Kindheit in Brevoy
Vater: Illja Ivanovitsch Orlovsky
Mutter: Nelisa'arihane (kurz Nené)
Milo: geboren im Jahre 4676 AK
Halbgeschwister: etliche aus 2. Ehe des Vaters, sowie aus diversen Liebschaften
Eltern:
Es hätte eine Geschichte werden sollen, von der die Barden in 100 Jahren noch sängen. Eine hübsche Elfenmaid rettet einen verwundeten Menschenprinzen, pflegt ihn gesund, verliebt sich in ihn, die beiden heiraten entgegen aller Widerstände, und leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage.
Doch leider verlief die Geschichte von Milos Eltern anders. Zum einen war's genau andersherum: der Menschenprinz fand die verwundete Elfenmaid und pflegte sie gesund. Aber gut, das kann man dem Barden noch verzeihen, dass er die Details ein wenig zurechtbiegt, damit sie beim Publikum besser ankommen, schließt verdient er sein Brot mit seiner Kunst. Übel nehmen aber sollte man ihm, dass er die Geschichte nicht bis zum Ende erzählt, wodurch sie eine ganz andere Bedeutung erhält, und er selbst zum Paragon der Verlogenheit. Die Liebe siegt über alles! will seine Geschichte uns weismachen. Die Wahrheit aber sah anders aus: nämlich dass alle, die gesagt hatten, daraus könne eh nichts werden, recht behielten.
Eine Handvoll Erinnerungsfetzen:
An allzu viele Ereignisse seiner frühen Jugend erinnert Milo sich nicht. Kalt und dunkel hat er es in Erinnerung, einsam, und viel Streit gab es, hauptsächlich zwischen den Eltern, aber andere Verwandte (zumeist des Vaters) mischten gerne mal mit. Vor all dem Streit zog der kleine Milo sich am liebsten in eins seiner vielen Verstecke zurück, wo er sich mit Dingen beschäftigte, die ihn interessierten. Zumeist waren dies Dinge, für die man keine Helfer oder Spielkameraden braucht, denn letztere besaß er nicht.
Ein fleißiger Schüler war er wohl. Sein Hauslehrer hatte niemals schlechtes über ihn zu berichten. Auch Milo mochte den alten Herrn gern. Wenn er ein bisschen in seinem Gedächtnis kramen würde, fiele ihm auch bestimmt dessen Name wieder ein.
Als er noch nicht ganz sieben war, gab es dann den ganz großen Krach. Auch hier weiß Milo nicht so genau, um was es eigentlich ging (oder so will er sich's einreden). Essgeschirr flog durch die Gegend, Stühle aus dem Fenster, ein oder zwei Kunstgegenstände wurden zerschlagen. Der Name einer Frau fiel, in Begleitung von heftigen Worten, von denen Klein-Milo die Bedeutung so recht nicht wusste, aber dass sie etwas unschönes bedeuten mussten war ihm klar. Im väterlichen Gegengewitter allerdings wurden eine Handvoll Männernamen erwähnt, begleitet von Expletiven, die Milo schon etwas mehr sagten. Danach ging es eine ganze Weile lang um: wer hat zuerst? wer nur aus Vergeltung? wer immer wieder (mit derselben)? wer nur einmal (pro Bekanntschaft)? bei wem hat's der ganze Ort gewusst? wer war diskret? wer hat der Dame auch noch ein Kind gemacht? wer sich dafür mit dreien zugleich vergnügt?
(Gut, also wenn er darüber nachdenkt, heute, dann ist ihm schon klar, was da los war, dann fragt er sich gar, wie Klein-Milo das alles nicht mitbekommen haben will, was sich da vor seinen Augen abgespielt haben muss, so fest kann doch nicht einmal ein Kind schlafen, so viel Unschuld kann es doch auf der ganzen Welt nicht geben, oder? Aber was Milo nicht sehen will, das sieht Milo nicht, das war damals schon so und ist heute nicht anders. Und worüber er nicht nachdenken will – das Liebesleben seiner Eltern etwa – darüber denkt er nicht nach.)
Am Ende jedenfalls wurde Milo am Kragen gepackt und, nachdem seine Mutter rasch noch ein paar andere Dinge eingepackt hatte, aus seinem Heim gezerrt. Damals ahnte er noch nicht, dass er es 27 Jahre lang nicht mehr erblicken würde – noch den Vater.
Kühler Empfang im Elfenwald:
Doch so einfach, wie seine Mutter sich das dachte, ging die Sache nicht. Sie dachte wohl, sie könne einfach nach Hause spazieren, mit einem Mischlingssohn noch dazu, und wäre dort willkommen? Die Elfen von Kyonin sahen die Sache anders. Reue wollten sie sehen – echte Reue, kein Selbstmitleid – ein Bewusstsein dafür und Eingeständnis dessen, dass Nené ihrem Volk und ihrer Sippe mit ihrem störrischen Verhalten Schaden zugefügt hat, ja, man wolle gar eine Wiedergutmachung. Bevor Nené in Kyonin wieder willkommen wäre, solle sie etwas zum Nutzen ihres Volkes tun, dass dem zugefügten Schaden mindestens aufwiege, besser noch überträfe. Da half kein Heulen und kein Zetern, kein Bitten und kein Betteln, keine schönen großen Augen, kein Räsonnieren, keine noch so glaubhaft gespielte Versicherung, sie sähe ihren Fehler ja ein! Nein, Nené müsse erst eine Mission erledigen, für das Elfenreich. Ihren Teil dazu beitragen am Wiederaufbau, denn noch lange hatte man nicht zurück, was einst verloren ging. Dies sei ihre Queste: dass sie etwas Verlorenes zurückgewänne. Ein Artefakt von Bedeutung. Ein magisches Objekt. Verlorenes elfisches Wissen. Ein Stück ihrer Geschichte. Das alles sei akzeptabel, aber eins davon sollte sie besser in den Händen halten, ehe sie sich hier wieder blicken ließe.
Nur dann wäre sie wieder willkommen. Allein.
Das Leben in Osirion
Jugendzeit (7-14):
Bis zu seinem 14. Lebensjahr hing Milo noch sehr an seiner Mutter Rockzipfel. Das ist jetzt nicht ganz so schlimm wie es klingt. Gemeinsam erforschte man die Wüste Osirions, sowohl den Sphinx (nebst seiner beiden Zuflüsse) einmal rauf und wieder runter, als auch den Scarab und selbst den Juniper, auf osirischer wie auf thuvischer Seite – immer auf der Suche nach einer verlorenen elbischen Legende.
Viel Zeit für ihren Jungen hatte die Mutter dabei nicht, und er hatte die freie Bahn auf den Grabungsstätten. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang war er unterwegs, nahezu auf sich selbst gestellt, während er seine Umgebung erkundete. In den Zelten der anderen Archäologen war er stets willkommen, ließ sich auch willig für kleinere Aufgaben rekrutieren, war jedermans liebstes Maskottchen. Einige schworen gar, er brächte ihnen Glück. Es häuften sich die Vorfälle, dass die Herren (und wenigen Damen) Archäologen ihre größten Funde machten, wenn Milo gerade dabei war und ihnen aufgeregt zuschaute oder mit seinen kleinen Schäufelchen und Pinselchen eifrig mithalf. Durch freundliche Gaben gelangte er nämlich in kürzester Zeit zu seinem eigenen Archäologenset, nicht nur allerlei Schäufelchen und Pinsel, auch Pickel, Hammer, Meißel, Spitzkelle, Sieb und Spatel hatte er bald beisammen, dazu ein Senklot, eine Knotenschnur und Winkelmesser, und auch sein eigenes Notizbuch. Durch Nachahmung und einige sporadische Anleitung, alswie durch Nachplappern, nahm sich bereits der zehnjährige Milo wie ein waschechter Archäologe aus – zum Entzücken seiner Umgebung, vorausgesetzt, diese bestand aus Archäologen, Historikern und derlei gelehrtem Volk...
Das soll jetzt nicht heißen, dass er zu seiner Mutter kein gutes Verhältnis hätte. Sie selbst teilte zwar nicht seine Leidenschaft für die Archäologie – für sie blieb diese Mittel zum Zweck, eher ein Hindernis auf dem Weg zur Erfüllung ihrer Wünsche – aber sie unterstützte ihn darin. Streit gab es zwischen den beiden nicht. Milo mochte keinen Streit, also fand er das gut.
Und Nené lebte derweil so frei wie ihr Sohn. Auch sie war in den Zelten der anderen Archäologen ein gern gesehener Gast – nur zu gänzlich anderen Uhrzeiten als ihr Sohn...
Bisweilen war Geld ein Problem für die beiden, aber irgendwie kam man immer über die Runden. Als es einmal doch ein wenig brenzlig wurde – Nenés Erlaubnis, in Osirion Ausgrabungen zu betreiben, hing davon ab – ging sie eine etwas längere Liaison ein, mit einem Archäologen namens Rashid al Nephrim. Das traf sich gut, denn Milo mochte den auch sehr gern. Ein bisschen älter war der Mann bereits, so Mitte fünfzig und Witwer, aber ein kluger und gütiger Mann, weder herrisch noch streitsüchtig, sondern immer ruhig und geduldig, bedächtig in allem was er tat und sprach. (Also völlig anders als Milos Vater, welcher ein Hitzkopf war, ebenso stolz wie streitbar, mit einem Geduldsfaden zu kurz für eine Lunte.)
Lehrjahre (14-20):
Schon fast ein Jahr teilte die Mutter mit Rashid das Lager – Milo war inzwischen 14 – da schlug der Mann ihm vor, ob er nicht ganz offiziell sein Lehrling werden wolle. Die Antwort fiel Milo gar nicht schwer: unbedingt, ja! Und in den nächsten sechs Jahren lernte er bei Rashid alles, was ein Archäologe wissen musste. Nené und Rashid waren noch immer zusammen – und sie war ihm sogar halbwegs treu, wenn man den ein oder anderen diskreten Ausrutscher ebenso diskret übersah – als Nené endlich fand, was sie suchte: ein verlorenes elfisches Artefakt von hinreichender Bedeutung, um ihr eine Rückkehr in das heimatliche Kyonin zu ermöglichen. (So bedeutend, dass es womöglich gar für eine trimphale Rückkehr langte.) Da war Milo zwanzig und hatte gerade eine wichtige Prüfung bestanden, an der Universität von Sothis, welche ihm die Zulassung zum Archäologen sicherte. Die Mutter fragte ihn also: "Kommst du ab jetzt hier auch allein zurecht?" Worauf der Sohnemann ohne Zögern antwortete: "Mach dir keine Sorgen, Nené. Ich komme zurecht."
Und dann war die Mutter fort.
Selbständigkeit (20-27):
Ein wenig traurig war der alte Rashid darüber ja doch. Aber stolz auf den Schützling. Er selbst kam allmählich in die Jahre. Dachte gar, langsamer zu treten. Sehnte sich nach seinem komfortablen Heim zurück, wollte das Zeltleben hinter sich lassen. (Lange Jahre redete Rashid so daher, erwähnte immer häufiger seinen Ruhestand, doch zog er weiterhin mit Milo kreuz und quer durch Osirion, auf der Suche nach dem Vermächtnis der Pharaonen.) Aber nun wurde er doch allmählich müde! Die alten Knochen wollten nicht mehr! Aber Milo könne seine Arbeit ja nun fortsetzen. Mehr Osirer als Nordmann war der junge Mann. Osirion war seine Heimat! Verstehen tat Milo, wie wichtig es für Osirion war, die geraubte Vergangenheit, die geraubte Identität zurückzugewinnen! Rashid selbst hatte leider nur Töchter. Die wurden, mit seltenen Ausnahmen, keine Archäologen. Wobei, die jüngste Tochter, Anisyah, täte sich ja doch sehr dafür interessieren, aber sie war zu jung und zu schön, zu naiv und zu schutzlos, als dass sie allein durch die Wüste ziehen könnte, in einem derart männerdominierten Beruf. Man wisse ja, wie es um die Moral alleinreisender Archäologinnen bestellt sei!
Ja, aber da fügt es sich doch nahezu schicksalshaft, dass Milo am ersten Abend zu Gast im Heim des Lehrmeisters in Sothis einen Blick auf die hübsche Anisyah tat und sich Hals über (hochroten) Kopf in sie verliebte. Und von da an lief alles besser, als der alte Rashid es sich hat erhoffen können. Bei dieser ersten Begegnung war Milo 25 (und Rashid hatte sich gerade in seinem Stadthaus zur Ruhe gesetzt). Die Hochzeit zwei Jahre später erlebte der alte Mann noch. Glücklich erlebte er auch noch, wie sein Schützling Milo, auf den er so stolz war wie einen Sohn – Ha, er war ja jetzt auch sein Sohn! – sein junges Weib Anisyah mit auf seine erste, eigene Expedition nahm. Nur die Rückkehr der beiden, die erlebte der Alte nicht mehr. Er verstarb im Jahr darauf, mit 69 Jahren, friedlich in seinem weichen Bett.
Man schrieb das 4704 AK. Milo war 28 Jahre alt und unternahm die ersten Schritte, sich als Archäologe einen Namen zu machen. Erste Funde, die in der Gelehrtenwelt Aufmerksamkeit fanden, gelangen ihm, erste Schriften konnte er veröffentlichen. Dazu war sein junges Weib guter Hoffnung. Ein hübsches Heim hatte der Alte ihm vermacht, eingerichtet mit allem, was man brauchte, Dienern inklusive, und einen hübschen Batzen Bares obendrauf. Besser hätte es ihm nicht gehen können.
Ehejahre (27-31):
Doch mit Rashids Tod nahm Milos Leben eine Wende. Unbemerkt blieb diese zunächst, nur im nachdenklichen Rückblick wird sie deutlich. Es fing mit Kleinigkeiten an, die schief gingen. Die Beteiligung an einer Expedition mit namhaften Archäologen, die er bewunderte, wurde ihm verwehrt. (Offenbar blieben die Herren lieber unter sich; womöglich wollten sie keinen Fremden dabei haben, keinen Nordmann und Spitzohr? Wie bitter die Enttäuschung, wenn Idole sich als engstirnig und intolerant entpuppen.) Dann erntete ein dummer Zahlenverdreher in seiner jüngsten Publikation ihm einigen Spott. (Er war sich nicht einmal sicher, ob er ihn zu verschulden hatte, oder ob der Fehler erst im Abschrieb unterlief...) Dann wurden einige seiner Funde von Diesbeshand entwendet.
Das alles war ärgerlich und frustrierend, aber letztlich doch alltägliche Sorgen, keine Schicksalsschläge. Ein solcher traf das junge Paar das erste Mal in Gestalt eines riesigen Skorpions, der sich plötzlich aus den Ruinen auf sie stürzte. Wohl gelang es, diesen abzuwehren, es sprangen auch von allen Seiten Helfer herbei und obwohl es Verletzungen gab, waren keine davon tödlich, nur stürzte Anisyah in der ganzen Aufregung so unglücklich, dass sie wenige Tage später eine Fehlgeburt erlitt. Nun, im Grunde war auch das ja noch eine alltägliche Sache. So wenig darüber gesprochen wurde, so häufig passierte es. Man würde nicht aufgeben. Man war ja noch jung. Doch diesmal dauerte es einige Jahre, bis Anisyah ihm die glückliche Botschaft überbrachte: sie trug abermals ein Kind. Da war Milo 31, Anisyah 24.
Am Ufer des Sphinx hatte man mal wieder sein Zeltlager aufgestellt. Eine neue Ausgrabung, vor einem Jahr begonnen. Noch war nicht sicher: handelte es sich um eine gewaltige Festungsanlage oder gar eine ganze Stadt? Konnte dies endlich das legendäre Samarkesh sein? Würden sich Spuren von Sultan Saladin finden lassen? Spuren davon, wie die Stadt verloren ging? Fiel sie durch ein Unglück oder Keleshitenhand? Magie oder rachsüchtigem Dschinn? Viele Archäologen versammelten sich hier, die Stimmung war erregt, freudig, hoffnungsvoll. Konkurrenz gab es wohl auch unter einzelnen von ihnen, doch es überwog der Gemeinschaftssinn. Auch war das zu untersuchende Gebiet so weitläufig, dass man sich kaum auf die Füße trat, dass man im Gegenteil über jeden Mithelfer froh war. Und mittendrin waren Milo und seine Anisyah!
Doch dann kam der Schicksalstag. Die große Wende in Milos Leben. Der Tag, an dem sein altes Leben endete und sein neues begann.
Er und sein Weib erkundeten gerade eine Ruine, die wohl mal ein Tempel oder Palast eines hochrangigen Beamten des alten Reiches war. (Anisyahs andere Umstände waren noch nicht weit fortgeschritten. Milos Ermahnung, die weitere Erkundung doch besser den Männern allein zu überlassen, wehrte sein junges Weib mit Leichtigkeit ab. Sie hatte ja recht. Es müsste schon Asmodeaus die Finger im Spiel haben, dass man ein zweites Mal auf einen Riesenskorpion stieße und abermals das Ungeborene verlöre...) Tiefer und tiefer drangen die beiden in die alte Stätte ein, eine lange Reihe wunderlicher Artefakte sammelte sich bereits in ihren Fundbeuteln. Ein Säbel befand sich unter Milos Funden, eine Lampe, ein Amtszepter, und gerade hatte er ein Amulett aufgelesen und befreite es mit dem Pinsel von Staub und Schmutz. Es war ein außergewöhnlicher Fund, das sah er sofort. Ein meisterlich gearbeiteter geflügelter Skarabäus, besetzt mit einer Vielzahl Lapislazuli und Türkisen und einem großen, runden Karneol, einer Sonne gleich oder einem roten Auge.
Und dann bebte auf einmal die Erde. Dann knickten uralte Säulen wie Riedgreis ein und die Decke brach auf sie herab. Als das Beben und das Donnern ein Ende fand und der Staub sich allmählich legte, da lag Milo mit gebrochenen Gliedern auf dem Boden, eingeklemmt unter allerlei Schutt und Mauerwerk. Irgendwo über seinem Kopf lag brennend eine oder beide ihrer Fackeln. Sein Weib aber – Anisyah, die Vollkommene, Liebe seines Lebens – lag einen Schritt von ihm entfernt, gerade außerhalb seiner tastenden Fingerspitzen, das Gesicht ihm zugewandt mit offenen Augen und gebrochenem Blick.
Irgendwo in der Ferne, über seinem Kopf, hob ein aufgeregtes Stimmengewirr an, begann wohl gleich auch ein Rücken und Scharren, erst vorsichtig, dann immer eifriger, je mehr helfende Hände hinzukamen, doch wusste Milo, dass es einen ganzen Tag oder gar mehrere dauern würde, bis man ihn befreit hätte. Und für Anisyah käme eh jede Hilfe zu spät.
Eine schicksalhafte Begegnung (31):
"Ach herrje, das sieht nicht gut aus", sprach ihn da jemand an.
"Das ist dir nicht aufgefallen vorher, das hier alles nicht so richtig stabil ist? Da habe ich wohl mal wieder einen besonders grünen Jungen erwischt. Nicht, dass ich wählerisch sein darf. Ich warte hier schon seit über... lass mich kurz nachrechnen... ja, seit über drei Jahrtausenden darauf, dass endlich jemand mein Amulett wiederfindet, welches mein voriger Lehrling – auch ein grüner Junge und ein Tolpatsch – hier verloren hat, mitsamt seinem Leben."Es dauerte eine ganze Weile, bis Milo ausmachen konnte, woher die Stimme kam, denn so sehr er den Kopf verrenkte, er konnte niemanden in der Nähe entdecken. (Viel Platz gab es da auch nicht, in seiner Nähe. Tatsächlich kam ihm just der Gedanke, dass die Luft hier drinnen wohl nicht lange genug ausreichen würde, bis die Helfer ihn freigeschaufelt hätten.) Schließlich kam er auf die Idee, das Amulett, welches er noch immer umklammert hielt, genauer in Augenschein zu nehmen, und ein Auge war's, das er dort entdeckte, klar und deutlich sah man es, wie es durch den Karneol hindurch spähte. Auch die Stimme kam von dort.
"Wer bist du?" fragte Milo als erstes, und danach ging die Rede wohl eine ganze Weile lang hin und her, bis er so langsam zu dem Schluss kam, dass er sich womöglich nicht bloß einen zu festen Schlag auf den Kopf bekommen hatte, sondern sich tatsächlich mit einem Amulett unterhielt... Danach war schnell geklärt, dass es sich bei dem Amulett um das Gefäß eines Dschinns handelte (wie Genien landläufig genannt werden, auch wenn dies strenggenommen nur eine Unterart bezeichnet) und dass die Stimme also einem solchen gehörte, genauer einem Shaitan. Milo hätte nicht fast sein ganzes Leben in Osirion verbringen können, ohne eine Vielzahl an Geschichten über Dschinne gehört zu haben, doch als Nordmann hielt er dabei stets an einer gewissen Skepsis fest. Jedenfalls hätte er jeglichen Gedanken, dass er vielleicht einmal einem solchen begegnen könne, als völlig absurd abgetan. Und nun sprach er da mit einem. Nubnefer hieß der. (Der richtige Name war eigentlich viel länger, doch weil Milo vor Schmerzen und Panik ziemlich wirr im Kopf war, nahm Nubnefer ihm das erst einmal nicht übel.)
"Stimmt es denn auch", fragte Milo, als er endlich akzeptiert hatte, mit einem Genius zu sprechen,
"dass du mir drei Wünsche erfüllen kannst?""Nein, tut mir leid, das haben sich eure Geschichtenerzähler bloß ausgedacht", antwortete Nubnefer.
"Also das ist wirklich vollkommen übertrieben. Ich möchte mal wissen, wer dieses Gerücht in Umlauf gebracht hat. Absurd ist das nämlich. Wie leichtgläubig muss jemand sein, um dies nicht gleich als schamloses Fabulieren zu erkennen? Einen Wunsch erfülle ich höchstens, und den auch nur bei entsprechender Gegenleistung.""Gegenleistung? Was könnte ich Unglücksrabe, ich armseliger Tropf, ich jämmerlicher, vom Erdreich verschluckter Wurm einem großen, mächtigen Pascha wie dir als Gegenleistung bieten?"Damit traf Milo natürlich genau den richtigen Ton. Nubnefer wurde ihm gleich ein wenig wohlgesonnener. (Wäre Milo hier frech geworden, hätte dies sein Ende bedeutet. Sein Amulett, das Nubnefer sich doch sehr in Menschenhand zurückwünschte, würde dann sicherlich von einem der anderen Archäologen gefunden, die dabei waren, Milo auszubuddeln.) Aber so war die Sache aus Nubnefers Sicht beschlossen: dieser höfliche junge Mann sollte sein neuer Lehrling werden!
Und genau so erklärte der Shaitan es ihm.
"Gerne hätte ich einen Lehrling wie dich, mit guten Manieren! Vergiss, was ich sagte: Natürlich bin ich wählerisch! Und wenn ich dich vorhin grün nannte, so ist das ja etwas anderes als dumm! Dass du mein Amulett gefunden hast – nach über 3000 Jahren! – das zeigt mir ja schon, dass du ein findiges Bürschlein sein musst. Einen dummen Lehrling könnte ich nämlich nicht gebrauchen. Dummheit lässt sich nicht kurieren, Unwissen dagegen durch Belehrung heilen. Und was hätte ich dir alles beizubringen!" Nubnefer liebt die weitschweifige Rede, das lässt sich nicht leugnen. Auch hier führte er noch eine ganze Weile lang aus, was er Milo alles zeigen und beibringen könne, obwohl dieser nicht so recht zuhörte. (Dessen Gedanken waren bei Anisyah, tot, nur einen Schritt neben ihm, und tot auch das Kind in ihrem Leib.) Auch einige Pflichten zählte Nubnefer auf, was er von seinen Lehrlingen alles erwartete. Das klang, mit wenigen Ausnahmen, nicht anders wie das, was Rashid seinerzeit von seinem Lehrling einforderte.
"Wie lange?" fragte Milo wohl.
"Wie lange soll diese Lehrzeit dauern?""Bis ich dir nichts mehr beizubringen haben", antwortete Nubnefer.
"Wenn du einst leblos unter der Erde liegst.""Aber einen Wunsch erfüllst du mir dafür, jeglichen Wunsch, ohne Einschränkung?""Na ja, fast ohne Einschränkung", gab Nubnefer zu.
"So ein paar kosmischen Gesetzen unterliege sogar ich." Und dann mahnte er noch:
"Außerdem rate ich dir, sehr genau auf deine Formulierung zu achten. Präzision ist hier alles. Wer nicht genau definieren kann, was er will, wird wenig Glück haben, es zu jemals erlangen."Nahm Milo sich diesen Rat auch zu Herzen? Überlegte er sich seine folgenden Worte gut? Konnte er überhaupt klar denken, vor lauter Schmerz und Panik und Herzzerreißen? Glaubte er am Ende doch noch, dass er nur halluzinierte? Oder hätte es hier womöglich gar keine Formulierung gegeben, die ihm seinen Wunsch so erfüllt hätte, wie er es sich vorstellte? Dabei war die Sache doch so einfach. Er wollte einfach nur zurückhaben, was er vor wenigen Augenblicken noch besaß, was das Beben und der Einsturz ihm genommen hatte: sein Weib Anisyah wollte er zurück, das gemeinsame Leben, das Kind in ihrem Leib. Womöglich hatte Nubnefer aber auch recht, wenn er später mehrfach darauf hinweis, dass dies – für den, der zählen konnte – tatsächlich drei Wünsche gewesen seien.
Jedenfalls sprach Milo nun:
"Dann wünsche ich mir, dass du uns hier herausholst, meine Anisyah und mich, unversehrt und am Leben!"Kaum hatte er die Worte gesprochen, so ließ der Schmerz nach. Auf dem Boden lag er noch immer, zwei Schritt neben der Stelle, an der er zuvor lag, mit heilen Glieder, nicht halb unter Schutt begraben. Die Fackel brannte noch dort, wo sie vorher brannte, das Amulett hielt er noch immer umklammert, dass Scharren und Graben über ihm klang plötzlich ganz nah, an einigen Stellen rieselten schon Steinchen herab, wurden kleine Fleckchen Himmel sichtbar, doch als Milo sich umwandte, um nach seiner Anisyah zu sehen, war diese spurlos verschwunden.
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Etwa eine Stunde dauerte es, dann war Milo freigeschaufelt. Wesentlich länger dauerte es herauf, bis er das gesamte Lager nach seiner Frau abgesucht und jeden einzelnen Archäologen, Bediensteten und Arbeiter nach ihrem Verbleib gefragt hatte. Niemand wollte sie je gesehen haben. Milo sei immer allein hier gewesen. Einer der älteren Archäologen endlich, welcher mit Rashid – Sarenrae sei seiner Seele gnädig – befreundet gewesen war, erinnerte sich an dessen jüngste Tochter. Ja, sie lebte in Sothis, im väterlichen Haus, mit ihrem Gemahl und drei Kindern.
Nubnefer erklärte es dem (abwechselnd zornentbrannt zeternden und vor Jammer zerfließenden) Milo so: Also erst einmal hatte er ja vorgewarnt, dass er nur EINEN Wunsch erfüllen würde, nicht zwei. Dann sei da unten unter dem Einsturz nur Platz für einen unversehrt Verschütteten gewesen. Die einzige Möglichkeit, dass sie beide unversehrt und am Leben blieben, sei also gewesen, dass nur einer von ihnen in die Ruine hinabgestiegen war.
— Ja, aber warum hat Nubnefer sie nicht einfach daran gehindert, sich in Gefahr zu begeben? Warum nicht einfach den Einsturz ungeschehen gemacht? Oder sie beide in eine Zeit davor zurückversetzt?
Nun, das Beben, den Einsturz wie auch Milos Anwesenheit habe Nubnefer nicht verhindern können, da müsse er auf die zuvor erwähnten kosmischen Gesetze verweisen. Denn der Kosmos lässt kein Paradox zu, welches dadurch aber notwendigerweise entstünde: Wenn nämlich Milo nicht in die Ruine hinabgestiegen wäre, das Amulett also nicht gefunden hätte (worauf der Boden bebte, was zum Einsturz führte), dann wären er und Nubnefer sich ja niemals begegnet, in welchem Fall Nubnefer ihm auch keinen Wunsch hätte erfüllen können, weshalb dann doch alles so hätte geschehen müssen, wie es ursprünglich geschah... dieser Widerspruch sei leider unauflösbar gewesen.
— Ja, aber warum hatte Nubnefer dann nicht dafür gesorgt, dass Anisyah im Lager zurück blieb?
Das hätte sie niemals getan. Es wäre komplett gegen ihren Charakter gewesen. Gegen Milos auch. Sie hatten nun einmal alles gemeinsam unternommen.
— Aber man hätte...
Nein, unterbrach Nubnefer, man hätte weder sie noch ihn vorwarnen können, dass es gefährlich war, in die Ruine hinabzusteigen, dass sie unstabil sei... entweder wären dann beide oben geblieben (in diesem Fall siehe aber das bereits erwähnte kosmische Paradox) oder es hätten doch beide gemeinsam das Risiko auf sich genommen (siehe ihrer beider fundamentalsten Charaktereigenschaften). Nein, es tat Nubnefer ja leid, aber die einzige Lösung, Anisyah zu retten, sei gewesen, dass sie und Milo einander niemals begegnet waren.
Der neue Mentor (31-33):
Gut zwei Jahre lang nach diesem Ereignis versuchte Milo, sich sein Leben in Osirion neu aufzubauen. Sein Beruf war das einzige, das ihm geblieben war. Dass Rashid sein Mentor gewesen war und Milo dank ihm anerkanntes Mitglied der Fakultät für Archäologie an der Universität von Sothis war, daran hatte sich nichts geändert. (Nur die Einladung zum Abendessen im Hause des Mentors hatte Milo offenbar abgelehnt... und daher dessen jüngste Tochter niemals getroffen...) Drei Dinge, neben dem offensichtlichen Verlust seiner geliebten Frau, erschwerten ihm den Neustart:
Erstens, pekuniäre Sorgen. Die hatte er zuvor, als Rashids Schwiegersohn und dank der Erbschaft nicht gekannt. Ohne Geld waren eigene Grabungen nicht möglich. Man war dazu verdammt, als Handlanger anderen bei ihren Projekten zu helfen.
Zweitens, Nubnefer. Nein, Streit gab's keinen. Man kam ganz gut miteinander aus. Milo lernte viel und eifrig. (Auch Nubnefer lernte einiges. Immerhin hatte er 3000 Jahre geschichtliche Entwicklung in Osirion verpasst.) Ein wenig musste Milo natürlich aufpassen, wenn er länger unter Kollegen im Zeltlager lebte, dass man ihn nicht für wunderlich hielt, weil er sich... nun ja, wunderlich benahm. Mit sich selbst redete. Häufiger für längere Zeit spurlos verschwand, ohne Erklärung. Plötzlich von Leuten, die seit drei Jahrtausenden tot waren, so redete, als hätte man sie gekannt. Wie gesagt, man musste nur ein wenig aufpassen, dann ließ sich das Gerede in Grenzen halten bzw. das seltsame Verhalten als gelegentlicher Sonnenstich abtun oder als historisches Gedankenexperiment.
Nein, das Problem, welches immer mehr zu einem solchen wurde, war gesetzlicher Natur. Milo wollte sich gerne an die Gesetze Osirions halten, weil er da nun einmal lebte, während für Nubnefer nur die Gesetze seiner Heimat, des Imperiums Ohnegleichen, etwas galten. Besonders in einem Punkt gerieten diese beiden in Konflikt. Nubnefer war der Meinung, alles, was in der Erde verschüttet oder gar verbuddelt wurde, gehöre ihm. Die osirischen Autoritäten sehen das aber ganz anders. Wieder und wieder verlangte Nubnefer "als kleines Geschenk" von Milo entdeckte Fundstücke. Milos Erklärungsversuche, warum das nicht ginge, wischte er allesamt beiseite. Wie, Du hast mehr Respekt vor osirischen Behörden als vor mir! Fürchtest ihren Zorn mehr als den meinen? Milo versuchte, ihm begreiflich zu machen, wie viel diese Relikte den Osirern bedeuten, wie sehr sie diese brauchen, um an ihr kulturelles Erbe von vor der langen Besatzungszeit anknüpfen zu können... während diese Dinge für Nubnefer doch bestenfalls eine kleine Kuriosität unter vielen seien, die bald schon über neuen, aufregenderen Funden in Vergessenheit gerieten und dann bloß in einer der vielen Schatzkammern seines Palastes verstauben würden... Doch Nubnefer sah's nicht ein. Gesetz sei Gesetz, sagte er, also für seine Art galt nur ihr eigenes Gesetz. Oder welches Menschengesetz besagte, ein Shaitan müsse einem Menschen irgendwelche Wünsche erfüllen, bloß weil dieser sein Amulett gefunden hat und höflich darum bittet? Außerdem, in ihrem Vertrag stünde... (Ja, es gibt tatsächlich einen Vertrag; eine Schriftrolle aus Papyrus, die aufgerollt so lang ist wie Milo groß, eng beschrieben in winziger Schrift mit den Konditionen seines Lehrverhältnisses zu Nubnefer.) Unter dem ständigen Druck ließ Milo sich wohl zweimal dazu verleiten, ein kleineres Artefakt aus seinen Funden dem Mentor zukommen zu lassen, aber sein Gewissen setzte ihm arg zu und er fürchtete auch, dass es bald auffallen würde, wenn er dies regelmäßig betriebe. Aber wie sich gegen einen Shaitan durchsezten, der ein lebenslanges Anrecht auf ihn hatte?
Den einzigen Ausweg, den Milo sah, war, nicht mehr an Grabungen teilzunehmen. Also bewarb er sich um einen Lehrposten an der Universität (erfolgreich) und blieb in Sothis zurück, wo er (in Nubnefers Worten) "seine Geduld verschwendete beim Versuch, den Dümmsten der Dummen, gegen deren entschiedene Gegenwehr, die grundlegendsten Banalitäten seines Faches, die eigentlich jedes Kind schon wissen müsste, in vorgekauten Häppchen zwangszufüttern..."
So arg würde Milo die Sache jetzt nicht beschreiben. Seine Lesungen waren beliebt, gut besucht, und recht erfolgreich. Auch von den Kollegen wurde er geschätzt. Er schloss neue Freundschaften, vertiefte bereits bestehende, sah seine Arbeit wertgeschätzt und wurde von jüngeren Kollegen gerne um Rat gefragt. Und vor allem war er den Stress und die ständige Furcht vor dem Gesetz los. Zwar war die Universität auch voller Artefakte, aber da diese nicht in der Erde verbuddelt waren, zog Nubnefers Argument nicht mehr. Und auch wenn Nubnefer bald neuen Grund fand, Milo zu bedrängen, so war der Vertrag diesmal auf dessen Seite. Nein, es steht nichts in dem Vertrag, dass ich umherreisen muss. Mit interessanten Dingen befasse ich mich ja und Neues lerne ich auch täglich hinzu. Auch strebe ich dir selbst nach, allwissender Meister, nach deinem Vorbild will ich leben...
– Ja, aber so habe ich mir die Sache nicht vorgestellt. Was bringt es mir, jemandem über die Schulter zu schauen, der genauso lebt wie ich selbst, dann könnte ich mir ja genausogut selber zuschauen!
Nun ja, erwiderte Milo. Sein Mitgefühl sei durchaus geweckt. Und doch, in ihrem Vertrag – an den er sich haargenau halte – stand nichts dergleichen. Präzision sei hier alles. Wer nicht genau definiert, was er will, darf sich hinterher nicht beschweren, etwas anderes zu bekommen, als er sich vorgestellt hatte.
Dies musste Nubnefer einsehen. Und so konnte er seinen widerspenstigen Lehrling nicht einmal sanktionieren, etwa mit der Weigerung, ihn zu unterrichten, oder mit einer der sonstigen Strafen, die bei Vertragsbruch in selbigem angedroht sind.
Auf diese Weise vergingen gute anderthalb Jahre. Und so sehr Milo das aktive Archäologenleben vermisste, es war Nubnefer, dem als erstes sterbenslangweilig wurde. Drei Jahrtausende lang unter Schutt begraben zu sein, sei da noch weniger langweilig! Dort käme wenigstens ab und zu mal ein Wurm oder Sandfloh oder Skorpion vorbei und täte interessante Dinge. Dabei hatte Nubnefer die Sache ja vollkommen in der Hand. Alles, was er hätte tun müssen, um wieder mit Milo zusammen auf Expedition gehen zu können, wäre ja, von seiner vorherigen Position abzurücken und das osirische Gesetz anzuerkennen – das wollte er aber nicht. Eine andere Lösung musste her. Doch bevor sich eine solche abzeichnete, geriet Milo durch eigenes Verschulden mit dem Gesetz aneinander und verbrachte sogar einige Zeit im Kerker. Bei diesem seinen dritten Problem ging es natürlich um... Anisyah.
Anderthalb Jahre lang unterrichtete Milo schon an der Universität zu Sothis und in all dieser Zeit hatte er stets einen großen Bogen um sein früheres Heim gemacht. Doch eines Tages hielt er es nicht mehr aus. Einen einzigen, winzigen Blick auf seine Anisyah wollte er werfen, wie es ihr ginge, ob sie es auch gut habe. Und wäre es bei diesem einzigen, winzigen Blick geblieben, hätte das keine weiteren Konsequenzen gehabt. Aber natürlich kam es zu einem zweiten, dritten, zwanzigsten... Irgendwann fiel Milos Herumlungern dann doch auf, Nachbarn ergriffen ihn, der Gatte kam hinzu, Prügel gab's, Erklärungsversuche gingen unter (wahrscheinlich ein Glück), die Wache tauchte auf, Milo wurde abgeführt und in den Kerker geworfen.
Drei Wochen dauerte es, bis die Sache geklärt war. Fürsprecher und Charakterzeugen, Erklärungen und Entschuldigungen (beides frei erfunden, aber die Wahrheit hätte ja niemand geglaubt), Beteuerungen und Besserungsgelübde, und nicht zuletzt Schmiergelder sorgten dafür, dass Milo schließlich doch wieder freikam, straffrei aber mit der Auflage, sich Anisyah, ihrem Haus und allen Mitgliedern der Familie fernzuhalten.
Sein Ruf hatte gelitten, aber das war nichts, was Milo mit seiner höflich-bescheidenen Art nicht wieder hinbekommen würde. Schwer fiel es ihm dagegen, sich von seiner ehemaligen Frau fernzuhalten. Und so schlug er Nubnefer eines Tages vor (als dieser ihm wieder einmal die Eintönigkeit seines Lebens in Sothis vorhielt und bedrängte, er solle doch bitteschön endlich wieder auf Fahrt gehen) dass man vielleicht auf ganz große Fahrt gehen solle, also Osirion verlassen, und dabei vier Fliegen mit einer Klappe erschlagen.
Der Gedanke gefiel Nubnefer zunächst nicht. Osirion sei schon ein Ort, der ihm besonders am Herzen läge, und er habe bereits die letzten 3000 Jahre verpasst, und...
– Aber wäre es nicht ein viel größeres Abenteuer, einmal neue Lande zu entdecken? Wäre das nicht besser als die Langeweile, sollte Milo hier an der Universität bleiben, was als einziges zur Auswahl stünde? Wenn man aber Osirion verließe, dann wären sowohl seine beiden als auch Nubnefers Probleme gelöst: Nubnefer müsste keine Langeweile mehr erleiden und Milo entkäme sowohl der Versuchung, einen Blick auf Anisyah erhaschen zu wollen, als auch dem anderen, früheren Gesetzesproblem. In anderen Ländern galt zumeist: Fundstücke gehörten dem Finder oder zumindest stand diesem ein Finderlohn zu in Form eines Zehnteils. Sodass Nubnefer wiederum zu den kleinen Geschenken käme, die er so schätzte.
Die Diskussion zog sich wohl über eine Woche hin, bis Nubnefer sich für den Vorschlag erwärmen ließ. Schön, ja, Milos Heimat kennenlernen, das täte ihn schon interessieren. Und über Geschenke, das stimmte schon, freute er sich immer sehr. Aber bitteschön, wenn man dort oben in Brevoy angelangt ist, dann möge Milo sich aber, und das ließ Nubnefer sich sogar schriftlich unterzeichnen, eine etwas interessantere Tätigkeit suchen als die Lehrtätigkeit oder das reine Gelehrtentum, also dass er wieder durch die Gegend reise und etwas erleben möge, viele verschiedene Orte erkunden, Ruinen, Naturschönheiten...
Zurück in Brevoy
"Was also willst du hier?" fragte Illja Ivanovitsch seinen Sohn.
"Das weiß ich selbst noch nicht", erwiderte Miloslav Illjitsch, vom bisherigen Verhör erschöpft, welches immerhin den Vater überzeugen konnte, dass da tatsächlich der verlorene Sohn vor ihm stand.
"So weit habe ich noch nicht vorausgedacht." "Siebenundzwanzig Jahre warst du fort, und jetzt meinst du—""Meine Schuld war das nicht", unterbrach ihn der Sohn.
"Und jetzt tauchst du einfach so hier auf und tust, als gehörtest du zur Familie.""Ich gehöre zur Familie", erwiderte Milo.
"Ich bin dein Sohn. Interessiert es dich gar nicht zu erfahren, was aus mir geworden ist? Also ich habe in den vergangenen siebenundzwanzig Jahren ja immer wieder an dich gedacht und mich gefragt, wie es dir wohl ergeht. War es so abwegig von mir zu meinen, du hättest bisweilen auch an mich gedacht, Vater?""Verkauf mich nicht für dumm. Du willst etwas. Was ist es? Geld? Land? Einen Posten?""Jetzt, wo du fragst... zu einer warmen Mahlzeit täte ich nicht Nein sagen, noch zu einem Schlafplatz für die Nacht. Gerne bliebe ich auch ein paar Tage hier, oder ist das zuviel verlangt? Bin ich dir tatsächlich ein so unliebsamer Gast? Dann lass mich wenigstens versuchen, dir die Sorge zu nehmen, ich wollte mich hier auf immer einnisten. Osirion ist meine Heimat. Dort habe ich mir ein Leben aufgebaut. Dort habe ich einen Beruf, Pläne für die Zukunft, Freunde, Kollegen. Und wenn ich des Reisens müde werde, dann will ich dorthin zurückkehren. Also, Vater, was sagst du? Wollen wir uns einfach ein wenig kennenlernen?""Beruf, sagst du?" brummte Illja Ivanovitsch.
"Ja, jemand wie du braucht das wohl.""Was soll das denn heißen?" fragte Milo.
"Na, so ein schmächtiger Kerl wie du. Zu was kann der taugen außer zum Advokaten oder Schreiberling. Oder etwa gar ein Kaufmann?""Archäologe", entgegete Milo.
"Hmpf", machte der Vater.
"Und was das schmächtig betrifft: das kann schon mal vorkommen, dass der Nachwuchs schmächtig wird, wenn man eine Elfe schwängert."Darauf versuchte Milo noch eine ganze Weile lang, dem Vater begreiflich zu machen, dass man als Archäologe in Osirion besonders angesehener war und warum diese Wissenschaft dort so wichtig war, nach unvorstellbaren drei Jahrtausenden der Fremdherrschaft. Dass es eine Besonderheit sei, als Nicht-Osirer von der Universität in Sothis anerkannt zu sein, sogar dort zu unterrichten – ja, darin war Milo sogar der einzige!
Der Vater schnaubte.
"In Vergangenem herumzukramen, wozu soll das gut sein? Besser, man kümmert sich um die Belange im Hier und Jetzt."Es war wohl zwecklos.
"Gut, dann erzähl mir doch, was hier und jetzt in Brevoy los ist..."Zunächst zögerlich, dann bald schon mit entflammtem Eifer erklärte Illja Ivanovitsch seinem Sohn die politische Lage in Brevoy. Milo hatte Mühe, auch nur einen Bruchteil davon zu verstehen.
"Das klingt alles sehr kompliziert", gab er zu, ratlos wie er sich darin zurecht finden sollte.
"Und gibt es außer den politischen Intrigen und Machtspielen noch weitere interessante Ereignisse hier in Brevoy?"Illja Ivanovitsch dachte nach.
"Die Schwertjunker von Restow wollen den Grüngürtel besiedeln. Sie haben bereits Abenteurer vorausgeschickt, um ihn zu erkunden und von Räubern und anderem Gesindel zu befreien.""Erkunden?" horchte Milo auf.
"Oh, im Erkunden sind wir Archäologen gut. Und Räuber können auch nicht gefährlicher sein als Schlangen und Riesenskorpione."Zum ersten Mal betrachtete Illja Ivanovitsch seinen Sohn mit nachdenklichem Interesse.
"Es wäre nicht verkehrt, wenn ich dort unten ein Auge hätte...""Dann bin ich also auf einmal doch dein Sohn?""Hm", machte der Vater.
Das fasste Milo jetzt einfach mal als Bestätigung auf. Zumindest aber war es ein Versprechen.
Beweise es mir, schien der Vater zu sagen.
Beweise mir, dass du schmächtiges Bürschlein etwas taugst..
"Wann soll ich aufbrechen?" fragte er.