensiv sie den angewiderten Ausdruck auf Laura Anns Gesicht wahrnehmen, der der Sud offenkundig ganz und gar nicht zusagt. Auch die Gerüche aus den Lederbeuteln und Tontöpfen scheinen ganz von allein kräftiger zu werden. Und dann setzt ein regelmäßiges Wummern ein, das – nein, nicht von ihrem heftigen Herzschlag kommt, sondern eher umgekehrt die Herzen dazu bringt, sich seinem Takt anzugleichen. Auf einer kleinen, mit Tierhaut bespannten Trommel schlägt das Orakel den langsamen Rhythmus und wandert dabei im Kreis um die Sitzenden und das Feuer in ihrer Mitte herum.
Dichter werdende Schwaden betäubender Düfte ringeln sich zwischen ihnen in die Höhe. Und allmählich, ganz allmählich gesellt sich dem Trommelschlag auch leiser Gesang bei. Wortlos, nur ein Summen zunächst, von einer Stimme, in der sie nur mit Mühe die des Orakels wiedererkennen, weder männlich noch weiblich, aber irgendwie auch beides zugleich und vor allem von einer hypnotischen Wirkung, die ebenfalls ihren Herzschlag mitzunehmen scheint. Vor ihren Augen verschwimmt die Umgebung, ihre Körper werden leicht wie Federn und erheben sich vom Boden, um der steinernen Decke der Hütte entgegen zu schweben – oder bilden sie sich das nur ein..? Die Erinnerung an ihr erstes Erlebnis mit dem Tor in dem alten Lichtspielhaus steigt wie aus dem Nichts auf... und dann fallen sie in ein Kaleidoskop aus Farben hinein und spüren:
Ihre Große Geistreise hat begonnen.
~ Ende des zweiten Kapitels ~