Une nouvelle ère

avatar Menthir 05.Aug.2013 12:08
(http://games.dnd-gate.de/index.php?action=dlattach;topic=7714.0;attach=10117;image)

Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 05:03 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Der weiße Platz[1] war inzwischen ruhig, doch seinen Namen hatte er schon längst nicht mehr verdient. Seit einigen Jahren war der Gipsabbau der wichtigste Zweig des Arbeiterviertels Montmartre[2] gewesen. Der Grund lag darin, dass die Mieten für Pariser Wohnungen seit geraumer Zeit immer teurer wurden und die Bevölkerung in den Arbeitervierteln wie Montmarte und dem erst vor einigen Jahren eingemeindeten Belleville[3] dadurch ständig stiegen. Es wäre aber falsch gedacht, dass es nur die Armen und Bildungsschwachen in diese Viertel getrieben hätte. Der Montmartre war gleichzeitig die höchste Erhebung der Stadt Paris und das machte diesen Hügel ideal für die Befestigung. Die Nationalgarde wachte hier in diesem Viertel und auch an sich auf dem weißen Platz, der wegen des Gipsabbaus eben jenen Namen trug. Jetzt, da der morgendliche Nebel über den dunklen, nur von flackernden Laternen beleuchteten waberte, und die dort noch Liegenden oder Verletzten immer wieder verschluckte und doch wieder freigab, hätte man ihn auch roter Platz nennen können.

Männer des Projektes Exodus waren an diesem feuchten Morgen, an dem die Temperaturen für einen März jedoch schon recht angenehm waren, schon auf der Place Blanche unterwegs. Hätte an einem gewöhnlichen Tag die Armenfürsorge die Mitglieder in Anspruch genommen, war es heute die medizinische Versorgung. Vier Männer hatten sich in der Dunkelheit, noch etwa eine Stunde vom Sonnenaufgang entfernt, eingefunden, unter ihnen auch der geistige Führer dieser kleinen, in Paris als Sekte bezeichneten Gruppe, Paul Zeidler. Und das alleine hätte ein Zeichen sein können, dass sich etwas verändert haben musste, warum der weiße Platz jetzt ein roter Platz war. Die Regierungstruppen, meist alarmiert durch besorgte Zeitungsleser oder konkurrierenden Interessensgruppen, duldeten den Aufenthalt des Projekt Exodus nur an guten Tagen auf dem Place Blanche für längere Zeit. An diesem Morgen war dies anders. Es gab hier keine Regierungstruppen, welche hätten die Mitglieder des Projektes vom Platz treiben können. Und wenn Männer in Armeeuniform auf dem Platz waren, lagen sie schwer verwundet oder tot nieder, wie die Generale Claude-Martin Lecomte[4] oder Jacques Léon Clément-Thomas[5], welche beide im Laufe des letzten Tages füsiliert wurden. So erging es auch dem ein oder anderen Soldaten auf dem weißen Platz, aber auch eine Vielzahl anderer Verletzungen gab es. Quetschungen, Prellungen, gebrochene Glieder. Verletzungen, wie sie für die Massenaufläufe von Menschen nicht ungewöhnlich waren, wenn die Menge außer Kontrolle zu geraten drohte oder panisch wurde, oder wenn der Mordgeifer an den Lefzen sich in der Masse erstarkender Menschen hinablief.

Auch Sébastien Moreau war an diesem Morgen noch auf dem Platz. Er und François Durand saßen an einer der unzähligen, hellen Hauswände am Rande des Platzes, direkt am Boulevard de Clichy[6], welche tief in das Herz Montmartres hineinführte. Sie saßen dort jetzt still zusammen, der Weinbrand wärmte sie zumindest gefühlt und half gegen die feuchte Kälte des Morgens. François hatte sich inzwischen beruhigt und saß dort schweigend, seinen rechten Arm, der schlaff am Körper hing festhaltend. Seine Nase war von dem Gewehrkolben eines Füsiliers[7] gebrochen wurden und stand zu weit nach rechts. Blut tropfte aber nur noch selten heraus. An seiner rechten Augenbraue hatte er eine Platzwunde von einem heftigen linken Haken und sein linkes Auge war noch immer zugeschwollen. Seine zerrissenes Hemd und die vielen Kratzspuren auf seinem sichtbaren Oberkörper zeugten von einem harten Kampf, der mit allen Bandagen ausgefochten wurde. Auch Sébastien hatte sich letzte Nacht bewähren müssen[8].
Eigentlich war es unglaublich gewesen, wie schnell alles ging. Sébastien erinnerte sich, dass sie noch im Krieg, als die Deutschen bei der Belagerung von Paris eine Befestigung nach der nächsten schleiften, in einem Coup 227 Kanonen retten und in den Besitz der Nationalgarden bringen konnten. Die Preußen ließen den Nationalgarden[9] ihre Waffen, während sie die reguläre Armee entwaffneten. Die Nationalgarden, will sagen Milizen, waren deshalb in einer besonderen Position. Sie waren eine bedeutende, bewaffnete Macht geworden und die Bestrebungen in Paris, andere Wege einzuschlagen waren konkreter geworden. Im Februar hatte sich das Zentralkomitee der Nationalgarden gebildet und obwohl sich politisch noch uneins, fürchtete die neue Regierung die Vorgänge innerhalb des Zentralkomitees. Gestern waren Regierungstruppen nach Montmartre marschiert und versuchten die Kanonen zu requirieren. Als das Volk sich jedoch erhob, passierte das Unerwartete. Die anwesenden Generale oder einen von ihnen, soll den Befehl gegeben haben, auf die aufgebrachte Menge zu schießen, um sie auseinanderzutreiben. Doch die Soldaten verweigerten die Befehlsausführung und fraternisierten mit der aufgebrachten Bevölkerung von Paris. Die beiden Generale wurden festgesetzt und noch in Montmartre füsiliert. Ein chaotischer Tag brach an, denn das Erschießen der Generale brachte keine Abkühlung, sondern die Wut auf die Regierung um Alphonse Thiers[10] war ungebrochen. Barrikaden wurden errichtet und die Nationalgarden beschlossen den Spuk durch der Regierung in Paris ein Ende zu machen. Von Montmartre und Belleville aus zogen die Nationalgarden - und zwar jene, welche vor allem in den Arbeitervierteln lebten und mit sozialistischen Strömungen verbunden waren - in das Stadtzentrum. Die anderen Nationalgarden - das heißt jene konservativen oder bürgerlichen - hielten still und es schien ein blutiger Tag zu werden, doch Thiers gab den Befehl zur Evakuierung und brachte alle Offiziellen, die sich retten konnten und die Regierung nach Versailles. Und dort warteten sie nun, während auch Sébastien und François eigentlich darauf warteten, dass die Nationalgarden jetzt auch nach Versailles aufbrachen. Aber der Tag war worüber, François verwundet und die erste Kraft der Nationalgarden schien aufgebraucht. Auch kein Polizist wagte es, auf dem Place Blanche aufzutauchen. François lächelte zufrieden mit seinem so jungenhaften und doch jetzt zerschlagenen Gesicht, als sei er ein Lausbub, der gerade etwas Streichhaftes getan hatte und zufrieden mit seinem Werk war. Aber er schwieg weiter. Eigentlich wusste keiner so recht, was jetzt passieren würde. Die Regierung war geflohen, wahrscheinlich bedeutete dies, das dem Zentralkomitee der Nationalgarden jetzt eine besondere Rolle zukam. Wie diese aussah war schwer zu sagen. Das würde der morgige Tag zeigen, doch erstmal musste Sébastien jemanden finden, der François wieder zusammenflickte. Dessen Schulter war mindestens ausgekugelt, weshalb der Arm herabhing. Seine Nase brauchte auch eine Versorgung und auch wenn François vor sich hingrinste und schwieg, war nicht auszuschließen, dass die harten Schläge eines sich wehrenden Soldaten mit dem Gewehrkolben nicht doch innere Verletzungen zurückgelassen hatten. Wenn François Speichel ausspuckte, glaubte Sébastien auch in dieser nur von flackernden Laternen beleuchteten Straße Blut im Speichel seines besten Freundes zu sehen.

Vielleicht waren noch fünfzig Männer und Frauen auf den Straßen unterwegs. Sogar die Frauen hatten sich sehr offensiv an den Barrikaden des Tages beteiligt und noch immer bewachten vier oder fünf die Barrikade am Boulevard de Clichy. Viele Bürger von Paris ließen sich aber selbst von diesem Abend nicht beeindrucken und besuchten, als wäre nichts ungewöhnliches passiert, die vielen Tanzlokale, Kabaretts und Trinkstuben, welche in Montmartre und am Place Blanche auch an einem frühen Sonntag noch die Türen offen hatten. Die Stimmung war trotz mancher Verletzter gut, viele junge Männer waren noch immer voller Adrenalin und Energie und versuchten sie jetzt in Wein zu ertrinken oder sich an willigen Damen zu erschöpfen. Die Musik, meist Chansons[11], die von vielen Leuten gesungen wurden, drang nur gedämpft über den Platz, der sonst im Nebel der Ungewissheit versank.

Paul Zeidler erreichte zwei junge Männer, die an einer Hauswand saßen und miteinander einträchtig schwiegen, obwohl sie beide geschwollene Gesichter haben mochten. Einer von ihnen, er sah etwas jünger aus und trug keinen Bart, hatte sich scheinbar eine Schulter ausgekugelt und sah aus, als sei er ziemlich traktiert wurden.  Er würde Hilfe brauchen, würde er keine bleibenden Schäden davontragen wollen. Es war ein merkwürdiger Morgen in Paris, ein Morgen, an dem manche feierten, als wäre es nie anders gewesen, manche feierten, als gäbe es keinen Morgen und dann gab es noch jene, welche trotz ihrer Verwundungen einfach ignoriert wurden, obwohl sie diese Art der ausgelassenen Feier erst ermöglicht hatten. Von irgendwo drang der Ruf "Vive la révolution!" an die Ohren von Paul, Sébastien und François. Wie immer war er alsbald von den Leitbildern einer jeden Revolution in den letzten 80 Jahren begleitet. "Liberté, Égalité et Fraternité!" Es waren Ideale und Worte, mehr noch nicht, auch wenn der letzte Tag wohl recht nahe dran war...
 1. Place Blanche (http://en.wikipedia.org/wiki/Place_Blanche)
 2. Montmartre (http://de.wikipedia.org/wiki/Montmartre)
 3. Belleville (http://en.wikipedia.org/wiki/Belleville,_Paris)
 4. 
General Lecomte (Anzeigen)
 5. 
Füsilierung der beiden Generale (Anzeigen)
 6. Boulevard de Clichy (http://en.wikipedia.org/wiki/Boulevard_de_Clichy) - Hieß auch mal Boulevard des Martyrs
 7. Füsilier (http://de.wikipedia.org/wiki/Füsilier)
 8. Ich überlasse dir die Wahl, ob und wie stark du verletzt bist.
 9. Garde National (http://de.wikipedia.org/wiki/Garde_nationale)
 10. Marie Joseph Louis Adolphe Thiers (http://en.wikipedia.org/wiki/Adolphe_Thiers)
 11. Chanson (http://en.wikipedia.org/wiki/Chanson)
avatar Sébastien Moreau 05.Aug.2013 08:08
Der Kampf der letzten Nacht war der wohl bisher härteste gewesen, den Sébastien in seinem Leben hatte bestreiten müssen. Die durch den aufgezogenen, morgendlichen Nebel und seine Sitzposition etwas eingeschränkte Aussicht auf den Place Blanche, die er in diesem Moment hatte, ließ auch keinen Zweifel daran, dass er mit dieser neuen Erfahrung nicht allein war. Blut setzte sich im spärlichen, flackernden Licht der Laternen dunkel vom restlichen Untergrund ab, wie auch die Körper von Verletzten und teils auch Toten. Hier und da drang ein schmerzerfülltes Stöhnen oder Gejammer an Sébastiens Ohren, viel präsenter waren jedoch der Gesang und die übrigen Geräusche der Musik und Feierei, die gedämpft über dem frühmorgendlichen Montrematre lagen.

Auch sein bester Freund François Durand und er waren guter Stimmung. Das Hochgefühl war trotz der auch vielen schrecklichen Bilder, die der letzte Tag mit sich gebracht hatte, noch nicht verklungen. Ja, sie hatten gesiegt und das hatten sie sich verdient. Was die Zukunft bringen würde, war noch ungewiss, aber sie hatten geholfen, eine Grundlage für eine bessere zu legen. Sie hatten etwas in Gang gesetzt, was wohl weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen würde. Es war ein blutiger, dreckiger Kampf gewesen, doch Sébastien hatte sich dem Adrenalinrausch hingegeben. Als es vorbei gewesen war, hatten François und er sich mit einer Flasche Brandwein an einer Hauswand am Rande der Kampfstätte niedergelassen und hatten sich seitdem nicht von der Stelle gerührt.
François seinerseits hatte Tränen vergossen und lauthals geklagt – sein schlaff herabhängender Arm, den er sich nun hielt, sah auch alles andere als wie eine harmlose Verletzung aus –, aber inzwischen schwiegen er und Sébastien Seite an Seite, während der Inhalt der Flasche, die sie sich teilten, zusehends zur Neige ging.
François‘ Gesicht war blutverschmiert, geschwollen und blau angelaufen, sein Hemd zerrissen und sein Körper verkratzt – Sébastien wollte nicht wissen, wie er selbst aussah. Atmen konnte er nicht, ohne dass es in seiner Brust zerrte, auch wenn er glaubte, dass seine Rippen noch ganz waren. Nachgesehen hatte er nicht, auch wenn er das vermutlich sowieso nicht richtig hätte beurteilen können. Er hatte in der letzten Nacht nicht wenige Schläge und Tritte einstecken müssen, aber François hatte es wohl härter erwischt. Neben den vielen Stößen und Hieben war Sébastien gekratzt und geschubst worden, er hatte einige Schnittverletzungen davontragen müssen – ein Witzbold hatte ihm sogar in die Wade gebissen. Trotzdem er sich gut bewährt hatte, gab kaum eine Stelle seines Körpers, die verschont geblieben worden war. Er spürte noch immer eigenes, getrocknetes Blut in seinem Gesicht, an seinen aufgeplatzten Fingerknöcheln und an seinen aufgeschlagenen Knien, zudem war auch fremdes Blut an seiner Kleidung zu sehen. Diese war ähnlich, aber nicht so stark mitgenommen wie die seines Freundes.
Insgesamt schienen Sébastiens Verletzungen oberflächlicher Natur zu sein – zumindest tat er diese größtenteils ungesehen als solche ab –, jedoch schmälerte dies die Schmerzen,  die diese verursachten, keineswegs. Ungeachtet davon hatte sich in Sébastien aufgrund seiner Stimmung eine gewisse Gleichgültigkeit breitgemacht – auch wenn er François hin und wieder einen besorgten Seitenblick zuwarf. Er war zufrieden mit sich und seiner Leistung.
Sich aufgerafft, um Hilfe für seinen Freund zu suchen, hatte er sich bisher jedoch noch nicht. Zu zweit genossen sie das Schweigen, das zwischen ihnen herrschte und dabei doch alles zum Ausdruck brachte, was sie empfanden. François grinste vor sich hin, Sébastien trank einen weiteren Schluck Weinbrand und versuchte dabei zu verhindern, dass dieser ihm am Kinn hinablief. Seine Lippen waren geschwollen, genauso wie andere Bereiche seines Gesichts. Etwas beschränkte dies Sébastiens Sicht, doch das hinderte ihn nicht daran, mit dem Hinterkopf an die Wand gelehnt seine Umgebung zu betrachten.

Als Sébastien die Flasche sinken ließ, fiel ihm eine Gestalt auf, die sich in ihre Richtung bewegte. Sein Blick verweilte einen Moment lang mit eher beiläufigem Interesse auf dem bärtigen älteren Mann, der sich aus dem wabernden Morgennebel schälte, bis er merkte, dass dieser François und ihn ebenfalls entdeckt hatte und sie beide zudem auch noch zu beachten schien. Plötzlich kam Bewegung in Sébastien, denn hastig löste er seinen Griff vom Hals der Weinbrandflasche und merkte gar nicht, dass er diese dabei fast umstieß.
„Heda, Monsieur!“, rief er dem Fremden entgegen, während er sich, mit Eile und die Wand als Stütze nehmend, aufrappelte. Aufgrund der Schmerzen und des vielen Alkohols, den er getrunken hatte, um diese etwas erträglicher zu machen und ihren Sieg zu feiern, wirkte das vermutlich ziemlich unbeholfen. Doch Sébastien ließ sich davon oder auch von dem Schwindel, der ihn befiel, nicht abhalten. Leicht wankend stand er da, als er sich zu seiner vollen, nicht zu verachtenden Größe aufgerichtet hatte, und machte sogleich einen fast stolpernden Schritt zurück, sodass er sich mit dem Rücken wieder an die Wand lehnen konnte. Auch wenn der Fremde alles andere als gefährlich wirkte und auch nicht danach aussah, weiteren Ärger verursachen zu wollen, war Sébastien auf der Hut.
Seine Worte kamen, teils durch seinen Alkoholpegel, teils durch seine angeschwollenen Lippen, lediglich nuschelnd zwischen diesen hervor.
„Sie seh’n wie’n Arzt aus“, stellte Sébastien daraufhin fest, denn die Tasche, die der Mann bei sich trug, sah verdächtig nach einem Arztkoffer aus.[1] Selbst wenn das nicht der Fall sein sollte: François‘ Zustand war sicher nicht der beste und Sébastien würde jede Art von Hilfe annehmen – selbst wenn diese lediglich darin bestehen würde, zwei weitere Arme zu haben, die ihn dabei unterstützten, seinen besten Freund von hier weg und zu jemandem zu schaffen, der diesen zusammenflicken konnte.
„Mein Freund…“, äußerte er mit bittendem Unterton und unterbrach sich kurz selbst mit einem Luftholen, „mein Freund is‘ verletzt. Würden’se uns helfen?“
Sébastien dachte jedoch weniger an sich selbst, sondern sorgte sich in erster Linie um François. Zwar hatte auch er einiges einstecken müssen, aber bedurften der anscheinend ausgekugelte Arm und die gebrochene Nase seines besten Freundes dringendere Versorgung – wenn die Lage nicht sogar noch schlimmer war als sie aussah. Ob Sébastien seinerseits ähnlich übel zugerichtet wirkte wie François, konnte er nur schwer beurteilen, doch besser ging es ihm, vermutlich.
„Vive la révolution!“, begrüßte dann auch François, auflachend und weiterhin mit einem seligen Grinsen im stark lädierten Gesicht, ihren Besucher und stimmte damit etwas verspätet dem vorhergegangenen Ruf zu, der über den Place Blanche gehallt war.
 1. Ich gehe davon aus, dass Paul diesen bei sich trägt.
avatar Paul Zeidler 06.Aug.2013 10:08
Es kam anders. Nach dem Sieg der deutschen Truppen in der Schlacht von Sedan, der Flucht Napoleons und der Neuwahl der Nationalversammlung hatte Paul noch kurzzeitig Hoffnung auf einen baldigen Frieden gehegt. Doch die Ereignisse überschlugen sich und ein Ende der Gewalt war nicht abzusehen. Die Nationalgarde waren vergleichsweise gut bewaffnet und forderte eine Fortsetzung des Krieges. Paul ahnte in diesen Stunden bereits, dass das Blutvergießen kein Ende nehmen würde, sondern nun erst beginnen würde. Hier traten keine Armeen gegen einander an, sondern Volksgruppen.

Gestern hatte Paul davon erfahren, dass die Nationalgarde mehr als zweihundert Kanonen erbeuten konnten. Heute Nacht hatte es eine blutige Schlacht gegeben. Paul war von den Schüßen und Schreien geweckt worden und hatte sofort versucht, einige Männer aus der Nachbarschaft zusammengerufen. Viele konnte er nicht finden, nur wenige versammelten sich in dem kleinen Raum im ersten Stock der gemeinsamen Wohnung. Paul sammelte, was in der Eile zu erfahren war. Dann musste er eine Entscheidung treffen, auf die er nicht vorbereitet gewesen war.

Bisher war der Krieg im Projekt Exodus kein Thema gewesen, mit dem man sich auseinandergesetzt hatte. Paul hatte seine Meinung niemals zurückgehalten, dass er den Angriff Frankreichs gegen Deutschland ablehnte und dass er auf Frieden hoffte, auch zu einem hohen Preis. Lange waren die Fronten weit entfernt von Paris gewesen und die Männer um Paul waren müde, für einen Kaiser zu kämpfen, der sich nicht für sie interessierte. Nun war es anders. Die deutschen Truppen standen um Paris und die Pariser kämpften für die eigenen Interessen. Paul hatte auch unter den Seinen eine gewisse Begeisterung bemerkt.

In den wenigen Minuten, bis die Männer zusammentrafen, sammelte Paul seine Gedanken. Paul war sich sicher, dass er den bewaffneten Kampf nicht unterstützen würde. Die deutsche Revolution hatte nicht zum Frieden geführt und eine französische würde es auch nicht. „Erst wenn der Frieden in den Herzen einkehrt, dann werden der Löwe und das Lamm beisammen liegen[1]“, sagte Paul.

Wir sollten nicht an den Kämpfen teilnehmen“, hob Paul erneut an. „Wenn es eine ungerechte Herrschaft gegeben hat, dann war es die römische Besatzung des Heiligen Landes. Und wenn es einen gegeben hat, der die Macht hatte, eine ungerechte Herrschaft umzuwerfen und ein neues Reich aufzubauen, dann war es Jesus. Doch er kam nicht als himmlischer Streiter, sondern als demütiger Gottesknecht. Seinen Jüngern lehrte er die Nachfolge. Was das bedeutet ist im Doppelgebot der Liebe ausgesagt: Du sollst den Herrn lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele und Du sollst Deinen nächsten lieben, wie Dich selbst. Für uns bedeutet dies, dass wir zu denen kommen, die unserer Hilfe bedürfen – ob er Revolutionär oder Gegenrevolutionär ist.

Einige der Männer murrten und eine Tür schlug. Paul wurde unsicher, doch er bemühte sich, nicht zu schwanken. „Denkt an den Hauptmann von Kapernaum. Das war ein Besatzer und kam zu Jesus als Hilfeschender. Wenn nun der Messias diesen Mann helfen konnte, warum könnt Ihr dann nicht einmal Euren Landsleuten helfen? Der Zufall schlägt uns auf eine Seite, doch Menschen sind wir alle“.

Ich habe die Hoffnung, dass wir Gerechtigkeit bringen, wenn wir selbst gerecht werden. Darum bitte ich Euch, dass Ihr mit mir kommt, wenn ich jetzt zum Platz der Kirche gehe“.

Nach kurzer Zeit ging Paul mit vier Männern auf den Weißen Platz. Sie zerstreuten sich und versorgten die Verwundeten, so gut es ging. Währenddessen machte sich Paul Gedanken. Er würde sich vor seinen Leuten erklären müssen. Schon an diesem Abend.

Schließlich, als er einen Moment verschnaufte und sich Orientierung über den Platz verschaffte, da fielen ihm zwei Männer auf, die an der Straßenecke saßen. Die beiden waren schwer lädiert, der eine hatte eine Luxation des Schultergelenks, das erkannte Paul sofort. Er musterte sie für einen Moment, um einzuschätzen, wie sie ihm gesinnt sein möchte. Auch er war dem einen der Männer aufgefallen. Mühsam erhob sich der Mann und sprach Paul an.

Mein Name lautet Paul Zeidler und ich bin tatsächlich Arzt. Das haben Sie richtig erkannt“, sagte Paul. Es war offensichtlich, dass der Mann stark angetrunken und wahrscheinlich nicht ganz bei sich war. Paul mochte keine betrunkenen Männer. „Ihr Freund ist verwundet. Er hat sich mindestens die Schulter ausgehebelt und er muss baldig behandelt werden. Ich kann Ihnen helfen, doch das hängt davon ab.“ Paul kniete sich neben den Verwundeten und prüfte die Reaktionsfähigkeit des Mannes, indem er einen Finger vor dessen Augen bewegte. Dann begann er damit, die Rippen abzutasten und weitere Verletzungen zu begutachten.

Es hängt davon ab, ob sie einverstanden sind, dass ich Sie behandle. Sie müssen Sie wissen, dass ich Paul Zeidler bin und dass ich dem Projekt Exodus angehöre. Wir sind Christen und wir bringen Verwundeten auf beiden Seiten Hilfe. Ich hoffe, dass die Menschen Frieden suchen und ihn nicht erkämpfen wollen“.

Paul stand auf und sah den ersten Mann an. „Fürs Erste kann ich keine schwereren Verletzungen feststellen. Wenn Sie einverstanden sind, dann werde ich jetzt die Schulter einrenken. Das wird Ihrem Freund starke Schmerzen bereiten“, kündigte er an.
 1. In Anlehnung an Jes 11,6 (http://www.bibleserver.com/text/LUT/Jesaja11%2C6) und dem darin angekündigten Friedensreich.
avatar Sébastien Moreau 07.Aug.2013 09:08
François schien Glück zu haben, denn der Fremde stellte sich tatsächlich als Arzt vor. Sébastien hielt den älteren Mann nicht auf, als dieser sich zu François kniete, um sich ein Bild machen zu können, jedoch warf seine Stirn kurz Falten, als dieser ankündigte, eine Bedingung für seine Hilfe stellen zu wollen. Eigentlich erwartete Sébastien, dass die nächsten Sätze, die Paul Zeidler äußern würde, eine Geldsumme beinhalten würden, die dieser für François' Behandlung zu verlangen gedachte, doch es kam anders – was Sébastiens benebelten Verstand etwas irritierte.

Er starrte den Mann einen Moment lang an, während er das Gesagte verarbeitete. Projekt Exodus, das kam ihm bekannt vor, vielleicht hatte er den Namen des Arztes ebenfalls schon einmal gehört. Französisch hörte sich „Paul Zeidler“ nicht an, am ehesten wohl deutsch, aber das sollte Sébastien in diesem Moment nicht stören, genauso wenig wie dass der Mann sich auf keine Seite stellte und sich allgemein gegen die Geschehnisse hier auf dem Place Blanche aussprach.
Sébastiens bester Freund brauchte Hilfe. Von wem, war zweitrangig, und dieser ältere Herr hier zeigte, auch wenn er die Ansichten der beiden Freunde nicht zu teilen schien, Bereitschaft dazu. François und sich selbst im Gegenzug mit ihren Namen vorzustellen, kam Sébastien gerade nicht in den Sinn, mit Absicht unhöflich war er jedoch nicht.
„Exodus… Nun, wir sind auch Christen“, antwortete er schließlich etwas verhalten und unschlüssig, was er auf diese Offenbarung erwidern sollte, und sprach dabei aufgrund seines angeschlagenen und angetrunkenen Zustands weiterhin undeutlich.
„Tun’se, was’se müssen, er wird’s schon aushalten“, war er sich sicher, doch François sah auf einmal unglücklich aus, während Sébastien mit vom Alkohol gelöster und betäubter Zunge weiterredete. Das war wohl seine offizielle Erlaubnis dafür, dass Paul Zeidler sich François‘ Schulter annehmen durfte, starke Schmerzen, die das verursachen würde, hin oder her.
„Hat‘s ja auch geschafft, sich die Schulter ausrenk‘n zu lassen, nich‘?“ Nun machte sich ein etwas gequältes Lächeln auf Sébastiens Gesicht breit.
„Sah schon nich‘ schön aus, als ich ihn von dort hinten“, mit seiner blutverkrusteten Hand machte er eine ungenaue weisende Bewegung auf eine Stelle, die irgendwo in der Mitte des Place Blanche liegen mochte, „hierher schleifen musste. War nich‘ so einfach“, erzählte er dem guten Samariter namens Paul Zeidler, der nicht danach gefragt hatte.
„Hab‘ mich gewehrt, weil’s wehtat“, kommentierte François knapp, nun wieder mit einem Grinsen auf seinem jungenhaften, zerschlagenen Gesicht, das fast so schief war wie seine gebrochene Nase – es verschwand jedoch genauso schnell wie es gekommen war, als Sébastien den nächsten Satz an den Arzt wandte:
„Soll ich ihn festhalten?“, bot er fragend an, auch wenn er nicht wusste, ob das für die Behandlung überhaupt notwendig sein würde. François würde sicher auch aus eigenem Antrieb still bleiben.
avatar Paul Zeidler 08.Aug.2013 12:08
Paul musterte die beiden Männer. "Wie alt sie wohl sein mögen?", fragte er sich. "Sie sind bestimmt nicht älter als dreißig. Noch recht jung und idealistisch. So wie ich, damals". Der Mann trug einfache Kleidung und er sah aus, als ob er körperliche Arbeit gewohnt war. "Wahrscheinlich ein Arbeiter. Auch dieser Mann hat sich bestimmt mehr vom Leben erwartet. Ich würde schätzen, dass er auch nicht so recht weiß, wofür er kämpft. Aber er kämpft". Paul registrierte auch, dass der Fremde bemerkte, selbst Christ zu sein. Aber was hieß das schon? Paul entschied, zunächst nicht darauf einzugehen.

Paul nickte und wies auf die rechte Seite des am Boden liegenden Mannes. "Normalerweise renkt man eine Schulter mit Hilfe einer Stuhllehne ein. Aber in Hinsicht auf die Situation werde ich die Methode nach Hippokrates verwenden. Halten Sie Ihren Freund bitte fest. Falls er möchte, kann er auch auf ein Holz beißen. Das lenkt vom Schmerz ab. Ich würde es empfehlen", sagte Paul. Er kramte ein Holz aus seiner Tasche und bot es dem Mann an.

Dann ergriff Paul den Arm des Mannes und übte Zug aus. Er verlagerte das Gewicht und stellte seinen Fuß in die Achsel. Dann erhöhte er den Druck auf den Oberarmknochen aus, bis dieser wieder im Gelenk saß[1]. Die Prozedur mochte wohl recht grausam aussehen, aber es war die einzige Möglichkeit. Der Mann mochte unheimliche Schmerzen haben, aber, so wusste Paul, sie ließen ebenso schnell wieder nach. "Nun gut, der Knochen sitzt wieder im Gelenk. Ich hoffe, dass sich keine Komplikationen ergeben. Der Arm war doch eine ganze Zeit lang ausgekugelt. Jetzt da der Arm schon einmal ausgekugelt war, kann es übrigens leicht passieren, dass er bei leichterer Belastung wieder aus dem Gelenk rutscht. Er sollte sich schonen und keine Belastung ausüben - schon gar nicht kämpfen. Mindestens in den nächsten drei Wochen", erklärte Paul mit dem strengen Ton eines Arztes. Dann änderte sich sein Ton, aber auf einmal. "Sie sollten ohnehin nicht hier kämpfen. Sie sind jung und sollten damit beschäftigt sein, sich eine Existenz aufzubauen. Sind Sie verheiratet? Warum sind Sie überhaupt hier auf dem Platz?", fragte er, während er den ersten Mann untersuchte. "Bewegungsabläufe sind in Ordnung. Schürfwunden und Prellungen. Keine Brüche. Bewusstsein in Ordnung, abgesehen vom Alkohol. So weit ich sehe, ist da nichts, was nicht einfach verheilen kann", stellte Paul in Gedanken fest[2].
 1. Medizin: 4 Erfolge (ausgezeichnet).
 2. Medizin: 3 Erfolge
avatar Menthir 08.Aug.2013 10:08
Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 05:07 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Der Krieg war noch nicht vorbei und doch hatten sich für Carl von Lütjenburg, dem jungen Major aus dem beschaulichen Schleswig-Holstein, die Methoden rapide innerhalb weniger Tage verändert. Vor nicht einmal etwas mehr als drei Wochen hatte er noch mitten im Feld gestanden, Befehle gebellt, nahe am Puls der Schlachten und des Krieges. Wie schwer war es doch gewesen, gleichzeitig Paris zu belagern[1] und das Hinterland zu halten. Die Pariser waren ein besonders resolutes Völkchen gewesen und schienen sich sogar von der eigenen Regierung loszusagen, um den Kampf mit eigener Faust fortzuführen. Der Kampfeswille der Pariser war lobenswert gewesen und doch kam auch dieser kam scheinbar zu einem Ende mit genügend Zermaterung durch Belagerung und das Aushungern einer ganzen Stadt. Generalmajor von Stiehle[2] ließ sich davon nicht beirren und hatte Major Carl von Lütjenburg persönlich per Brief instruieren lassen über seinen neuen Einsatz. Carl von Lütjenburg durfte die Waffe beiseite legen und mitten in das Herz dieses Moloches, der Paris beizeiten war, eintauchen. Carl war in aller Herrgottsfrühe noch unterwegs auf den Straßen von Paris. Von Stiehles Einschätzung hatte gestimmt. Der Pariser Kampfeswille war alles andere als gebrochen. Die gescheiterte Entwaffnung der Nationalgardisten durch die französische Armee hatte den Konflikt wieder auflammen lassen und dies bedrohte radikal den Vorfrieden von Versailles[3], der vor nicht einmal einem Monat geschlossen wurde.
Niemand hatte damit gerechnet, dass es nach Napoleons[4] Abdankung noch so ein Kraftakt werden würde. Und jetzt kam der plötzliche Befehl. Noch am Morgen war Carl in Drancy[5] gewesen und hatte sich mit dem Abbau der restlichen, französischen Festungsmaßnahmen beschäftigt, am Nachmittag des 18. hörte er die Nachrichten aus Paris. Gegen Abend hielt er bereits die Befehle des Generalmajors von Stiehle in den Händen, die auf sehr ungewöhnliche Art und Weise in seine Hand kamen. Gustav selbst hatte ihn aufgesucht, ihm den Brief gegeben und war kurz darauf wieder - sonderbar in Eile - wieder verschwunden und Carl war natürlich gleich aufgebrochen. In der Nacht war er angekommen und hatte die Feierlichkeiten auf dem Place Blanche mitbekommen. Er kam gar nicht darum herum, in dem einen oder anderen Lokal ein schales Bier zu trinken. Die Feierei war groß, aber Paris hatte sich noch nicht von der Belagerung erholt. Die Menschen sahen ausgemergelt aus, teils verhungert, teils zersaust und verzweifelt. Die Pariser gaben sich selbst ein bisschen Hoffnung. Von Stiehle hatte das nachvollziehen können. Wenn er die Offiziere um sich rief und den einen oder anderen Abend schon einen Wein getrunken hatte und er hörte, wie manche Offiziere vom Sterben auf dem Schlachtfeld sprachen, zitierte er Augenzeugen, um gerade den jungen Offizieren den Wind aus den Segeln zu nehmen und sie zur Ernsthaftigkeit aufzurufen. Es war so, da Carl jetzt über den Place Blanche marschierte, und die ganzen verhärmten, betrunkenen Gestalten sah, als würde er Gustavs Stimme im Kopf haben, als er seine Punkte Ende Januar vortrug, nur einen Tag vor der Aufgabe von Paris[6].

"«Ist das eine Weihnacht! Kirchen und Restaurants sind geschlossen, letztere bis auf einige wenige, wo die Speisekarte kurz, die Rechnung dagegen sehr lang ist, und wo man gegen teures Geld seltsame Gerichte bekommt, Esel- und Mauleselfilets, Bären,- Känguruh,- Strauß,- Condor- und Antilopenbraten, d.h. wenn man es glauben will, ich aber glaube das Meiste ist Nichts als Hunde,- Katzen,- Ratten- und Pferdefleisch, weil die übrigen Thiere nicht so zahlreich vorhanden und zu teuer sind.

 (...)Katzen kosten gegenwärtig 12 bis 20 Frcs., natürlich gestohlene Waare, Ratten zwei Frcs.»

Das sind die Worte aus der Stadt, meine Herren. Sie wissen, dass diese Geschichten stimmen. Wir müssen die Belagerung bald beenden. Wir wissen zwar, dass der Fall von Paris den Krieg beenden kann, aber wir sollten uns nicht daran erfreuen, wenn wir militärische Anlagen niederschießen. Lassen Sie mich ein paar Fakten nennen. Zwar vermeiden wir möglichst viele zivile Opfer durch direkten Beschuss, jedoch fordern Hunger, Kälte und Krankheiten ungleich mehr Opfer. Im Durchschnitt sind pro Woche etwa 800 bis 1000 Tote zu beklagen. Bis in die zweite Januarhälfte hinein erhöhte sich die Zahl auf 5000. Paris kriecht auf dem Zahnfleisch, aber mit jedem Tag wird die Krankheitsgefahr größer und ich will gar nicht wissen, was passiert, wenn der Frühling kommt und die stolzen Franzosen nicht aufgegeben haben sollten. Meine Herren, hören Sie also auf Witze über die Situation zu machen und begegnen Sie dem mit dem nötigen Verstand. Sie sind Offiziere des Kaisers!"


Carl las unter einer Laterne, in aller Stille, am Rande der Straße nochmals seinen Befehl.
Brief des Generalmajors (Anzeigen)
Ja, es stand tatsächlich da. Immerhin war es relativ warm, aber wirkliche Ansätze hatte Carl in den wenigen Stunden seiner Anwesenheit noch nicht finden können. Die meisten Männer waren besoffen, die Frauen nicht minder, und die wenigsten schienen die Situation selbst überblickt zu haben. Die Arbeiterschaft war aufgebracht, aber sie waren meist auch auf einer Stimmungswelle mitgeschwommen. Jetzt waren sie Teil des Jubels und viele schwadronierten über Wünsche und Träume, oder spekulierten wild über die Geschehnisse. Diesen Informationen war einfach nicht zu trauen und die Luft in den Gaststätten war dick, verraucht und trunkenheitsgeschwängert, hier und da sogar noch aggressiv. Jetzt war Carl nach draußen getreten, wahrscheinlich um an der frischen Luft eine Zigarette zu rauchen.

Nicht unweit von sich sah und hörte er einen Schmerzensschrei, der seine Aufmerksamkeit erweckte. Er sah zwei Männer, wie sie einem Dritten den Arm wieder einrenkten. Die Männer unterhielten sich. Zwei waren vom klaren Pariser Akzent her wohl Franzosen, doch der dritte Mann, der deutlich älter als die anderen beiden war, hatte augenscheinlich einen deutschen Einschlag in seinem Akzent. Er konnte den letzten Teil der Unterredung hören. Was machten die beiden jungen Männer wohl noch auf dem Platz? Sie waren beide verwundet, das war schwer zu übersehen. Vielleicht wussten sie mehr?
 1. Belagerung von Paris (http://de.wikipedia.org/wiki/Belagerung_von_Paris_(1870–1871))
 2. Gustav von Stiehle (http://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_von_Stiehle)
 3. Friedens-Präliminarien zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich (http://de.wikipedia.org/wiki/Vorfrieden_von_Versailles)
 4. Napoleon III. (http://de.wikipedia.org/wiki/Napoleon_III.)
 5. Drancy (http://de.wikipedia.org/wiki/Drancy)
 6. Am 28. Januar kapitulierte Paris.
avatar Sébastien Moreau 09.Aug.2013 03:08
Sèbastien kletterte sofort von François hinunter und gab ihn frei, als Paul Zeidler ebenfalls wieder losließ. Auch wenn der Schmerz schlagartig abklang und sich sofort Besserung einstellte, spuckte sein bester Freund das Holzstück, das er auch während seines Schmerzensschreis verbissen mit den Zähnen festgehalten hatte, aus, um nun im ersten Moment keuchend und gequält einen derben Fluch zum Besten zu geben.

Während François erst einmal liegen blieb und den Erfolg der Behandlung prüfte, indem er seinen lädierten Arm vorsichtig bewegte, hörten sich die beiden Freunde an, was Monsieur Zeidler ihnen mitteilte. Sich mindestens drei Wochen schonen zu müssen, war sicherlich keine erfreuliche Nachricht – nicht nur, was das Kämpfen betraf, schließlich hatte François darüber hinaus auch Pflichten, die durch eine solche Einschränkung beschwerlicher sein würden.
François setzte sich auf und quittierte das Gesagte mit einem Nicken. Lieber als Worten widmete er sich dem Rest, den Sébastien noch in der Brandweinflasche übrig gelassen hatte. Der Kampf hatte nicht nur körperliche Spuren an den beiden Freunden hinterlassen, doch trotz des Rückschlags, den François erlitten hatte, da er wohl nicht mehr weiterkämpfen können würde, steckte Zufriedenheit und Tatendrang noch immer in ihren Herzen.

Sébastien ließ sich unterdessen bereitwillig untersuchen, denn Paul Zeidler schien zu wissen, was er tat. Der Alkohol hatte sein Schmerzempfinden nicht vollkommen betäubt, doch er ertrug, dass er Arzt ihn abtastete, ohne zu zucken oder einen Ton von sich zu geben. Erst als dieser das Gespräch wieder aufgriff, entfuhr Sébastien ein belustigter Laut.
„Seh’n Sie sich um, Monsieur“, sagte er euphorisch und breitete leicht wankend die Arme aus. Der Belehrungsversuch des Arztes schien an ihm abzuprallen.
„Hör’n Sie nich‘, wie Paris feiert? Wir ha’m das ermöglicht und sind geblieben und feiern für uns mit. Vive la révolution, mein Freund! Endlich tut sich was und das woll’n wir nich‘ verpassen. Auf diese Nacht ha’m wir schon lang‘ gewartet, nich‘ wahr, François?“
Der gab ein zustimmendes Brummen von sich und grinste nun wieder.
„Jawohl, ich bin verheiratet“, fuhr Sébastien darauf stolz fort, wobei ihm in den Sinn kam, dass es vielleicht langsam Zeit wurde, nach Hause zurückzukehren, denn seine Frau machte sich vermutlich inzwischen ernsthafte Sorgen um ihn. Doch er ließ sich von diesem Gedanken nicht in seiner brandweinbeflügelten Rede beirren.
„Ich mach‘ das hier für meine Familie, viele mach’n das, denn wir wünschen uns ‘n gutes Leben. Wir sind’s leid, das Elend hier mit anzuseh’n, und nun werd’n wir was dagegen tun. So bau’n wir uns ‘ne bessere Existenz auf“, konterte Sébastien betonend und von seiner idealistischen Denkweise überzeugt.
„Solang‘ wir nicht frei und gleich sind, is‘ alles weitere Zeitverschwendung – und dafür lohnt’s sich, zu kämpfen. Wenn nich' jetzt, lassen wir die Chance verstreichen und nichts wird sich ändern.“
avatar Paul Zeidler 09.Aug.2013 08:08
Paul tastete den betrunkenen Mann durch sein Hemd ab und bemühte sich, nicht seinen Atem riechen zu müssen. Paul waren betrunkene Männer unangenehm. Sie erinnerten ihn an seine Burschenzeit in Deutschland. Nachdem der Bierstaat[1] ausgerufen war, betranken sich die Comilitonen wie toll, was binnen weniger Stunden in einer wilden Schlägerei führte - nicht zwingenderweise unter einander.

"Sie meinen, so wie in der französischen Revolution?", fragte Paul unschuldig. "Ich verstehe nicht, bitte erklären Sie es mir. Ich verstehe nicht, warum dies der Zeitpunkt zum Kämpfen ist. Die deutschen Truppen stehen vor der Stadt und die Nationalversammlung steht gegen Sie. Welche Möglichkeiten rechnen Sie sich aus? Und was erhoffen Sie sich eigentlich? Falls Sie doch siegreich sein würden, was machen Sie dann?"

Paul nahm ein kleines Stück Tuch aus seiner Tasche und tränkte es in eine klaren Flüssigkeit. Damit tupfte er dem Mann, welcher sich noch immer nicht vorgestellt hatte, über das Gesicht. Paul entschied, dass keine Wunde genäht werden musste.

Nach einer Weile deutete Paul verholen auf einen Mann, der offensichtlich ohne festes Ziel über den Platz ging. Er hatte ihn sehr lange nicht bemerkt. "Dieser Mann war nicht unter den Combatanten und ich denke auch nicht, dass er wegen den Verwundeten hier ist. Haben Sie eine Idee, wer er sein könnte?", fragte Paul leise.
 1. Der Bierstaat (http://de.wikipedia.org/wiki/Bierstaat) war eine parodistische Institution unter korporierten Studenten im 19 Jh.
avatar Carl von Lütjenburg 10.Aug.2013 12:08
Als Gustav von Stiehle Carl seine neuen Befehle aufgetragen hatte, hatte sich der Major endlich dazu durchgerungen seiner Frau zu schreiben und schon ein paar Zeilen zu Papier gebracht. Diese Situation war symptomatisch für die Ehe Carls und Louisas - es war ihnen seit der Hochzeit stets wenig gemeinsame Zeit beschieden gewesen und oft genug wurde diese durch Carls Pflichten zusätzlich verkürzt. Und wenn dies mal nicht der Fall war, hatte Louisa einen Termin oder eine Verpflichtung. Gustav hatte eines Abends vor Straßbourg[1] gemutmaßt, Carl führe lediglich eine eher unregelmäßige Korrespondenz mit jemandem, mit dem er rein zufällig verheiratet sei. Es war nicht einfach gewesen darüber zu lachen, aber es traf auch ein Stück weit die Wahrheit.

Tatsächlich verbrachte Carl Heinrich von Lütjenburg in den letzten Jahren wesentlich mehr Zeit mit seinem Trauzeugen, Generlmajor von Stiehle, als mit seiner eigenen Frau. Seit dem Vorabend des deutsch-dänischen Krieges war er an der Seite seines Freundes gewesen und hatte an allen bedeutenden Schlachten und Verhandlungen im Rahmen der letzten drei Kriege[2] teilgenommen. Von den Düppeler Schanzen[3] über Königgrätz[4] bis in den Spiegelsaal von Versailles[5]. Und jeder Sieg übertraf den vorigen an Ehre und Ruhm in vorher für unerreichbar gehaltenem Maße, doch all diese Errungenschaften verblassten am 18. Januar, als Carl der Gründung des deutschen Reiches beiwohnen durfte. Noch immer war es schwer zu begreifen, was dort tatsächlich geschehen war, als Wilhelm die Kaiserwürde empfing. Ein deutsches Volk unter einem Kaiser - von nun an und für immer.
Carl war dort in der Menge der Würdenträger untergegangen und seine eigene Bedeutsamkeit war nichtig neben solchen Männern wie Helmuth von Moltke und Otto von Bismarck, doch hatte er bei aller Ehrfurcht nicht vergessen, dass auch er alles in seiner Macht stehende getan hatte, damit dieser Tag Wirklichkeit werden konnte, von dem er schon so lange geträumt hatte.

Auch wenn seit dem schon zwei Monate vergangen waren, hatte Carl erst gestern Abend darüber schreiben können. Der 18. Januar 1871 hatte ihn so nachhaltig überwältigt, dass es einige Zeit brauchte, bis er seine Empfindungen und Erlebnisse zu Papier bringen konnte. Doch dieses Papier befand sich nun in einer Innentasche an seiner Brust. Gustav hatte ihn vom Schreiben abgehalten, als er die neuen Befehle persönlich überbrachte und dann ohne viele Worte und offensichtlich in Eile wieder verschwand. Dies war nicht nur merkwürdig, es beunruhigte Carl auch zu tiefst. Wenn Gustav in Eile war, warum brachte er die Befehle dann persönlich zu Carl? Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass er niemanden dafür zur Verfügung hatte, dem er genug Vertrauen entgegenbrachte. Doch was konnte er weiter daraus schließen? Nichts greifbares zumindest und so hoffte Carl, dass er seinem Freund hier in Paris tatsächlich am besten helfen können würde, während er den Brief wieder zusammenfaltete und zu dem unvollendeten Text an seine Frau schob.

Er hatte von Stiehles Rat beherzigt und auf seine Uniform verzichtet und trug zivil, Kleidung die den Umständen, in denen er sich bewegte angemessen war. Zwar nicht die Kluft eines Arbeiters, aber genauso wenig die eines preußischen Diplomaten, der er ja eigentlich war. Doch von seinem Status wollte er so wenig Gebrauch wie möglich machen, sein französisch war sehr gut, so dass selbst für jemanden, der den deutschen Akzent heraushören würde immer noch die Möglichkeit bestand, dass er einfach ein deutschstämmiger Einwohner dieser Stadt war.

Der Schmerzensschrei eines Mannes riss Carl unwillkürlich aus seinen Überlegungen. Sofort erblickte er die zwei Männer, die  - so wurde ihm nach einigen Augenblicken klar -  einen Dritten zu verarzten schienen. Der Patient und einer der Helfer waren sehr jung und sahen mehr als nur mitgenommen aus, während der andere älter aber unversehrt wirkte. Der Alte sprach mit einem deutschen Akzent, zusätzlich konnte Carl einige Worte über Kampf und Revolution aufschnappen, so dass er neugierig wurde. Diese Leute schienen über das Stadium des Feierns schon hinaus zu sein und reflektierten wohlmöglich die Geschehnisse der letzten Nacht. Vielleicht könnte er hier endlich einen Ansatz für seine Ermittlungen finden?

Noch einmal blickte er über den verwüsteten Place Blanche und fühlte sich an so viele Schlachtfelder erinnert, die ganz genauso ausgesehen hatten, während er auf die drei Männer zu ging. Er bedauerte die gefallenen Soldaten, die er selber in den Wochen zuvor geschlagen und getötet hatte. Sie hatte ihre Heimat verteidigt und nun erhob sich ihre Heimat gegen sie. Bis hierher war Carl der Meinung, dass die Pariser Kommunarden ihre Situation verkannten. Sie hatten keine Chance gegen die Preußen und mit einer möglichen Fortführung des Krieges würden sie ihr Los nur verschlimmern und zu allem Überfluss ihre großartige Stadt opfern. Doch mahnte er sich auch zu Vorsicht, die Situation nicht zu unterschätzen, schließlich war sie der Grund seiner Anwesenheit.

"Messieurs, excusez-moi. Ich hörte Ihren Schrei, Monsieur, geht es Ihnen gut? Brauchen Sie Hilfe?", fragte Carl die drei Männer mit nicht gänzlich gespielter Anteilnahme, immerhin galt der Krieg nicht der französischen Bevölkerung und von Stiehles Worte über die Lage in der Stadt hatten ihn nachhaltig beeinflusst. "Charles, meine Name ist Charles Lutjenbourg." Stellte er sich vor und befand, dass sein Name französisch ausgesprochen auch ganz französisch klang, sogar gar nicht mal schlecht. 
 1. Belagerung von Straßbourg (http://de.wikipedia.org/wiki/Belagerung_von_Straßburg)
 2. Deutsche Einigungskriege (http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Einigungskriege)
 3. Düppeler Schanzen (http://de.wikipedia.org/wiki/Düppeler_Schanzen)
 4. Königgrätz (http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_Königgrätz)
 5. Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles (http://de.wikipedia.org/wiki/Reichsgründung)
avatar Sébastien Moreau 11.Aug.2013 12:08
Sébastien wunderte sich ein wenig darüber, dass Paul Zeidler seine Äußerungen hinterfragte. Das nahm ihm merklich den Wind aus den Segeln, aber nur für den kurzen Moment, den er brauchte, um erst einmal seine Gedanken zu sortieren. Er runzelte die Stirn, jedoch nicht nur deswegen, denn womit auch immer der Arzt sein zerschlagenes Gesicht abtupfte: es brannte in den Wunden. Sébastien ließ diese Prozedur stillhaltend über sich ergehen und antwortete währenddessen, auch wenn er unbewusst, denn der Brandwein hatte sein aktuelles Bewusstsein und Denkvermögen durchaus angegriffen, nicht auf alle Fragen explizit einging:
„Oui, oui“, bestätigte er, „genau wie in der französischen Revolution. Auf die Regierung können wir uns nich' verlassen“, erklärte er, „denn die is' gegen uns. Die hört sein Volk nicht an, sondern will's schwächen und schickt Soldaten, um uns einzuschüchtern, hat man ja gestern geseh'n“, bezog er sich auf die Geschehnisse des letzten Tages. Seine Stimme war etwas ernster geworden.
„Ha'm wir nicht schon genug gelitten, auch ohne, dass uns're eig'nen Landsmänner auf uns schießen? Wir woll'n Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und all das wird uns verwehrt.
Doch Paris gehört uns Parisern, nich' Thiers oder den Preußen“
, fand Sébastien, „und ich werd' 'nen Teufel tun, tatenlos zu bleiben, wenn ich auch meinen Teil dazu beitragen kann, um das klarzustell'n.“ Seiner Ansicht nach waren nicht nur die Außenpolitik ein Problem, sondern die Gesellschaft an sich.
„Ich will nicht zulassen, dass es so weitergeht. Alles is' knapp und teuer und mit Pech sinkt der Lohn weiter – wie soll ich so meine Kinder füttern? Ich will mein Schicksal selbst bestimmen und das nich' Leuten überlass'n, die sich nich' um unsereins scher'n. Genau in dieser Nacht hat sich unser Geschick gewandt. Der erste Schritt is' getan, Monsieur, nun wird sich die Lage von uns Arbeitern bessern, Sie werden's seh'n, und dann wird's bald auch Frieden geben. Ich hoff's.“ Auch wenn Sébastien den Vorfrieden von Versailles nicht guthieß, zog er Zeiten des Friedens gegenüber denen des Kriegs grundsätzlich vor. Die Belagerung von Paris hatte viel Leid über die Bewohner der Stadt gebracht. Doch der Alltag auch ohne Krieg brachte Leid für viele mit sich.

Als Paul Zeidler auf einen einzelnen Mann aufmerksam machte, der über den rotgefärbten Place Blanche ging, folgte Sébastiens Blick der unauffälligen Geste des Arztes. Der Fremde war ihm zuvor nicht aufgefallen.
Er schüttelte verneinend den Kopf, als er gefragt wurde, ob er eine Idee habe, wer der Mann sein könnte.
„Noch nie geseh'n“, murmelte Sébastien, ebenfalls mit gesenkter Lautstärke. Das war aber nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches, denn Paris war groß und voller Unbekannter. Jedoch schien Paul Zeidler den Fremden für ungewöhnlich für einen Ort wie diesen zu halten. Damit mochte der Arzt Recht haben. An anderen Tagen – oder in anderen Nächten – wäre dieser Unbekannte auf dem Place Blanche wohl nicht aufgefallen, doch nun war der vernebelte, blutgetränkte Platz wohl kein passender Ort für einen Spaziergang.

Vielleicht hatte der Fremde gemerkt, dass er bemerkt worden war, denn daraufhin sprach er die Gruppe an, wandte sich im Speziellen an François, der mit seinem Schrei wohl Aufmerksamkeit erregt hatte, und stellte sich als Charles Lutjenbourg vor.
„Nein, ‘s geht schon wieder“, antwortete François, der inzwischen wieder an die Hauswand gelehnt saß und den Brandwein geleert hatte, auf das Hilfeangebot. Und als wenn er dies beweisen wollen würde, zeigte er sich an dieser Stelle etwas weniger wortkarg als zuvor.
„Ich heiß‘ François Durand“, stellte er sich vor. „Sehr anständig von Ihnen, doch der Doktor hat alles im Griff. Mir geht’s gut soweit“, befand er, auch wenn das, objektiv betrachtet, gar nicht sein konnte, so zugerichtet wie er aussah. Doch vermutlich trugen der zusätzliche Alkohol und die wieder eingerenkte Schulter dazu bei, dass François sich schon erheblich besser fühlte als vor wenigen Augenblicken.
„Seh’n Sie sich gleich noch meine Nase an, Monsieur?“, wollte er aber vom Arzt wissen und blickte zu diesem auf.
„Das hübsche Gesicht is‘ alles, was er hat“, kommentierte Sébastien witzelnd über die scheinbare Ungeduld seines besten Freundes und grinste. Obwohl François so jungenhaft aussah, war er unbedeutend jünger als, in etwa zwei Jahre. Besonders Gewehrkolben des Soldaten, der François im Gesicht getroffen hatte, hatte jedoch erheblichen Schaden angerichtet. Sicher war es für François nicht nur unangenehm zu sehen, dass seine gebrochene Nase nicht mehr mittig in sein Blickfeld ragte.
„Ich bin Sébastien Moreau“, stellte Sébastien sich mit einem Nicken nun ebenfalls vor, auch, um das gegenüber Paul Zeidler nachzuholen. „Sie scheinen nich‘ hier zu sein, um zu feiern, Monsieur“, sagte er dann an Charles Lutjenbourg gerichtet, denn Paul Zeidlers Bemerkung bezüglich dieses Mannes hatte ihn zum Grübeln gebracht. Monsieur Lutjenbourg schien weder angeschlagen oder gekratzt noch betrunken zu sein – zumindest bei Weitem nicht so sehr wie François, Sébastien und die Feiernden, die man im Paris um sie herum lärmen hörte.
„Ha’m’se sich verlaufen?“, fragte Sébastien, ohne einen unfreundlichen Ton anzuschlagen, denn er war eher neugierig als misstrauisch. Was hatte es mit dem nächtlichen Spaziergang dieses Herrn auf dem blutroten, Weißen Platz wohl auf sich? Vielleicht war Charles Lutjenbourg seinerseits von Neugier hierhergetrieben worden, schließlich hatte sich hier Großes ereignet.
avatar Carl von Lütjenburg 12.Aug.2013 12:08
"Feiern? Ich? Nun ganz sicher nicht, Monsieur. Allerdings kommt man nur schwer darum herum, bei dem ausgelassenen Volke. Ein Wunder, dass es überhaupt noch Bier gibt in Paris." In Carl Stimme schwang ernst mit und er musste das nicht einmal spielen. "Sehen Sie, die Straßen hier sind blutgetränkt, Chaos und Uneinigkeit herrscht in der Bevölkerung und die Stadt ist noch immer belagert. Entschuldigen Sie, aber mir ist dabei nicht zum Feiern zu Mute."

Ein Krieg würde immer auch auf Kosten der Zivilbevölkerung geführt werden. Wäre Carl dieser Umstand nicht klar geworden, dann hätte er ihn innerhalb der letzten Jahre zwangsläufig erfahren müssen. Doch sollte man, nach Carls Meinung darum bemüht sein diese Kosten unter der Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten. Auf diese Weise interpretierte er unter anderem seine Befehle. Wenn er seinen  Auftrag erfolgreich ausführen konnte, würde dies auch der Stadt Paris und ihrer Bevölkerung zu Gute kommen.

Er eine verbeulte, blecherne Dose aus der Innentasche seines Mantels. Sie hatte offensichtlich schon einiges miterlebt und bisher auch überstanden. Als Carl den Schnappmechanismus öffnete und die Dose aufklappte, strömte fast augenblicklich der Geruch von Tabak in die Nasen der Anwesenden und ein Bündel Zigaretten kam zum Vorschein. Carl hielt die Dose den anderen Männern anbietend hin und nahm sich dann selbst eine Zigarette. Zündhölzer wurden hervorgeholt und bald tat Carl den ersten Zug.

"Nehmen Sie es mir nicht übel. Ich sorge mich lediglich um die Vorgänge in der Stadt, genau deshalb bin ich hier." Blauen Dunst ausatmend blickte er über den Platz und machte mit der zigarettehaltenden Hand eine Geste, die seine Umgebung umfasste. "Und wie es scheint geht hier nichts Gutes vor. Wenn draußen Tote liegen und drinnen die Menschen feiern heißt das nur selten etwas Gutes. Gab es hier überhaupt noch etwas für Sie zu tun, Herr Doktor?" fragte er den älteren Mann interessiert.

Bis hierhin war Carl ganz zufrieden mit sich. Es bedurfte keiner ernsthaften Lügen und im Grunde sprach er sogar die Wahrheit. Auch wenn er nun schon länger für Gustav von Stiehle tätig war und somit einiges an Erfahrung in offener und geheimer Diplomatie sowie in sämtlichen Formen des Kundschaftens gewonnen hatte, war es ihm noch immer ein Graus wie am ersten Tage, wenn er nicht offen Farbe bekennen konnte. Doch im Gegensatz zu früher, hatte er nun eingesehen, dass dies oft genug notwendig war und hatte sich damit arrangiert so gut er konnte. "Kann jemand mir jemand von Ihnen berichten, was genau hier geschehen ist?"
avatar Paul Zeidler 12.Aug.2013 08:08
"Paul Zeidler ist mein Name. Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen.", stellte sich Paul dem fremden Mann vor. Mit einer Geste und einem höflichen Lächeln lehnte er die Zigarette ab. Doch er war sehr an dieser Person interessiert. Paul registrierte den leichten deutschen Akzent von Charles, dann die langezogene Narbe auf seiner Wange und als der dies bedachte, da kam Paul darauf, dass 'Lütjenburg' nach Norddeutschland wies. "Der Mann ist kein gebürtiger Franzose", dachte sich Paul. "Er sprach auch so, als ob er nicht zu dieser Stadt gehörte, und hat auch nicht recht erklärt, aus welchem Grund er hier ist. Ist er schon vor längerer Zeit emigriert oder kam er in Kriegszeiten?"

"Seit wann sind Sie in Paris?", fragte Paul unumwunden.

"Ich gehöre jenen Christen an, die sich zum Projekt Exodus rechnen. Wir unterstützen die Konflikte nicht, doch wir sorgen uns um die Verwundeten", offenbarte sich Paul. "Wenn Sie wissen möchten, was hier geschehen ist, dann müssen Sie Monsieur Moreau befragen. Er hat in dieser Nacht hier gefochten. Er soll Ihnen berichten, was hier genau geschehen ist. Und ich bin auch sehr interessiert, denn ich verstehe auch nicht so recht, was diese Bewegung erreichen will. In Paris stehen den Aufständischen der Nationalgarde, außerhalb der Stadt den deutschen Truppen gegenüber."

Paul seufzte und richtete seinen Blick zu Sebastien. "Ich verstehe nur zu gut, dass Sie die Missstände der capitalistischen Gesellschaftsordnung nicht weiter tragen können. Jeden Tag sehe ich die Not. Die Menschen verelenden und die Familienbanden reißen ab. Ist es die Hoffnungslosigkeit, die zum Kampfe treibt? Doch ich weiß nicht, ich sehe keine Aussicht auf einen Sieg. Nur noch mehr Blutvergießen", endete Paul mit einem leichten Kopfschütteln.

"Ich muss mir Ihre Nase nicht ansehen, Minsieur. Es ist offensichtlich, dass sie gebrochen ist. Der Bruch scheint mir nicht verschoben zu sein und wird wieder zusammenwachsen. Sie können mich in diesen Tagen noch einmal besuchen, wenn sich der Bruch verschiebt, aber ganz gerade wird Ihre Nase wohl nicht mehr. Ich kann kaum etwas für Sie tun.", antwortete Paul noch auf die Bitte von Francois.

"Berichten Sie uns bitte", forderte Paul Sebastien auf.
avatar Sébastien Moreau 14.Aug.2013 05:08
Sébastien hing an Charles‘ Lippen. Je mehr dieser redete, desto bewusster wurde ihm, dass etwas an Charles‘ Aussprache war seltsam war – seltsam genug, um darauf zu schließen, dass Charles Lutjenbourg wohl nicht aus Paris kam. Aber bevor Sébastien sich nähere Gedanken zu diesem Thema machen und versuchen konnte, Charles‘ Akzent einzusortieren, ließ er sich von der dargebotenen Zigarette ablenken. Dankend nahm er an, wie François auch, und lauschte rauchend den übrigen Worten, die Charles äußerte. Offenbar war dieser wirklich aus Neugier auf dem Place Blanche herumspaziert, wenn sich dessen Verständnis und Begeisterung für die Umstände auch in Grenzen hielten. Auch Paul Zeidler hatte offensichtlich bemerkt, dass Charles Lutjenbourg nicht aus Paris stammen mochte, und Sébastien fiel dieser Gedanke wieder ein, als der Arzt den Neuankömmling offen fragte, seit wann dieser in der Stadt sei.

Schweigend verfolgten Sébastien und François die Situation, auch wenn letzterer leise murrte, da Paul Zeidler ihm seine Nase nicht wieder die in ursprünglich mittige Position zu rücken vermochte.
Dann, als der Arzt schlussendlich Sébastien bat, zu erzählen, was genau hier auf dem Platz vorgefallen war – auch wenn sich Sébastien wunderte, dass die beiden Fremden dies nicht schon längst wussten –, sah er sich dazu bereit.
Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, und stieß den Qualm in aller Gemütlichkeit wieder aus, bevor er mit den Schultern zuckte.
„Thiers‘ Soldaten kamen und wollt‘n die Kanonen mitnehm‘n, die wir im Krieg vor den Preußen gerettet ha'm und die nun im Besitz der Nationalgarde sind. Da war‘n viele nich‘ begeistert von und lehnten sich dagegen auf. Man befahl den Truppen, auf die Leute zu feuern, um den Weg freizumach‘n, doch stattdessen ha’m‘se ihre eig‘nen Generäle erschossen, die das verlangt ha‘m. So hat’s begonnen. ‘S Ergebnis seh’n’se, Messieurs. Nun sieht der Place Blanche nich‘ mehr ganz so weiß aus.“
Dann sah er Paul Zeidler und Charles Lutjenbourg stirnrunzelnd an. Die beiden schienen wohl wirklich fremd hier zu sein, selbst wenn allein ihr Akzent das nicht schon verraten hätte, denn ihre Herzen schlugen nicht wie die eines Arbeiters aus Montmantre. Andernfalls würden sie nicht nach Beweggründen oder dergleichen fragen. Sie hätten nachvollziehen können, wovon er sprach, und es auch verstanden.
„Das Kämpfen muss sein, anders geht’s nich‘. Ich versteh‘ nich‘, was Sie daran nich‘ versteh’n“, gab Sébastien zu, denn die Verhältnisse sollten seiner Auffassungsgabe nach doch eigentlich offensichtlich sein. Seine geschwollenen Lippen machten ihm nach wie vor das Sprechen schwer.
„François und ich“, schloss er seinen Freund mit einer Geste in dessen Richtung ein, „wir glauben an den Sieg. Nich‘ Hoffnungslosigkeit treibt uns an, sondern das Geg’nteil.  Wir seh’n hier uns’re Chance, was zu bewirken, Messieurs“, erläuterte er.
„Genau deswegen feiern die Menschen, sie jubeln und freu’n  sich darüber, dass sich nun alles zum Bess’ren wendet.“ Seiner Stimme war anzuhören, dass auch er davon überzeugt war. Von dem Zweifel seiner Gesprächspartner ließ er sich nicht beeinflussen.
„Sie streben nach Gleichheit und Brüderlichkeit – und die wird’s nich‘ geben, wenn’s keine Revolution gibt. Nich‘ bei ‘ner Regierung, die die Nationalgarde ihres eig’nen Volks schwächen will, um’s still zu halten. Zeit, die Toten zu betrauern, bleibt noch genug. Noch ist’s nich‘ vorbei“, prophezeite er.

Aus Sébastien sprachen noch immer die Euphorie und die Befriedigung, die auf das bestandene Gefecht gefolgt waren. Die Schmerzen, die der viele Alkohol in seinem Kreislauf nicht vollends zu überdecken vermochten, sah er als nichts Negatives an. Sie waren Früchte seiner Arbeit und Kampftrophäe zugleich, denn sie bewiesen ihm, dass er einen guten Kampf hinter sich gebracht hatte, obwohl er auch hatte einstecken müssen. Und er würde auch weiterhin seinen Beitrag leisten, da war er entschlossen. Wenn dies weitere Gewalt beinhalten würde, sollte es erforderlich sein. Er fand, er hatte sich bisher bewährt, obwohl in der vergangenen Schlacht niemanden getötet hatte, vermutlich. Das wäre auch gar nicht in seinem Sinn gewesen.
avatar Menthir 19.Aug.2013 12:08
Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 05:11 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

François hatte nur kurz und heftig geschrien, doch als die Schulter wieder im dafür vorgesehenen Gelenk eingerastet war, ließ der Schmerz für den jungen Franzosen schnell nach. Dieser massive, reißende Schmerz wurde ersetzt durch ein dumpfes Drücken, welches fast schon eine Wohltat war. Sie hatten die Männer Thiers vom Montmartre vertrieben und hatten diese schönen, teuren, sorgsam geschmiedeten Krupp[1]kanonen an sich genommen und sie sich nicht nehmen lassen. François' Gesicht zeigte einen gewissen Stolz, jetzt da seine Schmerzen etwas nachließen, doch der Alkohol hatte auch ihn benebelt, was seine Sprache auch etwas schwerer machte. "Ich bin ja kein Prophet und so, aber ich sage euch, ja, ich sage euch, dass wir, dass die Arbeiter, jetzt die nächsten Tagen den Thiersabschaum verdrängen werden und regieren werden. Genau! Wir einfachen Menschen werden, wie Sébastien gesagt hat, regieren. Das bedeutet nicht, dass jeder von regieren kann. Zu viele sind wir dazu. Und doch wird unserer Wille endlich einbezogen. Die General...Generaldings der Nationalgarden...ähm...Zentralkomitee natürlich, wird sich diese...Vorbemu...Bevormundung nicht mehr lange gefallen lassen, weil das können sie ja auch nicht, weil wir Arbeiter uns das nicht mehr gefallen lassen. Seit Jahrhunderten sind wir die Fußabtreter der Reichen! Erst waren es Könige, die sich nicht um uns scherten und uns nur für Saat und Krieg brauchten, und nun sind es die Faktoristen, Kaufmänner und Fabrikbesitzer, die uns am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Aber die Zeit ist nun - zumindest für Paris - vorbei und es ist so geschehen, wie Sébastien sagt. Die Arbeiterschaft muss sich erheben. Die IAA[2] hat uns die Augen geöffnet. Und das ist gut so. Und es ist so, wie sie sagen: Sie stehen für den Schutz, den Fortschritt und die vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse ein, weil die Arbeiterklasse selbst gelernt hat Verantwortung zu übernehmen."
Die Worte hatten François einige Kraft gekostet und auch wenn er seine Worte mit einigem Nachdruck aussprach, branntweingeschwängert, wurde sein Blick allmählich leerer. Seine Überzeugung konnte seine Müdigkeit nicht mehr verbergen, doch noch blieb er sitzen und versuchte angestrengt dem Gespräch zu folgen.

Im Hintergrund kamen halb vom Nebel verschluckte Laute. Es war eine jüngliche Stimme, die von Alkohol getränkt und dennoch leicht war, und eine jugendliche Frische versprühte, obwohl sie ein sehr blutiges, jedem Franzosen wohlbekanntes Lied[3] sang. Die Stimme war des Gesanges kundig, und vermochte es, seine eigene Emotion und eine Spur von Sarkasmus in diesem Lied wiederklingen zu lassen. Er sang zwei Strophen, aber nicht in der so vorgesehenen Reihenfolge.

"Tremblez, tyrans, et vous perfides
L’opprobre de tous les partis,
Tremblez! vos projets parricides
Vont enfin recevoir leurs prix!
Tout est soldat pour vous combattre,
S’ils tombent, nos jeunes héros,
La terre en produit de nouveaux,
Contre vous tout prêts à se battre!

Allons enfants de la Patrie,
Le jour de gloire est arrivé!
Contre nous de la tyrannie,
L’étendard sanglant est levé.
Entendez-vous dans les campagnes
Mugir ces féroces soldats?
Ils viennent jusque dans vos bras
Égorger vos fils, vos compagnes."
[4]

Die Stimme verschwand wieder irgendwo im Nebel, in irgendeiner der umtriebigen Kneipen. Der Wind war still an diesem Morgen und gab dem Nebel allen Platz. Jetzt, wo sich alles legte und die Geräusche in den Morgenstunden langsam weniger wurden, glaubte man noch die Ausdünstungen des Tages zu riechen. Die Angst der Soldaten, welche geradezu standrechtlich erschossen wurden, so sie die beiden hingerichteten Generale zu verteidigen trachteten, der Urin, der Geruch von Blut und von Erbrochenem. Keiner mochte sagen, wie viele Tote es wirklich gegeben haben mochte. Wahrscheinlich war die Anzahl nicht so hoch gewesen, und viele Soldaten hatten sich fraternisiert mit den Aufständigen, und doch hatte es Schlägereien gegeben, doch hatte es Morde gegeben und irgendwo hinter all diesem schillernden Schleier aus den alten Schlagworten Liberté, Égalité, Fraternité waren auch die schlimmen Schicksale verborgen. Auch wenn Sébastien und François voller Stolz waren, hatte Paul Zeidler heute auch schon gesehen, wie Männer eine zu Tode geschundene, junge Frau mit einer Decke abdeckten und sie vom Place Blanche trugen. Der Place Blanche war auch nicht mehr weiß, weil der junge Aufstand schon früh seine Unschuld verloren hatte. Und auch Carl von Lütjenburg hatte die Leiche eines zu Tode getrampelten Kindes gesehen, welches irgendwie zwischen die Fronten gelangt sein musste. Es waren grausame Bilder, welche diese zwielichtig-fröhliche Stimmung der Arbeiter noch nicht zu trüben vermochten. Nichts war geschafft und dennoch fühlte es sich für viele wie eine Befreiung an, wie der kühle Regen nach einem reinigendem Gewitter. Doch wer genau darauf achtete, spürte, dass die Wetterfront längst nicht vorüber gezogen war, dass nach dem kurzen Regenguss die Luft wieder schwül wurde. Es war abzuwarten, was letzte Nacht wirklich alles passiert war und welches Auswirkungen es haben mochte.
Irgendwo im Hintergrund ertönte unklar aus dem Fenster eines Gebäudes die junge, männliche Stimme noch einmal die vierte Strophe der Marseillaise singend, peu à peu stimmten schwächere, kräftigere, passend und disharmonische Stimmen mit ein und gemeinsam schmetterten sie die Nationalhymne Frankreichs über den Place Blanche.

Es klang wie eine Kriegserklärung an das eigene Land.

 1. Alfred Krupp (http://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Krupp)
 2. Internationale Arbeiterassoziation (http://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Arbeiterassoziation)
 3. Marseillaise (http://de.wikipedia.org/wiki/Marseillaise)
 4. Die junge, männliche Stimme singt erst die 4. und dann die 1. Strophe der Marseillaise -
Übersetzung (Anzeigen)
avatar Carl von Lütjenburg 20.Aug.2013 04:08
Car stieß den bläulichen Zigarettendunst durch die Nase aus und lächelte entschuldigend, als Paul ihn danach fragte, wie lange er schon in Paris sei. Carls Französisch war ausgezeichnet, wie es sich für einen Offizier gehörte, aber natürlich nicht mit dem eines gebürtigen Parisers zu vergleichen.

"Ah, man hört es mir noch immer an, nicht wahr?" entgegnete er Paul in freundlichem Tonfall, "Ich bin erst seit ein paar Jahren hier und komme ursprünglich aus Holstein, wenn Ihnen das etwas sagt, und heiße eigentlich Carl von Lütjenburg. Bitte verzeihen Sie, es lag mir fern Sie zu täuschen, es ist nur so, dass die Dinge hier mit einem französisch klingenden Namen häufig leichter von Statten gehen und so stelle ich mich schon seit Längerem auf diese Weise vor." sagte Carl gespielt spitzbübisch und zwinkerte Paul zu.

"Ihr Handeln scheint mir das erste Vernünftige zu sein, dass hier in den letzten Stunden geschehen ist, Herr Zeidler. Projekt Exodus, sagen Sie? Ich kann nicht sagen, dass ich davon schon gehört hätte, allerdings bin ich in solchen Dingen auch nicht sonderlich gut informiert. Aber, sagen Sie, Herr Zeidler, Sie scheinen mir ebenfalls ein Zugezogener, so wie Ich zu sein, stimmt das?" fragte Carl interessiert. Paul Zeidler war auf jeden Fall ein Mensch, den er nicht hier zu treffen erwartet hatte. Die verwundeten Soldaten zu versorgen war eine gute Sache, aber dies sollte nach Carls Meinung nicht auf Religion sondern auf Pflichtgefühl den eigenen Kameraden gegenüber fußen. Leider konnte man aber bisher nicht sagen, dass dies auf französischer Seite besonders gut funktionierte, während die Preußen schon gute Erfahrungen mit den neuen Rotkreuz-Gesellschaften machen konnten[1].

Die Worte von Sébastien und François beeindruckten Carl, so dass er zunächst nichts darauf erwiderte. Er war nicht aufgrund des Inhalts allein beeindruckt, sondern wenn er den Inhalt mit seiner Umgebung - dem blutenden Place Blanche - verglich. Die beiden jungen Arbeiter waren zwar betrunken, aber dennoch schien es Carl, als wären sie durchweg gewillt viel Leid unter der Pariser Bevölkerung in Kauf zu nehmen, um ihre Hoffnungen verwirklicht zu sehen. Wenn diese Beiden für die gesamte Arbeiterschaft Paris' sprachen, dann war das sehr bedenklich und von Stiehle hatte gut daran getan jemanden hierher zu schicken. Am liebsten hätte Carl gefragt, ob das, was auf dem Platz geschehen war "Verantwortung übernehmen" bedeutete, aber er hielt sich zurück und gab sich zunächst skeptisch.
"Und danach? Ich meine, Sie können ja kaum davon ausgehen, dass man Ihnen Paris einfach so überlassen wird, nur weil Sie es für den Augenblick kontrollieren. Sicherlich setzen Sie auf eine diplomatische Lösung, um Thiers mehr Rechte abzuringen und geben Paris dann zurück, vermute Ich mal." argwöhnte Carl und gab sich harmlos.
 1.   Wirken der Rotkreuzgesellschaften im Deutsch-Französischen Krieg (http://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Rotkreuz-_und_Rothalbmond-Bewegung#1864_bis_1914)
avatar Sébastien Moreau 23.Aug.2013 09:08
Die Marseillaise, die im Hintergrund über den Place Blanche schallte, klang in der Art, in der ihre Sänger sie vereint vortrugen, tatsächlich wie eine Kriegserklärung an das eigene Land. Aber nach den Entwicklungen und Geschehnissen des letzten Tages und der letzten Nacht, war es für Sébastien nicht verwunderlich, dass die einfachen Leute sich nun endlich aufrafften, um gemeinsam etwas zu bewirken. Der Krieg und die Belagerung der Stadt hatten so vielen so viel abverlangt, den Armen mehr noch als den Reichen. Doch Gerechtigkeit war auch nun nicht zu erwarten. Die Unterdrückung der Arbeiterschaft ging weiter und weiter. Wen konnte es da wundern, dass man sich dies nun nicht mehr gefallen ließ?
Auch Sébastien trug dieses blutige Lied in seinem Herzen, wenn er auch nicht nach Gewalt um der Gewalt und der Rache willen lechzte, sondern für eine gute und gerechte Sache einstehen wollte, die er in diesem Aufstand sah. Nur ein gemeinsamer Wunsch nach Veränderung würde eine solche ermöglichen – und stieß ein Aufbegehren mit Worten auf taube Ohren, musste zu anderen Mitteln gegriffen werden.

Wie auch François musste sich Sébastien jedoch immer mehr anstrengen, um allen Worten ihres Gesprächs aufmerksam folgen zu können. Dass Charles auf einmal sagte, eigentlich Carl von Lüt-… wie auch immer zu heißen, verwirrte seinen vom Alkohol benebelten Verstand zusätzlich. Die Erklärung für Charles' frnzösisch klingende Vorstellung, obwohl Sébastien darüber die Stirn runzelte, erschien ihm logisch. Dennoch wusste er nicht, ob er Charles‘ – Carls – Unaufrichtigkeit, auch wenn dieser sich nun dafür entschuldigte, gutheißen sollte oder nicht.
Sébastien war sich ohnehin noch immer unsicher, was er von den beiden ihm Fremden halten sollte. Paul Zeidler war ein guter Mann, immerhin ging es François wegen dessen Behandlung anscheinend um einiges besser und auch ihm, Sébastien, hatte der Arzt geholfen. Allerdings schien der ältere Herr, wie auch Charles – Carl von Lüt-… Lutjenbourg? –, den beiden kampferprobten Freunden ihre Überzeugung und ihren Sieg madig machen zu wollen.
„Warum sollten wir das tun?“, entgegnete Sébastien, denn Thiers Paris nach dem Erreichen ihrer Ziele wieder zurückzugeben, würde seiner Ansicht nach alles wieder zunichtemachen, was sie bis dorthin bewirkt hätten.
„Wir vertreiben Thiers doch nich‘, um ihm und dem and‘ren Pack dann doch wieder zu erlauben, über uns zu bestimmen. Das, was’se hier auf dem Platz seh’n, Messieurs, ist nur passiert, weil Thiers sich um uns nich‘ schert. Ich geh‘ sogar noch weiter und sag', dass er ein Verräter an seinen eig’nen Landsmännern ist, weil er sich nich‘ nur nich‘ um uns kümmert, sondern auch noch Soldaten schickt, um uns kleinzukriegen. Thiers wird sich sicher nich‘ verdrängen lassen woll‘n, aber ich denk‘, wenn er  sein Amt behalten will, wird er den Forderungen des Zentralkomitees – damit uns‘ren Forderungen, Monsieur – nachkommen müssen. Wird er das freiwillig tun?“ Sébastien glaubte nicht daran, allerdings war der Sieg der Nationalgarden am vergangenen Tag ein Triumpf gewesen. Wie man hörte, war Thiers mit seiner Regierungs- und Beamtenschar nach Versailles geflohen, und das bedeutete für Sébastien, dass das Zentralkomitee das Ruder in der Hand hielt.
„Wir zwei beide“, sagte er François und sich, „können erstmal sowieso nich‘ sagen, was das Zentralkomitee machen wird und wie Thiers reagiert, aber’s wird kommen, wie’s François gesagt hat: Wir Arbeiter steh‘n nun für uns ein, erheben uns und werden emanzipiert – und wenn’s den Reichen nich‘ passt, sollen’se fortbleiben.“
avatar Paul Zeidler 26.Aug.2013 02:08
Paul überlegte kurz, wie er dem Fremden antworten sollte. Es konnte in diesen Tagen Probleme bereiten, wenn man sich als Deutscher offenbarte. Andererseits wollte er auch nicht unhöflich sein und bestreiten konnte er seine Herkunft, wegen seinem leichten, deutschen Akzent, doch nicht. „Da haben Sie Recht, ich komme aus Jena. Das kennen Sie doch sicherlich. Ich bin nach der Revolution von '48 nach Frankreich gekommen, als sich die Hoffnung nicht erfüllte. Das ist alles schon recht lange her und ich lege keinen Wert auf meine Herkunft mehr,“ sagte er.

Paul fühlte sich unbehaglich. Er erkannte, dass die Situation ungünstig war. Die beiden Männer vor ihm waren erfüllt von Euphorie und Weinbrand und wenig zugänglich für seine Worte. Er fragte sich, wie viele anderen Pariser in dieser Stimmung waren und als ob ihm jemand antworten wollte, wurde irgendwo gräuslich schräg die Marseillaise angestimmt. „Wie viele meiner eigenen Leute werden wohl zu den Waffen greifen? Das Schlimme ist, dass man in dieser Situation tatsächlich glauben kann, mit Gewalt etwas Besseres erreichen zu können. Das lässt darüber vergessen, dass sie nach einem Sieg – sollten sie ihn gegen alle Wahrscheinlichkeit erringen – eine Ordnung aufbauen müssen. Und diese Menschen sind so weit entfernt davon, ihre vielbesungene Brüderlichkeit leben zu können.

Paul räusperte sich. „Wie viele Menschen haben sie denn heute getötet? Wie viele wären sie denn bereit, noch zu töten?“, fragte er und es klang nur deshalb nicht zynisch, weil seine Stimme so kraftlos war.

"Was wird mich heute abend erwarten?", fragte er sich.
avatar Sébastien Moreau 29.Aug.2013 08:08
Sébastien runzelte verwundert die Stirn und lachte dann.
„Ich hab‘ doch keinen umgebracht, Monsieur… Denk‘ ich“, fügte er nach einem Zögern hinzu, denn der Klang des ersten selbstsicher geäußerten Satzes in seinen Ohren, hatte ihn dann doch dazu gebracht, zu versuchen, sich genau an die vergangene Kampfsituation zu erinnern.
„Du, François?“, wandte Sébastien sich Unterstützung suchend an seinen besten Freund, der immer mehr mit der Müdigkeit kämpfte. Jedoch war François noch wach genug dazu, um das ebenfalls mit leichter Unsicherheit in der Stimme zu verneinen.

Auf dem Platz war es wild zugegangen und Sébastien und François waren mitten in dem Getümmel gewesen. Sie hatten reagiert und funktioniert, hatten, berauscht von Schmerz, Ehrgeiz und Adrenalin einfach gekämpft, ausgeteilt und sich gewehrt. Kaum war ein Gegner getroffen weggetaumelt, war ihnen schon der nächste vor die Nase gekommen. Sébastien musste sich eingestehen, dass er wenig Übersicht über das Geschehen gehabt hatte. Er hatte sich immer nur um das gekümmert, was in direkter Reichweite geschehen war, stets mit einem halben Auge auf François, wenn dies möglich gewesen war.

„Hab‘ eigentlich mit bloßen Händen gekämpft“, meinte Sébastien schulterzuckend. Andere hatten sich improvisiert bewaffnet oder die Gegner entwaffnet, aber er hatte, soweit er sich erinnern konnte, lediglich seine Fäuste sprechen lassen – oder sich anderweitig im waffenlosen Kampf bewährt.
„Es ging alles hektisch und schnell, aber ich wüsst‘ nich‘, dass ich wen erschlagen hätt‘. Ich hab‘ auch niemanden töten woll’n. Will ich allgemein gar nich‘“, stellte er richtig, denn mordlustig war er gewiss nicht. Thiers Leute hatten ihn zwar wütend gemacht und dementsprechend hatte er auch ausgeteilt, aber nun im Nachhinein sah er seine Handlungen in einem anderen, euphorie- und alkoholberauschten Licht.
„Die ha’m ihre Lektion auch so gelernt. Ich bin nich‘ unnötig grausam. Genug sind gestorben im Krieg und während der Belagerung. Doch wir ha'm getan, was nötig war. Wir ha’m die Kanonen verteidigt und uns.“
avatar Menthir 04.Sep.2013 12:09
Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 05:15 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

François schaubte missbilligend als Paul Zeidler danach fragte, wie viele Menschen sie am heutigen Tage getötet hätte und für seinen Zustand versah er seine Gestiken und nickende Zustimmung mit gewisser Vehemenz, als Sébastien betonte, dass sie keinen Menschen getötet hätten. Er fühlte sich sofort ermuntert, ebenfalls ein paar Worte dazu verlieren. Er räusperte sich, holte tief Luft und ließ einige Momente vergehen, um sich zusammeln. Es war klar, dass er seine Wut runterschlucken musste.
"Halten's uns für Mörder?`Ausgerechnet von 'nem Pfaff als Mörder gebranntmarkt zu werden. Unding. Heute sind nicht viele Menschen gestorben. Nein. Ein paar haben kassiert, und zwei Generale haben sie an die Wand gestellt und erschossen. Viele Soldaten sind aber übergetreten, haben die Befehle, die Menge mit Gewalt zu vertreiben, abgelehnt. Ja, sind sogar von den eigenen Männern festgesetzt wurden, diese Generäle. Ja, sind sogar von den eigenen Männern standrechtlich füsiliert wurden, diese Generäle. Danach hat es Tumulte gegeben und viele Regierungstruppen flohen. Da haben sich ein paar unredlich benommen. Und dann haben wir uns mit ihnen unredlich benommen. Aber der Mann neben mir ist benamst Sébastien und nicht Kain, und ich François und nicht Kain. Wir haben niemanden getötet. Zwei Männer sind tot, soweit ich gehört habe. Blut is' wohl geflossen. Vielleicht sind noch mehr gestorben. Sicher sind mehr gestorben. Manche sind vor Kraftlosigkeit gestorben, andere vor Schreck. Wohl aber wurde keiner von uns zu Tode geprügelt oder erschossen. Es ist, wie Sébastien sagt. Sind genug im Krieg gegen die vermaledeiten Teutschen gestorben. Aber wenn wir für Frieden töten müssen, ich würd's tun. Nicht jeden und nicht ohne Grund. Aber wenn sie nach dir schießen, musst dich wehren. Wenn Sie dich niederschießen, kannst du nicht mehr für Freiheit kämpfen. Und wir sind nicht wichtig genug, dass unser Tod schon symbolisch ist. Also müssen wir uns wehren. Ja, so ist's doch. Wenn man mir auf die Backe gibt, kann ich die zweite Backe hinhalten. Aber wenn man mir auf die Nase gibt, kann ich die zweite nicht hinhalten. Habe ja nur eine Nase. Und so ist das mit dem Leben. Was im Überfluss da ist, kann ich geben, aber nicht mehr. Und es gibt nur eine Freiheit, ein Leben. Deswegen nimm' ich es auch nicht einfach so. Aber wenn man nach mir Blei spuckt, will ich wütend werden."

Im Hintergrund wurde dagegen an mehreren Stellen Gebrüll laut. Kurze Befehle wurden gebrüllt oder zumindest Anweisungen. Der Gesang schwand abrupt. Die Stimmen kamen durch den Nebel näher. Irgendwann waren sie auch zu vernehmen. "Ab in die Betten, Genossen! Wir haben einen Freiheitskampf zu kämpfen." - "Stellt das Saufen ein, Paris braucht euch tapf're Recken." - "Heute ist Ruh', morgen ist Kampf, Brüder!"
Es waren Nationalgardisten, welche versuchten die trunkene Menge ins Bett zu bekommen. Und es waren auch weitere Männer unterwegs, welche die durchaus höhere Unzahl von Leichen und Geschändeten einpackten und abtransportierten. Es war schwer zu sagen, wie viele Männer und Frauen in den Tumulten umgekommen war. Die Zahl mochte irgendwo zwischen 5 und 50 liegen. Paul selbst hatte zumindest eine ganze Reihe Schwerverletzter betreut. Aber es war auch das Zeichen, dass die Nacht langsam für alle endete. Der Place Blanche hatte eine wilde Nacht erlebt und nicht mehr lange und die Nationalgardisten würden auch zu Carl, Paul, Sébastien und François vordringen und sie zum Gehen auffordern. François war müde, ihn stand ins Gesicht geschrieben, dass er auch bald aufbrechen würde.
avatar Paul Zeidler 08.Sep.2013 07:09
Paul schüttelte den Kopf. "Nein, für einen Mörder halte ich Dich nicht. Du bist betrunken von billigem Fussel und leicht verdienten Siegen.", dachte er und sagte: "Wenn der Aufstand weitergeht, dann wird es auch andere Tage geben. Ihr Gegner war überrascht und schlecht bewaffnet. Das war eine wilde Keilerei, in der Tat. Aber wenn er sich gesammelt hat, wie wird er Ihnen entgegentreten. Was glauben Sie? Und was ist mit Ihnen? Wozu brauchen Sie diese Kanonen? Da Sie sie nun haben, werden Sie auch benutzen. Und dann werden Menschen sterben.", sagte Paul streng. Aus dem Augenwinkel sah er die Nationalgardisten den Platz räumen. Darum beeilte er sich zu sagen: "Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass das Blutvergießen sich vermeiden lässt. Kommen Sie heute Abend gegen 19 Uhr zu Pater Grouès in der Rue de Doutes." Dann nahm er sein Tasche und eilte davon.



Paul blickte auf die schwere Uhr über der Tür und wischte sich mit einem Taschentuch feine Schweißperlen von der Stirn. "Schon fast 19 Uhr. Es ist bald Zeit für die Andacht.", stellte er fest. Sein Blick wanderte durch den Raum, der bis auf den letzten Platz mit Männern besetzt war. Es waren mehr als sonst, man hatte die Suppe mit einem halben Eimer Wasser strecken müssen. Die Stimmung war angespannt, kaum einer redete mehr als einige Worte. Die Luft war verbraucht und feucht von der heißen Suppe. Jemand hatte ein Fenster geöffnet, durch das der Lärm der Straße hineinkam. Nach einigen Minuten half Paul, die Teller zusammenzuräumen und dann gab es nichts mehr, womit er den Moment hinauszögern konnte. Paul fürchtete sich etwas. Er fürchtete, dass er den Respekt der Männer verlieren könnte, dass die Stimmung umkippen konnte, es vielleicht zu einer Schlägerei kommen könnte. Grouès nickte Paul zu. Paul stand auf.

Er räusperte sich und wartete, bis er die Aufmerksamkeit aller hatte. Dann sagte er: "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Der Friede Gottes sei mit Euch.", worauf hin die Männer mechanisch antworteten: "Und mit Deinem Geiste.".

"Herr, wir kommen vor Dich in diesen Stunden mit unserer Verwirrung und unseren Ängsten. Wir leiden unter unsere Bedrückung und der Armut. Da sind die langen Arbeitsstunden in den Fabriken und die Verluste des Krieges. Wir können nichts tun, um unsere Situation zu verbessern, so scheint es. Zwar sehnen wir uns nach dem Frieden Deines Reiches, doch wir müssen erkennen, dass wir gefangen sind in dieser ungerechten Welt. Wir wollten für uns eintreten, aber wir haben keine Stimme unter den Mächten. Wie oft haben wir es friedlich versucht? Herr, sieh in die Herzen dieser Menschen. Unsere Ohnmacht weicht der Wut; wir fragen uns, warum wir uns unser Recht nicht mit Gewalt nehmen. Die Situation ist günstig wie nie. Herr was sollen wir tun?"

Die Männer rutschten unruhig auf ihren Sitzen herum. Paul sah viele errötete Gesichter. Die Männer waren aufgerührt, doch wagten noch nicht, einzugreifen. Einige blickten misstrauisch. Sie erwarteten, dass Paul gleich mit einem jener billigen Tricks die ganze Situation wendete. Man kannte die Formen der Pfaffen. Nur Grouès blieb ruhig. Vor der Andacht hatte er Paul gut zugeredet. "Paul, Du weißt, dass Du richtig handelst. Sprich aus dem Herzen zu Ihnen. Es wird die Richtigen überzeugen und die anderen waren ohnehin nicht bereit.", hatte er gesagt - Worte, die jetzt gut taten.

Er räusperte sich noch einmal und schlug die Bibel auf: "Die Lesung für den heutigen Abend kommt aus dem Matthäus-Evangelium, Kapitel 21."

Zitat von: Mt 21
Jesu Einzug in Jerusalem
1 Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus
2 und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir!
3 Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen.
4 Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht (Sacharja 9,9):
5 »Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.«
6 Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte,
7 und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf und er setzte sich darauf.
8 Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg.
9 Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!
10 Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und fragte: Wer ist der?
11 Die Menge aber sprach: Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.

"Wollen Sie uns jetzt mit Weihnachtsgeschichten vertrösten, Pater?", rief ein vorlauter Junge von vielleicht siebzehn Jahren, der hinter zwei großen Männer halb versteckt saß.

Paul ließ sich nicht beirren. "Tatsächlich, aus mir schwer verständlichen Gründen wird die Perikope gerne am ersten Advent verlesen. Doch darum geht es mir nicht. Die Perikope erzählt nämlich nicht nur vom kommenden Messias, sondern auch von der Not des israelischen Volks. Ihr müsst Euch vorstellen, dass das Volk Israel von Mose aus der ägyptischen Knechtschaft geführt wurde. Sie erstritten sich ihren Platz in dem Land, in dem Milch und Honig fließt, wie es heißt. Weil das Herz der Israeliten aber boshaft und verstockt war, lies der Herr sie von den Fremdvölkern bedrängen. Doch immer tat ihm das Wehklagen und Schreien seiner Kinder leid und er erwählte starke Helden, die die Feinde verdrängten und den Frieden wieder herstellten."

"Und Sie, Pater? Sind Sie unser Held, der uns aus der Knechtschaft der Burgeousie befreit?", höhnte ein rotbackiger Mann.

"Nein, und jetzt sei still, Ramon. Deine Frechheit bringt Dich in Verlegenheit", gab Paul scharf zurück. "Deine Anmaßung steht für das israelische Volk. Denn kaum waren sie erretet, da fielen sie auch schon ab und buhlten um die mächtigen Fremdvölker. Der Herr macht wiederum andere Völker stark und lies sie über das Land herfallen[1]. Es gab kaum eine Zeit, in den vielen Jahrhunderten, da herrschte Israel in seinem eigenen Land. Zu Zeiten Jesu waren es die Römer, die das Land besetzt hielten. Sie zwangen den Israeliten ihre Gesetze und ihre Kulte auf. Sie erpressten ein hohes Steuergeld und es gab mindestens eine Hungersnot im Land. Die Bedrückung wird deutlich in den Rufen 'Hoasianna, Hosianna'. Das sind nämlich keine Heilsrufe, sondern es es bedeutet: 'Hilf doch!'."

"Die Menschen hofften auf den Sohn Davids, der die römischen Besatzer schlagen und den israelischen Thron wieder besetzen sollte. Sie beteten zum Herrn, dass er ihnen einen starken Feldherren senden sollte. Was musste es für ein seltsamer Anblick gewesen sein, als da der Gottessohn in die Stadt einritt: er war verlumpt und ritt auf einem Esel! Er hatte keine Armee bei sich, sondern gerade einmal eine Scharr von zwölf Jüngern. Es muss deutlich gewesen sein, dass dieser Gottessohn die Besatzer nicht schlagen würde. Warum kam der Gottessohn dann in die Welt, wenn er das Land nicht befreite?"

Paul machte eine kurze Pause, um der letzten Frage Raum zu geben. Er hatte die Männer vor sich nicht mehr im Blick, sie verschmolzen zu einer Masse ohne Gesichter. Paul versuchte nicht mehr zu überzeugen, sondern er sprach aus Überzeugung. "Der Gottessohn kam in diese Welt um den Frieden zu bringen. Der Herr hatte erkannt, dass es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben könnte, wenn das menschliche Herz keinen Frieden und keine Gerechtigkeit kannte. Die Geschichten des Alten Testaments haben es doch gezeigt. Wie oft wurde das Volk Israels aus der Not befreit - und kaum war die Not vorrüber, da folgte es wieder fremden Göttern und verging sich wieder. Also, erst wenn diese bösen Herzen versöhnt würden, würde auch ein sozialer Frieden möglich sein. Was die Versöhnung des Herzens bedeutet, dass hat Jesus in der Bergpredigt niedergelegt. Ich will Euch stellvertretend nur eine Auslegung in Erinnerung rufen:

Zitat von: Mt 5
21 Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist (2.Mose 20,13; 21,12): »Du sollst nicht töten«; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein.
22 Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig.
23 Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat,
24 so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe.
25 Vertrage dich mit deinem Gegner sogleich, solange du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit dich der Gegner nicht dem Richter überantworte und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen werdest.
26 Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast.

"Liebe Brüder! Ihr glaubt, dass Ihr die Gerechten seid und die momentane Stärke macht Euch kühn. Aber Ihr seid schwach und uneins. Und selbst für den Fall, dass Ihr siegen solltet, das böse Herz ist wankelmütig und verräterisch. Noch eint Euch das gemeinsame Feindbild. Doch ich schwöre Euch, wenn der letzte Feind gefallen ist, dann werdet Ihr über einander herfallen und euch gegenseitig unterdrücken, weil jeder meint, gerechter zu sein."

Pauls Stimme war im Laufe der Predigt angeschwollen und er hatte sich heißgeredet. Er spürte die Hitze im Kopf und an den Wangen. Nun aber wurde er wieder ruhiger, aber seine Stimme verlor nicht jenen eindringlichen Ton. "Versteht doch! Die Nachfolge Christi bedeutet nicht, die Ungerechten totzuschlagen. Sie bedeutet, selbst den Feind anzunehmen und zu lieben und ihn auf den rechten Weg zurückzuführen. Das ist aber nur möglich, wenn Ihr selbst auf dem gerechten Weg geht. Ich bitte Euch, lasst von den Kämpfen ab und lasst Euch für die Nachfolge Christi begeistern!"[2]
 1. Paul beschreibt das sogenannte Richter-Schema (http://de.wikipedia.org/wiki/Buch_der_Richter#Der_deuteronomistische_Rahmen)
 2. Wurf auf Überzeugen: Durchschnittliches Ergebnis (+1)
avatar Sébastien Moreau 11.Sep.2013 11:09
Sébastien sah Paul Zeidler hinterher, der sich schleunigst davonmachte.
„‘s geht ums Prinzip“, richtete er die Antwort auf die Frage, wozu sie die Kanonen bräuchten, an den einsamen Wanderer, statt an den Arzt, da dieser offenbar nicht so sehr daran interessiert war.
„Wir ha’m die Kanonen gerettet, also gehör’n sie auch uns. Hätten wir’s nämlich nich‘ gemacht, würd’n’se nun den Preußen gehör’n – und das wär‘ nich‘ so schön.“
Ein Grinsen voller alkoholgetränkter Seligkeit schlich sich auf Sébastiens zerschlagenes Gesicht. Er bemerkte, dass die Nationalgardisten, die die Straßen und den Platz räumten, immer näher kamen.
„Au revoir, Charles! Nun ist’s wohl Zeit, heimzukehr’n, eh‘ man uns jagt.“
Lachend reichte er seinem besten Freund die Hand, um François auf die Beine zu helfen – wobei sich Sébastien aber selbst an der Hauswand abstützen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Doch eigentlich immer, wenn er derart betrunken war, nahm er derlei Koordinationsschwierigkeiten auf andere, nicht komplett bewusste Weise wahr.
Vielleicht hatte Charles noch etwas zu sagen. Sébastien würde es sich anhören und anschließend wankenden Schrittes einen Weg nach Hause suchen. Vielleicht würde er irgendwann die Marseillaise anstimmen, obwohl er, besonders in seinem starktrunkenen Zustand, wahrscheinlich ein grauenhafter Sänger war. Sébastien war zufrieden und dieses Lied ein angemessener Abschied für den ereignis- und blutreichen vergangenen Tag.



Am Abend des gleichen Tages fand Sébastien sich in einem etwas stickigen, nach Essen riechenden Raum in der Rue de Doutes wieder. Er hatte sich unter die anwesenden Männer gemischt und sich einen Sitzplatz gesucht, von dem er aus mit mehr oder minder aufmerksamer Spannung der Dinge geharrt hatte. Kopfschmerzen und Unwohlsein plagten Sébastien seit dem Aufwachen, zudem machten sich inzwischen seine Kampfverletzungen bemerkbar. Dennoch war er auf gewisse Weise froh, hier zu sein und dem Redner, in dem er Paul Zeidler erkannte – den Arzt, der François und ihn auf dem Place Blanche versorgt hatte –, zuzuhören.

Joséphine, Sébastiens Frau, war bei seiner Heimkehr in den Morgenstunden – woran er sich nicht mehr erinnern konnte – erleichtert gewesen, ihn lebend wiederzusehen. Schelte und Tadel hatte sie sich – woran er sich leider allzu gut erinnern konnte – für einen späteren Zeitpunkt aufgehoben, zu dem er wieder in einer zumindest ansatzweise zugänglichen Verfassung gewesen war. Sébastien ahnte, dass der Ärger noch nicht ausgestanden war, denn Joséphine mochte es überhaupt nicht, wenn er sich betrank, spielte, prügelte oder sonst nur irgendwie Spaß hatte (besonders nicht zusammen mit François, gegen den sie inzwischen aus für Sébastien unerfindlichen Gründen einen beherzten Groll hegte), und so sah Sébastien einen Vorteil dieser Veranstaltung darin, dass sie eine Alternative dazu war, sich Zuhause wahrscheinlich weitere Vorhaltungen anhören zu müssen.

Sonderbarerweise hatte Sébastien sich, obwohl nicht wenige Details der letzten Nacht wohl unwiderruflich verloren gegangen waren, an eine Einladung und eine dazugehörige Adresse erinnern können. Schlussendlich hatte er sich aufgerafft, dieser nachzukommen. Momentan wollte er sich von Joséphine und ihrem gemeinsamen Nachwuchs fernhalten. Auch wenn die Stimme Paul Zeidlers alles andere als Balsam für Sébastiens dröhnenden Schädel war, war sie jedenfalls erträglicher als eine aufbrausende Ehefrau und Kindergeplärr. Er liebte seine Familie und hing sehr an ihr, doch in manchen Situationen, so wie in dieser, bevorzugte er es, einen gesunden Abstand zu wahren.

Sébastien musste sich konzentrieren, um Paul Zeidlers Vortrag Aufmerksamkeit zu schenken und gedanklich nicht abzuschweifen. Er fand seinen Sitz unbequem, das Licht blendete ihn und eigentlich war er müde. Obwohl er Christ und gläubig war, war der Trost, den er in Bibelversen und Priesterworten fand, gering. Für Sébastien hatte es Trost schon zu früheren Zeiten wenig gegeben, denn der Gedanke daran, dass das Leid, was herrschte, selbstverschuldet und Gottes Wegweiser sein sollte, empfand er als entmutigend. Verheißungen stopften keine hungrigen Mäuler, genauso wenig wie vernünftige Worte die Bourgeoisie dazu bewegen würden, das Elend unter der restlichen Bevölkerung ernst zu nehmen und zu bekämpfen, anstatt es auszunutzen. Darüber hinaus versuchte die Regierung unter Thier, statt für das Volk einzustehen und den Arbeitern zu helfen, sie mit Waffengewalt zum Schweigen zu bringen, um bloß nicht die Klage hören zu müssen.
Wie sollten unter diesen Umständen die bösen Herzen versöhnt werden können, so wie Paul Zeidler es den Versammelten nahelegen wollte? Die Fronten waren verhärtet. Frankreich und im Speziellen Paris hatten eine solche Lage schon oft erlebt. Der Ruf nach Revolution hallte durch die Gassen der Stadt. Auch Sébastien war vom Wunsch nach Freiheit und Gleichheit ergriffen, ihm juckte Tatendrang in den Gliedern. Er merkte die Anspannung und den Unmut der Männer um ihn herum, denen es genauso zu ergehen schien.

Die Nachfolge Christi mochte demjenigen leichter von der Hand gehen, der frei von der Last und Unterdrückung war, wie sie die Arbeiter durchlebten. Satt und mit Geld wäre es einfacher, Tugend und Moral zu zeigen in diesen schweren Zeiten. Den einfachen Leuten blieb nicht viel anderes übrig als das Leben so zu nehmen wie es kam und das Beste daraus zu machen. Es war wie François vor Stunden am Rande des Place Blanche gesagt hatte (auch wenn Sébastien sich der Rede seines besten Freundes nicht genau entsinnen vermochte):
Wer nichts mehr zu geben hatte, konnte auch nichts geben. Wer sich in die Ecke gedrängt sah, neigte, sich der unschönen Realität zu stellen. Wenn man nach einem schoss, konnte man entweder christlich sein und sterben, oder an das Wohl seiner Kameraden, Frauen und Kinder denken und kämpfen. Wenn man dazu gezwungen war, sich zu wehren, musste man sich eigenhändig zur Gerechtigkeit verhelfen, auch wenn einem die Wege und Mittel zuwider sein mochten. So hielt Sébastien an seiner Meinung fest, denn Paul Zeidlers Predigt rief zu einem Aufeinanderzukommen auf, dessen Wahrscheinlichkeit und Erfolg in seinen Augen sehr gering schien. Zu sehr waren die Gemüter aller Beteiligten aufgewühlt.

Er massierte sich mit den Fingerspitzen die Nasenwurzel, kniff hinein, um seine Müdigkeit in ihre Schranken zu weisen. Hier in diesem Raum würde es vielleicht in Kürze unruhiger werden. Bisher war Sébastien ein Gast hier, ein stiller Zuhörer, doch er hatte nicht die Absicht, sich zu Wort zu melden oder auf andere Weise einzugreifen – wenn die Situation nicht gerade eskalieren würde.
avatar Carl von Lütjenburg 16.Sep.2013 01:09
"Kanonen werden Ihnen in den engen Straßen von Paris nur wenig hilfreich sein." meinte Carl zu Sébastien und seinem Freund und schüttelte den Kopf "Sie sollten die Dinger lieber loswerden, sonst bringen sie Ihnen am Ende mehr Ärger als Nutzen. Es ist wie Herr Zeidler sagt: Wenn jemand Waffen hat, dann geht man davon aus, dass er sie auch benutzen wird. Man wird demjenigen gegenüber anders auftreten, wir reden hier von Eskalation[1]. Es wird von nun an immer leichter werden Ihrem eingeschlagenen Weg zu folgen, aber schwerer ihn zu verlassen, glauben Sie mir das ruhig."

Carl sagte dies nicht, um die beiden Arbeiter zu überzeugen, es war schlicht seine eigene Einschätzung der Lage. Pauls Einladung hingegen überraschte ihn im ersten Augenblick ein wenig. Zu einem  Pater Grouès sollte er kommen, also in eine Kirche. Damit hatte er nun nicht gerechnet, denn Kirchen und Gottesdienste spielten in Carls Leben bisher eine eher untergeordnete Rolle. Als er das letzte Mal eine Kirche aufgesucht hatte, wollte er heiraten. Dennoch nahm er die Einladung freundlich an, allein die Geste einen gerade noch Fremden so offen einzuladen, machte es unmöglich abzulehnen.
Dann verabschiedete sich Carl von allen und verließ den Platz, wobei er die Gardisten dabei großzügig umging.



Carl hatte sich ein wenig umfragen müssen, um die von Paul Zeidler genannte Adresse finden zu können. So war er einer der Letzten, die sich hier einfanden. Er hatte sich unterwegs ein paar Gedanken zu Paul Zeidler gemacht, die er nun sortieren konnte, während, er darauf wartete, dass es los ging.

Da traf er in den Straßen des belagerten Paris ausgerechnet einen Deutschen, nur damit dieser ihm dann zu verstehen gab, dass ihn seine Heimat nicht mehr interessierte. Das kam Carl schon beinahe komisch vor. Nicht, dass er Paul diese Haltung verübeln würde, hatte er seine eigene Heimat doch auch verlassen und in Preußen eine neue gefunden, dennoch war Carl klar, dass er nicht viel mehr Gemeinsamkeiten mit Paul in dieser Hinsicht teilen würde. Nach den wenigen Worten, die er mit Paul gewechselt hatte, schien es ihm, dass der Mann sich - vermutlich enttäuscht - von Politik und Nationalismus abgewandt hatte und nun hoffte mit dem Glauben, die Welt zum Besseren zu formen. Entscheidend für Carl waren dabei die letzten Worte, die Paul auf dem Place Blanche an sie gewandt hatte. Paul habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich das Blutvergießen vermeiden ließe. Damit würde man vielleicht arbeiten können, denn Carl war klar, dass es ungemein schwieriger werden würde, seinen Auftrag zu erfüllen, wenn er in dieser ihm fremden Stadt auf sich allein gestellt war. Aber ob und - wenn ja - wie er Paul rekrutieren oder zur Zusammenarbeit bewegen könnte war ihm noch nicht klar.

Seine Identität als preußischer Offizier und Diplomat wollte er jedenfalls so schnell nicht preisgeben, denn auch Sébastien und François waren eine mögliche Quelle für Informationen. Er hatte sich bisher als skeptisch, aber nicht vollkommen ablehnend gegeben, einer, der vielleicht noch von der Sache überzeugt werden könnte. Allerdings war schwer einzuschätzen, ob die beiden tatsächlich Kontakte zum Zentralkomitee unterhielten oder ob sie nebenher mitliefen.

Inzwischen hatte Pauls Predigt begonnen und das zuvor allgegenwärtige Gemurmel war verstummt. Zwischen den Anwesenden konnte Carl nun auch Sébastien ausmachen, der etwas weiter vor ihm einen Platz gefunden hatte. Die Predigt schien wohl darauf ab zuzielen, den Zorn der Menschen etwas zu beruhigen und ihnen gleichsam eine Alternative zum Kampf aufzuzeigen. Die Zwischenrufe empfand Carl als verstörend, ja sogar respektlos. War dies in Frankreich so üblich? Aus seiner Kindheit und Jugend, als man ihn noch wöchentlich zum Gottesdienst geschickt hatte, kannte er das anders. Dort war es immer still gewesen und vielleicht sang man einmal ein Lied, aber hier wurde nicht nur dazwischen gerufen, mancher Wortbeitrag grenzte schon an Hohn, so kam es Carl zumindest vor.

Dass der Mensch erst Frieden erfahren könne, wenn auch sein Herz befriedet wäre interpretierte Carl dahin gehend, dass das eigene Handeln aus dem Wunsch oder Willen heraus Frieden zu schaffen, erfolgen müsse. Für ihn als Soldat hieße dies, den Krieg nicht zu führen um den Feind zu schlagen, sondern um eine langfristige Lösung mit der beide Seiten so gut wie möglich Leben konnten zu schaffen. Das ließ Carl an den letzten Krieg an dem er teilgenommen hatte denken. Der Ministerpräsident hatte großen Druck auf die militärische Führung ausgeübt, den Krieg zu begrenzen und Gustav hatte durchblicken lassen, dass es öfters Unstimmigkeiten darüber zwischen Bismarck und Moltke gegeben hatte. Auch im Rahmen der Friedensverhandlungen hatte der Ministerpräsident erfolgreich erwirkt, dass der Kaiser von der Annexion österreichischer Gebiete absah. Freilich war es schwer zu beurteilen ob Österreich aus diesem Grund den Franzosen nicht beigestanden war und es ließ sich auch nur bedingt auf Pauls Predigt übertragen, aber dennoch ging es wohl in eine ähnliche Richtung.

So wie Carl Paul verstand, empfahl er den Menschen ihren Aufstand vollständig sein zu lassen und einen friedlichen, christlichen Weg einzuschlagen. Carl hoffte, dass Paul noch etwas zwingendere Argumente dafür ins Feld führen konnte, erschien es ihm doch schwer vorzustellen, dass die Arbeiter auf diese Weise tatsächlich etwas an ihrer Situation verbessern können würden. Er selbst war der gleichen Meinung wie Paul Zeidler. Selbst wenn der ein Aufstand erfolgreich sein würde, so würde die Zwietracht dem Erfolg auf den Tritt folgen. Doch würden die Anwesenden von der Predigt erreicht werden? Inzwischen konnte Carl verstehen, dass es zwischen den Massen knisterte, die Leute hatten das Gefühl, dass es an der Zeit für etwas war, dass es der Augenblick gekommen war, an dem man etwas bewirken könnte. Wie wohlgeschliffen müssen Worte sein, um diese Stimmung zu durchdringen?

François und Sébastien hatten es ja selbst gesagt: Wer nichts mehr hat, dem kann man nichts nehmen und Carl war klar, dass so jemand auch nichts mehr zu verlieren hatte. Die Aussicht auf mögliche Probleme in der Zukunft schreckten wenig, wenn man sich ansonsten sicheren Problemen und zwar schon jetzt gegenüber sah.

Neben ihm rutschte schon seit einigen Minuten ein junger Mann unruhig hin und her. Seine Mimik kündete davon, dass er nicht mit Paul einverstanden war, oder zumindest nicht bereit war einverstanden zu sein. Gerade wollte er den Mund machen, um Pauls Predigt zu stören, doch Carl fasste ihn fest am Arm: "Dies ist ein Gottesdienst und kein Fischmarkt." zischt er gleichermaßen leise und eindringlich hervor und hielt den jungen Mann so von seinem Vorhaben ab.
 1. Konflikteskalationsmodell (http://de.wikipedia.org/wiki/Konflikteskalationsmodell_nach_Friedrich_Glasl)
avatar Paul Zeidler 16.Sep.2013 05:09
Der junge Mann erschreckte sich, als Carl ihn berührte, und starrte ihn mit unverständiger Miene an. Carl erkannte, dass er recht gut gekleidet war und vermutlich dem Bürgertum angehörte. Hinter seiner Stirn schien es für einen Moment zu arbeiten, doch dann überwog der ursprüngliche Impetus. Er stieß Carls Hand zur Seite und stand auf. Er zögerte noch, dann rief er mit schwankender Stimme: "Und wer ist der neue Herr, dem wir nachfolgen sollen? Sind Sie es, Pater? Nein, Sie sind ein hundsgemeiner Verräter, ein Judas - das sind Sie." Er wandte sich an die Arbeiter im Raum, nach Zustimmung suchend. "Einen Teufel werde ich Ihnen nachfolgen! Denn Sie führen uns zurück unter die Knute der Imperialisten und in die Fabriken der Bourgeoisie. Sie sind doch mit denen im Bunde und haben Ihren Anteil doch schon erhalten. Sie versuchen unseren gerechten Zorn mit Ihrem wohlfeilen Gerede zu betäuben. Wie Marx sagte, die Religion ist Opium für das Volk. Doch sie täuschen sich, wenn sie glauben, uns mit Ihren Botschaften vom Friedensreich vertrösten können. Ich sage Ihnen 'was: Eine große Trübsal[1] steht bevor: Denn die Arbeiterschaft ist aufgewacht und hat die Waffen ergriffen. Genau in diesem Moment schmieden die Blanquisten Pläne, das Komitee ganz neu zu besetzen. Unsere Bewegung ist stark und uns eint unsere Vision von Freiheit und Brüderlichkeit, von Gerechtigkeit und Autonomie. Ja, blutig wird der Aufstand sein - aber nur kurz. Dann werden wir ein menschliches Friedensreich errichtet haben. Wir haben viel zu lange auf Ihren Gott gewartet. Jetzt nehmen wir unser Schicksal in die Hand. Die Zeit ist reif". Sein Redefluss brach ab.

Paul atmete sichtbar auf, um sich zu beruhigen. Dann antworte er mit deutlich ärgerlicher Stimme: "Zum Ersten: Ich verkünde mich nicht selbst, sondern ich verkünde den Herrn, dessen Wirklichkeit ich erfahren habe [2]. Jeden Sonntag erfahre ich ihn im Abendmahl und suche seine Wahrheit zu verwirklichen. Aber an Ihnen, mein Herr, ist alles vergeudet, wie mir scheint. Und zum Zweiten: Ich sage mitnichten, dass wir ruhig bleiben sollen. Jeder, der auf die ehrlichen Zweifel seines Herzens hört, soll sich uns anschließen. Wir werden nicht kämpfen, aber wir werden uns auch nicht auf die Seite derer stellen, die im Unrecht sind. Wir erkennen, dass wir den Zorn und den Hass und den Hochmut ablegen müssen. Wir erkennen, dass wir das, was wir für alle Menschen erhoffen erst in uns verwirklichen müssen. So wie der Herr sprach: 'Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen'[3]. Ob Bourgeoise oder General, wir werden jeden behandeln, als das Friedensreich schon jetzt verwirklicht wäre. Wir werden ein Licht sein für diese Stadt und wir werden eine tiefe Sehnsucht in den Menschen wecken. Das ist eine Revolution von unten - aber eine ohne Blutvergießen."
 1. Hinweis auf die Apokalypse (http://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fe_Tr%C3%BCbsal) - aber gegen Paul gewendet als menschlicher Heilsplan.
 2. Paul nimmt Bezug auf 2. Kor 10,12-17 (http://www.bibleserver.com/text/LUT/2.Korinther10%2C17), wo es um die Beurteilung eines Apostels geht. Paulus zitiert Jeremia mit: »Wer sich aber rühmt, der rühme sich des Herrn«.
 3. Mt 11,29
avatar Sébastien Moreau 28.Sep.2013 11:09
Angesichts der angespannten Stimmung, die sich auf unerfreuliche Weise mit der schlechten Luft im Raum vereinte, war es wahrscheinlich vorherzusehen gewesen, dass nach den ersten Zwischenrufen weitere folgen würden. Für Sébastien war es wenig überraschend, dass Paul Zeidlers Worte Missfallen hervorriefen, auch wenn es ihn dennoch etwas wunderte, dass einige der Anwesenden sich hinreißen ließen, sie sofort kommentieren zu müssen. Der Rahmen dafür war alles andere als angemessen – jedoch war auch Sébastien nicht bereit, sich mit gutem Zureden vertrösten zu lassen, da das Paris jenseits der Tür nur darauf wartete, befreit zu werden. Der gestrige Tag hatte allen bewiesen, wozu die einfache Arbeiterschaft imstande war, wenn sie nur entschieden und gemeinsam vorging. Es war Blut vergossen worden und der Kampf war noch nicht vorbei, doch ließ Sébastien sich davon nicht abschrecken. Freiheit war niemals umsonst. Freiheit war kostbar. Freiheit kostete Blut – ein Preis, den viele gewillt waren zu bezahlen, und ein Tribut, den so mancher nach einem Leben in Armut und Unterdrückung einzufordern gedachte.

Schwere Zeiten würden auf beide Seiten dieser Revolution – als solche sah es Sébastien – zukommen, aber besonders auf die Menschen, die zwischen diesen Fronten vermitteln wollten. Paul Zeidlers eindringliche Predigt steckte voller bestimmt nur gut gemeinter Worte und Leidenschaft, das musste Sébastien ihm lassen,  jedoch waren Worte, die von Friedlichkeit sprachen, in Ohren von Notleidenden, die sich endlich nach Veränderung sehnten, eher ein Tropfen auf den heißen Stein oder, im Gegenteil, eher ein anfachender Luftzug für schwelende Glut als dass sie das erwünschte Ergebnis erzielten.

Trat in einem Fall wie diesem jemand auf den Plan, der sich lauthals gegen die Beruhigungsversuche aussprach und die ohnehin schon aufgebrachte Menge in ihrem Zweifel bestärkte, konnte die Stimmung schnell kippen. Es war leicht, jemandes Meinung als die eigene anzusehen, wenn sie der eigenen Auffassung ähnelte und man sich aufwiegeln ließ.

Sébastien jedoch drehte sich noch nicht einmal zu dem Mann in seinem Rücken um, der das Wort gegen Paul Zeidler erhob und diesen anfeindete. Er hatte nach wie vor nicht vor, sich einzumischen, sollte es nicht erforderlich sein. Dazu fehlte es Sébastien heute nach dem anstrengenden Kampf und der alkoholreichen, wenn auch stillen Feier zu zweit am Rande des Place Blanche an Energie sowie an Motivation. Außerdem wusste Paul Zeidler, der Gegenrede gut allein die Stirn zu bieten. Doch wie würde sich die Situation noch entwickeln?

Die Worte des fremden Sprechers gingen nicht spurlos an Sébastien vorbei. Obwohl er diesem in den übrigen Punkten nicht zustimmte, war er ebenfalls überzeugt, dass die Zeit reif war, dass das Volk sein Schicksal in die eigene Hand nahm. Sébastien würde kämpfen, sollte es notwendig sein. Dass es notwendig sein würde, hielt er für sehr wahrscheinlich. Er scheute nicht vor dem Gedanken zurück, für seine Ziele und die Zukunft seiner Kinder einzustehen. Dass dies eine Revolution ohne Blutvergießen sein würde, war auszuschließen – denn es war bereits Blut vergossen worden. Paul Zeidler mochte bemüht sein, doch für eine friedliche Lösung des Konflikts war es aus Sébastiens Sicht zu spät. Da würde auch Sanftmütigkeit und Demut einiger Weniger nichts mehr ausrichten können.
avatar Menthir 10.Oct.2013 10:10
Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 19:11 Uhr - Bei Pére Groués in der Rue de Doutes (Montmartre)

Die Predigt Pauls fand in einem klammen Gebäude statt, welches der Pater Grouès, ein altes und doch geschätztes Mitglied Montmatres für diesen Zweck zur Verfügung stellte. Das mitten in die Rue de Doutes gedrängte Haus war mit grauem, rissigen Rauhputz versehen wurde und diente seit einer Weile für kleine Gottesdienste, obwohl es kein klassisch geweihtes Gebäude war. Es vollführte schon seit Jahren die Funktion einer kleiner Kapelle, obwohl es die Bausubstanz, und schon gar nicht die Akustik, nicht wirklich zuließ[1]. Paul Zeidler kämpfte also nicht nur mit den Empfindungen des Momentes, sondern auch noch mit seiner eigenen Stimme. Mit der Hitze in dem Raum, dem Lärm der Straße und vor allem mit der Erwartungshaltung der anwesenden Menschen. Durchaus waren die meisten Besucher dieses Ortes Protestanten, was sie zu Pater Groués und Paul Zeidler führte, in einem Viertel der Stadt, welches vor allem katholisch geprägt war. Das hatte an sich nicht viel zu bedeuten, da französischer Katholizismus[2] eine andere, wenn auch existierende Verbindung zum Petrusstuhl hatte. Aber Frankreich kämpfte noch immer seinem tragischen Erbe die Hugenotten betreffend[3]. Diese alten Verwerfungen waren im Alltag nicht an der Sache spürbar und doch begegnete man Protestanten doch häufig mit gewissen Ressentiments. Die katholische Kirche erlebte in Frankreich in den Zeiten der Kreise sogar eine gewisse Renaissance, wie zuletzt die Marienerscheinungen der Bernadette Soubirous[4] im Jahr 1858 und der folgende Ansturm der Wallfahrer auf Bernadettes Heimatort Lourdes[5] bewies. Diese Gefühl des Aufschwunges bekamen auch realen oder auch nur gedachten Feinde der katholischen Kirche zu spüren. So erklärte sich, warum Paul Zeidler nicht in einer Kirche predigen konnte, und warum diese Veranstaltungen sogar mit gewissen Argwohn betrachtet wurden[6]. Paul Zeidler kämpfte somit also nicht nur gegen den Lärm, gegen die Hitze, mit den Empfindungen des Momentes, sondern auch gegen Neider, katholische Missionare, die kritischen Stimmen wider den Protestantismus und dann gab es eben noch jene Bürger auf den Straßen, die Sakristei[7] und Straße getrennt sehen wollten, eine Position, welche sich im Antiklerikalismus[8] eben auch in den protestantischen und katholischen Strömungen fand. Die wenigsten mochten auch nur erahnen, von wie vielen Parteien und Konfliktfeldern Paul Zeidler sprach, wenn er dazu aufrief, seine Feinde anzunehmen.

Der Raum war klassisch schmucklos, wie es in vielen protestantischen Häusern der Fall war, die sich in stark reformatorischer Traditionen sahen und sich den kunsthistorisch katastrophalen, aber reformatorisch sehr konsequenten Bilderstürmen[9] verbunden sahen. Pater Groués war ein solcher Ikonoklast[10], der die Sprache und das Wort Gottes in den Vordergrund stellte und nicht die sinnliche Verführung durch Bilder. Weiße Wände wurde in einen Kontrast gesetzt durch die dunklen Holzstühle und Holzbänke, die aufgestellt wurde. Ein Kruzifix hing an der Wand, welche die Besucher hinter Paul Zeidler anstarren mochten, darunter der einfache Holztisch mit einer aufgeschlagenen, großen und unhandliche Ausgabe der Heiligen Schrift. Es roch nach Suppe, nach Schweiß und feuchtem Gemäuer. Von draußen schwappten die Geräusche des endenden Tages herein. Sich unterhaltende Menschen, vorbeiratternde Kutschen. Irgendwo spielten in der bereits eingetretenen Dunkelheit Kinder und schrien vor Vergnügen und hier und da auch vor Ärger. Und auch der Raum selbst, der nur den Ausgang und drei geschlossene Türen vorwies und wohl eigentlich einst die Ausstellungsfläche eines Ladens gewesen war, bebte in dieser beinahe greifbaren Unruhe. 30 oder 40 Personen wären in diesem Raum schon zu viele gewesen, heute mochten vielleicht um die 60 oder sogar 70 Besucher zur Predigt gekommen sein. Die Nähe, die schiere körperliche Nähe, sorgte für Unwohlsein und Anspannung. Paul kam nicht umher zu registrieren, wie misstrauisch die Anwesenden sich beäugten. Wer war alter Republikaner? Thiersfreund? Wer war vielleicht sogar Katholik? Paul sah sogar an der Tür zum Ausgang einen Mann stehen, der fleißig mitschrieb in seinem Notizblock. Er trug einen schwarzen, schweren Mantel und nur die offene Tür mochte ihm vor dem Schicksal des unaufhaltsamen Schweißflusses retten. Wenn er nicht gerade schrieb, stützte er sich auf einen schweren Regenschirm. Seine Kleidung war monochrom, und komplette schwarz. Vom schweren Wollmantel über die Anzughose, die schwarzen Lederschuhe und sogar der Hut war in dieser Farbe. Nur von einer weißen, künstlichen Feder, deren Außenfahne in ein dunkelgrün überging. Jene umstrittene Hutform, die der gebildete, mitteleuropäische Revolutionär als Kalabreser[11] kannte, war auch im Gebäude auf seinem Haupt platziert. Er strich über seinen blonden Schnauzer und beobachtete die Worte und Widerworte, als hätte er diesen unnachgiebigen Drang sich selbst zu beteiligen. Nach einer Weile schüttelte er sich, als würde er sich selbst aufraffen müssen und brachte sich schließlich selbst in das Gespräch ein.

"Cher Pére, verzeiht meine Einmischung.", begann der Mann, der von beeindruckendem Wuchs war. Er überragte die meisten Besucher um einen halben Kopf. Er nahm den Kalabreser ab, als hätte er erst jetzt bemerkt, dass es sich nicht ziemte in einem Haus den Hut aufzubehalten, wobei blondes, gescheiteltes Haar zum Vorschein kam. "Obzwar die Ihnen an den Lippen hängende Menge es nicht zu formulieren vermag, gibt sie Ihnen recht. Die Grundannahme des Christentums ist die Fehlbarkeit des Menschen. Die Angst vor der eigenen Sünden und noch mehr die größere Furcht vor der fremden Sünde wider einen selbst lässt sie nur einfach an Ihrem sehr bewegenden Ausweg zweifeln. Selbst das Christus für unsere Sünden starb, so die Erwartung der Versammelten, hat uns nicht dazu bewogen, als Ganzes, wenn gleich auch Einzelne, wie Ihre Person, das Wesen der Sünde besser zu verstehen oder gefeiter vor der Sünde zu sein." Sein Franzosisch war akzentlos. "Sie können wohl nicht mehr von diesen armen Seelen verlangen, Pére. Sie leben das Ideal der Brüderlichkeit so viel mehr als die christlichen Priester, unabhängig ob Katholik, Protestant oder Anglikaner, ob Missionar oder Eremit, in ihrer Umgebung. Auch hier sind Sie eine willkommene Ausnahme, Pére. Aber wieso fordern Sie von ihnen, die schon so leben, soweit es ihre Kraft zulässt, ihr Hunger und ihre Sorge es zulässt, dass sie ihre Feinde annehmen? Sie, die sie sogar von ihren Freunden der Republik ausgenommen werden? Sicher müssen sie einen Schritt auf ihre Feinde zugehen, aber dieser muss auch ihnen entgegenkommen. Aber die selbsternannten Herren dieses Landes und dieser Stadt sind jedoch keine Citoyen[12], so schön diese Vorstellungen ist, sondern sie sind die Bourgeoisie[13]."

Ein Gemurmel ging durch die überfüllten Raum. Der aufgetauchten, schwarz gekleidete Mann bediente augenscheinlich Stichworte, Schlagworte, die in jedem Stammtisch der Stadt Paris im Moment Verwendung fanden und dementsprechend nun wie glühende Scheite zwischen den Besuchern der Predigt lagen. Das Gemurmel nahm noch keine Überhand. "Keiner von uns ist so unchristlich im Sinne, wie Dante es in seiner berühmten Komödie beschreibt, also so unchristlich, dass er die Zukunft vorherzusagen wagte[14]. Aber der Zweifel an dem Erfolg, wenn wir alleine den Frieden predigen und nach ihm leben, sei erlaubt, Pére. Frieden ist eine kulturelle Konstruktion und kein Naturzustand. Frieden ist etwas, was mit Stärke erhalten werden muss. Doch wenn der Schwache sich nicht wappnet, kann er keinen Frieden leben. Er wird ausgenutzt werden. Liegt darin nicht das furchtbare Schicksal von uns Proletariern? Wir wollen doch nur Frieden. Wir wollen doch nur, dass unsere Familien nicht verhungern. Dass aus unseren Kindern etwas wird. Dass wir neben den Krankheiten, der vielen Arbeit, den schweren Kohledämpfen der Fabriken auch etwas Sonnenlicht und Hoffnungserfüllung erleben dürfen. Und weil wir diesen Frieden immer wollten, weil wir den Konflikt gescheut haben, hat die Bourgeoisie doch erst uns so sehr ausnehmen können. So wie die falschen Priester des Katholizismus uns einst ausgenommen haben, tun es nun die Priester des Kapitalismus!" Seine Stimme war immer energischer geworden und sein Gesicht verzog sich jetzt. "Sie halten uns im künstlichen Zustand ihres Friedens, nicht unseres Friedens! Und darin liegt das furchtbare Schicksal gegen das wir uns erheben müssen. Erst wenn wir durch den Klassenkampf die Diktatur des Proletariats[15] errungen haben, der Arbeiter also die Herrschaftsstruktur unserer Gesellschaft durchbrochen hat, und er den Frieden dann aus seiner neuen Stärke will, kann es wirklich einen Frieden für den Arbeiter und damit für ein Gros geben! Friede ist eine Absicht von Stärke. Ebenso wie Gnade ein Zeichen von Stärke ist. Doch wir sind in einem Zustand der Schwäche. Wir sind, wie Ihr sagtet, Pére, in einem Zustand, dass wir momentan nur einen gemeinsamen Feind haben, und doch noch uneins sind. Doch Paris wird ein Fanal sein. Zeigen, dass die Arbeiterschaft über einen Aufstand hinaus zusammenhält. Aus diesem Aufstand aus ein paar Kanonen wird eine Revolution einer Stadt werden und dann wird es darüber hinauswachsen. Denn der Arbeiter entdeckt langsam seine Stärke. Sein Verstand, so ungebildet der Träger dessen auch manchmal sein mag, lässt ihn das zunehmend erkennen. Dazu brauch er keinen Hirten, der ihn weiter zum Schafe hält."

Jetzt nahm das Murren überhand. Der junge Mann neben Carl von Lütjenburg brüllte wütend auf und sprang auf. Er fühlte sich von dem Unbekannten bestärkt. Seine Faust reckte er hoch über den Kopf. Er rief die dieser Tage so häufig gehörten Schlagworte. "Liberté, Égalité, Fraternité"
Paul erkannte, dass so mancher, der sogar häufig seinen Predigten zuhörte, merklich, fast enttäuscht den Worten des Unbekannten Beachtung schenkte. Viele fühlten sich als friedliche Bürger, die ausgenutzt und verachtet wurden, obwohl sie einfache Männer, Familenväter oder Mütter waren und einfach auf ein zufriedenes Leben hofften. Die Kommunisten und Sozialisten dieser Tage musste nur noch ernten. Pauls Aufgabe der Vermittlung war viel schwerer. Diese Saat musste scheinbar noch gesät werden. Paul spürte, wie die Stimmung langsam aber sicher kippte. Er sah an einer Tür den alten Pére Groués stehen, wie er sich mit einem Taschentuch die Stirn tupfte und selbst betrübt reinschaute. Sein Blick schien zu sagen: Wie konnte es soweit kommen, dass die Kommunisten einen in seinem eigenen Haus anfeinden?
Carl, Sebastién und Paul sahen, wie immer mehr Sitznachbaren in ausgiebigen Disput übergingen, welcher nicht immer von vorsichtiger Wortwahl geprägt war, sondern von Beleidigung und der gereckten Faust des Unmutes. Die Stimmung wurde nun eine explosive Mischung, alles was noch fehlte, war ein einzelner, unglücklicher Funke...
 1. Das ist im katholischen Frankreich nicht unüblich gewesen, dass Protestanten an heimlichen oder unscheinbaren Orten predigten, welche le désert („Einöde/Wüste”) genannt wurden. Eine weitere Erklärung siehe in der übernächsten Fußnote.
 2. Kurzer Absatz zur katholischen Kirche in Frankreich (http://de.wikipedia.org/wiki/Römisch-katholische_Kirche_in_Frankreich#19._Jahrhundert)
 3. Gemeint ist hier im Speziellen die Pariser Bluthochzeit, besser bekannt als Bartholomäusnacht (http://de.wikipedia.org/wiki/Bartholomäusnacht) - Allerdings hat Frankreich ein sehr problematisches Verhältnis zum Protestantismus durch die Neuzeit. So wird 1598 im Edikt von Nantes Katholizismus als Staatsreligion festgelegt, Protestantismus aber grundsätzlich wieder erlaubt, was sich aber mit dem Edikt von Fountainebleau (http://de.wikipedia.org/wiki/Edikt_von_Fontainebleau) 1685 wieder ändert, und welches den Protestanten ihr kirchliches Existenzrecht in Frankreich nahm und weitreichende Folgen hatte für ganz Europa. Die kulturelle Erinnerung ist bis heute in Frankreichs Umgang mit Religion spürbar.
 4. Bernadette Soubirous (http://de.wikipedia.org/wiki/Bernadette_Soubirous)
 5. Lourdes (http://de.wikipedia.org/wiki/Lourdes)
 6. Siehe Pauls Intergrund in Bezug auf die Zeitungsberichte zu der Sekte Projekt Exodus. Unter Umständen haben eure Charaktere davon gelesen.
 7. Sakristei (http://de.wikipedia.org/wiki/Sakristei)
 8. Antiklerikalismus (http://de.wikipedia.org/wiki/Antiklerikalismus)
 9. Reformatorischer Bildersturm (http://de.wikipedia.org/wiki/Reformatorischer_Bildersturm)
 10. wörtlich bedeutet es: Bildzerstörer
 11. Heckerhut (http://de.wikipedia.org/wiki/Kalabreser)
 12. Citoyen (http://de.wikipedia.org/wiki/Citoyen)
 13. Bourgeoisie (http://de.wikipedia.org/wiki/Bourgeoisie)
 14. Das ist ein Bezug auf Dante Aligheris berühmte Göttliche Komödie (http://en.wikipedia.org/wiki/Divine_Comedy), in der immer das Ideal des Contrapasso (http://en.wikipedia.org/wiki/Contrapasso) gilt, oder was wir besser als poetic justice kennen. Für jene, die wagen, die Zukunft vorhersagen zu wollen gilt also: "for example, fortune-tellers have to walk with their heads on backwards, unable to see what is ahead, because that was what they had tried to do in life."
 15. Diktatur des Proletariats (http://de.wikipedia.org/wiki/Diktatur_des_Proletariats)
avatar Sébastien Moreau 21.Oct.2013 05:10
Sébastien hatte sich bisher zurückgehalten, denn er hatte sich wirklich nicht in den aufkommenden Disput einmischen wollen. Nicht nur allein des Respekts gegenüber der Rahmenbedingung einer Predigt wegen, sondern auch weil er Paul Zeidler für dessen Hilfe dankbar war und sich (was im Grunde genauso viel Gewicht hatte wie diese beiden Punkte zusammen) Sébastiens körperliche und geistige Verfassung vom Alkoholrausch noch nicht erholt hatte. Der Schmerz pochte nun sogar noch mehr durch seinen Schädel, da die versammelte Menge immer aufgewühlter wurde und sowohl der Lärmpegel derjeniger, sich mit ihren Sitznachbarn unterhielten, als auch derjeniger, die laut zu allen sprachen, ein für Sébastien beinahe unerträgliches Maß annahmen.
Er selbst rutschte unruhig auf seinem Sitzplatz herum, während er die Worte des Fremden mit dem Kalabreser vernahm und seine eigene Entschlossenheit, sich nicht einzumischen, mehr und mehr bröckelte. Die Rede des Mannes stachelte Sébastien an, so wie sie die Menge anstachelte, und so rieb er sich seine schwitzigen Handflächen an seiner Hose ab und erhob sich, nachdem der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durch den stickigen Raum gehallt war.
Zu schnell, denn Schwindel überkam ihn.
„Recht haben Sie, Monsieur!“, versuchte Sébastien, die murrende und diskutierende Menge zu übertönen, und nickte seinem Vorredner mit dem Kalabreser zu. Er beabsichtige, frei heraus seine Meinung zu sagen, so wie er es fast immer zu tun pflegte.
Im ersten Moment noch leicht wankend stand er da, seinen Schwindel zumindest im ersten Ansatz überwindend, bevor er weitersprach. Sébastiens Erscheinung zeugte von dem Kampf, den er Seite an Seite mit seinem besten Freund François bestritten hatte, denn sein Gesicht war noch blau und geschwollen und die verkrusteten Verletzungen an seinen Fingerknöcheln waren zu sehen, als er sich beim Sprechen gestikulierend den Anwesenden zuwandte.
„Der gestrige Kampf war erst der Anfang von etwas Großem“, war er übezeugt. „Viel zu lange hat unsereins die Unterdrückung hingenommen und das Leid. Wir einfachen Leute, wir haben nicht viel, doch wir haben einander. Wir sind vereint in dem Wunsch nach einem besseren Leben – einem guten Leben – für uns, unsere Frauen und unsere Kinder. Es gibt nicht einen unter uns, der nicht unter dem Krieg gelitten hat und unter der Belagerung durch die Preußen, sei es durch verlorene Liebste, Nachbarn und Freunde oder durch Krankheit und Hunger, den man am eigenen Leib gespürt hat. Dennoch haben wir weitergemacht und geschuftet, es blieb uns ja keine andere Wahl. Wir haben uns unsere Existenz hart erarbeitet und dies hier: es ist nichts anderes. Schon unsere Vorfahren haben Unrecht und Ungleichheit erlebt und sind dagegen angetreten. Wer, wenn nicht wir Pariser, soll wissen, wie man Barrikaden errichtet und in den Straßen kämpft? Ehrliche Männer und tapfere Frauen haben Blut und Leben gelassen, in den Revolutionen, die es bereits gab, und dieser Preis mochte ein hoher gewesen sein, doch der Gewinn war umso größer. Warum soll nicht auch dies eine Revolution sein? Die Geschehnisse des Krieges verlieren an Bedeutung, wenn wir unsere Augen öffnen und den eigentlichen Feind in unseren Landsmännern sehen, die unsere Brüder sein sollten, doch uns stattdessen zu ihren Füßen kriechen lassen. Nicht Gott macht die Welt zu einem ungerechten Ort, sondern die Menschen, die in ihr leben, und so können es auch nur die Menschen sein, die wieder für Gerechtigkeit sorgen! Frieden – wahrer Frieden – kann nur mit Feuer erkauft werden, denn es ist wahrlich der Frieden, den wir uns ersehnen, den die Bourgeoisie fürchtet und bekämpft. Seht, sie wollten uns die Kanonen nehmen, die wir gerettet haben, damit wir sie nicht gegen sie verwenden! Sie fürchten sich vor uns und dem Klassenkampf, weil sie wissen, dass wir viele sind und der Erfolg uns deswegen beschert sein wird, wenn wir erst einmal nicht mehr uneins sind!“
Fast war es Sébastien so als würde nun er eine Predigt halten. Er war kein sonderlich gebildeter Mann und es auch nicht gewohnt, vor vielen Menschen zu sprechen, doch für sein Anliegen fand er immer geeignete Worte, die er äußern konnte. Die Menge war aufgebracht und er war sich bewusst, dass er die Situation nicht besser machen würde. Doch es gab Dinge, die ausgesprochen werden mussten. Es gab Dinge, die getan werden mussten.
„Ich war dort, auf dem Place Blanche“, fuhr Sébastien nach einer kurzen Pause fort. „Ich habe zusammen mit unseren Brüdern und Schwestern den Feind in die Flucht geschlagen.“
Nun blickte er Paul Zeidler an, auch wenn seine Worte noch immer für alle gedacht waren.
„Sagt Ihr mir, Pater, dass es eine Sünde ist, das, was mir lieb und teuer ist, zu schützen – sollte es nur mein eigenes Leben sein, wenn man auf mich schießt? Soll ich demjenigen, der mit dem Bajonett nach mir sticht, versuchen, in Freundschaft die Hand zu reichen, selbst wenn ich mich dadurch bewusst in Klinge und Tod stürzen und meine Familie in Trauer und Hunger zurücklassen würde? Das Friedensreich ist ein schönes Konzept, Pater, doch wenn man mit Waffengewalt auf mich zugeht, kann ich nur weichen, was ich nicht mehr will, oder mich wehren, was ich gestern getan habe und auch heute und morgen tun werde, sollte ich mich dazu gezwungen sehen. Dabei sind es seltener die offensichtlichen Waffen, mit denen die Bourgeoisie die Arbeiterschaft im Zaum hält. Es ist das Geld, das sie hat und das uns fehlt, die harte Arbeit, die wir verrichten, während sie sich amüsieren, und es ist der Hunger, den unsere Kinder leiden, den sie aber nicht kennen. Diesen Zustand können wir nur ändern, indem wir uns erheben! Geld und Macht sollte nicht denen gehören, die sich auf Kosten anderer noch reicher und noch mächtiger machen, während die besagten anderen, wir, betonte er, „immer weiter ins Elend rutschen!“
avatar Paul Zeidler 23.Oct.2013 09:10
Paul wurde ein wenig schwindlig. Zu seiner Erregtheit mischte sich Nervosität und so etwas wie diese Unsicherheit, die man für gewöhnlich vor einem öffentlichen Auftritt hat[1]. "Kann man den nach Beginn eines Auftritts noch nervöser werden?", fragte er sich beiläufig. Er konnte nicht sofort antworten, starrte in die Menge, um weitere Worte ringend. Er wollte sich nicht die Blösse geben, unbedacht oder töricht in seinem Eifer und seiner Nervosität zu antworten. Er richtete seinen Blick durch das geöffnete Fenster und erhaschte einen Blick zum Himmel.

"Großer Gott! Hier steht Dein demütiger Diener. Mich treibt nichts anderes als Dein Wort und meine Liebe zu meinen Brüdern. Mir gehen die Worte aus, darum - bitte - schenke mir Deinen Geist und lasse mich nicht zuschanden gehen. Amen." betete er[2].

"Liberté, Égalité, Fraternité", sprach Paul laut die Schlagworte aus, um die Aufmerksamkeit der Masse wieder zu erhalten. "Ohne es zu bedenken, sprechen sie diejenigen Werte aus, die genau so unwahrscheinlich sind, wie das Streben nach dem Gottesreich. Ich möchte sie erinnern, dass es die Worte der Revolution von 1789 waren. Erinnern Sie sich, was passiert war. Erinnern Sie sich an den Schrecken der Revolution. Damals war das einfache Volk aufgestanden, um gegen die Feudalherren zu kämpfen. Und sobald die Revolutionäre einen echten Vorteil erstritten hatten und sich die Frage nach Neugestaltung stellten, da wurde die Uneinigkeit der Revolutionäre offenbar. Freiheit, Gleichheit Brüderlichkeit ließen sich nur herstellen, indem jeder hingerichtet wurde, der diesen Zielen im Wege stand. Sie kennen die Bilder, sie haben sie nicht selbst gemacht, aber sie sind fest eingebrannt in ihr Gedächtnis. In Paris zerbrach das Fallbeil unter den vielen Genicken. In Nantes wurden in wenigen Wochen hunderte in der Loire ersäuft. Und in Lyon haben die Verurteilten erst ihr eigenes Grab schaufeln und sich dann in einer Reihe aufstellen müssen, bevor sie von einer Kanonenkugel zerfetzt wurden. Die Geschichte hat es gezeigt, also werde ich Ihnen sagen, dass Sie auch in den kommenden Wochen hunderte von ihren Brüdern und ihren Mitstreitern niedermetzeln müssen - das heißt, wenn Ihr Aufstand nicht sofort wieder von den Truppen vor der Stadt niedergeschlagen wird. Kommen sie mir also nicht mit diesem hanebüchernen Unsinn, dass nur wenige sterben werden und auch nur von denen, die es wirklich verdient hätten. Das Blut wird nicht mehr von Paris' Straßen abzuwaschen sein. Auch diese Zeit kennt ihre Robespierres, ihre Carriers und ihre Fouches.[3]"

"Monsieur, Sie werden jetzt sicherlich einwenden wollen, dass die Französische Revolution die Ständeordnung abgeschafft und Rechte der Menschlichkeit errungen hätte. Ich widerspreche Ihnen da gar nicht. Doch was sind das für Rechte? Geht es den unteren Leuten nun besser? Wenn dem so ist, was wollen Sie alle hier? Sie sprachen es selbst an, Monsieur, von Natur aus ist es ein Krieg aller gegen aller.[4] So heißt es auch in der Bibel. In der Genesis steht geschrieben: 'dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar'[5]. Darum sage ich, die Lösung liegt nicht darin, dass ein Rechtsstaat über den Menschen kommt, welches jede Boshaftigkeit durch Gesetz und Strafe erstickt. König Salomon war mit aller göttlichen Weisheit nicht im Stande, die Boshaftigkeit der Menschen zu unterdrücken. Und das mosaische Gesetz konnte es mit seiner drakonischen Härte auch nicht. Also, wenn sie das vollendete Reich Gottes auf Erden wollen, dann geht das nur durch das menschliche Herz."

"Also lassen sie unser Herz neu ergründen. Wir sehen die Notwendigkeit vor uns. Ich bin zutiefst von dem Elend und der Not betroffen. Mein Herz blutet, wenn ich das Leiden sehe. Doch ich lasse mich nicht zur Boshaftigkeit hinreißen. Ich will aufstehen und helfen, mit dem, was ich geben kann. Und ich will meine Stimme laut werden lassen gegen jede Ungerechtigkeit, egal wen sie trifft. Besser als Ungerechtigkeit zu tun, ist es, Ungerechtigkeit zu leiden, sagen die Philosophen. Ich aber sage Euch[6]: Wenn Ihr eintretet für Eure Brüder und gemeinsam die Ungerechtigkeit anklagt, dann wird das Gottesreich zu Euch kommen. Ich habe den Traum, dass das ganze Paris aufsteht und sich vor die Fabriken stellt und sagt: 'Für eine unwürdige Existenz arbeite ich auch nicht'. Wie viele wollen sie entlassen? Und wer wird für sie arbeiten? Wir wollen sehen, wie schnell die Löhne ansteigen werden. In der Zwischenzeit werde ich mein möglichstes tun, um die Brüder mit Essen zu versorgen. Und ich hoffe, dass sich viele anschließen werden. Ich träume von einer neuen Brüderlichkeit."

Dann wandte er sich dem jungen Franzosen erneut zu. Seine Frage war nur allzu verständlich, doch Paul war es nun wichtig um das Prinzip. Im fiel eine Pointe ein und er sagte: "Und was soll ich zu ihrer Frage sagen? Im Krieg gibt es keinen Soldaten, der gerecht wäre. Ein jeder, der am Krieg teilnimmt, macht sich des Hasses auf seinen Bruder schuldig. Ihr habt gehört, Ihr sollt nicht töten! Also frage nicht, was zu tun sei, wenn das eigene Leben bedroht ist. Lauf davon, Du Narr! Wenn Du aber nicht davonlaufen kannst und es entweder Dein Leben ist oder das des anderen, dann verteidige Dich - und hoffe auf die Gnade Deines Herrn, denn Du hast Dich versündigt. Rechne aber auf eines nicht, wenn Du eines Tages vor dem Richtstuhl stehst. Rechne nicht damit, dass Du gerecht gesprochen wirst, wenn Du Dich in Not in einem Krieg verteidigst, denn Du selbst gewollt und selbst begonnen hast. Denn Notwehr gibt es in einem gewollten Krieg nicht. Zwei Wege liegen vor Dir - einer zum Unheil. Wähle mit Bedacht."
 1. Gemeint ist Lampenfieber. Aber das Wort dürfte es zu dem Zeitpunkt noch nicht gegeben haben.
 2. Wurf auf Führungsqualität (http://games.dnd-gate.de/index.php/topic,7708.msg880001.html#msg880001): Überirdisches Ergebnis (+10)
 3. Bedeutende Gestalten der Französischen Revolution, die mittelbar oder unmittelbar mit Massenexikutionen in Verbindung gebracht werden konnten.
 4. Paul hatte die Äußerungen des Kalabresers so verstanden, als dass er sich an Hobbes' Leviathan anlehnten. Er nimmt das Argument auf
 5. Gen 6,5
 6. Hier und auch im nächsten Absatz lehnt sich die Form an die Bergpredigt in Mt 5-7 (http://www.bibleserver.com/text/LUT/Matth%C3%A4us5) an. Jesus legt das Gesetz aus, indem er mit den Worten "Ihr habt gehört" auf bekannte Normen des Jüdischen Gesetzes zurückgreift und sie, eingeleitet durch die Worte "Ich aber sage Euch", radikalisiert.
avatar Carl von Lütjenburg 25.Oct.2013 10:10
Carl hielt unwillkürlich die Luft an, als der Mann mit dem Kalabreser geendet hatte und beredtes Schweigen von Paul Zeidler zu vernehmen war, so dass ein weiterer Franzose das Wort ergriff - es war Sébastien, vom Place Blanche. Dennoch behielt er den alten Prediger weiter im Auge, der scheinbar etwas brauchte, um sich einen Plan zurecht zu legen.

Sébastien hingegen hatte sich inzwischen heiß geredet und sprach nun in flammendem Pathos, dabei in die gleiche Kerbe wie der Hutträger hauend, die Menschen auf das, was vor ihnen läge, einschwörend. Der junge Mann, war ein gutes Beispiel dafür, dass ein Arbeit nicht zwangsläufig dumm, ungehobelt und ungebildet sein musste. Doch sein Vorredner stellte Sébastien trotzdessen deutlich in den Schatten. Der schwarz Gewandete schien sehr gut zu wissen wovon er da sprach und seine Worte schienen viel eher die eines Politikers oder Diplomaten als die eines Arbeiters zu sein. Auch das, was er sagte, war bemerkenswert: Dantes Divina Commedia, eine gewisse Einsicht in die christliche Glaubenslehre und dennoch sah er sich offensichtlich ebenfalls als zum Proletariat zugehörig. Auftreten und Kleidung des Mannes standen in so krassem Gegensatz zu dem Gesagten, dass sich Carls Argwohn zu rühren begann[1]

Beide Männer sprachen vom Frieden und vom Kampfe und das Frieden nur durch Kampf herbeigeführt werden könne. Carl wusste als Soldat nur allzu gut, dass man Frieden durch Kampf erzwingen kann, doch war dies die einzige Möglichkeit? Vor etwas mehr als sieben Jahren hatte er selbst miterlebt, dass auch andere Wege beschritten werden konnten, mochten sie nun redlicher sein oder nicht. Doch was war Frieden an sich wert, wenn es unklar ist, ob er von Dauer sein wird?
Wenn man die Gedanken des Schwarzen weiterspann, würde Frieden für eine längere Zeit keine Rolle spielen. Paris solle ein Fanal sein, die Revolution solle mit dieser Stadt nicht enden. Sprach dieser Mann für das Zentralkomitee und war er vielleicht Teil desselben?

Inzwischen hatte Herr Zeidler wieder das Wort erhoben. Offensichtlich hatte er seine Worte mit Bedacht gewählt, zumindest Carl hatte den Eindruck, dass Paul die Argumente seiner Gegner präzise aufgriff und demontierte. Und was er sagte war nicht so einfach von der Hand zu weisen. Die Frage nach dem Erfolg der letzten in Verknüpfung mit der Notwendigkeit der - vielleicht - bevorstehenden Revolution ließ Carl beinahe bejahend nickend.
Doch so schwer es den Revolutionären falle würde dieses Argument zu entkräften so schwer würde es Herrn Zeidler fallen, seine Ideen als wahrscheinliche Alternative anzupreisen. Zu zwingend war es oftmals im Leben, als dass man stets handeln konnte wie man denn wollte. Weglaufen kam für Carl natürlich niemals in Frage, aber ungeachtet dessen, war es an sich selten eine gute Lösung. Und wie viele Männer hatten schon Einfluss auf einen Krieg, wenn sie ihn denn wollten. Carl hatte es einmal in der Hand gehabt und sich für den Krieg entschieden. Wenn er Paul glauben würde, dann würde ein Gott bald über diese Tat urteilen. Aber was würde dieser zu den anderen Kriegen sagen? Wenn Carl einfach gegangen wäre, würde kein Gott sondern ein Kaiser über ihn richten. Der Gott war weit weg und vielleicht eine Spekulation, aber der Kaiser war gewiss. Welche Wahl hat der Soldat im Felde also? Und wie viele Soldaten töten schon aus Hass auf den Feind? Das ist vielleicht zu Beginn der ersten Schlacht so, doch früh genug geht es vor allem darum zu Überleben. Töte den Anderen oder er tötet dich. Was Paul verlangte war nicht mehr und nicht weniger, als dass alle Soldaten in die Luft schießen sollten, darauf vertrauenden, dass die Männer der Gegenseite es genauso halten würden.

Doch Pauls Vorschlag war keinesfalls ein Weglaufen, sondern eine Veränderung der Strategie. Gewaltloser Widerstand, der allerdings eine viel stärkere Mobilisierung der Arbeiter erforderte. Der Teil, der momentan zum Kämpfen bereit war umfasste sicherlich nicht die Gesamtheit der Arbeiter Paris. Viele mochten sympathisieren, aber aus den verschiedensten Gründen nicht auf die Straße gehen und sicherlich gab es auch jene, die anderer Meinung waren. Für eine Massenarbeitsniederlegung, mussten jedoch so gut wie alle Arbeiter erreicht werden, schätzte Carl. Auf die eine oder auf die andere Weise, es schien als würde es in Paris sehr bald noch wesentlich unruhiger werden, als es jetzt schon war.
 1. Gespür: +3 (gut) (http://games.dnd-gate.de/index.php/topic,7708.msg880224.html#msg880224)
avatar Menthir 30.Oct.2013 12:10
Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 19:16 Uhr - Bei Pére Groués in der Rue de Doutes (Montmartre)

Die Stimmung war aufgeheizt. Viele Menschen an einem zu kleinen Ort, die Geschehnisse der letzten etwa dreißig Stunden spiegelten sich in den Gesichtern, in den Augen, in Gestik und in Wort. Es war ein chaotischer Haufen, der dort zusammengetreten war und der sich unterschiedlichlichen Ansichten anhängig fühlte. Kurz schien der Mann mit dem Kalabreser diesen gemeinsamen Funken, der sie alle unter den geflügelten Worten zu verbinden schien, entzünden zu können, doch ehe sich die Ereignisse überschlagen konnten, ehe dieser Funke in ein Feuer übergehen und sich in der Stadt verteilen konnte, schritt Paul Zeidler mit seinen Worten ein. Verblüfft über die Wortgewandtheit des Mannes, verstummten die meisten Störenfriede plötzlich und nahmen, wie zur Ordnung gerufen, wieder Platz. Die vielen kleinen Streitgespräche verstummten, und alle hörten den Worten des charismatischen, alten Mannes zu.

Lediglich ein anderer alter Herr mit kurzem, fein rasierten Bart und einer grauen Baskenmütze in der Hand, stützte sich, vom Alter gebeugt, auf seinen Stab. Er kraulte seinen kurzen Bart und profitierte davon, dass nun Ruhe in den großen Raum eingekehrt war, da seine Stimme ebenfalls vom Alter belegt war. Seine Augenlider waren fast geschlossen und hingen schlaff herab, ließen seine braunen Augen wie kleine, kaum sichtbare Knöpfe wirken, Gesicht war von Altersflecken gezeichnet. Seine kräftige Nase und sein Akzent ließen ihn als Südfranzosen erkennen. Wahrscheinlich kam er ursprünglich aus der Gascogne[1]. "Der geehrte Pére hat wohl recht.", begann er zögerlich. "Ich bin kein Mann vieler Worte und lediglich ein alter Fischer, aber wohl bin ich so alt, dass Napoleons Ende als kleiner Junge erlebte[2] und anhand meiner Eltern erlebte, wie die von ihnen geliebte Revolution von einem Gewaltherrscher ausgenutzt wurde. Dann war ich jung und töricht und war bei der Februarrevolution[3] dabei, hatte ich doch den Veränderungswillen meiner Eltern geerbt." Er lachte leicht auf, als würde er sich an eine Anekdote erinnern und als würde ihm seine Naivität gerade auffallen. "Dann ist, nein hat, Napoleon III.[4] sich dieser Revolution bemächtigt und den an sich friedlichen Bürgerkönig Louis-Phillipe[5] ersetzt, mit blanker Hand und mit eiserner Hand hat er uns in Niederlagen geführt. Ich teile die Befürchtung, dass auch dieses Mal sich die falschen Männer, jene mit dem gefährlichen Ambitionen, sich an die Spitze der Revolution setzen und die schönen, so traumhaft schönen Ideale durch die persönlichen Wünsche überambitionierter Männer untergraben. Das ist doch leider das Schicksal rein politischer Ideen."
Zustimmendes Gemurmel, die Revolutionsgeschichte Frankreichs wurde von manchem glorifiziert. Für einen Moment wurde dies deutlich in diesem Raum. Paul, der die Gräuel der Revolution selbst schilderte und der alte, namenslose Fischer, der darauf verwies, wozu die letzten beiden Revolutionen wurden. Europas Revolutionäre träumten von den französischen Revolutionen. Wusste sie, was sie da träumten?

Der Mann mit dem Kalabreser verzog das Gesicht, als die Stimmung sich nach den eindrucksvollen Worten gegen die Revolutionäre im Raum drehte. Die Worte Paul Zeidlers gefielen ihm ganz und gar nicht und der Argwohn war ihm deutlich im Gesicht abzulesen, dennoch bewahrte er eine gefasste Stimme. "Chapeau, cher Pére! Sie sind ein typischer Teutscher. Nur die Teutschen führen die Geschichte so meisterlich als politische Argumente, ohne die Historie zu verstehen. Wie sagt man so schön: Historisches Denken macht aus Zeit Sinn. Wie gern wird dies genutzt, gerade von Christenmenschen, einen religiösen Sinn darin zu sehen. So werden diese empfundenen und vielleicht tatsächlichen Katastrophen als Aufforderung zu Buße und Einkehr verstanden. Im Horizont christlicher Heilsgeschichte werden diese Erfahrungen, dass die gewohnte Welt aus den Fugen gerät oder in Revolution versinkt, gerne als Anzeichen künftigen Heils, der Wiederkehr Christi und der Einrichtung einer neuen und besseren Welt gedeutet, oder? Diese widerfahrenen Schicksalsschläge, diese erlittene Zeit, soll so geistig bewältigt, dieses durchlebte Leiden derart ausgehalten und das Leben mit neuem, christlichen Sinn gefüllt werden. Ja, Pére, wir haben ihre Worte schon in ihrem Sinn verstanden. Sie reden wie ein römischer Agitator, auch wenn Sie sich Worten wie Liebe und Nähe annähern. Sie reden wie jene, welche diese gefährlichen Ambitionen haben. Als könnten Sie aus ihrer Weltansicht eine bessere Welt gründen. Sie machen sich derselben Verbrechen schuldig, derer Sie die Sozialisten und Kommunisten gerade anklagen. Sie missbrauchen historische Argumente, die Sie selektiv nutzen, um ein falsches Bild von uns Revolutionären darzustellen. Sie nennen nur die Robespierres[6], damit verzerren Sie absichtlich das Bild von uns. Verzeihen Sie mir, wenn ich auf diese Art der Argumentation nicht einlassen möchte, sonst würden wir - und das hilft keinem von uns - über den vierten Kreuzzug[7] streiten oder über das Konzil von Nicäa[8]. Gleichzeitig sehe ich an diesem Ort nicht, dass eine weitere Argumentation lohnt. Sie beginnen ihren Streit mit den Worten, dass sie Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit für so unwahrscheinlich wie das Gottesreich halten, und am Ende werben sie doch wieder dafür, als würde dies Ganze nur aufgrund christlicher Partizipation gehen. Wenn Sie der Revolution als moralisches Gewissen von Nutzen sein wollen, cher Pére, will ich mich gerne nochmal an Sie wenden. Aber verzeihen Sie mir, dass ich Sie nicht an ihren Worten messen werde. Wenn Sie Ihren Worten, die Sie gerade geäußert haben, Taten folgen lassen und danach noch selbst sagen können, dass Sie nicht der Herr dieser Bewegung sein müssen, dann will ich Ihnen glauben. Ich werde Ihre Worte nämlich nicht an den Taten früherer Christen messen, sondern an Ihnen." Er lupfte den Hut. "Ich empfehle mich. Aber eines will ich zum Abschluss klarstellen. Sie missverstehen meine Äußerung des Naturzustandes. Der Krieg alle wider alle ist genauso kein Naturzustand, wie es der Zustand des Friedens ist. Aber das heißt nicht, dass wir nicht, mit genügend Vorsicht das eine oder das andere konstruieren können." Und verschwand dann schnellen Schrittes aus der Tür, während das Gemurmel wieder begann. Sébastien konnte noch sehen, wie der Mann ihm ein Zwinkern und ein Kopfnicken zuwarf, ehe er sich in das Getümmel der Stadt verabschiedete.

Das Gemurmel hielt jedoch nicht lange vor, denn eine Frau stand auf. Ihr dunkles Haar, welches von ersten grauen Strähnen durchzogen war, war in der Mittel gescheitelt und reichte ihr ansonsten bis fast auf die Schultern. Ihr schmales und doch rustikales Gesicht wurde von tiefen, dunklen Augen geprägt, die von buschigen Augenbrauen beherrscht waren. Ihre Augen blickten traurig drein und ihr breiter Mund zuckte aufgeregt. Die Frau mochte vielleicht um die vierzig Jahre alt sein. "Ich gebe dem jungen Mann dort drüben recht.", sagte sie mit kraftvoller Stimme und zeigte auf Sébastien Moreau. "Ich selbst bin Lehrerin und Krankenpflegerin, doch geboren wurde ich als einfache Magd. Ich habe in dieser autokratischen Welt der Bonapartisten[9] jeden Schritt, jeden Franc, ja jeden Centime hart erarbeiten müssen und wohl härter als jeder Mann in diesem Saal! Ich habe wie alle Arbeiter hier das harte Leben gelebt und erlebe es, seit die Preußen uns aushungerten, noch intensiver, all dieses Leid, diese Sorgen. Die Idee eines Streikes ist schön, doch wie soll ganz Paris dies überleben mit Thiers Soldaten vor der Tür. Nein, der junge Mann hat Recht! Lasst uns selbst nach den Worten des Pfaffen Sünder sein, wenn unsere Kinder ein besseres Leben haben. Ich will nicht gerecht sein, wenn dies den Tod meiner Brüder und Schwestern bedeutet. Wer kann sowas törrichtes sagen[10]? Nur jemand, der nichts zu verlieren hat! Sie machen es sich leicht, Herr Pfaff!", sie war wütend und Paul konnte sehen, wie manche sie anschauten mit einer gewissen Ehrfurcht. Sie hatte etwas, was die Menschen in ihren Bann zog. "Ihr macht es euch leicht, der ihr wohl nur nach Gott trachtet. Ihr alle stellt euch vor, auch noch die zweite Backe hinzuwerfen, in das Bajonett des Feindes. Ihr könnt alle nur noch Gott treffen und euch damit rühmen, dass ihr gerecht wart, ob ihr nun gelaufen seid oder ins Bajonett gefallen seid. Wir jedoch haben Kinder, haben Hunger, wollen Leben. Wir wollen kein Lebtag leiden, um irgendwann in einem nächsten Leben dafür belohnt oder bestraft zu werden. Wir wollen jetzt - und jetzt heißt in diesem Moment - eine gerechtere Welt für unsere Kinder, für unsere Männer, für uns Frauen. In der wir Frauen Ärzte werden können, in der unsere intelligenten Kinder die gleichen Chancen bekommen, wie die tumben wie intelligenten Kinder des reichen Bürgertums. In der wir Frauen über unser Schicksal bestimmen dürfen und mit gleichem Recht wie alle Männer ausgestattet sind. In der wir Frauen auch Päpste und Bischöfe und Vikare werden können. In der wir nicht nur die Geburtsmaschine des Heilbringers sind, sondern selbst Heilsbringer sein können. Und dazu brauchen wir die Kanonen, weil sie uns ohne - dazu müssen wir sie nicht nutzen - nicht anhören werden. Dazu brauchen wir Barrikaden, weil sie uns ohne ignorieren werden. Dazu brauchen wir Streiks, um die Fabrikanten an unser Leid zu gewöhnen. Dazu brauchen wir einen starken Magen und Opferbereitschaft. Schöne Worte und Nächstenliebe sind schön, aber wir müssen aus dem System ausbrechen. Wir müssen. Wir schulden es unseren Kindern, ob wir nun in des Pfaffen Auge Sünder sind oder nicht!"
Langsam wurden die kritische Stimmen wieder lauter, doch es waren nach Pauls Rede deutlich weniger. Waren vorher vielleicht knapp mehr als die Hälfte gegen ihn gewesen, war der Widerstand auf eine handvoll Besucher zusammengeschrumpft. Erwartungsvoll blickte die Frau nun zu Sébastien, mit traurigem, wie stechendem Blick.
 1. Gascogne (http://de.wikipedia.org/wiki/Gascogne)
 2. Er meint die Schlacht bei Waterloo (http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_Waterloo) 1815 und Napoleons darauffolgende Verbannung nach St.Helena
 3. Februarrevolution 1848 (http://de.wikipedia.org/wiki/Februarrevolution_1848)
 4. Napoleon III. (http://de.wikipedia.org/wiki/Napoléon_III.)
 5. Louis-Phillipe (http://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Philipp_(Frankreich))
 6. Maximilien Marie Isidore de Robespierre (http://de.wikipedia.org/wiki/Robespierre)
 7. Vierter Kreuzzug (http://Vierter Kreuzzug) - Er zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass er nicht bis nach Jerusalem kam, sondern in der Plünderung der christlichen Stadt Konstantinopel endete, gegen den Protest des Papstes allerdings.
 8. Erstes Konzil von Nicäa (http://de.wikipedia.org/wiki/Erstes_Konzil_von_Nicäa)
 9. Bonapartismus (http://de.wikipedia.org/wiki/Bonapartismus)
 10. Sie meint den berühmten Satz: Fiat iustitia et pereat mundus! (http://de.wikipedia.org/wiki/Fiat_iustitia,_et_pereat_mundus)
avatar Sébastien Moreau 02.Nov.2013 07:11
Es war beinahe schon beängstigend, wie gut Paul Zeidler die Menge im Griff hatte. In einem Moment wirkte der alte Mann fast schon verunsichert, im nächsten zog er die aufgebrachte Menge in seinen Bann. Es kehrte wieder Ruhe im Raum ein und Sébastien vernahm mit gemischten Gefühlen, was der Priester zu sagen hatte. Wieder versuchte der Deutschstämmige, die geäußerten Argumente mit Gegenargumenten und Bibelworten zu entkräftigen – und stellte sich dabei nicht wenig geschickt an. Doch Sébastien vernahm dieses Vorgehen mit aufkeimendem Groll. Mit angespannten Zügen und gerunzelter Stirn reagierte er auf die verurteilende Missbilligung, die Paul Zeidler zeigte, vielleicht gerechtfertigt, mochte man meinen, doch der junge Arbeiter sah das anders. Er fühlte sich zu Unrecht auf die Täterseite gestellt. Er war ein Opfer der Gesellschaft – ein Opfer, das sich entschlossen hatte, keins mehr zu sein, und für seine Frau und Kinder für eine bessere Zukunft einzutreten. Es war eine Schande, dass er sich dafür rechtfertigen musste.
Es mochte sein, dass er selbst die vergangenen Revolutionsbewegungen idealisierte und romantisierte, doch war eine Revolution genau das, was die Arbeiter nun brauchten. Sie hatten nun die Gelegenheit dazu und sicher würde diese verstreichen, wenn sie nicht genutzt wurde.
Sébastien erwiderte das Zwinkern und Kopfnicken des Kalabreserträgers mit einem Nicken seinerseits, bevor er sich noch die Rede der älteren Französin anhörte, die sich ebenfalls als ziemlich charismatisch erwies. Zufrieden nahm er auf, dass sie ihm Recht gab.
„Ich stimme der Dame zu“, meldete Sébastien sich wieder zu Wort, nachdem die Frau gesprochen hatte. Auf ihre betonte Stellungnahme zur Gleichstellung von Mann und Frau ging Sébastien nicht ein, er nahm ihre Worte jedoch als Stütze für seine Argumentation.
„Sie reden zu uns wie ein Beobachter, Pater, nicht wie ein Betroffener. Wenn ich reich wäre und keine Sorgen hätte, dann könnte ich wohl sehr tugendhaft sein. Doch ich kann nicht nur für mich selbst entscheiden, ich habe Verantwortung für meine Familie zu übernehmen. Bei allem, was ich tue, kann ich sie nicht vergessen. Und was für ein Ehemann und Vater wäre ich denn, wenn ich zulassen würde, dass sie weiterhin in diesem Elend leben muss? Sie haben Ihre Gemeinde hier, die Ihren Rat sucht, doch haben Sie auch eine Frau und Kinder, deren Existenz davon abhängt, dass Sie sie versorgen?“, fragte er, ohne eine Antwort wirklich hören zu wollen. Er redete einfach weiter.
„Ich kann meine Liebsten nicht mit Bibelworten vertrösten, denn davon werden sie nicht satt! Nun sind meine Kinder zu klein, um zu verstehen, doch irgendwann, wenn auch sie wissen, was in diesen Tagen hier geschehen ist und noch geschehen wird, werden sie mich fragen: ‚Papa, wo bist du gewesen, als du die Chance hattest, unser Schicksal zum Besseren zu wenden?‘ Und ich will ihnen nicht antworten müssen: ‚Ich habe mich erst ausharrend versteckt und bin dann weggelaufen, als der Feind näher rückte, weil ich Angst um mein Seelenheil hatte.‘ Das ist der Weg ins Unheil für mich“, griff Sébastien Paul Zeidlers Aussage, dass einer seiner möglichen Wege ins Unheil führen würde, auf.
„Der Teufel soll mich holen“, äußerte er kühn, aber sehr ernst, „wenn ich im Austausch dafür erreiche, dass meine Familie ein gutes Leben führen kann! Ich fürchte ihn nicht! Jedes weltliche und jedes göttliche Gericht soll mich doch dafür verdammen, dass ich ein Sünder bin, denn ein Sünder will ich sein, wenn die Alternative dazu ist, weiter in Krankheit und Elend zu leben und meine Kinder leiden zu sehen! Denn sagten Sie mir nicht, dass es mir wie Hiob[1] ergehen und ich am Ende belohnt werden werde, wenn ich das Leid voller Gottvertrauen und Demut auf mich nehme. Viel zu oft habe ich diese Geschichte gehört und als tröstlich empfand ich sie noch nie. Welcher Trost ist es, nach dem Verlust von allem, was mir lieb und teuer ist, wieder die Sonne zu sehen? Niemand kann mir ersetzen, was mir genommen wurde, denn was ich vielleicht wiedererhalte, wird das nicht Gleiche sein wie zuvor. Niemand wird mir die Zeit wiedergeben, die ich mit Reden und Nichtstun oder Weglaufen vergeude, während ich meine Brüder und Schwestern im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit unterstützen könnte. Niemals würde ich es mir verzeihen, würde ich meine Familie oder einen Kameraden verlieren, nur weil ich aus Furcht, mich zu versündigen, gezögert habe! Ich bin kein Mörder, Pater, doch wenn es heißt mein Leben oder das meines Gegners, werde ich mich dafür entscheiden, mich zu verteidigen.“
Sébastien hatte sich ein wenig in Rage geredet und schnappte nun nach Luft, bevor er fortfuhr:
„Ich wähle mit Bedacht, Pater!“, betonte er, nun wieder etwas beherrschter, aber noch immer aufgebracht, denn dass seine Entscheidung für eine Revolution leichtsinnig sein könnte, sah er nicht. Nicht im Geringsten.
„Nach all dem Krieg will ich einen weiteren wählen, wenn er es ist, auf den endlich Frieden folgt und wahre Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit. Revolutionen haben Blut gekostet und in der Vergangenheit die falschen Menschen um ihre Ideale gebracht, das streite ich nicht ab, doch wie kann man sich hinter diesem Argument verstecken, wenn man nicht weiß, wie es dieses Mal sein wird? Wenn wir es nicht versuchen, haben wir schon verloren! Dabei sind das einzige, was wir verlieren wollen, unsere Ketten.[2] Thiers hat gemerkt, dass wir daran rütteln, und geflohen ist er wie ein Hase, wie man hört!“, äußerte Sébastien mit beißendem Spott und dies als gutes Zeichen sehend. Er hatte nicht viel Respekt für den Übergangspräsidenten Adolphe Thiers übrig, wozu die gestrigen Geschehnisse auf dem Place Blanche nicht wenig beigetragen hatten. Schließlich waren es Thiers' Truppen gewesen, die die Kanonen hatten beschlagnahmen wollen, und seine Generäle, die befohlen hatten, das Feuer auf die aufgebrachte Menge zu eröffnen.
„Nun werden wir die Ketten entzweireißen! Wir haben so viel zu gewinnen! Die Zeit der Arbeiter ist gekommen! Wir haben es satt, nur zu leben, um zu arbeiten, damit wir unsere Familien versorgen können, und dass selbst das nicht ausreicht. Wir wollen unser Leben leben können, ohne Angst um unsere Familien haben zu müssen. Und ohne selbst hungern zu müssen. Warum sollten wir nicht fähiger sein als Napoleon oder Thiers? Es ist nicht Macht, die wir uns wünschen, sondern Gerechtigkeit und Glücklichsein!“
 1. Hiob (http://de.wikipedia.org/wiki/Ijob)
 2. Anlehnung an: "Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben dafür eine Welt zu gewinnen." (Karl Marx (http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Marx))
avatar Paul Zeidler 04.Nov.2013 12:11
Nachdem Paul sein Gebet beendet hatte, war etwas über ihn gekommen. Paul hatte plötzlich das Gefühl von Sicherheit und Bestimmtheit gehabt und es war, als würde er eine ganz andere Realität berühren. Ein flüchtiger Gedanke streifte Pauls Bewusstsein "Wenn es einen heiligen Geist gibt, dann ist er eben über mich gekommen. Unglaublich...". Noch immer hatte er eine Gänsehaut und sein Herz war voller Ehrfurcht. "Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob, deinen Gegnern zum Trotz; deine Feinde und Widersacher müssen verstummen.[1]", murmelte Paul kaum hörbar in sich hinein.

Es war der Moment gewesen, von dem Paul in den kommenden Tagen zehren würde. Gerade jetzt hatte er Gewissheit erlangt, dass er diesen Weg weiter gehen würde, allem Zweifel und allen Widerstand zum Trotz.

Doch nun mischte sich unter Euphorie auch merklich die Müdigkeit. Tatsächlich fühlte sich Paul, als hätte er eine ganze Nacht hindurch geredet. Er wollte die Diskussion nun abbrechen, auch weil er annahm, dass sich die Argumente nun wiederholen würden. Er hatte gut gesprochen und jedes weitere Gerede würde seine Position nur wieder schwächen. Darum sagte er: "Nun gut, Sebastien. Was soll ich noch zu ihnen sagen, wenn sie sich schon selbst eingestehen, ein Sünder zu sein und auch weltlich und göttlich Gericht nicht fürchten? Kommen Sie morgen wieder, denn ich will sehen, ob Sie morgen noch so entschlossen sind, wie heute. Aber für heute gehört Ihnen das letzte Wort. Kommen Sie alle morgen um diesselbe Zeit wieder. Ich will sehen, dass ich eine Suppe organisieren kann. Gute Nacht!"

Damit gab Paul Grouès ein Zeichen und er verließ den Raum und stieg nach oben in seine Dachkammer, wo er sich auf den Stuhl an seinen Schreibtisch setzt und mit leerem Blick und leeren Geist aus dem Fenster starrte.
 1. Psalm 8,2 (http://www.bibleserver.com/text/EU/Psalm8)
avatar Paul Zeidler 05.Nov.2013 10:11
Etwas später am Abend klopfte es an Pauls Tür. Es war Grouès, der einige Schritte in das Zimmer eintrat und dann stehen blieb. Offensichtlich wartete er darauf, dass Paul etwas sagte. Doch Paul wollte nicht von sich aus anfangen, da er fürchtete, Grouès einen Grund für eine positive Bewertung zu geben. Paul wusste, dass es bei alledem gut gelaufen war, er hatte viele Leute überzeugen können. Doch etwas in ihm zwang ihn, auch immer den kleinen Misserfolg zu betonen. Und schließlich war Erfolg ja auch flüchtig und auf eine Durststrecke konnte man sich einstellen. "Du hast gut gesprochen. Ich glaube, Du hast viele zum nachdenken anregen können.", stellte Grouès fest und riss Paul aus seinen Gedanken.

"Hmm." murmelte Paul und erhob sich, um das Fenster zu schließen, "Nun ja, wir werden sehen, was die Tage bringen. Es wird sich zeigen, wie viel ich in den Menschen bewirken konnte."

"Deine Predigt hat etwas bewirkt. Du musst sie jetzt noch weiter bestärken. Du klingst aber nicht überzeugt. Wie willst Du den Menschen inspirieren, wenn Du selbst zweifelst?", sagte Grouès ungewöhnlich direkt, aber es klang nicht wie ein Tadel.

Überrascht blickt Paul auf. Das Gespräch war sehr untypisch für sie beide. "Ich denke gerade nicht über mich nach. Tatsächlich denke ich an den jungen Mann, der ein Sünder sein will."

"Wie meinst Du das? An was denkst Du?", fragte Grouès.

"Erinnerst Du Dich an die Versuchung Jesu im Matthäusevangelium?[1]" Grouès nickte. "Es ist die Prüfung Gottes bevor Jesus den Menschen offenbart wird. Jesus wird vom Geist in die Wüste geführt und vierzig Tage bereitet er sich durch Fasten auf den Satan vor. Als es ihn hungert, sagt uns die Bibel eindeutig und unwiderleglich, dass Christus Mensch war und gelitten hat, wie ein Mensch nur leiden konnte. Welche Bedeutung hätte sein Kreuzestod gehabt, wenn er nicht gelitten hätte, wie ein Mensch? Als der Satan kam, versuchte er ihn mit dem Brot. Er sagte: ' Wenn Du der Sohn Gottes bist, dann mache, dass diese Steine Brote werden'."

"Was hat das jetzt mit dem jungen Mann zu tun? Ich fürchte, ich verstehe nicht.", unterbrach ihn Grouès.

"Offensichtlich wollte der Teufel Jesus damit reizen, dass er die Anerkennung seiner Gottessohnschaft davon abhängig machte, dass Jesus die Steine in Brote verwandelte. Der Punkt ist: Ich habe nie verstanden, warum es Brote waren und nicht ein Brot. Und dann habe ich mir gedacht, dass es dem Evangelisten vielleicht um die Menschen ging. Ja, mittlerweile glaube ich, dass der Evangelist sehr genau wusste, dass dem Menschen der Magen näher ist als der Himmel. Der Satan könnte auch sagen: 'Du bist für die Menschen Gottes Sohn, wenn Du sie satt machen kannst. Denn schlimm ist es, auf Gottes Gerechtigkeit zu warten, aber quälender ist die Angst vor dem Hunger'. Aber Jesus weiß es besser. Das kommende Gottesreich verlangt eine Erschütterung des Herzens bis hinein in das tiefste Innere. Eine Umwertung aller Werte. Darum sagt er: 'Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht'. In der Bergpredigt wird der Gedanke konkret: 'Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? [...] Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.'"

Paul machte eine Pause und beobachtete Grouès. Er war noch nicht ungedudlig geworden, ob Pauls langen Ausführungen. Paul war für Grouès' Geduld dankbar, die sich auch nun wieder zeigte. "Aber wer ist wie Jesus, wer kann mit ruhigem Gemüt sagen: 'Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat'. Ist Dein Gottvertrauen so groß? Meines ist es nicht. Und darum kann ich es dem jungen Mann kaum verdenken, dass er sich um sein täglich Brot sorgt. Ja, teuflisch, teuflisch war die erste Versuchung. Sie war die übelste von allen, denn sie wägt Glauben gegen die Sorge. Und, verdammt seien wir, wir haben uns aus unserer Unmündigkeit befreit und sind fähiger denn je, die Grenzen des Menschlichen zu verschieben. Aber ich fühle, ja ich bin überzeugt, dass wir keinen Schritt weiter gekommen sind. Das Schicksal der Menschen hängt noch immer davon ab: Glaube oder Sorge."[2]
 1. Mt 4,1-11 (http://www.bibleserver.com/text/LUT/Matth%C3%A4us4)
 2. Die Argumentation lehnt sich eng an Dostojewskis Novelle vom Großinquistor (http://gutenberg.spiegel.de/buch/2095/6#vol5chap5) - eine großartige Anthropologie und ich glaube, dass uns die Brotfrage noch heute lähmt.
avatar Menthir 07.Nov.2013 10:11
Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 19:25 Uhr - Bei Pére Groués in der Rue de Doutes (Montmartre)

Während Groués und Zeidler in der Straße der Zweifel dieser Benennung zur Ehre gereichten, wurden auch die sich in alle Winde verstreuenden Beobachter und Agitatoren von diesen eingeholt. Warum hatten sie in einem - improvisierten und evangelischen - Glaubenshaus darüber gestritten? War dies der richtige Ort gewesen? Das Geflüster im Saal, von den aufbrechenden Gästen, verriet immerhin etwas über dieses Treffen. Zwischen jenen Frauen und Männern, die voller Lobes für diese außerordentliche, viele tief im Inneren treffende Rede Paul Zeidlers oder gar für seine ganze Person waren, gab es auch jene, die sich fragten, wer dieser Mann mit dem Kalabreser war. Keiner hatte ihn, Carls Ohren mochten in diesem Moment besonders gespitzt sein, jemals gesehen. Keiner konnte sich vorstellen, dass er ein Teil des Zentralkomitees sein konnte, andererseits kamen auch Zweifel daran auf, dass man ihn gesehen haben musste. Lebten in Paris nicht mehr als zwei Millionen hungernde Seelen? Wohl kaum mochte jeder Nationalgardist aus dem Gebiet Montmatres kommen. Und auch die so wortreiche Frau war Thema. Louise Michel[1] soll sie heißen. Die Gäste, welche sich nicht dem Christentum anhängig waren oder zumindest mehr den alternativen Regierungs- und Staatsgestaltungen angehörig fühlten, sprachen in ähnlichen hohen Tönen von ihr, wie die Christenmenschen von Paul Zeidler sprachen. Aber wieso hatten sich so viele Nichtchristen hier eingefunden? Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass jenes, was sich an diesem Abend hier bei Pére Groués ereignet hatte, nicht in diesem feuchten Gemäuer bleiben. Man würde darüber sprechen, man würde es weitertragen, denn in einer Sache waren sich die Gäste einig. Auch wenn der Streit für manchen nicht aufgelöst scheint, war dieser Abend ein besonderer Abend, ein erinnerungswürdiger Abend. Es war ein Abend, der nicht, unabhängig der Nahrungsversorgung durch die Männer um Paul Zeidler, ohne Bedeutung bleiben würde...

Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:09 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Sonderbares Gestammel, Gestöhne, Gebrabbel, dann vereinzelte Jubelrufe, gefolgt von Gewehrschüssen in die verregneten, ersten kalendarischen Frühlingstage. All jenes wurde abgelöst von spontanen Beifallsbekundungen, ja sogar von spontanen Tänzen und hier und da sangen die Menschen, mal weinend vor Freude, mal lachend vor eingebildetem Glück, die Marseillaise. Nicht in der Art, wie der junge Mann sie in der schicksalshaften Nacht vor einigen Tagen gesungen hatte. Nicht umgestellt, nicht die Brutalität dieses Liedgutes in den Vordergrund stellend, sondern die Bedeutung für das revolutionäre Frankreich einatmend, als wäre es ein erquickendes, regenerierendes Wasserdampfbad, in dem man Weihrauch und andere ätherische Öle inhalierte, um wieder frei atmen zu können. Kaum einer der Männer war sich der Herkunft und Geschichte der Marseillaise bewusst; wusste, dass ein gewisser Claude Joseph Rouget de Lisle[2] dieses Lied mit royalistischem Feuereifer für die Rheinarmee[3] schrieb und als dann ausgerechnet sein royalistisches Lied zum Revolutionslied wurde, selbst für seine royalistische Gesinnung im Gefängnis schmorrte und vielleicht darüber nachsinnte, wie es passieren konnte, dass sein Lied für etwas Sinnbild wurde, was er nie beabsichtigen hatte können.

Ein paar Männer kannten die Geschichte, die sich hinter Rouget de Lisle verbarg und sein Schicksal und jene Männer schauten zwischen den Jubelnden umher, auf dem Place Blanche, der nach wenigen Tagen des Regens wieder ein weißer Platz war, der seine Gefallenen schon längst wieder vergessen hatte. Es gab keine offiziellen Zahlen, obwohl die republikanische Seite um Thiers zu wissen glaubte, dass lediglich die beiden erschossenen, aus Regierungssicht exekutierte, Generale gefallen waren. Männer, die den Place Blanche geräumt hatten, sprachen von vielleicht dreißig oder vierzig Verletzten und mindestens zehn Toten. Allerdings gaben sie nur in den privatesten Gesprächen, wie im heilsamen Zwiegespräch mit Paul Zeidler, oder im freundschaftlichen Gespräch mit Sébastien Moreau, oder im dienstlichen Austausch mit Carl von Lütjenburg, preis, dass die wenigsten durch die Sicherung der Kanonen gestorben waren. Die meisten waren bei Übergriffen liderlicherer Natur gestorben, bei Vergewaltigung, Mord und Totschlag, bei zwei oder drei Plünderungen, weil Schurken ihre Stunde gekommen sahen, ihren seit der Belagerung währenden Hunger und ihre Verluste, oder ihre Triebe, auf Kosten anderer im Zuge des sich andeutenden Chaos zu kompensieren, zu befriedigen. Es hatte nicht so viele Zusammenstöße mit republikanischen Soldaten gegeben. Ihre Moral war schwach, wie man im Militärjargon zu sagen pflegte, und die meisten mieden die wenigen Nationalgardisten, welche die Kanonen sicherten, oder sie fraternisierten oder sie flohen auf den Befehl Thiers. Und die Nationalgardisten, so war man sich sicher, wenn man vertraulich miteinander sprach, waren im Chaos nicht in der Lage, von Emotionen emporgetragen, die ganze Szenerie im Auge zubehalten, oder drastischer gesagt: Viele dieser Täter versteckten sich weiter in den Reihen jener, die Revolution riefen und die jetzt, in diesem Moment, jubelnd auf dem Place Blanche und an anderen Orten dieser Zwei-Millionen-Stadt standen und tanzten und sangen.

Die paar Männer, die sich das ganze Treiben anschauten, waren nicht um ihrer selbst willen an diesem Ort. Sie beobachteten die Szene für die Republik. Es waren gebildete Männer, es waren unauffällige Männer, deren Aufgabe ihnen nicht anzusehen waren, solange man nichts von ihnen wusste. Solange man sie nicht erwartete und ihre Erkennungszeichen, ihre Zeichen und ihre Art kannte und zu lesen verstand. Sie waren ein Teil der jubelnden Menge, die sich hier auf dem Place Blanche zusammengefunden hatte aus einem bestimmten Grund. Hätten sie Carl von Lütjenburg gekannt, der aus demselben Grund zurück zum Place Blanche gefunden hatte, hätten sie auch gewusst, dass der preußische Offizier mit Rouget de Lisle gewisse Gemeinsamkeiten hatte. Beide waren Royalisten im weitesten Sinne, beide waren Freunde der Militärmusik[4] und des gewaltigen Pathos und sie beide waren eigentlich, ursprünglich und im Herzen in der Gattung der Pioniere beheimatet. Ihr Schicksal unterschied sie. Die Männer, diese unerkannten republikanischen Männer, hätten sich gefragt, ob sich ihr Schicksal noch unterschied. Rouget de Lisle hatte es bis zum Hauptmann gebracht, als die Revolution seine Karriere beendete und er nur knapp der Guillotine entging. Er starb als armer Mann, trotz seiner Erfolge und seines Hauptwerkes, welches so von Rouget de Lisles Gedanken entfernt wurde. Würden diese Republikaner, wenn sie denn Carl kannten, auch denken, dass diese beginnende Revolution, auch wenn sie bisher nur eine Pariser Revolution war, dem nächstem Militär die Karriere beenden würde? Sie würden es nicht ausschließen. Sowohl Carl als auch die unerkannten Republikaner waren aus demselben Grund gekommen, und sie blickten diesen Grund an. An Hauswände waren Aushänge angebracht wurden. Auch Sébastien und Paul konnten diese Aushänge vor sich sehen. Es war eine Ankündigung, welche die Gesänge, die Tänze, die Jubelschreie und Gewehrschüsse ausgelöst hatte. Das Zentralkomitee der Nationalgarden, diese ungreifbare, gesichtslose Menge von Menschen und neuen Würdenträgern hatte eine Entscheidung, an allen vorbei und doch nicht unerwartet, getroffen. Hatte es die letzten Tage Befürchtungen gegeben, dass das Zentralkomitee der Nationalgarden, diese uneinheitliche Vereinigung von Bürgermilizen, einen oder mehrere Despoten hervorbringen würde, welche die Macht in ihren Händen, gestützt auf dem flammenden Willen von Revolutionären und den erbeuteten Kanonen, nicht mehr abgäbe, machte dieses Komitee nun bekannt, dass sie kurzfristig Wahlen anberaumen. Die Wahlen würde bereits am folgenden Sonntag stattfinden und es würden demokratische Wahlen sein. Die Menschen jubelten. Die Republikaner wie die Anwesenden starrten auf den Ort, an dem sich am 26. März das Schicksal dieser Stadt verändern könnte, würde. Hôtel de Ville[5]. Bis zum 24. März bis zum Spätabend mussten sich alle Interessenten, die gewählt werden wollten, melden, im Hôtel de Ville. Die Plakate, die überall auf den Straßen auftauchten, versprachen explizit, dass fast jeder sich zur Wahl stellen konnte. Thiers und seine Mannen freilich nicht. Paris war sich selbst Herr, das war die Botschaft dieser Plakate. Paris war sich selbst Herr - ja, so viel Pathos musste in dieser Stadt der Künstler und Bonvivants[6] sein - bedeutete nicht nur, dass die Stadt die auferlegten Fesseln, die sie entweder erduldete oder zu erdulden glaubte, des großen und nach der großen Niederlage ebenso geschwächten Staates abgelegt, gar gesprengt, hatte, sondern dass die Arbeiter sich befreit hatten und nun mit in die Bestimmung kamen, ihren historisch-determinierten, wie zumindest manche Denker und Arbeiter glaubten, Platz in der Geschichte einzunehmen. Die Euphorie war greifbar über den ganzen Place Blanche und sie freuten sich miteinander, die Proudhonisten[7], die Marxisten[8], andere Ideologen, die ideologisch unberührten, aber nicht minder besorgten Arbeiter, aber auch die reformistischen Republikaner, die sich noch immer darüber ärgerten, dass zwischen dem 8. und 17. Februar Wahlen stattfinden, deren Sieger Adolphe Thiers war, der zum Chef der Exekutive wurde. Alle Parteien, obwohl Thiers sich selbst als Republikaner sah, empfanden dies als Angriff auf ihre Ideen und das Erbe der Revolution, dass ausgerechnet dieser Thiers, der versuchte das Bildungswesen wieder katholisch zu machen, der den Bürgerkönig erst gestützt, dann sich gegen ihn gestellt und dann wieder die politische Linke bekämpft hatte, bei einer Wahl bestimmt wurde, von der halb Frankreich im Unklaren gelassen wurde. Ein Grund, warum die Menschen sich über die offene Verkündigung der Wahlen freuten. Sie fühlten sich, als würde ihnen eine Art Gerechtigkeit wiederfahren, die sie selbst erkämpft haben. Die sie sich in dem Moment gemeinsamer Souveränität[9] verdient hatten.

Die unerkannten Republikaner, die wahrscheinlich im Auftrag Thiers unterwegs waren, ob wissentlich oder nicht, zogen sich langsam wieder zurück. Zumindest ein Teil von ihnen. Es mochten vielleicht zweihundert oder dreihundert Menschen auf dem Place Blanche zu dieser frühen Stunde sein. Die trotz ihres Tagesgeschäftes jene Muße oder jene Notwendigkeit sahen, sich über diese Ankündigung zu freuen. Wahlen also. In diesem Tross aus Freude und Aufmunterung fuhr freilich auch die Sorge mit, als sei sie ein unverzichtbares Element jeder Bewegung, jeder Hoffnung. Sébastien bekam es dank François Durand schnell zu hören, doch auch Paul Zeidler bekam diese Worte mit, stand er doch nicht unweit der Szene nahe einer Gaststätte entfernt, sich an den letzten Sonntag und ihren Austausch erinnernd. Und so war es zwar in dieser Menge von Menschen ein Zufall, doch nach dem Carl die beiden aus der Entfernung sah, nachvollziehbar, dass auch der preußische Offizier sich in der Nähe postierte, immer noch auf der Suche nach Information. Und sie wurden ihm auf dem Silbertablett präsentiert. François begrüßte Sébastien mit einer festen Umarmung, strahlte aber nicht ob der guten Nachrichten. Einige Arbeiter hatte sich um Sèbastien formiert, sie scherzten und johlten. Argwöhnten, in ihren schmutzigen, kohleschmutzigen oder gipsweisen Kleidern, auf den Wegen zu ihren Fabriken und den Abbaustätten, wie es wohl sei, wenn sie Thiers ganz in die Knie gezwungen haben werden. Sie waren sich einig, dass Paris ein Leuchtfeuer der befreiten Arbeiterschaft sein würde und zankten freundschaftlich miteinander, wer sich wohl von ihnen zur Wahl stellen würde. Wer wohl so viel Mut hätte. Doch François wirkte aufgebracht und beunruhigt. Sèbastien wusste warum. Die anderen hörten François aufmerksam zu.
"Mein lieber Sèbastien. Ein Schritt ist getan, aber ich muss von dir Unmenschliches in diesem Moment der Freude verlangen. Sie halten uns doch den Louis[10] gefangen. Eine demokratische Wahl ist gut, aber was, wenn zu viele Menschen aus Hunger nicht ganz bei Sinnen sind und zu viele Republikaner wählen? Oder zu viele Professoren und Lehrer? Und was ist, wenn wir uneins bleiben? Sébastien, mein lieber Sébastien, ist es nicht so, dass jede Menge nicht doch zumindest eine Ordnung braucht? Dass wir einen Mann brauchen, der keine Herrschaft beansprucht, aber das Unordentliche in Ordnung bringt und uns hilft, uns selbst nicht aus den Augen zu verlieren? Du weißt, mein Lieber, dass Louis diese Ordnung bei uns bringt. Wir müssen die Freude zurückstellen und etwas wagen, um Louis freizumachen! Ich habe auch einen Plan! Lass uns Louis befreien. Ja, ja, ich weiß, da sind Soldaten und viele Soldaten. Aber wenn sie uns eine wichtige Person nehmen, lass ihnen eine nehmen. Lass ihn den Pfaffen nehmen! Ihren Leuchtturm des Mutes[11]! Was sagst, mein Lieber? Wir dürfen uns freuen, ja, aber wir dürfen uns jetzt nicht in Freude verlieren. Wir müssen uns helfen. Für Louis, für uns Arbeiter! Wir dürfen uns nicht zerstreuen lassen!"

Manche Leute um den Mann, der noch immer die Spuren der zurückliegenden Scharmützel deutlich im Gesicht trug, wie die blaue Nase um die Bruchstellen seines Nasenrückens., wandten sich erschüttert ab, während andere ihre Zustimmung laut bekundeten, Männer und noch mehr Frauen zeigten ihre Zustimmung. Zu seiner Überraschung sah Sébastien in diesem Moment auch die willensstarke, grimmige Frau, die ihm schon bei seinem Besuch bei Paul Zeidler aufgefallen war. Sie schien besonders davon begeistert, einen Katholiken an der Stola[12] zu packen.
Erwartungsvoll blickte der beste Freund Sébastien an, trotz der Verletzungen mehr als kampfeswillig. Manche Männer und Frauen gingen fort, andere befeuerten ihre Zustimmung immer weiter. Und irgendwo dazwischen mochte die noch unerkannten Republikaner stehen, sich abwenden oder jubeln, nur um der Farce willen.
 1. Louise Michel (http://en.wikipedia.org/wiki/Louise_Michel)
 2. Claude Joseph Rouget de Lisle (http://de.wikipedia.org/wiki/Claude_Joseph_Rouget_de_Lisle)
 3. Französische Rheinarmee (http://de.wikipedia.org/wiki/Französische_Rheinarmee)
 4. Ich verweise auf Carls unterschiedlichen Musikthemen.
 5. Hôtel de Ville (http://en.wikipedia.org/wiki/Hôtel_de_Ville,_Paris)
 6. Bonvivant (http://de.wikipedia.org/wiki/Bonvivant)
 7. Proudhonismus (http://de.wikipedia.org/wiki/Proudhonismus)
 8. Marxismus (http://de.wikipedia.org/wiki/Marxismus)
 9. Souveränität (http://de.wikipedia.org/wiki/Souveränität)
 10. Gassenwissen (gut) +3 oder Gelehrsamkeit (gut) +3, um zu wissen, wer gemeint ist.
 11. Gelehrsamkeit (gut) +3 oder Gassenwissen (passabel) +2, um zu wissen, wer gemeint ist.
 12. Stola (http://de.wikipedia.org/wiki/Stola_(Liturgische_Kleidung))
avatar Sébastien Moreau 16.Nov.2013 06:11
Sébastien ließ es sich an diesem Morgen nicht nehmen, mit den anderen Arbeitern, die sich auf dem Place Blanche versammelt hatten, die erfreuliche Ankündigung zu feiern. In drei Tagen bereits, am 26. März, würde gewählt werden und von diesem Moment an würden die Arbeiter ihre eigenen Herren sein. Sie würden selbst ihre Regierung stellen, die ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht länger ignorierte. Sébastien wusste, dass Thiers‘ Tage gezählt waren. Der Kampf war noch nicht vorbei und gewonnen, doch der Sieg lag in nicht mehr in allzu weiter Ferne.

Sébastien konnte es nicht unterdrücken, ob der ausgelassenen Stimmung ebenfalls zu breit zu lächeln und sich an den Scherzen zu beteiligen, doch als er endlich seinen besten Freund François erblickte, holten Sébastien die Realität und die Sorgen ein, die auch an ihm nicht vorbeigingen. Dazu genügte ein Blick in François‘ lädiertes, aber trotzdem noch immer sehr jungenhaft wirkendes Gesicht. So sehr Sébastien sich freute, seinen Freund zu sehen, und dessen begrüßende Umarmung ebenso fest erwiderte wie sie ihm gegeben wurde, machte sich auch in ihm leichtes Unbehagen breit, das wohl am ehesten mit einer Mischung aus Besorgtheit und Rastlosigkeit beschrieben werden konnte, die Sébastien auch François anmerkte. Den Grund für die Stimmung seines besten Freundes kennend, hörte Sébastien diesem aufmerksam zu, als François ihm seinen Plan vorschlug.

François‘ Sorge war begründet: die Geschehnisse der letzten Tage hatte viele verängstigt und verunsichert, und obwohl sie sich nun gemeinsam jubelnd, lachend, singend und tanzend freuten, waren sie nicht eins. Genauso wie die Revolution der Arbeiter ein gemeinsames Ziel brauchten, dem sie entgegenstreben konnten, brauchten sie auch einen gemeinsamen Weg dorthin.
Sébastien erinnerte sich an den alten Fischer, der sich in der Diskussion, die während Paul Zeidlers Predigt ausgebrochen war, zu Wort gemeldet hatte. Dieser hatte die Annahme geäußert, dass sich die falschen Männer an die Spitze der Revolution setzen und sie für ihren eigenen, persönlichen Vorteil missbrauchen könnten. In François‘ Wahl war diese Befürchtung allerdings mit eingeflossen.
Der besagte Louis hingegen – Louis Auguste Blanqui,[1] der berühmt-berüchtigte Revolutionär, der sich derzeit in Gefangenschaft befand – war zweifellos der beste Mann, um den Arbeitern den richtigen Weg zu weisen.
François lag damit, dass sein bester Freund wusste, dass Louis das Chaos beseitigen würde, nicht falsch. Louis würde ihnen der Leuchtturm sein, den François für Thiers‘ Männer nicht ohne Berechtigung im Pfaffen sah. Bestimmt war es nicht so riskant, sich Georges Darboy[2] – niemand geringerem als dem Erzbischof von Paris, denn wen sonst sollte François meinen? – anzunehmen, als zu versuchen, an den Soldaten vorbei direkt an Louis heranzukommen.

Dennoch war auch François‘ Plan war ein Wagnis. Vielleicht war es wahr, was Sébastien im Zorn Paul Zeidler gegenüber geäußert hatte: Vielleicht fürchtete er weder ein göttliches noch ein weltliches Gericht. Aber vielleicht wollte er auch nur, dass es so wäre, und er unterdrückte seine Bedenken. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, dass er auch nur in eine Situation kommen würde, in der er vor die Wahl gestellt wurde, sich zu entscheiden, ob er irgendjemanden entführen wollte. Davon, dass es sich dabei um einen Priester und ausgerechnet um den Erzbischof handeln würde, ganz zu schweigen. Sébastien war Katholik und, wenn auch dem Klerus nicht sonderlich zugeneigt, regten sich leichte Skrupel in ihm, mit einem Geistlichen derart umzuspringen.
Diese Skrupel waren jedoch nicht laut genug, um die zustimmende Menge um ihn herum zu übertönen. Louis musste frei sein – zum Wohl aller und zur Sicherung ihrer Revolution. Sébastien ließ sich von der Begeisterung um ihn herum und dem Kampfeswillen seines besten Freundes anstecken. Besonders die entschlossene Frau, die sich ebenfalls bei seinem Besuch bei Paul Zeidler zu Wort gemeldet hatte und Sébastien mit ihrer Anwesenheit hier überraschte, erschien sehr enthusiastisch.

Sébastien musste für seine Antwort, die François sichtlich hoffend erwartete, nicht lang überlegen. Er schenkte seinem besten Freund ein entschlossenes Lächeln und legte ihm mit bekräftigendem Nachdruck seine Hand auf die Schulter.
„Deine Worte könnten nicht wahrer sein, François! Wir dürfen uns vom ersten Erfolg nicht blenden lassen. Wir dürfen ihnen Louis nicht überlassen, so viel ist gewiss, denn wir brauchen ihn nun. Ein Tausch – so wird es uns gelingen, ihn zu befreien!“, war Sébastien sich sehr sicher. Es würde funktionieren. In seinen Augen funkelte nun Tatendrang.
„Wenn du es wagen willst, mein Freund, bin ich an deiner Seite. Du weißt, du kannst auf mich zählen!“
 1. Louis Auguste Blanqui (http://en.wikipedia.org/wiki/Louis_Auguste_Blanqui)
 2. Georges Darboy (http://en.wikipedia.org/wiki/Georges_Darboy)
avatar Paul Zeidler 24.Nov.2013 07:11
Die Tage seit der Predigt in der Straße des Zweifels zogen an Pauls Geist vorbei, wie die Landschaft, wenn man aus einem Zug auf die Landschaft schaut. Paul arbeitete unentwegt und gönnte seinen Augen kaum Schlaf. Am Morgen sammelte er die Verwundeten und Betrunkenen von der Straße, am Vormittag stand er in der Küche und putzte Suppengemüse, am Nachmittag hausierte er und versuchte die Dinge zu bekommen, die er in den Tagen benötigte, nämlich Nahrung und Medizin, am Abend hielt er eine Andacht mit seinen Unterstützern und wen es von der Straße in das Haus verschlug und in der Nacht bereite er Bittschriften und Predigten vor. Doch so viel er auch tat, es schien als arbeiteten Zeit und Schicksal gegen ihn. Er hatte nicht genug Mitarbeiter und auch an Gütern konnte er nur sehr wenig versammeln[1].

An jenem Morgen lehnte er an der Wand einer Gaststätte, während er darauf wartete, dass ein Mitarbeiter im Restaurant Vorräte erbettelte. Er hatte sich einen Moment erbeten, um zu verschnauffen und um zu beobachten, was auf dem Platz vor sich ging. Er betrachtete die Plakate, die die Wahlen ankündigten. Er wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Der Ausgang der Wahl konnte sehr viel bedeuten. Wenn die Mehrheit für die konservativen Kräfte stimmte, dann würde der Aufstand vielleicht beendet werden. Wenn die Marxisten oder Blanquisten gewannen, dann würde der Konflikt eskalieren. Wie die Mehrheitsverhältnisse waren, das wusste Paul nicht. Er hatte in den vergangenen Wochen zu sehr mit einzelnen gearbeitet, als dass er wusste, was die vielen wollten. Dieser Gedanke brachte ihn aber auf einen anderen, nämlich dass manche Gruppen in den kommenden Tagen versüchen würden, gewaltsamen Einfluss zu nehmen - versuchen würden, Mitbürger einzuschüchtern, so dass sie ihr Wahlverhalten änderten. Paul fragte sich, wie frei die Wahl wohl sein würde.

Als er so nachdachte, erblickte er ein vertrautes Gesicht ganz in seiner Nähe. Es war das von Sébastien, der sich mit einem Mann beriet. Paul hatte nicht vorgehabt, sie zu belauschen, aber sie gaben sich auch keine Mühe, sich zu verbergen. Was sie besprachen, klang dunkel und nach Bandenkrieg. Paul konnte sich denken, welchen Louis sie meinten. Doch wer der 'Pfaffe' sein würde, das war ihm nicht klar. Für einen Moment erschreckte er sich, dachte, dass er selbst gemeint sein könnte. Doch das war unwahrscheinlich, beruhigte er sich, denn er arbeitete nicht für die andere Seite und war zu wenig bekannt, um in dem Konflikt von Bedeutung zu sein. Es musste ein bedeutsamer Geistlicher auf der Gegenseite sein, den sie da zu entführen gedachten. Also ein Katholik, schloss Paul für sich.

Paul beschloss, den beiden Männern noch etwas zuzuhören und erst dann zu beschließen, was er tun würde.
 1. passabler Wurf auf Führungsqualität (+2)
avatar Menthir 02.Dec.2013 08:12
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:11 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Die Antwort Sébastiens ließ François deutlich ruhiger werden, seine Mimik entspannte sich und seine ganze Art derart, dass er sogar die rechte Hand locker in die Hosentasche steckte und die Spannung etwas verlor. Er strahlte jetzt über das ganze, so gezeichnete Gesicht und umarmte seinen Waffenbruder, seinen Gesinnungsbruder mit einiger und doch lässiger Inbrunst. "Sehr gut, Bruder. Ich habe auch schon die richtigen Männer beisammen. Wir können uns heute Abend schon treffen." Er strahlte voller Zuversicht und Vorfreude und zwinkerte sich sogar eine Träne der Erlösung weg. "Ich habe das fast alles schon vorbereitet. Ich habe tüchtige Männer und eine tüchtige Frau zusammen, die uns helfen werden. Wir können uns auf sie verlassen. Die haben ein Renommee von hier bis St. Petersburg für jenes, was sie für die Arbeiter in ganz Europa schon getan haben!" Wenn das Gespräch zwischen den dort stehenden Revolutionären nicht schon interessant genug war, verspürte Carl bei den folgenden Worten wohl jenes, was ein Hannoverscher Schweißhund[1] verspüren durfte, wenn er das Blut des gejagten Tieres witterte und es nun das verwundete Schalenwild stellen sollte. Und diese Spur führte, wie der Zufall es so wollte, von seiner Heimat bis nach Paris. So musste der Braunschweiger sich damals gefühlt haben. "Kennst du, mein lieber Sébastien, das Ehepaar Lavalle? Sehr verständige Menschen mit jeder Menge Erfahrung. Ich werde sie dir heute Abend vorstellen. Wir treffen uns nahe der Barrikade am Boulevard de Clichy[2] und suchen dann spontan eines der Lokale aus. So um acht."

Paul und Carl konnten von ihren Positionen besser sehen, wie sich ein kleiner Mann mit Hakennase, gekleidet in einen dunklen Regenmantel und dicker angezogen, als der Tag es wahrscheinlich nötig machte. Er hatte Sébastiens Worte und jene von François mit einiger Ausdauer angehört und jetzt trat er vor und riss die Ankündigung, vor der sie standen einfach herunter. Wütend trampelte der Mann, der nicht viel größer als fünf Fuß war und vom Alter und vom Hunger gezeichnet auf diesem Papier herum. "Putain de merde[3]! Das darf doch nicht wahr sein!" Wütend fuchtelt er mit seinem Gehstecken vor den beiden jüngen Männern herum. "Wie oft hat die Jugend geklagt, dass die Alten sie in den Tod treiben würden. Nennt die neue Jugend es nun Gerechtigkeit, wenn sie die Alten und Schwachen in den Tod treiben können? Ich bin ein alter Mann, verdammt nochmal." Als hätte er das Bedürfnis, dies immer noch beweisen zu müssen, obwohl sein vom Alter gezeichnetes Gesicht aussagekräftig genug war, schob er seine Manschetten den Unterarm hoch und zeigte seine runzelige Haut und die Altersflecken, die seinen Handrücken und die Handgelenke zierten, als habe er sich die schwer verdient. So schien es der alte Mann zumindest zu sehen. Er trug weiß-silbrige Stoppeln in seinem Gesicht, er hatte sich an diesen Morgen noch nicht rasiert. Wahrscheinlich war er gerade auf dem Weg sich eine Zeitung, vielleicht die Le Temps[4], zu kaufen, in der er sicher auch erfahren würde, dass die Wahl stattfinden würde. "Seid doch froh, dass ihr die Wahl habt, junge Menschen. Wie lange wollt ihr uns sonst noch am Tropf halten für eure kindische Ambitionen?" Er seufzte aufgesetzt und machte sich auf von dannen zu marschieren, nicht ohne wütend auf die Ankündigung zu spucken. Wütend klaubte François die Reste des zertretenen Aushangs auf und stellte sich dem Alten in den Weg. Die Situation zeigte, wie angespannt Paris trotz dieser Wahlankündigung war. Da waren jene, die jetzt sagten, dass sie erst recht um ihr Recht streiten musste, dass sie erst jetzt die Chance bekamen, dass Fortitüde der Schlüssel zu diesem Erfolg war. Und dann waren da jene, welche so viel gelitten hatten in den letzten Monaten, dass sie sich einfach nur noch nach Frieden sehnten, welchen Namen dieser Friede auch tragen mochte, welcher Ideologie oder welchem Realismus dieser auch folgte.
"Nicht so schnell, alter Mann.", François baute sich vor dem kleinen, vom Alter gebückten Mann, der im Gegenzug unwirsch mit der Hand wedelte. "Was ist, Jüngling? Willst mir drohen? Willst mir erzählen, was ihr nicht alles für die Chance gelitten habt. Dass ihr im Gegensatz zu den Alten auf den Barrikaden gestanden habt, und sogar die Damenzimmer mitgenommen habt? Erzähl keinen Blödsinn, Junge. Die Frauen unter euch sind wohl die einzigen mit gewisser Courage, weil die sich ihr Recht nehmen. Aber ihr Jouvenceax[5]? Ihr tut geradezu, als seid ihr immer engagiert, als seid ihr immer in brass[6]. Nichts seid ihr, und wenn ihr viel arbeitet, glaubt nicht, dass ihr mehr arbeiten würdet als wir Alten. Glaubt mal nicht, dass euer Los leichter ist. Dass euch Hunger mehr belastet? Ihr seid in dem Alter, in dem unsere Söhne und Töchter sind, die wir erst gegen Preußen und nun für eure Revolutionen verlieren. Ihr bereitet uns einfach mehr Kummer, als ihr uns Stolz bereitet. Burschen seid ihr. Macht Sinniges mit eurer Zeit, aber hört auf euer Leben und unsere für dumme Ideen zu vergeuden." Sébastiens bester Freund war einen Moment überrumpelt und der Alte mit seiner fisteligen und doch entschlossenen Stimme, begann ihn einfach zur Seite zu schieben. Doch François hörte, wie viele junge Männer und auch einige Frauen, Mädchen zu tuscheln begannen und der alte Mann ihn jetzt wohl zu ignorieren gedachte. Sébastien, Paul und Carl konnten von ihren Positionen gut sehen, wie die Zornesröte ins Gesicht stieg und Sébastien wusste, dass sein Freund, sein Bruder im Geiste so impulsiv war, wie er selbst[7]. Sébastien spürte auch, wie es ihn zu übermannen drohte[8].

Ein Ruck ging durch die umstehenden Menschen. Die Aggressivität und die Unsicherheit der letzten Tage war wieder zu spüren. Was auch immer hier gesah, es entstanden Funken. Und das, obwohl ein kühler Wind über den Place Blanche wehte. Die Luft roch nach sich anbahnenden Regen. Ein paar junge Menschen fingen im Hintergrund an zu pöbeln. Sie riefen die so häufig fallenden Schlagworte, als könnte man sich und sein Gewissen an ihnen festketten. Ein paar ältere Männer stellten sich zusammen und näherten sich dem Alten, der François verbal angegriffen hatte. Dieser Konflikt war zu einem gewissen Teil auch einen Generationenkonflikt. Und schon wieder bahnte sich Gewalt an. Als wäre Paris gar nicht im Griff der Preußen, oder im Griff von Republikaner oder im Griff von Revolutionären. Es war so als habe die Gewalt die Willkür geheiratet und zusammen verunsicherten sie nun die Straßen dieser so geliebten, dieser so gehassten Stadt: Paris.
 1. Hannoverscher Schweißhund (http://de.wikipedia.org/wiki/Hannoverscher_Schweißhund)
 2. Boulevard de Clichy (http://en.wikipedia.org/wiki/Boulevard_de_Clichy)
 3. Bedeutet so viel wie: Verdammte Scheiße!
 4. Le Temps (http://en.wikipedia.org/wiki/Le_Temps_(Paris))
 5. Jünglinge
 6. In brass sein bedeutet sowas wie: In Arbeit versinken, im Stress sein.
 7. Gespür (+3), um zu wissen, wie François reagieren wird. Samuel bekommt +2 auf den Wurf, da er François so gut kennt.
 8. Ich spiele deinen Aspekt Meine Faust, mein Freund an. Entweder musst du jetzt dementsprechend handeln und bekommst dafür einen Schicksalspunkt (weil es dir deutlich ein Nachteil in der Szene sein kann) oder du zahlst einen Schicksalspunkt und darfst frei handeln.
avatar Sébastien Moreau 05.Dec.2013 10:12
François schien mehr als zufrieden mit Sébastiens Antwort zu sein und erleichtert, dass diese so ausgefallen war wie sie ausgefallen war, zudem. Der Tatendrang seines besten Freundes war ansteckend und regte dazu an, sich auszumalen, wie sie gefeiert werden würden, die tapferen Leute, die Louis befreit haben würden. Diese Aktion würde ihrer Revolution den nötigen Halt geben – ein Fundament legen für alles Weitere, das kommen mochte. Selbstverständlich sagte Sébastien zu, heute Abend zum genannten Zeitpunkt am genannten Treffpunkt zu sein. Er freute sich schon darauf, das Ehepaar Lavalle kennenzulernen, und auch die anderen, die François erwähnt hatte.

Doch der sich aus der Menge lösende Alte störte die wiedergewonnene Freude und François‘ Entspannung, die sich soeben erst eingestellt hatte. Aber nicht nur er, sondern auch Sébastien sah mit aufkommender Wut mit an, wie runzlige Narr mit dem Aushang umsprang – dem Grund, warum die Arbeiterschaft der Stadt Paris feierte: es würde Wahlen geben. War allein die Misshandlung dieses bedeutsamen Fetzen Papiers schon eine grobe Beleidigung ihrer Sache, war das Gefluche, das Gemecker und der Spott des alten Mannes der Unverschämtheit die Krone auf. Dass François sich in seiner Ehre offenbar ausreichend verletzt fühlte, dass ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg, war für Sébastien wenig verwunderlich. François fühlte sich gedemütigt und der vom letzten Kampf noch gezeichnete, junge Arbeiter mochte es gar nicht, vor Menschen gedemütigt zu werden. Sébastien kannte seinen besten Freund gut genug, um sich sehr sicher zu sein, dass dieser gereizt genug war, um kurz davor zu sein, nicht nur dem Alten eine zu verpassen, sondern auch die Tuschler mit Gewalt zum Schweigen zu bringen.

Sein eigener Körper stand ebenfalls unter Anspannung, die Hände hatten sich zu Fäusten geballt, und Hitze brannte auf seinen Wangen. Es fehlte Sébastien nur noch ein kleiner Anlass, um aus der Haut zu fahren – und es war scheinbar kaum zu vermeiden, dass man ihm diesen auch lieferte. Unruhe machte sich breit und Aggressivität lag schwer über der Menge und als Sébastien einige ältere Männer ausmachte, die sich zusammenrotteten und auf sie zukamen, war es um seine ohnehin schon bröckelnde Selbstbeherrschung geschehen. Der sich anbahnenden Bedrohung annehmend, um seiner brodelnden Wut Luft zu machen und François den Rücken freizuhalten – Sébastien wollte seinem Freund den dreisten Alten gern überlassen –, stapfte er schnurstracks auf die offensichtlich Streit Suchenden zu, wobei er einfach jeden wegdrängte, der ihm dabei im Weg stand. Dann schlug unvermittelt zu.[1] Für Diskussionen oder einen Austausch von Beleidigungen war er nicht in der passenden Stimmung. Niemand brauchte von ihm erwarten, dass er es einfach hinnahm, sich beleidigen und bedrohen zu lassen.
Alter schützt vor Torheit nicht.
Und auch nicht vor Sébastiens Zorn.
 1. Ich spiele Meine Faust, mein Freund aus. Der Wurf hierzu folgt.
avatar Carl von Lütjenburg 06.Dec.2013 12:12
Carl stand im kalten Regen auf dem Place Blanche und sah versonnen über die Köpfe der Menschenmassen hinweg in die Ferne. Für den Beobachter wirkte er wohl wie jemand der, dem Strom der Menschen auf den Platz gefolgt war und nun von der veränderten Situation immer noch etwas überfordert war, doch tatsächlich hatte Carl die Situation recht schnell erfasst und plante sein weiteres Vorgehen.

In den letzten Tagen hatte er -  in Ermangelung einer guten Spur - Paris weiter erkundet, sich mit dem Gelände vertraut gemacht und versucht Anhaltspunkte zu finden, die ihm bei seinem Auftrag weiterhelfen würden. Doch dieser Moloch von Stadt war noch unübersichtlicher als Carl ohnehin schon erwartet hatte, woraus resultierte, dass er sich wohl nicht mehr in der Stadt verlaufen würde, aber eine wirkliche Kenntnis seines Einsatzortes konnte er noch nicht sein Eigen nennen. Die Suche nach Hinweisen verlief nicht zuletzt deshalb, aber auch aus dem Grund, dass er kaum über nennenswerte Kontakte in der Pariser Bevölkerung verfügte, sehr schlecht. Also kehrte er häufig zum Stab zurück um sich dort mit Informationen zu versorgen, was allerdings nicht mehr als ein Notnagel darstellte. Schließlich wurde er in die Stadt geschickt um herauszufinden, was die Armee nicht ohne Weiteres in Erfahrung bringen konnte. Doch gänzlich unnütz war es sicherlich nicht. Unter anderem hatte Carl erfahren, dass der Sohn General Lecomtes in der Stadt war, wenn er diesen aufspüren konnte, würde er so vielleicht Zugang zu in der Stadt verbliebenen Republikanern erhalten.
Nach seinen Informationen war es nicht gesagt, dass die Sozialisten die Wahl schon gewonnen hatten und es schien noch viele unentschlossene zu geben. Also konnte jede Veränderung der Situation die Wahl signifikant beeinflussen. Zum Einen war dies ein Grund zur Hoffnung für Carls Arbeit und ebenfalls eine Gelegenheit für ihn, auf der anderen Seite brachte es ihn vor ein Dilemma. Sollte er versuchen Gefahren abzuwenden, die die Wahl für Thiers und damit Preußen ungünstig beeinflussen würden, oder sollte er seine Zeit darauf verwenden seinerseits Impulse zu initiieren?

Alle Gefahren abwenden zu wollen war ein unmögliches Unternehmen, dass war Carl klar. Genauso offensichtlich war es, dass man immer im Vorteil war, wenn man selbst agieren konnte und nicht darauf beschränkte auf sich entwickelnde Situation reagieren zu wollen. Dennoch wurde er zunächst dazu gezwungen zu reagieren anstatt selbst zu handeln:

Selbstverständlich hatte er Sébastien und François in seiner Nähe bemerkt und konnte einen großen Teil ihres Gesprächs mithören. Bisher waren die beiden, seine einzige Verbindung zu den Arbeitern und Sozialisten, allein deshalb hatte er sich entschlossen ein Auge auf sie zu haben. Die beiden wollten eine Geisel nehmen, um einen der Ihren frei zu pressen, soviel hatte er verstanden, aber die Menge war zu laut, als das Carl die Namen der Personen erhaschen konnte. Allerdings hörte er einen Namen, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ: Lavalle!

Die Lavalles waren ein Paar von Mördern und Söldnern, mit denen er sich im Vorfeld des Krieges gegen die Dänen herumschlagen hatte müssen. Dabei hatten sie einen Studienfreund Carls sowie mehrere Soldaten und einen weiteren Studenten erschossen und einen schwedischen Geschäftsmann und einen holsteinischen Adligen zu erpressen versucht. Zwar konnte der Schaden, den diese Kriminellen damals verursacht hatten in gewissen Grenzen gehalten werden, doch waren sie weitgehend unversehrt davongekommen. Kurzum: Carl hatte mit den beiden noch eine Rechnung offen. Allerdings war er klug genug ihnen nicht - wie er es damals versucht hatte - schnurstracks entgegen zulaufen. Er brauchte dringend Verbündete in dieser Stadt, das war ihm nun endgültig klar. Die Lavalles würden ihn sicherlich wiedererkennen, also würde es von nun an deutlich gefährlicher für ihn sich in der Gegenwart von Sébastien und François aufzuhalten und es schien ihm nicht mehr ratsam, sich den Arbeiten zum Schein anzuschließen, um mehr über ihre Pläne zu erfahren. Damit blieb ihm im Augenblick eigentlich nur Paul Zeidler. Der Alte hatte deutlich gemacht, dass er mit der Deutschen Sache nichts mehr gemein hatte, aber dennoch hatten er und Carl ähnliche Motive. Sie beide versuchten dem Blutzoll, den die Revolution unweigerlich fordern würde, entgegenzutreten.

In diesem Augenblick erkannte Carl, dass sich die beiden Arbeiter offensichtlich dazu bereit machten einen Mann anzugreifen, der zuvor heftig mit ihnen diskutiert hatte. Der Mann war alt und wohl nicht einmal eine Herausforderung für auch nur einen der beiden jungen Franzosen, doch bauten sie sich beide vor dem Alten auf, wutschnaubend und mit roten Gesichtern.
Verärgert schüttelte Carl den Kopf. Kannte dieses kulturlose Pack denn keine Grenzen? Ehe er sich versah, hatte er sich einen Weg durch die Menschen gebahnt, die zwischen ihm und den Streitenden standen. Doch er schaffte es nicht rechtzeitig zu den Arbeitern zu gelangen. Sébastien hielt seinem Freund den Rücken frei und war seinerseits zum Angriff gegen Umstehende übergegangen, die dem Alten beigepflichtet hatten. Hastig bemühte sich dr preußische Offizier zwischen die beiden Arbeiter und den Alten zu gelangen, vor den er sich schützend postierte.
 "Das ist das Gesicht Ihrer Revolution? Einschüchterung der Alten, die schon so viel für dieses Land gegeben haben und Prügel für jene die anderer Meinung sind? Sie klagen die Unterdrückung an, die Ihnen zu Teil wird und üben sich zugleich selbst als Tyrann..." Carl machte keine Anstalten seinerseits zu kämpfen oder handgreiflich zu werden, seine Körpersprache machte jedoch klar, dass er weitere Handgreiflichkeiten nicht zulassen würde.
avatar Paul Zeidler 11.Dec.2013 09:12
Paul war erschüttert, als er mit ansehen musste, wie der junge François den Alten bedrohte und auch Sébastien schon drauf und dran war, eine Schlägerei zu entfachen. "Himmel, wenn er schon keine Ehrfurcht vor Gott und dem Himmlischen Gericht hat, dann doch wenigstens vor den irdenen Vertretern oder den Alten. Ich sage, dieser Mann ist verdorben von Jugend an und fern von allem was gut und heilig ist. Diesen vergisst Gott schon...", entfuhr es Paul. Schnell trat er neben von Lütjenburg und den Alten. "François! Sébastien! Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Sie irren und machen sich schuldig!"
avatar Menthir 12.Dec.2013 12:12
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:12 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Ein ausgetrockneter Sommerforst brauchte manchmal nur einen zufälligen Funken, um sich zu entzünden. Manche Bauernhäuser brannten samt ihrer Ställe lichterloh, weil ein an sich erfahrener oder ein zu unerfahrener Landwirt zu wenig Geduld hatte und das Heu zu feucht und zu früh einbrachte, einlagerte und es sich einfach selbst entzündete[1]. Und so war es wohl auch mit menschlichen Ideen in ihrem Spannungsverhältnis mit der Realität. Wenn die Idee spät geäußert wurde, vielleicht zu spät, reichte manchmal nur ein Funke, um eine Gesellschaft zu entzünden und die Flammen als Gleichnis für die Gewalt, welche durch die Gesellschaft brandete, zu sehen. Wenn sie jedoch zu früh eingebracht wurden, mochten sie wirkungslos sein oder scheinen, und dann eine Kette von Ereignissen hervorbringen, welche zu einer gesellschaftlichen Selbstentzündung führte. War Paris ein trockener Wald oder feuchtes Heu?

Sébastien holte aus und spürte wie im umgebenden Gedränge sein Schlag, obwohl der Erfahrung entspringend, durch einen Schubser etwas an Kraft verlor und seinem Gegenüber eine Parade ermöglichte. Sein Kontrahent, den er sich ausgeguckt hatte, war ein hagerer Mann mit dreckiger Haut und den ansetzenden grauen, strähnigen Haaren als Erkennungsmerkmal verblassender Jugend. Dieser war dem alten Mann sofort zu Hilfe geeilt und Sébastien sah an der unregelmäßig kantigen Nase und die Schwielen auf den Fingerknöcheln des Mannes, dass er seine Probleme in solchen Situationen ähnlich wie Sébastien löste. Es war sicher eine gute Entscheidung, ihm so zuvorzukommen. François hatte das Gedränge verursacht. Sofort als Sébastien den aufrückenden Störenfrieden entgegenpreschte, entlud sich all der Frust, der sich in dem jungen Mann aufgestaut hatte. Ein Schlag schnellte empor, ein Schrei des alten Mannes war zu hören, als ihm die Faust auf die Nase raste und das Blut schnell zu strömen begann. Die jungen, pöbelnden Männer, welche sich Sébastien und François angehörig fühlten, drängten schnell nach vorne und Sébastien spürte das Gedränge in seinem Rücken. Von vorne drängten jene älteren Herren, aber auch einige junge Männer hervor, und versuchten gewaltsam, ebenso drängend wie dringend, zu dem alten Mann zu gelangen, der es wagte, sich mit dem Blanquisten anzulegen. Irgendjemand stieß Sébastien den Arm in die Hüfte, er verzog den Schlag leicht. Sein Kontrahent blockte mit dem rechten Unterarm, Sébastien hatte mit einiger Kraft getroffen. Der Mann würde es am nächsten Tag spüren, doch es war eben nicht das ansonsten ungeschützte Kinn. Ein Treffer, der den Mann sicher schnell zu Boden geschickt hätte.

Mehr Gedränge kam auf, Unbeteiligte warfen sich dazwischen, Schläge wurden ausgetauscht. Ein paar Fäuste flogen, aber eben Unbeteiligte warfen sich dazwischen, hielten Männer und Jungen und auch zwei Frauen, an den Armen, an den Hüften, stellten sich davor, versuchten die Schläge abzuhalten. Manche von ihnen aßen ein, zwei Schläge. Sébastien erkannte, wie auch Paul Zeidler und dieser Charles Lutjenbourg sich dazwischen drängten und zwar direkt vor ihn. Der hagere Mann erkannte die Öffnung innerhalb von Sébastiens Deckung und versuchte zuzuschlagen. Auch er wurde vom Gedränge und von Carl von Lütjenburg, der sich dazwischenschob, etwas abgelenkt[2].

Als Carl und Paul und andere an sich Unbeteiligte sich dazwischenschoben, um ihre Männer, Freunde und Kinder von Torheiten abzuhalten, hielten die um sich geworfenen Fäuste für einen Moment inne. Kurz brachte man ein wenig Luft zwischen die Streithähne, sah, dass es insgesamt um die dreißig Rangelnde sein mussten, während Schimpfworte, komplexe Beleidigungen und Schmerzlaute an die Luft gepresst wurden. Paul konnte sehen, wie der alte Mann, der von François geschlagen wurde, an der Nase blutete. Doch der Schlag hatte ihm die Nase immerhin auf den ersten Blick nicht gebrochen. Ein Blanquist, der neben François stand, lachte über den Alten, wie er von zwei Männern gestützt vor Schmerzen wimmerte. "Das hast du davon, du altes Republikanerschwein!", trotzte dieser junge Blanquist, ein blondhaariger, weichbackiger Junge von vielleicht sechszehn Lenzen. Und sofort spürten Carl und Paul in ihrem Rücken Gedränge. Jetzt waren es die Männer in ihrem Rücken, die sich herausgefordert fühlten. Carl spürte ein besonders kräftiges Drücken in seinem Rücken, welches nicht von einem menschlichen Körper stammte. Es nötigte ihn, sich umzusehen.

Hinter ihm stand ein Mann von stattlichen Maßen, vielleicht um die sechs Fuß hoch und was ihn von der Menge unterschied, war seine kräftige Gestalt und seine volle Wangen, die ihn als jemanden ausmachten, der keinen Hunger gelitten hatte die letzten Monate. Sie glühten rot vor Kälte und Anspannung. Er hatte saubere, junge und doch schon erwachsene Züge, eine straffe Haltung wie ein Offizier, nicht wie ein armer Mann oder Arbeiter. Was Carl in seinem Rücken spürte war eine improvisierte Waffe. Es mochte ein Tischbein oder etwas ähnliches sein. Es sah an einem Teil gesplittert aus, wahrscheinlich dort, wo es aus dem Tisch oder dem passenden Gegenstand gerissen wurde. Es war aufwendig gedrechselt und aus teurem, dunklen, lackierten Holz hergestellt. Seine Stimme passte nicht zu seiner kräftigen Erscheinung. Sie war fistelig und jung, dennoch erzürnt. "DIR WERDE ICH MANIEREN ZEIGEN! EIN ALTEN MANN ANGREIFEN! KOMM HER!", brüllte er François entgegen und reckte drohend das gesplitterte Tischbein, welches er vielleicht aus einer der Barrikaden in der Nähe gefischt hatte.

Die Situation drohte jede Sekunde zu eskalieren. Eine Schlägerei stand unmittelbar bevor und sie würde das Klima am Montmatre auf Dauer trüben können, doch das hielt die Leute nicht davon ab, wieder mit dem Drängen und Schubsen zu beginnen. Carl und Paul schienen in einem Mahlstrom[3] aus Gewalt gefangen, als sich die Reihen der sich Schubsenden um sie schloss...
 1. Heuselbstentzündung (http://de.wikipedia.org/wiki/Heuselbstentzündung)
 2. Wegen des Gedränges gibt es auf Verteidigungswürfe, die sich auf Ausweichen beziehen, einen Malus von -1, derselbe Malus gilt für Angriffe. - Wegen der Infos bezügliches des Angriffes gegen dich, Sébastien, siehe OOC.
 3. Mahlstrom (http://de.wikipedia.org/wiki/Moskenstraumen)
avatar Sébastien Moreau 16.Dec.2013 12:12
Sébastien schaffte es im Gedränge mit Mühe, die sich nähernde Faust seines Gegners mit dem linken Arm aus der Bahn zu lenken. Der Grund dafür, dass der Platz plötzlich so knapp wurde, wurde Sébastien schnell klar: er erkannte Charles Lutjenbourg, der sich zwischen ihn und den älteren Mann mit der kampfgebeutelten Nase schob, wieder. Sébastien ließ sich davon tatsächlich unterbrechen, auch wenn er die Fäuste nicht sinken ließ, um seine Deckung nicht einzubüßen. Wütend durchbohrte er seinen Gegner über Charles‘ Schulter hinweg mit einem streitlustigen, herausfordernden Blick.

„Verfolgen Sie uns etwa?“, schnaufte er kurz angebunden, ohne den fremden Mann aus den Augen zu lassen, als sich auch noch Paul Zeidler zu Charles gesellte, und versuchte dabei, mit seiner Stimme gegen den Lärm um sich herum anzukämpfen. Sébastien hatte wenig Geduld für solcherlei Spielchen übrig. Sein Blut kochte und er hatte bereits vom süßen Adrenalinrausch gekostet, den eine Schlägerei immer mit sich brachte. Er hätte gut Lust dazu, Charles einfach zur Seite zu drängen, auch wenn dies vielleicht bedeuten würde, auch gegen ihn antreten zu müssen.
„Die spucken auf unsere Revolution!“, wies er Charles‘ die Anschuldigungen aufgebracht zurück, denn dies hatte der vorlaute Alte buchstäblich getan, nachdem er auf der abgerissenen Wahlankündigung herumgetrampelt hatte. Aber nicht weniger war auch Paul Zeidler damit angesprochen. Jemandem mit einem kräftigen Schlag zur Vernunft zu bringen, um Demütigungen aus der Welt zu schaffen, war kein Akt der Tyrannei oder ein Fehler. Es war das gute Recht eines jeden Mannes, der sich beleidigt fühlte – wenn man Sébastien fragte. François hatte sich diesen Recht genommen und er selbst war einem Angriff vorbeugend zu vorgekommen, in dem er sich einem aggressiv wirkenden Neuankömmling gewidmet hatte, von dem eine Bedrohung zu erwarten gewesen war. Charles‘ und Pauls Ignoranz ließ Sébastien mit den Zähnen knirschen.
„Wir haben uns lang genug bevormunden las..!“ Der Rest ging in dem erbärmlich fisteligen Gepolter unter, das ein junger, gut genährter Hüne von sich gab, der François Strafe mit einem improvisierten Prügel – einem Tischbein offenbar – androhte.

Sébastien ließ sich dadurch vom aktuellen aufgezwungenen Gespräch ablenken:
„NIMM DEINE FÄUSTE UND KÄMPF WIE EIN MANN, DU FEIGER SAFTSACK!“, brüllte er mit noch immer erhobenen Fäusten gereizt zurück, entschlossen, seinen besten Freund zu verteidigen, und machte eine unflätige Geste, um die herausfordernde Beleidigung zu unterstreichen.
„Oder hast du keine Ehre im Leib?“, höhnte er. Von so einem verwöhnten Jüngling ließ Sébastien sich nicht einschüchtern.
avatar Paul Zeidler 21.Dec.2013 01:12
Paul kam ins Gedränge der Masse. Sofort machte sich in ihm ein Gefühl von Beklommenheit breit, die allzu bald in Panik umschlagen würde, wenn ihm alle Bewegungsfreie genommen war. Paul blickte nach vorne und nach hinten. Er konnte nun versuchen, sich den Weg aus der Menge zu bahnen. Oder er nahm seine Pflicht wahr und drang zu Sébastien durch.

Paul atmete tief durch und entschied sich für letzteres. Er schob die beiden Männer vor sich beiseite und drückte seinen Körper nach vorne, bis er nahe bei Sébastien stand. So laut, dass es die anderen auch hören konnten, rief er: "Sébastien, Sébastien, es ist richtig, dass man sie bedrückt hat und dass man sie ausgebeutet und gedemütigt hat. Das ist böse und schlimm zu ertragen und ich wollte, dass wir diese Zustände ändern werden. Aber doch nicht mit Zorn in unseren Sinnen und Vergeltungssucht in unseren Fäusten. Lassen wir doch nicht zu, dass so viel Blut an unseren Händen klebt und dass wir unser gerechtes Anliegen beschämen. Sébastien, kann ich noch zu ihnen durchdringen? Wo sind sie? Wo ist der gute Mensch in Ihnen verborgen? Haben Sie nicht Frau und Familie zu Hause, für die sie sorgen müssen und die sie lieben? Soll ihre Frau erfahren, zu welchen Taten sich ihr Mann hat hinreißen lassen? Sollen Ihre Kinder ohne Vater aufwachsen? Sie stürzen sich ins Unglück, Sébastien, und mit sich ziehen sie alle, die sie lieben!"

Paul atmete schwer, als er dies alles gesagt hatte und blickte sorgenvoll Sébastien an. Wenn seine Mahnung nicht funktionieren würde, was würde er dann machen? Dann ginge wohl die Schlägerei zwischen den beiden los und vielleicht würde die Situation auf dem Platz eskalieren. Und was würde er tun? Würde er sich zwischen die beiden werfen? Sébastien könnte stattdessen auf ihn einschlagen. Wenn er dann aufhören würde zu schlagen, dann wäre es das vielleicht wert, aber warum sollte er aufhören zu schlagen, nachdem Paul schon am Boden lag und alle über ihn treten würden? Das Blut pulsierte in Pauls Ohren.
avatar Carl von Lütjenburg 22.Dec.2013 12:12
Carl schaute leicht verdutzt, als die zierliche Gestalt Paul Zeidlers neben ihm auftauchte und der alte Mann mit fester Stimme zu sprechen begann. Soviel Mut hatte er dem Prediger vielleicht doch nicht zugetraut. Andererseits war Zeidler schließlich immernoch ein Deutscher und eben kein Franzose. Der Alte glaubte an seine Worte und Carl hoffte aufrichtig, dass er Sébastien und auch die anderen Streithähne wachrütteln konnte. Er konnte sich spontan kein Szenario vorstellen in dem es auch nur entfernt hilfreich sein könnte, wenn hier und jetzt eine Schlägerei zwischen Republikanern und Blanquisten ausbrach. Eine Unruhe die hier ausbrach würde vielleicht die Gemüter in der Stadt entzünden und zu einem nicht mehr zu kontrollierenden Aufstand führen - eine deutlich schlechtere Alternative zu einer freien Wahl.

Die Menge schien für einen Moment innezuhalten allein durch die Tatsache, dass Paul Zeidler mehr als einen einzigen Satz in hörbarer Lautstärke in ihrer Mitte erschallen ließ. Carl nutzte den Augenblick und schob  ein paar Franzosen von sich und Paul weg[1]. Zum Einen um Paul mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, zum Anderen aber auch, falls Paul und Carl den beginnenden Aufruhr nicht aufhalten können sollten. Selbst wenn es nur ein oder zwei Schritte sein sollten, mit etwas Anlauf würde es leichter sein sich und Paul aus der Menge zu retten. Carl fokussierte Sébastien, verschaffte sich aber aus den Augenwinkeln auch einen Eindruck von den Umstehenden und erwartete die Reaktion auf Pauls Worte. "Bleiben Sie bei mir, sollte es schief gehen.", flüsterte er Paul leise auf deutsch zu.
 1. Gewalt +1 (Durchschnitt)
avatar Menthir 09.Jan.2014 11:01
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:13 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Nicht einen einzigen Meter wichen sie. Carl konnte drücken und schieben, ziehen und zerren, sie wollten einfach nicht weichen und wenn er es schaffte, einzelne Glieder aus dem Weg zu bringen, ganze Personen aus dem Gleichgewicht zu hebeln, die Masse hielt sie fest, drückte sie zurück. Paul und Carl waren zwischen zwei Wellenberge unterschiedlicher Couleur[1] geraten. Eine gefährliche Situation, schließlich waren sie die Brandungspfeiler, welche zwischen - zumindest einem Teil - dieser Wellenberge standen und von beiden Seiten so gefährdet waren, dass sowohl die Blanquisten und jene, welche von den Blanquisten als Republikanerschweine bezeichnet wurden, sie zerdrücken konnten. Würde jemand in einer Spirale von Gewalt, in einem Hagel von Tritten, Bissen und Schlägen anerkennen, dass die beiden Deutschen, die dort zwischen den Fronten standen, eigentlich - zumindest für diesen Konflikt - einen neutralen Standpunkt einnahmen?
Wenn noch unter diesem Männern ein beobachtender Republikaner mit ausreichender Bildung oder mit einem Auge für die Zeit und genügend Information war, ihm wäre diese Ironie der Geschichte offenbar geworden. Waren es vor noch zwei Monaten die Deutschen, welche die vielen Kommunisten, Republikaner, Liberalisten, Sozialisten und politisch Uninteressierten in Paris belagerten und ihnen die Luft zum Atmen nahmen, waren es jetzt diese so unterschiedlich denkenden Männer, welche alle mit der Trikolore[2] argumentierten, welche zwei Deutsche mit ihrer Art und mit der Drohung von Gewalt belagerten und ihnen die Luft zum Atmen nahmen...

Sébastiens Worte hatten einen gewissen Effekt auf den Mann mit der stolzen Haltung. Nicht, dass sie ihn einhalten ließen, doch verschob sich scheinbar das Ziel des hünenhaften, wohl genährten, jungen Mannes. Er ließ nicht an seine Ehre appellieren und wild spuckte er aus und schob ein paar nachdrängelnde, ebenfalls junge Männer wieder nach hinten. Er zeigte mit dem Tischbein auf den jungen Sébastien. "Ein kommunistischer Hurenbock appelliert an die Ehre eines Franzosen? Dass ich nicht lache!", spottete er mit seiner Fistelstimme, die nicht zum Spotte gemacht schien und die ihm dennoch aus Zorn dazu gereichen musste. "Euer Wahnsinn hat mir Teile meiner Familie genommen. Dafür werde ich dir ein paar Knochen nehmen!" Wütend drängte er jetzt vorwärts und versuchte Carl und Paul aus dem Weg zu schieben[3]. Ein Unterfangen, was nicht ganz einfach war. Hinter ihm drängten die jungen Männer wieder vor. Carl konnte deutlich erkennen, dass sie alle dieselbe Haltung hatte, wie der junge Mann. Sie waren mit ihren genährten Bäuchen, mit ihrer nicht immer stämmigen, doch dann drahtig-gestählten Art auffällig, auch wenn sie sich wenig glaubhaft in Lumpen und Loden[4] kleideten[5].

Irgendwo in der Ferne ging eine Kirchenglocke. Obwohl es den meisten müßig war, in so einer Situation darüber nachzudenken, welche Kirche es nun sein mochte, kannte Paul die Kirchen seiner Umgebung gut, welcher Konfession sie auch angehörten. Der helle Klang der Glocken stellte dieser neue, keine zehn Jahre alte Kirche heraus. Es war die Notre-Dame de Clignancourt[6], jene Kirche, welche die ungewöhnliche Geschichte zwischen Deutschen und Franzosen, von den einen als Erbfeindschaft[7] bezeichnet, von anderen mit Ungläubigkeit betrachtet, in ein anderes Licht stellte. Joseph Merklin[8], ein Deutscher, der in Paris lebte, hatte die Kirchenorgel gebaut und war zu Beginn des Krieges geflohen, er hatte fliehen müssen, da er weder bei den Radikalen unter den Franzosen noch aufgehoben war, noch unter den Preußen. Paul hatte wahrscheinlich einmal mit ihm gesprochen, kurz bevor er floh. Paul glaubte im Getümmel, im Geschreie, im Glockenklang etwas von der Orgel zu hören, obwohl die Kirche zu weit entfernt war. Die Menschen schubsten sich, sie schrien sich an, sie beleidigten sich und sie erhoben wieder die Fäuste. Die Masse drängte sich weiter zusammen, der Glockenklang ging im wütenden Gebrüll unter, Paul und Carl hatten keinen direkten Fluchtweg mehr, sie waren zwischen den Streitenden eingekesselt, und sie sahen den Alten nicht mehr, der von François geschlagen wurde und jede Sekunde würde die Keilerei beginnen. Es war nur noch Sekunden davon entfernt...
 1. Couleur (http://de.wikipedia.org/wiki/Couleur)
 2. Trikolore (http://de.wikipedia.org/wiki/Französische_Flagge)
 3. Carl darf einen reaktiven Wurf auf Gewalt machen und muss mindestens +0 erreichen, um nicht aus dem Weg geschoben zu werden. Sollte Carl aus dem Weg geschoben werden, könnte Sébastien angreifen oder eben der junge Mann nächsten Beitrag.
 4. Loden (http://de.wikipedia.org/wiki/Loden)
 5. Wurf gegen Gespür +2 für Carl, gegen +3 für alle anderen Charaktere
 6. Notre-Dame de Clignancourt (http://en.wikipedia.org/wiki/Notre-Dame_de_Clignancourt)
 7. Deutsch-französische Erbfeindschaft (http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-französische_Erbfeindschaft)
 8. Joseph Merklin (http://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Merklin)
avatar Sébastien Moreau 12.Jan.2014 12:01
Auch wenn Sébastien Paul nicht antwortete, sondern stattdessen schwieg und Aufwühlung schwer atmete, verriet sein Blick wohl, was er dachte. Die sehr bewusst gewählten Worte des Predigers gingen nicht spurlos an ihm vorbei. Der junge Arbeiter liebte seine Familie und wollte jeglichen Schaden von ihr abwenden. Vielleicht traf ihn Paul Zeidlers mahnende Ansprache deswegen derartig, dass er tatsächlich Scham und leichte Verunsicherung empfand.

Nein, er wünschte nicht, dass seine Joséphine hiervon erfuhr, denn das würde sie nur bekümmern, trotzdem er dies alles nur für sie und die Kleinen tat. Damit war, zugegebenermaßen, nicht die aktuelle Eskalation eines Streits gemeint, sondern vielmehr sein allgemeines Streben nach dem Aufbau einer Grundlage für ein besseres Leben, das ihn erst inmitten diese Menge voller Streitlustiger gebracht hatte. Er war kein schlechter Mensch, zumindest nahm er sich selbst nicht als solchen wahr, und in den Tod stürzen wollte er sich nicht. Paul hatte Recht damit, dass Sébastien seine Familie damit ebenfalls ins Unglück reißen würde. Doch ein besseres Leben in Würde, mit Bildung und ohne Ausbeutung und Hunger, war es, was Sébastien sich für seine Kinder wünschte. Er war bereit, für eine gerechte Sache zu kämpfen, für die er die drei hohen Ziele der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hielt. Dass ein Mann Gottes hingegen Bibelverse und Gewaltlosigkeit vorzog, auch wenn dies eher Stillstand oder Verschlechterung als Fortschritt bedeutete, wunderte Sébastien nicht.

Tatsächlich hegte er aber nicht den Wunsch, Paul oder den sonderbaren Charles zu verletzen. Die Ermahnung des älteren Mannes trug zwar nicht dazu bei, dass er sich beruhigte, denn da sie ihm ein schlechtes Gewissen machte, schürte sie eher Wut, allerdings würde er gegen einen Arzt und Priester, der zudem François‘ zusammengeflickt hatte, keinen Schlag führen, solange er sich nicht dazu gezwungen sah.

Um seinen besten Freund machte sich Sébastien in diesem Gedränge mehr Sorgen als um sich selbst, denn er hatte Vertrauen ihn seine eigenen Fäuste, aber François‘ Schulter und Nase waren noch nicht heil und würden diesen anfällig machen. François war der Grund, warum Sébastien sich nun nicht zurückzog, denn er würde seinem Bruder im Geiste beistehen und ihn nicht der Wut Republikaner überlassen – da mochten Paul Zeidlers Appelle noch so ergreifend sein. Ein kleiner Erfolg war es bereits, dass Sébastien die Aufmerksamkeit des Tischbeinrüpels auf sich gelenkt hatte, wobei weniger erfreulich war, dass dieser seine improvisierte Waffe nicht wegwarf, um sich stattdessen im Faustkampf zu messen.

Sébastiens Antwort auf dessen Provokation und Beleidigungen fiel kurz und deutlich aus: Er spuckte aus und hob die Fäuste kampfbereit in Verteidigungshaltung. Der junge Arbeiter wollte keine Angst zeigen, obwohl er an einer Front zweier aufgebrachter Gruppierungen stand, und der Gegner, der es auf ihn abgesehen hatte, mit dem Tischbein gute Chancen hatte, die Drohung, ihm ein paar Knochen zu nehmen, in die Tat umzusetzen.

„Verschwinden Sie von hier, bevor Sie verletzt werden!“, riet Sébastien Paul, aber auch Charles, hörbar ungehalten, aber ohne seinerseits drohen zu wollen. Beide stellten sich offenbar auf keine Seite, was aber nicht bedeutete, dass sie Unbeteiligte bleiben würden, sobald die Schlägerei ausbrach. Charles versperrte Sébastien den Weg zu dem Kerl mit dem Tischbein genauso, wie er diesem auch im Weg stand, und nur weil Sébastien sich vorbeiprügeln wollte, bedeutete dies nicht, dass das aggressive Großmaul mit der lächerlich dünnen Stimme dies nicht in Erwägung ziehen würde.
avatar Paul Zeidler 12.Jan.2014 07:01
Paul verlor den Blick über die Situation. Alles wurde unübersichtlich. Sein Gesichtsfeld war zunehmend eingeschränkt und das Bild schien sich zu entfärben. Er spürte die Stöße an Schülter und Hüfte kaum noch. Dafür wurde ihm übel. Die Gedanken krochen nur noch langsam durch seinen Kopf. "Was soll ich tun?", fragte er sich, "Was soll ich tun?".

Paul war sich bewusst, dass ihm das Bewusstsein schwand. In der nächsten Minute würde er zusammensinken. "Keine Möglichkeit, hier herauszukommen. Keine Möglichkeit.", sagte er sich. Er fragte sich, warum diese Situation hatte geschehen müssen. "Draußen sind die deutschen Truppen, hier drinnen zermürben sich die Menschen gegenseitig. Taumelbecher[1]Gott, nimm ihn uns wieder aus der Hand. Wer will die Tränen zählen? Ich wurde schon einmal Zeuge eines Wunders. Wende Dich nun nicht von uns ab.".

Paul sammelte sich. Es gab hier keinen Weg heraus - dann nach vorn! Noch einmal tief durchatmen. Und einen Schritt nach vorn.

"GENUG!", schrie der alte Mann und breitete die Arme aus. Er fasste Schultern und Arme und schob diese beiseite, teilte die Menge vor sich, bis er vor dem Hühnen stand. Schwer keuchend sagte er noch: "Genug. Beherrsche Deinen Zorn und lasse Dich... nicht... von ihm beherrschen. Ich bitte Dich... von Herzen, lass... Dich... nicht..."

Dann verließen Paul seine Kräfte. Er sank vorne über. Vor ihm wurde alles schwarz und er hatte die seltsame Sinnestäuschung eines Sogs, der ihn nach unten zog. Er strampelte und schwamm und wurde doch immer mehr nach unten gezogen. Ihm wurde warm, wusste aber nicht, was das bedeutete. Längst hatte er die Orientierung verloren. In alle Richtungen fassten seine Arme, doch nichts gab ihm Halt.
 1. Taumelbecher (http://www-alt.bibelwissenschaft.de/nc/wibilex/das-bibellexikon/details/quelle/WIBI/referenz/32606/cache/af79c8557fb0dab3c06168c13a61e951/#h2): Biblisches Motiv für das göttliche Gericht. Für seinen Hochmut und seine zahlreichen Sünden gibt Gott dem Volk den Taumelbecher zu trinken, woraufhin dieses betäubt wird und wankt. Fremdvölker können daraufhin die Schwäche des Volks nutzen.
avatar Carl von Lütjenburg 14.Jan.2014 12:01
Carls Versuche sich und Paul Platz zu verschaffen waren nur wenig erfolgreich, wo immer er es schaffte einen Franzosen wegzuschieben drängten zwei oder mehr nach. Es war ihm beinahe als kämpfe er wie einst Herakles gegen die Hydra[1]. Schon bald fand Carl sich dicht bedrängt, nur noch mit Mühe konnte er Sebastién und den Riesen vor ihm von einander abhalten und somit die sichere Eskalation noch eine Weile aufschieben. Durch das Gedränge stand er in einer unmöglichen Haltung und konnte gerade genug Kraft aufbringen, um den Status Quo zu wahren, während seine Muskeln langsam aber sicher verkrampften und er vor Anstrengung ächzte.

Das Geschrei und Gejohle drang in seinen Kopf und er glaubte sich fast zurück auf dem Schlachtfeld, den Schreien der Verwundeten und Sterbenden ausgesetzt. Sogar der Geruch der ihn umgebenden, verwahrlosten Menge rief weitere Erinnerungen an die letzten Monate in ihm hervor und Carl war als höre er aus der Entfernung das Grollen der Geschütze herüber hallen. Es war als wäre er wieder dort und fiel mit seinen Männern über die Franzosen her. Beinahe verheißungsvoll wogen nun Revolver und Yatagan[2]-Bajonett unter Carls Mantel.
Doch jetzt waren seine Männer nicht mehr bei ihm, der Letzte ging gerade neben Carl zu Boden, während er noch irgendetwas ausrief."Mach's gut Kamerad..." dachte Carl reflexhaft und tat einen weiteren Toten wie mit einem Schulterzucken ab. Es war vernünftiger sich nicht länger als nötig mit den Tatsachen des Krieges auseinanderzusetzen.

Etwas zog an seiner Kleidung und Carl blickte auf Paul Zeidler herab der gerade neben ihm zu Boden ging. Instinkt und Drill rissen den Major endlich von seiner Halluzination fort und riefen ihn ins Hier und Jetzt zurück. Reflexhaft griff er nach Paul und hievte den Priester - ohne später genau erklären zu können, wie er es vollbringen konnte - auf seine Schultern. Auf diese Weise belastet, konnte er nicht hoffen die Blanquisten und die Republikaner weiter zu trennen. Außerdem musste er Paul hier raus schaffen, vermutlich würde er Hilfe benötigen.
Gehetzt blickte er sich um, suchte einen Ausweg, als schon wieder die feindlichen Soldaten vor ihm auftauchten. Doch dies war kein Traum. Der große Mann mit dem Tischbein und die Männer hinter ihm waren nicht so gekleidet, doch Carl erkannte einen Soldaten, wenn er einen sah. Ihre Körper sahen nicht so ausgezehrt wie die der anderen Umstehenden aus. Sowohl ihre Körperhaltung als auch ihr sonstiges Auftreten verrieten sie als Offiziere.

Konnte es sein, dass der Riese Claude Lecomtes Sohn war? Aber es blieb nicht mehr genug Zeit für ernsthafte Verhandlungen oder Gespräche und außerdem war Carl schon so gut wie auf dem Weg aus der Menge heraus, wenn es denn einen solchen überhaupt geben sollte. Dennoch wollte er zumindest versuchen, den Mann zu überzeugen und sei es nur, um in dessen Gedächtnis zu bleiben, wenn Carl ihn später aufsuchen würde. Er sprach laut genug, dass der Hüne ihn hören konnte, aber leise genug um nicht von mehr Menschen als nötig verstanden zu werden.
"Sollten Sie jetzt kämpfen wird es dem Andenken ihres Vaters nicht gerecht werden und wahrscheinlich werden Sie dann keine weitere Chance dazu erhalten. Ihre Stadt, Ihr Volk und Ihr Land braucht Sie noch!"
Carl wartete nicht auf eine Antwort, lauschte jedoch weiterhin in die Richtung des Mannes als er sich Pauls Körper auf seinen Schultern noch einmal zurecht rückte und sich dann daran machte durch die ihn umkesselnden Franzosen zu brechen.
 1. Die Hydra (http://de.wikipedia.org/wiki/Hydra_(Mythologie))
 2. Yatagan (http://de.wikipedia.org/wiki/Jatagan): In diesem Fall in Bajonettform
avatar Menthir 14.Jan.2014 01:01
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:13 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Die Menge blickte nur zum geringen Teil mit Besorgnis auf die Besinnungslosigkeit, die den viertelbekannten Prediger Paul Zeidler umfing. Dieser Platz war kein Ort des Sermons[1], nicht am heutigen Tag. Dies war nicht Paul Zeidlers Bühne und die wenigsten waren hier gewillt ihm zuzuhören. Die Menschen an diesem Ort lauschten dem aufdringlichen Dröhnen, dem Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Jenes untrügliche Zeichen, dass Gewalt in der Luft lag. Es roch nach Adrenalin, aufdringlich nach dem Schweiße des männlichen Geschlechts, nach alten Lederstiefeln und ein wenig nach Aufregung und Angst. Der Unrat auf den Straßen verbesserte diesen Geruch nicht. Es war der Geruch eines heruntergekommenen Ortes, an dem die Gewalt und nicht mehr die Ordnung regierte. Das öffentliche Leben wollte sich gerade wieder beruhigen, nachdem die Belagerung durch die deutschen beziehungsweise preußischen Truppe endete, doch seit dem 18. März war die Lage wieder zerfahren und angespannt.
Der Monat März war nach dem römischen Kriegsgott Mars[2] benannt und würde man nur diese Tage in Paris betrachten, würde man eine leise Idee davon bekommen, warum dies so war.

Carl spürte, dass es höchste Zeit war, diesen Ort zu verlassen oder zumindest aus der Mitte dieses Schmelztiegels[3] zu entfliehen, in denen zu viele unterschiedliche Metalle vor sich hinschmolzen und da es sowieso ohne sein Zutun brannte, und er als Chemiker wusste, dass es bei Metallbränden[4] nicht sinnig war, Wasser hinzuzugeben, tat er wohl gut daran, den älteren, besinnungslosen Herren aus der Mitte zu zerren. Er warf ihn sich über die Schultern und nur schwerlich konnte er sich seinen Weg zwischen den Männern hindurch bahnen. Er spürte das schlaffe Gewicht des Mannes auf seinen Schultern, und dass ihm in der Hitze des Momentes schnell die Kräfte zur Neige gingen. Doch sein Wille und auch die Einsicht mancher Personen, ermöglichten es ihm, sich aus dem Kreis von Gewaltbereiten zurückzuziehen. Es waren ausgerechnet jene junge Männer, die er als Offiziere zu identifizieren glaubte, welche ihn und Paul ziehen ließen und nach einigem, anfänglichen Gedränge eine kurze, sich schnell wieder schließende Gasse bildeten, durch die Carl Paul in Sicherheit bringen konnte. Doch Carl wurde in Gedanken verfolgt, von dem Blick, den der junge Mann mit dem Tischbein ihm zugeworfen hatte. Ein kurzer Moment des Schrecks, ein kurzer Moment, in dem er sich ertappt fühlte und zeigte, verdrängt von einem eindringlichen Blick aufschäumenden Zornes. Sein Blick streifte Carl nur kurz, weiter reagierte er nicht auf den Preußen und seine Worte, den er sicher nicht als solchen erkannte. Sein Blick richtete sich wieder auf Sébastien. Als müsste er sich selbst Mut zusprechen, sprach er mit seiner unverwechselbaren Bubenstimme. "Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.[5]"

Die Reihen schlossen sich hinter Carl sofort und der Lärm wurde mehr. Die Kontrahenten rückten sich nun immer näher, vorsichtig wagten sie Schritt um Schritt, bereit im nächsten Augenblick wie ein Vulkan auszubrechen. Das Magma war Gewalt, der Druck stieg ins Unermessliche, als der Mann mit dem Tischbein als Waffe sich Sébastien bis auf wenige Zentimeter näherte. Beinahe drohten ihre Nasen sich zu berühren. Es gab kein Entweichen mehr, nicht bei zwei Menschen, die die Gewalt suchten. Der junge Mann hatte einen entschlossenen, zornigen Blick. Er würde nicht weichen. Es war unwahrscheinlich, dass Sébastien wich. Hinter sich spürte der junge Arbeiter, dass François sich ihm näherte, sich zwischen die Leute schob, um neben Sébastien schob. Trotz seiner noch nicht verheilten Wunden wollte er nicht von der Seite seines Freundes weichen, so unvernünftig es auch war. Mit dem Auftauchen der jungen Männer, die Streit mit Sébastien und François suchten, ging es bei weitem nicht mehr nur um politische Auseinandersetzungen. Die Art, wie die jungen Männer sich zwischen die Streitenden geschoben hatten, deutete eine unbekannte, aber doch greifbare persönliche Komponente an. Carl von Lütjenburg hatte sie, seinen Worten nach zu urteilen, auch gespürt. Das war auch für François und Sébastien spätestens seitdem klar. Von welchem Vater mochte die Rede sein? Viel Chance darüber nachzudenken würde es wohl nicht mehr geben.

Und so standen sie sich gegenüber. Carl hatte Paul noch auf dem Arm und konnte nicht genau sehen, was vor sich ging. Die Hüne überragte die meisten Streitenden. Er stand relativ in der Mitte, wo Carl selbst noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte. Außerhalb der Traube von Gewaltbereiten erkannte der preußische Offizier, dass sich einige Schaulustige in ausreichender Entfernung postierten, an mehreren Stellen, vielleicht um die vierzig Zuschauer. Zwischen ihnen war eine Gestalt, die er bereits bei Pére Groues gesehen hatte. Ein Mann mit blondem Schnauzer und einem auffälligen Kalabreser auf dem Haupt. Er strich sich ausgenommen zufrieden über den Bart und betrachtete sich den Streit mit einer seltsamen Genugtuung.

Dann verschwand er zwischen den Menschen und Carls Aufmerksamkeit wurde von einem Schmerzensschrei aus der Traube der Menschen gefordert. Der erste Schlag war ausgeteilt. Jemand hielt sich die blutende Nase, ein Aufschrei. Die Traube ging in Lärm unter, Fäuste flogen, nur im Auge dieses Sturmes blickten sich zwei Männer zornig in die Augen, darauf wartend, wer zuerst zuschlug[6].
 1. Sermon (http://de.wikipedia.org/wiki/Sermon)
 2. Mars (http://de.wikipedia.org/wiki/Mars_(Mythologie))
 3. Diese Metapher findet übrigens ihre Verwendung in der Literatur seit dem französisch-amerikanischen Schriftsteller namens Michel-Guillaume Jean de Crèvecoeur (http://de.wikipedia.org/wiki/Jean_de_Crèvecoeur)
 4. Metallbrand (http://de.wikipedia.org/wiki/Metallbrand)
 5. Bekannt ist dieses Zitat, weil der frisch in den Ruhestand übergetretene Kabarettist Georg Schramm (http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Schramm) ihn gerne nutzt. Er wird in unterschiedlichen Gewichtungen und unterschiedlicher Lesart entweder Thomas von Aquin (http://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_von_Aquin) oder Papst Gregor I (http://de.wikipedia.org/wiki/Gregor_I.). zugesprochen.
 6. Wahrnehmungwurf. Er bestimmt die Reihenfolge der Handelnden. Jeder, der am Konflikt irgendwie teilnehmen möchte, darf einen solchen Wurf machen.
avatar Sébastien Moreau 15.Jan.2014 09:01
Es war Sébastien, der begann. Um sie herum flogen bereits Fäuste und Beschimpfungen und der junge Arbeiter hatte keine Geduld mehr übrig für aufplusternde Worte und böse Blicke. Der Tischbeinhüne provozierte Sébastien, der Kerl suchte offenkundig nach Streit und Schlägen, obwohl er dennoch zögerte, einen Anfang zu machen. Sébastien war der Grund dafür egal, vermutlich hatte dieser lächerliche Trampel einfach ein großes Maul. Sie würden bald herausfinden, ob dieser es berechtigt weit aufriss oder sich in Wahrheit nur hatte aufspielen wollen.

Nun, da dieser Charles und der alten Prediger nicht mehr im Weg waren, stand niemand mehr zwischen ihnen. Es hatte Sébastien überrascht, dass Paul Zeidler auf einmal zusammengesackt war, und er wäre diesem auch zur Hilfe geeilt, um ihn aus der gefährlich aufgewühlten Menge hinauszubringen, wäre Charles ihm nicht zuvorgekommen. Vielleicht wäre es dann ganz anders gekommen. Vielleicht hätte Paul Zeidler schlussendlich und auf nicht freiwillige Art doch noch erreicht, dass Sébastien sich zurückgezogen und vom Sprechen seiner Fäuste abgesehen hätte. Vielleicht hätte Sébastien die Chance genutzt, Charles zu fragen, wer der Hüne war und was es mit dessen Vater auf sich hatte – immerhin schien Charles den Mann mit der dünnen Stimme erkannt zu haben. Doch die Situation hatte ein anderes Ende gefunden.

François an seiner Seite wissend und diesen noch immer beschützend wollend, schlug Sébastien zu.[1]
 1. Nahkampf +3
avatar Menthir 16.Jan.2014 11:01
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:13 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Und so war es Sèbastien, der zuerst die Faust fliegen ließ. Ihre Gesichter, ihre Nasen, trennten sich voneinander, innerhalb dieser einzelnen Bewegung holte Sèbastien flüssig zum Schlage aus, während der junge Mann mit dem Tischbein instinktiv die Arme erhob und sie überkreuzte. Sébastiens Schlag traf auf die den linken Arm, und das mit einiger Kraft, mit der Gewohnheit eines faustrechtlich denkenden Menschen. Der junge Mann wich einen halben Schritt zurück, um die Kraft des Angriffes abzuschwächen und es gelang ihm weitestgehend. Vielleicht würde er ein kleines Hämatom zurückbehalten, aber die Kraft des Angriffes war abgeschwächt und es war nun an ihm, den Angriff zu erwidern. "Haltet mir die anderen vom Hals.", rief er seinen Gefährten zu, welche sich sofort aufmachen wollten, seinem Befehl Folge zu leisten. Die Hackordnung innerhalb dieser kleinen Gruppe war schon zu offenkundig, sodass sie keine einfachen Schläger waren oder zumindest darin gut organisiert.

Doch es waren nur zwei seiner Begleiter, welche versuchten, die sich nähernden Menschen aus dem Weg ihres Rädelsführer und in den Weg Sébastien Moreaus zu schubsen. Doch sowohl die älteren Männer, welche sich den jüngeren Blanquisten stellten, als auch jene selbst sahen sich nicht veranlasst auch nur einen Schritt zu weichen und dem Mann mit dem Tischbein Platz zu machen. Ganz im Gegenteil. Sébastien nahm am Rande war, wie mehrere Männern ihn anbrüllten und einer gar versuchte, ihm das Tischbein aus der Hand zu reißen. "Haltet sie mir fern!", rief er jetzt noch lauter, doch es half nichts. Wütend versuchte er den Mann abzuschütteln, während sein verbliebener Mitstreiter nur mühsam unter dem Schlag François wegtauchte und dennoch am Übergang von Nacken zur Schulter getroffen wurde[1]. Der junge Mann mit seinen blonden Haaren und der sonst so geraden Haltung, zuckte heftig zusammen und krümmte sich etwas vor Schmerz, nur um selbst verbissen zum Schlag anzusetzen statt seinem Anführer zu helfen, Sébastien in Schach zu halten. Ein einfacher, geschwungener Faustschlag, den der Mann in seinem Schreck, in seinem Schmerz nicht wirklich zielte, und das obwohl François' Nase und das diese umgebende Hämatom gerade zielscheibenartig im Zwielicht des nassen Morgens leuchteten. Es war ein leichtes für den besten Freund Sébastiens, diesen Schlag zu blocken.

Endlich riss sich der Mann mit dem Tischbein von diesem in der Menge verschwundenen Arm, der ihn das Barrikadengut entwinden wollte, los. Er holte seitwärts aus und schlug zu. Wieder kam der Arm, der zu einem älteren Herren in einfachem, abgetragenen schwarzen Anzug, der wohl denen angehörte, die vorher Republikanerschweine geschimpft wurden, gehörte, hervor und riss am Arm, nicht wirkungsvoll, aber so ausreichend, dass ein Zielen unmöglich und der junge, zornige Mann einfach aufgrund seiner Kraft weiter am Tischbein riss und es in Moreaus Richtung presste[2].
 1. Das reicht für die erste Konsequenz bei dem jungen Aufwiegler. Ich bestimme eine Schlüsselbeinprellung. Siehe Télégramme (http://games.dnd-gate.de/index.php/topic,7952.msg892411.html#msg892411) künftig für solche Details.
 2. Ausweichen gegen +0 bitte. Ergebnis wieder selbst beschreiben. :)
avatar Sébastien Moreau 18.Jan.2014 08:01
Sébastien gelang es mit Leichtigkeit, dem Tischbein auszuweichen, das der Hüne ihm entgegenstieß, indem er, begleitet von einem kleinen Schritt nach hinten, seinen Oberkörper zur Seite drehte. Das Gedränge schränkte seine Bewegungsfreiheit erheblich ein, dennoch war die Menge auf François' und seiner Seite. Sie versuchten, dem Hünen das Tischbein zu entreißen.

Feige, nichts anderes war dieser zu groß gewachsene Kerl, der mit Waffengewalt gegen bloße Hände antrat, jedoch ließ sich Sébastien davon und von dessen Leibwächtern nicht einschüchtern. Besonders das Tischbein lieferte ihm in diesem Moment eher einen Vorteil. Er selbst sah davon ab, zu versuchen, seinen Gegner entwaffnen, denn solange der Hüne seinen improvisierten Knüppel umklammerte, würde er damit beschäftigt sein, gegen die Menge anzukämpfen, die ihn ihm entreißen wollte, anstatt seine weniger sperrigen Fäuste zu verwenden.

Erst wenige Tage waren seit Sébastiens letzten Schlägerei vergangen, die ebenfalls hier auf dem Place Blanche stattgefunden hatte, und wieder waren sein bester Freund und er mitten im Getümmel. Es versprach, spannend zu werden. Das Ende dieser Auseinandersetzung war jedenfalls noch ungewiss, standen sie doch einer Überzahl an Gegnern gegenüber und waren umzingelt von vielen Leuten, die sich jederzeit einmischen konnten – aus freien Stücken oder unfreiwillig. Bisher schlug François sich nicht schlecht, wie Sébastien nebenbei registrierte.

Er war noch immer wütend, jedoch durchflutete ihn nun auch der Rausch des Kampfes. Süßes Adrenalin brachte das Blut in seinen Adern zum Kochen und er fühlte sich lebendig. Es war Freiheit, die er spürte, Freiheit und Kameradschaft. Zusammen würden sein Bruder im Geiste und er sich behaupten können. Sébastien gab sich diesem Rausch hin. Sein erster Schlag mochte abgeblockt worden sein, doch der Kampf hatte erst begonnen und das Glück war mit den Tapferen. Sein Hochgefühl machte den jungen Arbeiter siegessicher. Gefüttert davon, fiel sein nächster Fausthieb schneller und stärker als der erste aus.
avatar Menthir 21.Jan.2014 07:01
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:14 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Das eilige Gedränge wurde unübersichtlicher, je mehr Sekunden nicht nur rasend, sondern auch in Raserei vergingen. Sébastien spürte ein Gedränge, ein Geschubse, irgendwo im Rücken streifte ihn, schmerzlos, ein Ellenbogen, der sich seinen Weg in das Gesicht eines Widersachers bahnte. Ellbogenschläge waren, so sie gemeistert wurden, ein hervorragendes Mittel, um mit wenig Aufwand Blutungen und Narben im Gesicht des Widersachers zu hinterlassen. Ein solcher Schlag, wenn nicht gerade mit der Spitze des Ellenbogens ausgeführt, war häufig mehr auf moralischen Effekt denn auch den entscheidenden Schlag ausgelegt, wenngleich er auch als solcher geführt werden konnte.
Die Schlachtlinien, wenn man zu diesen Übertreibungen neigte, waren nicht mehr so klar zu erkennen. Sébastien wähnte Verbündete neben sich, aber nun auch vor sich, während Feinde sich dazwischen drängten, nicht anders als hätte man ein Gefäß, in dem Öl und Wasser übereinander lagen, für einen Moment heftig geschüttelt, sodass es merkwürdig durcheinander und doch nicht zusammengehörig aussah. Einer der jungen Männer, der dem Mann mit dem Tischbein zu Diensten war, drängte - oder wurde gedrängt von der sich keilenden Masse - sich langsam in Sébastiens Rücken.

Der junge Mann mit dem Tischbein sah den Schlag Sébastiens auf sich zukommen. Es war einer dieser unheilvollen Momente, wenn man sich völlig bewusst darüber war, was dort auf ein eindrang, einprasselte, was einen verletzen würde. Seinem Gesicht war die Hilflosigkeit darüber anzusehen, der kleine Schrecken, der verriet, dass seine Fäuste nicht annähernd so viel Erfahrung hatten wie die des jungen Moreau. Er ahnte, dass der Schlag kommen würde und das er mit einer Kraft kommen würde, der er wenig entgegenzusetzen hatte. Er war erfahren genug, um zu sehen, wie das Bein Sébastiens kurz mit dem vollen Gewicht belastet wurde, wie die Hüfte wirbelte und dabei leicht einknickte, um allen Schwung und alles Belastungsgewicht in die Faust zu legen, wie die Schulter sich erst leicht zurückbewegte, um noch mehr Impuls zu generieren. Simultan handelte der junge Mann mit dem Tischbein, zog einen beliebigen, älteren Mann einfach aus dem Schubsen mit einem jüngeren Blanquisten, wollte ihn vor sich in Stellung bringen[1]. Der ältere Mann wehrte sich, und gab doch wenige Zentimeter nach, erschrocken von der plötzlichen Richtungsänderung, gerade genug um in den Schlag von Sébastien geschoben werden zu können. Doch die Faust war schon unterwegs, Sébastien spürte, wie jetzt seinerseits sein Ellenbogen den Rücken eines anderen, des älteren Liberalen, streifte, wohl nicht schmerzlos. Der Schlag wurde abgelenkt, der Mann fiel von oben auf den ausschlagenden Ellenbogen des jungen Kommunisten, also wurde er nach unten abgelenkt. Das Gesicht des Mannes mit dem Tischbein lag damit außer Reichweite, er riss dennoch halbherzig den rechten Arm hoch, um sein Kinn zu schützen. Ein Fehler, dessen Kommunisten Schlag war unausweichlich. Sébastien traf den Körper auf der ungedeckten, rechten Seite knapp unter dem Rippenbogen. Ein schmerzhafter Leberhaken, der den jungen Mann mit dem geraden Rücken einen lauten Schmerzenslaut ausschreien, ihn wild zusammenzucken und ihn kauern ließ. Dieser spuckte wütend aus, während er sich nur unter großen Schmerzen wieder aufrichtete[2].

Sébastien sah jetzt, wie der Hüne beinahe alleine in der Menge stand. Seine Gefährten hatte ihm gewaltsam Platz gemacht. Während Sébastien in Verteidigungshaltung gehen wollte oder gar den nächsten Schlag ansetzte, spürte er, wie ein Körper gegen den seinen prallte. Er kam etwas aus dem Gleichgewicht, stolperte einen Schritt nach rechts. Der ältere Herr, den Sébastien mit seinem Ellenbogen gestreift hatte, versuchte einfach nach einem jungen Widersacher vor sich zu schlagen, wurde auch geschubst. Wieder wurde Sébastien unvorbereitet getroffen. Diesmal drohte er sein Gleichgewicht ganz zu verlieren. Er spürte, wie seine Füße auf dem nassen Kopfsteinpflaster nachgaben und wegzurutschen drohten. Aus dem Augenwinkel konnte Sébastien immerhin sehen, wie einer der jungen Aufwiegler zu Boden ging. François traf ihn genau am Kinn, als der junge Aufwiegler selbst durch die heftigen Bewegungen der um sich schlagenden Masse aus dem Gleichgewicht kam. Ein Fehler, den der junge Mann mit der Besinnungslosigkeit bezahlte. Innerhalb der Masse ging er zu Boden. Ein anderer trat gleich versehentlich auf den Bewusstlosen und geriet ins Stolpern, genau in Sébastiens Richtung, und just in diesem Moment, sah Sébastien mit Schrecken, dass ein Tischbein mit brutaler Gewalt nach ihm geschlagen wurde[3].

Carl von Lütjenburg sah die schnelle, rabiate Natur einer großen Schlägerei. Bereits nach wenigen Sekunden, es mochten vielleicht nicht mehr als zwanzig Sekunden vergangen sein, sah er die ersten Schwellungen in den Gesichtern einiger Beteiligter, blutende Nasen, und einen, der bereits bewusstlos geworden war. Er sah, wie zwei gedrungene Männer einen der jungen Offiziere aus der keilenden Mitte zogen, damit er nicht in diesem Furor zu Tode getrampelt wurde. Achtlos wurde er an den Rand geschleift, im Rinnstein liegen gelassen, während er aus dem Mund blutete. Die zwei Männer gingen zurück an ihr blutiges, wütendes Werk. Der junge Mann lag jetzt da, wie Paul noch halb in den Armen des preußischen Offiziers lag. Bewusstlos, wohl aber übler zugerichtet als der ältere Herr, doch keine zehn Meter von Carl entfernt.
In der Ferne erkannte jedoch Carl noch etwas anderes. Zwei, drei Männer verließen den Platz in nördliche Richtung, laut rufend, was sich dort auf dem Place Blanche zutrug. Es schein Carl, dass sie nun aufbrachen, um ein paar Nationalgardisten zu informieren über die blutige Schlägerei, welche den weißen Platz wieder in einen roten zu tauchen drohte...
 1. Dafür gibt der Mann einen Schicksalspunkt aus.
 2. Du fügst dem Mann seine erste Konsequenz zu: Angeschlagene Leber
 3. Du darfst einen Athletikwurf gegen Großartig (+5) ablegen - leider haben deine Widersacher einen kritischen Erfolg verbucht, um dich durch das Gedränge in deinen Wegen zu stören - sonst bekommst du für deine Verteidigung und deinen nächsten Angriff einen Malus von -2 (normalerweise -1, aber wegen des kritischen Erfolges eben ein höherer Malus).
avatar Paul Zeidler 26.Jan.2014 10:01
Undeutlich, und wie durch einen dichten Schleier, erkannte Paul Bewegungen und hörte aufgeregte Rufe und ersterbendes Aufstöhnen. Sein Verstand konnte mit diesen Eindrücken aber noch nichts anfangen. Paul drehte den Kopf und versuchte sich zu orientieren. Er fragte sich für einen Moment, ob er inmitten der Menge lag und sie ihn in den nächsten Momenten zertreten würden. Er fragte sich, warum er keine Angst hatte. Doch dann wurde er sich des Druckes auf seinen Bauch bewusst. Und er realisierte auch, dass er diese Perspektive vom Boden aus gar nicht haben konnte. Er tastete mit seinen Händen und spürte Stoff und bekam einen Arm zu fassen. Da wurde ihm bewusst, dass er getragen wurde. Und auch verstand er, dass er den Krawall nicht hatte verhindern können. "Ich weiß nicht...", flüsterte er kraftlos.
avatar Sébastien Moreau 26.Jan.2014 11:01
Die Freunde des Tischbeinhünen schafften es, Sébastien aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das Gerangel, Geschubse und Gedränge zwang ihn, seine Aufmerksamkeit von seinem Gegner abzuwenden - wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, reichte das diesem, die Chance zu ergreifen und die Lücke in Sébastiens Verteidigung auszunutzen. Das Herz des jungen Arbeiters, der sich einen Moment zuvor noch übermächtig gefühlt hatte, hatte sein letzter Hieb doch so vortrefflich gesessen und dem Hünen schmerzhaft zugesetzt, schien für einen Schlag auszusetzen, als er die splittrige, hölzerne Waffe auf sich zurauschen sah. Er konnte nicht mehr tun, als aus einem Reflex heraus den Kopf einzuziehen und ihn mit seinen Armen abzuschirmen. Das Tischbein erwischte mit beißender Wucht seine relativ ungeschützten Brustkorb, was Sébastien den Atem für einen Aufschrei raubte. Dumpf und brennend und heftig war der Schmerz, der ihm die Luft aus der Lunge trieb und ihn dazu zwang, kurz danach zu ringen, bevor er zu einem wutgesteuerten Konterschlag ansetzte, der dementsprechend unpräzise ausfiel.
avatar Carl von Lütjenburg 27.Jan.2014 01:01
Carl schleppte sich und den bewusstlosen Paul Zeidler aus der Gefahrenzone heraus. Mal schob er, mal drängelte er und doch kam er nur quälend langsam voran. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit entkam er der Menschenmenge, deren Gejohle und Geschreie immer rasender wurde und schließlich in einer Schlägerei kulminierte. Den ersten Schlag konnte Carl selbst nicht sehen, wohl aber spüren. Wie ein Blitz zuckte es durch die Menschen hinter ihm, elektrisierte sie alle. Danach war es wie, wenn man eine gewisse Menge Schwarzpulver in Brand steckte - einen kurzen Augenblick lang brennt eine einzelne Flamme, während sich mit einem Brausen - zunächst gemächlich, doch dann immer schneller - der Rest der Menge entzündete.

Immerhin, dachte er nicht ohne eine gewisse Verachtung für die Pariser, als hinter ihm endgültig das völlige Chaos ausgebrochen war, trifft es fast immer den Richtigen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich so etwas in Berlin ereignen mochte. Berlin, Carl ertappte sich dabei, wie er in einer Anwandlung von Heimweh leise seufzte, als er nach einem sicheren Platz suchte, wo er Paul absetzen und sich um diesen kümmern könnte. Gewohnheitsmäßig verjagte er rasch die Gedanken an Frau und Heimat, wie er es jedes Mal tat, wenn sie ihn heimsuchen wollten und blickte sich weiter um, als er jemanden wiedererkannte: Der Mann mit dem Kalabreserhut.

Ein unheilbringender Geist, dem Aberglauben der einfachen Leute entsprungen, so stand der Mann  dort drüben. Er sah aus, wie jemand, der zufrieden die Arbeit des Tages betrachtet, machte sich aber gleich wieder davon, so dass Carl aus einem Impuls heraus folgen wollte. In diesem Augenblick erinnerte Paul den Major jedoch durch ein Murmeln, das Carl nur mit Mühe noch verstehen konnte, an seine Anwesenheit. Angestrengt spähte er dem verdächtigen Mann hinterher, wohin dieser ging und ob ihm jemand folgte, doch standen dort wieder etwas mehr Menschen, was die Situation unübersichtlich machte.[1]

Carl gab es auf und trug Paul einige Schritte weiter zu einem Hauseingang, der vom Platz her etwas abgeschirmt war. Behutsam ließ er den alten Mann auf die oberste der fünf Stufen ab, die zur Haustür führten und lehnte ihn an eine Seitenwand. Es schien als würde der Prediger langsam wieder zu sich kommen, doch Carl wollte nicht darauf warten und tätschelte sacht Pauls Wange, um den Prozess etwas zu beschleunigen.

"Herr Zeidler. Sie haben für kurze Zeit das Bewusstsein verloren." Carl sprach mit ruhiger aber dennoch eindringlicher Stimme auf Paul ein. Ich bin es. Carl von Lütjenburg. Machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind wohlauf. Er sprach deutsch und seinen Namen färbte er ebenfalls nicht mehr im Lokalkolorit. "Bitte reißen Sie sich jetzt zusammen, Herr Zeidler. Wir müssen diesen Ort verlassen. Können wir vielleicht in die Rue de Doutes gehen?"

Während er Paul etwas Zeit gab um weiter zu sich zu kommen, genehmigte sich Carl selbst einen Augenblick der Ruhe, schloss die Augen und atmete tief durch.
Der Kalabreser. Lecomtes Sohn - Carl hatte das Erkennen in den Augen des Jungen gesehen und war sich nun sicher. Die Blanquisten. Die Lavalles - Herrgott die verfluchten Lavalles! Die Situation hatte heute eine furchterregendes Potential für Unheil in jeglicher Form angenommen und Zahl von Carls Gegenspielern war weiter angewachsen.
 Vermutlich war der einzige Trumpf in Carls Hand, dass noch keiner wusste, dass er hier war und wer er wirklich war. Doch dieser Trumpf war flüchtig und verschaffte Carl lediglich den Vorteil, dass er vielleicht noch ein paar Tage hatte, während derer er versuchen konnte, seinen Rückstand, was Kontakte und Informationen anging, wieder gut zu machen. Sobald man ihn erkannte, wusste man ebenfalls, dass die Preußen mitten in der Stadt ihre Fäden zogen. Ob dies nun zu Wohl oder Wehe der Pariser war, würde dann unwichtig sein. Im besten Fall würde seine Arbeit dadurch schwieriger werden, im schlimmsten Fall müsste er sich darum keine Gedanken mehr machen.
 Das kommt eben dabei heraus, wenn man sich zu laut darüber beschwert, dass die Arbeit im Stab zu eintönig ist, dachte er und blickte wieder Paul an.

"Wie geht es Ihnen?... Ich glaube ich brauche Ihre Hilfe, Paul."
 1. Wahrnehmung: -1
avatar Menthir 30.Jan.2014 01:01
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:14 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

François blickte dem Mann hinterher, dem er die Besinnung gewaltsam genommen hatte. Trotzig reckte er das Kinn. Eine provozierende, eine mutige Geste, wusste doch jeder Schläger, dass das Kinn eine der empfindlichen Stellen am menschlichen Körper war. Gerade jene, welche diese neu entstandene, britische Sportart des Boxens beobachteten oder davon hörten[1], wussten auch davon. Gewalt gegeneinander wurde instrumentalisiert und zum Vergnügen, zur Unterhaltung - auch vor allem höherer Schichten - stilisiert, und die Schaulustigen am Place Blanche bewiesen das Potenzial dieser Instrumentalisierung. Die Gesten zwischen dem professionellen Boxer und dem geübten Schläger waren dieselben und doch war in François' Augen etwas, welches das Kinn zur reinen Geste machte und nicht zur inneren Überzeugung. Die Verwundbarkeit des menschlichen Körpers war dem jungen Freund Sébastiens in diesen Momenten besonders bewusst. Ein Schlag auf seine Nase und er würde ebenso aus der Menge geschleift werden oder er würde gar niedergetrampelt werden. François reckte das Kinn noch weiter vor und fluchte in seiner Muttersprache. "Kommt doch her, wenn ihr euch traut! Ich schicke euch gleich hinterher!", ein wahngleicher Ausdruck verdrängte die Furcht in den Augen für einen Moment, lange genug, um die beiden jungen Aufwiegler, die Sébastien das Leben schwer machten und geschickt die Masse gegen seinen Freund einsetzten, innehalten zu lassen und einen Schritt vor François zurückzuweichen[2]. Die umstehenden Menschen schüttelten die beiden Aufwiegler für einen Moment ab und Sébastien konnte wieder freier handeln, spürte nicht permanent Ellbogen, Knie, Glieder aller Art in seiner Seite, sah sich nicht mehr hin und hergestoßen.

Der Gegenschlag jedoch, den er nach dem schweren Treffer auf den Solar Plexus loslassen wollte, luftlos, kraftlos, prallte wirkungslos an den erhobenen Armen des jungen Mannes mit der hohen Stimme ab. Er spürte, dass sein Treffer ein erfolgreicher war, dass er Sébastien weggetan hatte. Dass ihm jetzt die Luft fehlte und jeder Schlag würde diesen Zustand verschlimmern, wenn er nicht wieder zu Luft kam[3]. Er versuchte dies auszunutzen. Schnell erhob er sein Tischbein erneut und schlug es diagonal von oben nach unten, um Sébastien jetzt ebenfalls in die Besinnungslosigkeit zu schicken.

Carl hatte aufgrund seines Blickwinkels nur die Wahl, den Mann mit dem Kalabreser einen Moment zu verfolgen, um mehr zu sehen oder sich um Paul Zeidler zu kümmern. Und in diesen Zeiten der Krise wusste man nie, was mit bewusstlosen Männern passieren würde, wenn sie am Straßenrand lagen. Mit viel Unglück würden sie beraubt werden, also hatte Carl umsichtig genug gehandelt, den Mann nicht weiter zu verfolgen. Aus den Augenwinkeln sah Carl, und nun auch der wiedererwachte Paul, immerhin, dass der junge Aufwiegler, der aus der Menge getragen wurde, langsam wieder zu sich kam, aber noch benommen am Boden lag. Seine füllige Gestalt erinnerte, wie er dort hilflos im Rinnstein lag und sich langsam vor Schmerzen krümmte und dann mit glasigem Blicke aufsetzte, nicht wirklich an die eines tapferen Schlägers. In seinen Augen war neben Schmerz jene Reue zu lesen, die man erfuhr, wenn man merkte, dass eine Tat reichlich unüberlegt gewesen war und sich gegen einen ausgespielt hatte, auch wenn er scheinbar noch nicht ganz wusste, wo er wieder war. Reflexhaft schlug er ein, zwei Mal um sich, als wäre er noch in der Menge und hatte noch gar nicht realisiert, dass er im Rinnstein lag. Dann wurde er langsam klarer, seine Bewegungen wurden gemessener. Er hielt sich das Kinn vor Schmerz und saß still da. Seine braunen, halblangen Haare hingen ihm schweißnass im Gesicht, welches von Schmerz verzehrt grimassenartig verzogen war. Sein fülliges Gesicht zeugte von gesunder Ernährung bei minimaler körperlicher Ertüchtigung, auch wenn er nicht als dick zu bezeichnen war.

Irgendwo in der Ferne hörte man eine Trompete oder ein ähnliches Blasinstrument gehen. Hatten die Männer, die davongelaufen waren, die nächsten Nationalgardisten informieren können?
 1. 1867 wurden die sogenannten Queensberry-Regeln (http://en.wikipedia.org/wiki/Marquess_of_Queensberry_Rules) im Boxen eingeführt, welche bis heute die Grundregeln im Boxen darstellen. Vorher hat es unterschiedliche andere Regelungen gegeben, die aber nur noch zum Teil im Boxen zu finden sind.
 2. Die beiden jungen Aufwiegler bekommen eine geistige Konsequenz.
 3. Ausdauerwurf gegen Durchschnitt (+1), ansonsten geht dir die Puste aus, solltest du etwas Anstrengendes tun (also jeder Punkt, den du drunter bist, bekommst du als Belastungspunkte).
avatar Paul Zeidler 03.Feb.2014 01:02
Paul spürte die leichten Schläge an seiner Wange und blickte von Lütjenburg ins Gesicht. Er fühlte sich noch immer etwas benommen, doch so langsam kam er wieder zu Sinnen und verstand, was geschehen war. Er blickte an von Lütjenburg vorbei und sah auf die Menge, die in eine Schlägerei verwickelt war. Paul spürte, wie sich sein Magen verzogen, als er an Sebastien dachte. Vielleicht war er schon in jenem Moment zu Boden gegangen und die Masse trampelte über ihn hinweg.

Paul musste sich über sich selbst ein wenig wundern. Der junge Mann hatte sich als starrsinnig erwiesen (geradezu 'verstockt', wie es in der Bibel hieß) und er hatte sich auf's Äußerste von Paul distanziert. Ja, und er selbst, Paul, hatte ja auch schon gesagt, dass er den jungen Mann verloren wüsste. Aber doch, er konnte den jungen Mann nicht in sein Unglück ziehen lassen. "Immer um die verlorenen Schafe besorgt. Berufskrankheit, nehme ich an.", dachte er und seufzte innerlich.

Doch im Moment konnte er nichts weiter tun.

"Es geht schon wieder. Danke... für Ihre Hilfe", sagte Paul schwach zu Lütjenburg. "Ich... ähm... bedauere, dass ich die Schlägerei nicht verhindern konnte. Und vielleicht wären sie jetzt lieber in der Menge?", fragte er und versuchte die Miene von Lütjenburgs zu lesen. Es war Paul sehr unangenehm, bewusstlos geworden zu sein. Wie hatte ihm das passieren können, noch dazu als ehemaligen Corpsbruder?

"Ähm..., ja. Ich weiß nicht wie ich Ihnen helfen kann. Aber wir können zur Rue de Doutes gehen. Ich glaube, ich kann aufstehen.", sagte er.
avatar Carl von Lütjenburg 05.Feb.2014 09:02
Carl sah den Mann, dessen erste Worte eine unsinnige Entschuldigung waren, verwirrt an, half ihm dann jedoch auf die Beine. Noch einmal blickte er zu dem kämpfenden Pöbel hinüber und nahm dabei dann auch eine Art Trompetenlaut wahr - vermutlich würde es gleich noch unangenehmer sein, wenn man sich weiter hier aufhielt.

"Lieber in der Menge?", fragte er Paul abwägend, doch wirklich abwägend sah seine Miene nicht aus, eher verdrossen oder auch besorgt. "Ich denke, das wäre ich wohl lieber nicht. Allein in einer Meute blutrünstiger Franzosen... da gehe ich lieber mit Ihnen spazieren." Carl erlaubte sich ein schwaches aber freundliches Lächeln als er sich in Bewegung setzte und lotste sie in Richtung Rue de Doutes.



Auch wenn die Strahlen der Morgensonne darauf schienen, so wirkte das Haus in der Rue de Doutes immer noch klein, grau und traurig. Sie waren zügig voran gekommen und so attestierte Carl sich eine inzwischen ganz passable Ortskunde. Wenn die letzten Tage auch weniger fruchtbar waren, immerhin kannte er sich hier nun einigermaßen aus.
Drinnen wurde es nicht besser. Kalt und muffig war es und finster obendrein. Immerhin war hier ein ungestörtes und vertrauliches Gespräch möglich, befand Carl. Außerdem schon das zweite Mal in der Kirche in so kurzer Zeit, dachte er, Louisa wird sich nicht beschweren können. Er setzte sich auf einen Stuhl und wartete bis sein Begleiter ebenfalls Platz genommen hatte. Während des Weges hatten beide hauptsächlich geschwiegen, hin und wieder mal ein verhaltener Satz, seltener ein kurzer Wortwechsel. Carl überlegte mehrmals, ob seine Entscheidung vernünftig war, oder ob er sich einfach nur zu sehr sorgte, seit der von den Lavalles gehört hatte, kam aber immer mehr zu der Überzeugung, dass er Verbündete benötigte.

Ob Paul ihm jedoch auch helfen würde, vermochte er nicht vollends einzuschätzen. Eigentlich hatten sie beide gemeinsame Wünsche und Ziele, aber Carl konnte nicht davon ausgehen, dass Zeidler dies genau so sehen würde. Zum einen schien Paul eine definitiv andere Einstellung zu seiner Heimat zu besitzen als Carl. Aus welchem anderen Grunde hätte er sonst '48 nach Frankreich gehen sollen? Er hatte damals auch auf unerfüllte Hoffnungen hingewiesen. Würde ein Liberaler einem preußischen Offizier helfen wollen? Zudem war Paul ein Mann des Glaubens. Carl war zwar nicht ohne Glauben, aber dennoch war dies eine Sache, die ihm immer verschlossen und merkwürdig fremd erschienen war. Deshalb war er bei der Einschätzung inwiefern Pauls Glaube auf seine Entscheidung einwirken würde noch unsicherer.

Von Stiehle hatte darauf hingewiesen, dass er nicht jedem sein "Preußentum auf die Nase binden" solle, doch wollte Carl sich an dieser Stelle auch nicht in Lügen vergehen. Bei allen Unwägbarkeiten glaubte er in Paul einen Menschen zu erkennen, der - auch wenn er Carls Bitte ausschlagen sollte -  seine Geschichte diskret behandeln würde. Also fasste er sich ein Herz und erhob nach einer langen Zeit voller Stille seine Stimme:

"Entschuldigen Sie, falls ich Sie verwirrt haben sollte und erst jetzt mit des Rätsels Lösung herausrücke. Aber bevor ich nun tatsächlich beginne, muss ich Sie zur Verschwiegenheit auffordern. Sollte das Wissen, dass ich mit Ihnen teilen möchte an die falschen Ohren gelangen ist dies für mich sehr gefährlich, aber für Sie könnte es ebenso gefährlich werden. Ich möchte dass Sie sich darüber im Klaren sind. Außerdem hege ich nicht den Wunsch Sie in Schwierigkeiten zu bringen und ich garantiere Ihnen, dass es sich um keine kriminellen Dinge oder dergleichen handelt. Sähe ich einen anderen Weg, würde ich diesen Einschlagen und Sie nicht belästigen, doch ich sehen keinen. Darüber hinaus glaube ich, dass wir gemeinsame Ziele haben wir voneinander profitieren könnten." Carl atmete hörbar ein und blickte Paul erwartungsvoll an "Also? Was sagen Sie, wollen Sie mich anhören?"[1]

"Mein Name ist Carl Heinrich von Lütjenburg und ich stamme aus Holstein, soviel wissen Sie bisher. Ich bin preußischer Major und diene im Generalstab der 2. Armee, das wissen Sie noch nicht.

Erschrecken Sie nicht, Paul. Meine Anwesenheit hier bedeutet keine Fortführung des Krieges, ganz im Gegenteil. Der Krieg ist beendet und Preußen hat gesiegt. Das wissen Sie und Ich, die Preußen und fast alle Franzosen. Nur die Bewohner dieser Stadt weigern sich dies anzuerkennen. Das ist der einzige Grund weshalb wir noch hier sind.

Meine Vorgesetzten und ich sind besorgt über die Situation in der Stadt, der Winter war hart und die Vorräte sind aufgebraucht. Wenn die Temperaturen wieder steigen werden auch die Krankheitsfälle zunehmen und es wird zu Epidemien kommen. Wir suchen dies zu verhindern und dies ist unter anderem der Grund meiner Anwesenheit in der Stadt. Doch wir haben gerade am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie die Situation immer mehr außer Kontrolle gerät. Die Kommunarden werden eine freie Wahl nicht zulassen und das Ergebnis nur dann annehmen, wenn es ihnen zusagt. Auf dem Platz habe ich sie darüber reden gehört einen Pastoren zu entführen. Um wen es sich genau handelte konnte ich zwar nicht verstehen, aber die Tat als solche zeigt doch schon in welche Richtung dies alles führen wird. Außerdem habe ich dort weitere Dinge vernommen, die mich noch wesentlich stärker mit Sorgen schlagen als die Sache mit dem Pastor und die Schlägerei allein."


Carl machte eine Pause und ließ seine Worte auf Paul wirken. Mehr würde er zunächst nicht preisgeben, zuerst brauchte er eine Zusage Pauls.

"Was sagen Sie Herr Zeidler? Ich kann mir vorstellen, dass ich vielleicht nicht der Verbündete bin, den Sie sich immer gewünscht haben, doch ich würde sagen, dass wir beide mit den Dingen arbeiten müssen, die uns gegeben sind. Sie haben doch ein Anliegen daran, das Leid der Menschen zu vermindern und sie auszusöhnen, Frieden zu finden. Ich kann als Soldat wohl nicht glaubhaft behaupten, dass dies zu jeder Zeit ebenfalls die Kraft ist, die mich antreibt. Doch hier und jetzt, in diesem Augenblick ist es das in der Tat. Ich halte nicht viel von den Franzosen, das ist außerhalb dieser Stadt kein großes Geheimnis. Sie sind seit jeher unser Rivale und bedrohen uns, versuchen uns klein zu halten und haben Angst vor dem was sonst geschieht. Doch nicht meinem schlimmsten Feind würde ich wünschen, dass geistlose Menschen im Bunde mit Aufwieglern und gedungenen Mördern dafür sorgen, dass sein Volk an Hunger und Krankheit zu Grunde gehen muss."
 1. Sollte Paul ablehnen erübrigt sich das Folgende natürlich ;)
avatar Sébastien Moreau 06.Feb.2014 09:02
François hatte es, trotzdem er bereits angeschlagen zum Kampf angetreten war, leichter als Sébastien – so erschien es diesem zumindest, wovon er sich aber nicht um seine Entschlossenheit bringen ließ. Die Begleiter des Tischbeinhünen ließen sich durch Sébastiens besten Freund einschüchtern, doch der Anführer der Meute war ein zäherer Bursche. Sébastien bekam das auf schmerzhafte Weise zu spüren. In dem Kerl mit der lächerlichen Fistelstimme hatte er einen ernstzunehmenden Gegner gefunden. Keuchend musste der junge Arbeiter um Luft ringen, denn der Schlag auf seinen Brustkorb war hart gewesen, doch schaffte er es, die Atemnot zu überwinden und Sauerstoff einzusaugen. Den Moment, den er innehalten musste, nutzte der Hüne jedoch, um zu einem fatalen Schlag anzusetzen. Sébastien gelang es gerade noch, das schlimmste zu verhindern, doch er wirkte eher überrumpelt und hilflos, als er auszuweichen und das Tischbein von sich abzulenken versuchte. Der Holzknüppel erwischte ihn trotzdem am Kopf, wo der Schmerz explodierte. Sébastien musste die Wucht des Schlages mit einem Schritt abfangen, um nicht zu stolpern, und für einen Augenblick drohte die Welt zu schwinden und dunkel zu werden. War es Blut, das er seitlich an seinem Schädel herunterfließen spürte? Der Lärm, den die Menge verursachte, schien plötzlich so fern und dann wieder unerträglich laut. Aber Sébastien hörte auch ein dumpfes Rauschen in seinen Ohren und seine Schläfen pochten im Rhythmus seines Herzens – und jedes Pochen war eine Qual.[1] Wut und sogar Hass flammten in Sébastien auf. Begleitet von einem Schrei und von Rachedurst getrieben, setzte er zu einem kraftvollen Hieb in Richtung der bereits angeschlagene Leber seines Gegners an.
 1. Mittlere Konsequenz: Dröhnender Schädel
avatar Menthir 07.Feb.2014 03:02
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:15 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

Während Paul und Carl vom weißen Platz in Richtung der Straße der Zweifel verschwanden, sahen sie bereits in der Ferne des Platzes, dass sich einige Nationalgardisten aufmachten, teils gar mit ihren Gewehren oder mit Schlagstöcken bewaffnet unter dem Gebell eines abgemagerten, rothaarigen Mannes mit autoritären, strengen Gesichtszügen, der inzwischen ausgewachsenen Schlägerei mit mehreren Verletzten wütend zu begegnen.
Doch bevor die Männer die Traube sich schlagender Widersacher erreichten, waren Zeidler und von Lütjenburg bereits in einer abgehenden Straße verschwunden, die ihnen den Blick versperrte. Jedoch erkannte Paul noch, dass zwischen den Nationalgardisten, wenn auch in das Kleid eines männlichen Soldaten gezwängt, mehrere Frauen waren. Es waren beinahe ausschließlich sie, welche die Gewehre hielten. Sie wirkten nicht minder entschlossen als der rothaarige Mann.

Es kam Bewegung in die sich balgende Meute, als sie sich der drohenden Gefahr durch die Nationalgardisten gewahr wurde. "Gardisten!", erfolgten von unterschiedlichen Orten die schnellen und aufgeregten Rufe, teils von den sich schlagenden, älteren Männern, teils von den Blanquisten, teils auch einfach von den Schaulustigen ausgerufen, die sich als erstes - ohne den Blick vom Spektakel zu wenden - aus der Reichweite der sicher geladenen Vorderlader oder Hinterladern mit aufgepflanzten Bajonett zurückzogen. Die ersten Männer wichen zurück aus der Schlägerei, mehrere junge Blanquisten, namenlos und vielleicht nur wegen der Unruhe vor Ort, liefen jetzt weg. Manche jedoch nutzten diesen Moment der Unordnung, um noch schnell einem anderen Mann, sowohl Blanquist als auch beschimpfter Republikaner, hinterrücks auf dem Hinterkopf oder in die Halsgegend zu schlagen. Mindestens zwei Männer stürzten daraufhin schwer. Sébastien hörte auch die Stimme seines Freundes, die ihn mahnend aufforderte, ihm zu folgen. "Komm! Wir müssen weg von hier! Schnell!".
Sébastiens Gegenüber hatte jedoch keine Anstalten gezeigt zu verschwinden, obwohl der junge Mann sehen konnte, dass seine Mitstreiter ihren niedergeschlagenen Kameraden aufhoben und sich vom Acker machten, als wäre eine Konfrontation mit Nationalgardisten brutaler, gefährlicher und tödlicher als diese Gefecht aus falschem Stolze. Doch der Mann mit der Fistelstimme blieb stehen. Wieder schwang er das Tischbein, wieder diagonal, da er jetzt genug Platz hatte, um in aller Ruhe auszuholen. Ein Schlag mit der Kraft einem Manne den Schädel einzuschlagen, oder das Tischbein zu zerbrechen, sollte der Schlag das feuchte Kopfsteinpflaster unter ihnen treffen.

Derweil rückten die Nationalgardisten in ihren schwarzen oder zumindest nachtblauen Uniformen mit dem roten Seitenstreifen an. Ihre Hosen hatten denselben Streifen. Das Weiß der Trikolore war am Gürtel und an der Schärpe zu erkennen, die sie trugen[1]. Manche Uniformen, die wenigsten, hatten drei Knopfreihen, die meisten lediglich zwei und besaßen deutlich weniger rot. Manche von ihnen sahen so aus, als seien sie eigentlich Frauen. Die Uniformen waren jedoch nicht nach ihren Maßen geschnitten, so dass es nur an den Gesichtern in der Eile wirklich zu erkennen war. Viele der Nationalgardisten, die anrückten, trugen Säbel und Schlagstöcke, die sie wütend oder drohend erhoben hatten, während manche auch Gewehre trugen. Tabatièregewehre[2], die auf den ersten Blick noch nach Vorderladern aussahen, jedoch im Laufe des Krieges zu Hinterladern umgewandelt wurden und damit nicht mehr so langsam und behäbig waren, nicht mehr so viel Zeit beim Nachladen verbrauchten oder anders ausgedrückt, auch kleine Truppen mit wenigen Gewehren waren deutlich durchschlagskräftiger geworden. Die Waffen waren mit aufgepflanzten Bajonetten versehen und sie waren meist in den Händen weiblicher Personen, welche die Kittel der Nationalgarde trugen. Es war schon sehr ungewöhnlich, Frauen darin zu sehen. Ein rothaariger Mann war am reichsten bestückt mit Knöpfen und obwohl er von durchschnittlichen Wuchs und eher etwas verhungert aussah, ging ihm eine Aura der Autorität voraus. Seine scharfe, etwas pfeifende Stimme, hatte einen durchdringenden Klang. "Haltet ein! Schluss mit der Schlägerei! Schluss! Meine Männer haben auf euch Ungeziefer angelegt! Schluss jetzt!"
Tatsächlich stellten sich die Männer mit Säbeln in die erste Reihe, ließen kleine Lücken zwischen sich, in welche sich die mit Gewehre ausgerüsteten Frauen mit etwas Versatz knieten, um ruhiger zielen zu können.

Sébastien spürte, dass eine der Waffen auch auf ihn angelegt war. Zumindest drängte sich das Gefühl auf. Doch innerlich spürte er noch immer den Furor und sein Widersacher stand noch[3]...
 1. 
Bildnis eines ranghöheren Nationalgardisten (Anzeigen)
 2. Tabatière rifle (http://en.wikipedia.org/wiki/Tabatière_rifle)
 3. Ich spiele deinen Aspekt Das Herz auf der Zunge, mit dem Kopf durch die Wand (http://games.dnd-gate.de/index.php/topic,7707.msg848918.html#msg848918) an, weil ich denke, dass Sébastien in diesem Streit zu stur sein könnte, um dem tischbeinschwingenden Mann den moralischen Sieg zu lassen und zuerst zu fliehen. Das heißt, du musst einen Schicksalpunkt ausgeben, solltest du mit François fliehen wollen. Solltest du weiterkämpfen, bekommst du einen Schicksalspunkt.
avatar Sébastien Moreau 09.Feb.2014 01:02
Eine neue Art der Unruhe machte sich in der Menge breit, die natürlich auch nicht an Sébastien vorbeiging. Nationalgardisten rückten an, um dem aufgebrachten Treiben auf dem Place Blanche ein Ende zu bereiten. Bei der Aussicht auf Schlagstöcke, abgefeuerte Kugeln, Bajonette und längere Klingen begann sich der Pulk aus wütenden Republikanern und Blanquisten aufzulösen. François drängte, ebenfalls zu verschwinden, obwohl einige hartnäckig entschlossene Kombattanten das Chaos nutzten, um sich einen unsportlichen Vorteil zu sichern.

Auch der Tischbeinhüne ließ sich von dem aufkommenden Bestreben, das Heil in der Flucht zu suchen, bevor die Nationalgardisten mit bleierner und stählerner Gewalt eingriffen, nicht anstecken und prügelte weiterhin auf Sébastien ein als wolle er den faustgerechten Arbeiter umbringen. Die Drohung, ein paar Knochen zu brechen, schien der junge Mann sehr ernst gemeint zu haben. Allein der gewonnen Platzfreiheit durch den Rückzug einiger Leute rettete Sébastien von einem weiteren üblen Kopftreffer, doch sein Ausweichen blieb nur ein Teilerfolg, denn stattdessen küsste die improvisierte Waffe seine Schulter. Der zusätzliche Schmerz, der sich zu den bereits vorhandenen gesellte, stachelte Sébastiens Wut und sein Verlangen, seinen Gegner zu Boden zu schicken, nur noch mehr an.

Doch der Anführer der Gardisten bellte eine Mahnung, einzuhalten, – es klang wie die erste und letzte – über den Lärm der Schlägerei hinweg und seine Gardisten waren bereit, zu schießen oder mit Säbeln den prügelnden Pöbel niederzumetzeln. Sébastien hatte das unschöne Gefühl, dass eine der Waffen auch auf ihn gerichtet war. Zwar waren weibliche Nationalgardisten ein ungewöhnlicher Anblick – sowieso fand Sébastien die Frauenbewegung eher befremdlich als dass er sie begrüßte –, doch Gewehre waren Gewehre und selbst jemand, der nicht geübt im Umgang damit war, würde schon irgendjemanden treffen, wenn er in eine Menschenmenge feuerte. Sébastien zwang sich, auf seinen besten Freund zu hören. Er war ein Sturkopf und kaum zu halten, wenn er erst einmal aufbrausend wurde, das würde wohl niemand verneinen, der ihn kannte, dennoch kam Sébastien Paul Zeidlers Worte in den Sinn, die dieser an ihn gerichtet hatte, bevor der alte Mann zusammengebrochen war. Der junge Arbeiter hatte Daheim eine Frau und zwei kleine Kinder, die auf seine Rückkehr warteten. Einem satten, feigen Republikaner aufs Maul zu hauen, war eine feine Sache, aber den Preis, sich dafür abschlachten zu lassen, wollte Sébastien nicht zahlen. Zu viel hatte er noch vor – hatten sie noch vor, François und er. Wer würde den Louis befreien, wenn nicht sie? Die Arbeiter brauchten Louis Auguste Blanqui für die Sicherung ihrer Freiheit, das war gewiss. Alles, das ganze Blutvergießen, wäre umsonst gewesen, wenn die anstehenden Wahlen ungünstig verlaufen würden. Nichts Gutes hätte der Aufstand gegen Thiers‘ Männer bewirkt. Statt zuzuschlagen, wich Sébastien vom Tischbeinhünen zurück und wollte seinem besten Freund schleunigst folgen, um aus der Schussbahn zu kommen.[1]
 1. Ich gebe also einen Schicksalspunkt aus, um nicht weiterzukämpfen.
avatar Paul Zeidler 12.Feb.2014 05:02
Nachdem sie in der Rue de Doutes angekommen waren, hatte Paul schnell zwei Stühle zusammengestellt und, nach kurzem Zögern, sich und dem Gast ein Glas Cidre hingestellt. Er dachte, dass er etwas brauchte, um sich zu kräftigen. Es war nur Cidre da, da der Rotwein sauer geworden war, nachdem sie die Flasche für ein Abendmahl angebrochen hatten. So saß er da, nippte immer wieder an dem perlenden Getränk und hörte dem Landsmann zu. Zunächst sagte er sehr wenig und nickte nur hin und wieder. Er wusste kaum, was er zu den Dingen, die ihm von Lütjenburg sagte, sagen sollte.

Er räusperte sich und sagte dann: "Was dieser Tage passiert ist übel, sehr übel. Die Pariser benehmen sich tollkühn, fast wahnsinnig." Als ob damit irgendetwas gesagt wäre. Unwillkürlich fiel im ein Wort ein: Zu der Zeit rief Gott, der HERR Zebaoth, dass man weine und klage und sich das Haar abschere und den Sack anlege. Aber siehe da, lauter Freude und Wonne, Rinder töten, Schafe schlachten, Fleisch essen, Wein trinken: »Lasst uns essen und trinken; wir sterben doch morgen!« Aber meinen Ohren ist vom HERRN Zebaoth offenbart: »Wahrlich, diese Missetat soll euch nicht vergeben werden, bis ihr sterbt«, spricht Gott, der HERR Zebaoth. [1]

Einen Moment sinnierte Paul über das Wort nach, wurde sich dann aber bewusst, dass von Lütjenburg auf eine Antwort wartete. Schwermütig versuchte Paul daher ein paar Worte zusammenzuklauben. Er entschied sich dazu, sich vorzustellen, wie es von Lütjenburg auch getan hatte. "Sie waren sehr aufrichtig gegen mich und dafür danke ich Ihnen, Herr von Lütjenburg. Die Form gebietet es, dass ich nicht minder ehrlich zu Ihnen bin. Sie wissen, dass ich Deutscher war. Ich habe in Jena studiert und war auch dort corporiert. Sie sehen diesen Gehstock?", Paul wies auf seinen Stock[2]. "Dies ist ein Ziegenhainer. In Jena wird mit solchen sekundiert oder auch schon mal zugehauen, wenn man sich auf dem breiten Stein[3] entgegenkommt. Es war eine großartige Stimmung, vor '48. Wir glaubten an den deutschen Staat und waren bereit, für ihn einzutreten. Ich hörte in dieser Zeit von einem Privatdozenten in Bonn namens Ritschl[4]. Er vertrat die Meinung, dass die Kirche nur ein Übergangsphänomen wäre und sie sich im Staat auflösen würde, wenn nur jeder Bürger ein sittliches Leben im Sinne Christu Nachfolge führen würde. Der Staat als das Reich Gottes auf Erden! Verstehen Sie? Was für ein Wahnsinn! Aber so oder so ähnlich dachten alle Commilitonen, der theologischen Fakultät. Es bedürfte erst der blutigen Niederschlagung durch die preußischen und österreichischen Truppen, dass wir zur Besinnung kamen. Und was für ein bitterer Schmerz das gewesen war. Ich konnte meine Torheit kaum ertragen, musste nach Frankreich auswandern und mir hier eine neue Existenz aufbauen. Ich musste durch den Schmerz wieder zurückgeführt werden in die Nachfolge Christi. Wie steht geschrieben? »Denn er erniedrigt die Hochmütigen; aber wer seine Augen niederschlägt, dem hilft er.«[5] Seitdem jedenfalls habe ich jedem weltlichen Bestreben abgesagt und ich muss Ihnen offen sagen: Ob ich Deutscher oder Franzose bin, es kümmert mich nicht - es kümmert mich auch nicht, ob Sie es sind. Es geht mir nur um meinen Glauben. Und wenn Schaf und Wolf beisammen liegen und der Löwe Stroh frisst, die Schlange aber im Staube liegt, wie es heißt[6], dann ist das Gottesreich schon mitten unter uns[7]. Aber nicht das wir es bewirkt hätten, sondern weil bei Gott alles möglich ist."[8], endete Paul. Paul war sich bewusst, dass er zu viel geredet hatte und fragte sich, ob er nicht zu viel Unsinn gesagt hatte.

"Ich denke, Sie sollten das wissen. Ob eine Nation oder eine andere siegt, mir ist es gleich. Für mich gibt es keine Nationen, nur Menschen. Und ich werde tun, was mir möglich ist, um Leben zu erhalten. Sie müssen mir Ihr Wort geben, dass Sie das nicht ausnutzen werden."

Paul atmete tief durch. "Was schlagen Sie vor?"
 1. Jes 22,12-14
 2. Ziegenhainer (http://de.wikipedia.org/wiki/Ziegenhainer)
 3. Breiter Stein (http://de.wikipedia.org/wiki/Breiter_Stein): Schmaler Gehstein, auf dem es oft zu Auseinandersetzungen zwischen Corporierten kam. In Jena besonders, wenn einmal in der Woche die Straße überflutet wurde und es keine Möglichkeit zum Ausweichen gab. Siehe folgendes Studentenlied:
2. Strophe von "In Jene lebt sich's bene" (Anzeigen)
 4. Albrecht Ritschl (http://de.wikipedia.org/wiki/Albrecht_Ritschl_%28Theologe%29)
 5. Hiob 22,29
 6. Jes 65,25
 7. 
Für die Formulierung siehe Lk 17,20ff. (Anzeigen)
 8. vgl Mk 10,27
avatar Menthir 06.Mar.2014 01:03
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:16 Uhr - Place Blanche (Montmartre)

"Ich werde deinen Kopf bekommen!", brüllte der Mann mit der fisteligen Stimme, als sich Sébastien seinem Zugriff entwand und mit der sich rasch auflösenden Menge verschwand. Zu viele Schutzschilde, zu viele Menschen, mal Freund, mal Feind, die zwischen Sébastien und dem Tischbein auftauchten und so ein Niederkeulen unmöglich machten. Wütend schmetterte er das fein gedrechselte Tischbein auf das Straßenpflaster, welches auf den zugeschlagenen und festgetretenen Stein ächzend zerbrach. Er ließ die Bruchstücke fallen und blickte zu den Gardisten, die ihn nicht weiter beachteten. Eine kleine Gruppe tollkühner Blanquisten fanden nicht so schnell das Ende des Streites und rissen an ein paar Männern, die sich vereinzelt wehrten oder gerade die Hände erheben wollten, um den Streit aufzugeben unter dem Druck von Bayonetten, Prügeln und geladenen Gewehren. Sechs streitende Männer waren es noch. Während Sébastien und sein bester Freund sich mit der sich auflösenden Menge vom Ort der Schlägerei davonmachten, hörten sie die Rufe des autoritären Mannes. Er wiederholte seine vorher gebrauchten Worte der Warnung und des Einhalts, doch die drei jungen Blanquisten - Sébastien hatte ihre jungen Gesichter noch nicht gesehen. Sie hätten genauso gut tollende Jugendliche sein, die sich lediglich die Hörner abstoßen wollten - hörten nicht darauf. Einer von ihnen, ein Junge mit weiblichen, sanften Zügen und lockigen, von Schweiß verklebten dunklenblonden Haaren, machte dann den entscheidenen Fehler. Sébastien sah, wie er nach dem Prügel eines Gardisten griff. Überrascht von dem schnellen Zugriff ließ der Gardist, ein kleiner, verwirrt dreinblickender, dunkelhaariger Mann mit schiefer Mütze, den Prügel los. Wütend, von seinem Adrenalin getragen, führte den Junge mit einem seitwärts geschwungenen Schlag wider den Gardisten. Ein Schrei. Der Gardist sackte wie vom Blitz getroffen zusammen, der Schlegel hatte ihm eine klaffende Wunde am Auge beschert. Ein Knall, ein Schallschlag, ein Schuss. Ein faustgroßes Loch klaffte an jener Stelle, an der Sébastien eben noch smaragdgrüne Auge gesehen hatte. Leblos sackte der Junge zusammen. Schreie aus Angst, aus Wut, aus Hilflosigkeit erklangen aus vierlei Kehlen. Eine Frau hielt sich verkrampft an ihrem Gewehr fest, leichter Rauch stieg aus dem Lauf auf. Sie zitterte wie wild, sie hatte die Nerven verloren. Sébastien erkannte nicht viel von ihr, außer dass sie recht kräftig war und ein fülliges Gesicht hatte. François riss seinen Freund an der Schulter und zog ihn in die engen Straßenschluchten Montmatres. "Wir müssen weg!", sprach er jenes aus, was den beiden so oder so bewusst war. Ein windschiefes Haus mit roten Ziegeln und geplatzten, weißen Putz unterbrach ihren Blick auf das Chaos des weißen Platzes. Ein zweiter Schuss ertönte. Sie hörten weiter die Schreie, sie waren kaum zuzuordnen. Auch den Hünen mit dem Tischbein hatten sie aus den Augen verloren.

"Lass uns trennen und in zwei Stunden im Haus treffen." Das Haus meinte eine Wohnung, in der man die Blanquisten vielleicht nicht erwartete. Sie lag in der Rue des Saules, dieser berühmten Straße, in der die Bohème ihrem Lebensstil fröhnte. Diese Straße, die von Paul Cézanne[1], verewigt wurde. Hier lag das kleine Atelier eines kleinen, lokalen und wenig erfolgreichen Bildhauers. Achille Petit war ein einfacher Mann, der nicht den Willen besaß, die Stadt, geschweige denn das Land verändern zu wollen. Aber er sympathisierte mit den Blanquisten und immer wieder stellte er seine Werkstatt und das kleine zum Hinterhof hinausgehende Lager für die konspirativen Sitzungen oder für den einen oder anderen Umtrunk zur Verfügung. Da ein Guinguette[2] direkt neben dem kleinen Atelier lag, fielen die Blanquisten im Tagbetrieb auch nicht weiter auf. Und diesen Ort wollte François nun aufsuchen. Sébastien erinnerte sich, dass sie bereits den einen oder anderen Plan zwischen den furchterregenden, fratzenhaftigen Plastiken des armen Bildhauers geschmiedet hatten. "Und ruh dich aus. Du siehst ein bisschen mitgenommen aus.", sagte François mit einem Schmunzeln und deutete dabei auf seine Nase und lachte dann. Er umarmte Sébastien zum Abschied und verschwand weiter zwischen die engen Gassen. Irgendwo hinter sich hörte er die Gardisten und verschwand auch in der Stadt.

Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:30 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Es waren Fratzen, furcherregende Fratzen, die in der Werkstatt standen. Es roch nach steinigem Staub, aber auch nach Metall und Rost. Es war unangenehm warm im Atelier. Hinter halbfertigen Büsten brannte ein kleines Kohlenfeuer auf einem schweren Metalltisch und wurde von einem kleinen Blasebalg angefeuert. Ein Mann mit grau mellierten, langem Haar hatte ein russchwarzes Gesicht, fettige Flecke von den schweren, verrusten Lederhandschuhen, welche eine Zange hielten. Er erhitzte ein Stück Metall und formte es mit immer wieder mit Zwingen. Seine Augen waren von einer primitiven Brille geschützte, der Handschuh war alt. Es roch furchtbar nach rusigem Eisen. Es war Achille, ein schmaler, drahtiger Mann mit eingesackten Schultern und fliehendem Kinn, der zumindest physisch nicht an seinen berühtem Namensvettern[3] erinnerte. Soweit Sébastien wusste, war er auch psychisch kein Achill. Seine Pläne zur Veränderung der Welt waren im Jugendalter auf der Strecke geblieben. Er war nun im mittleren Alter. Es wusste keiner der Blanquisten so genau. Achille sprach nicht viel über sich. Er war alt genug, um an der Februarrevolution 1848[4] teilgenommen zu haben und das hatte er auch. Aber er sprach auch darüber wenig. Reste seiner Verbundenheit waren noch vorhanden, das Atelier war Zeuge dessen.

Sébastien umrundete die Büsten reicher Bürger, die sich hatten abbilden lassen und jene verzerrten Ebenbilder lokaler und berühmter Politiker. Sie waren nicht sehr realistisch dargestellt. Ihre Gesichtszüge waren verzogen und überzeichnet. Sie erinnerte an eine Symbiose aus menschlichen Antlitz und tierischer Fratze. Manche betrachteten es als Kunst, viele ließen ihre Büsten in seinem Atelier oder seiner Galerie stehen, weil sie sich anderes vorstellten und dann nicht bezahlten. Achille war in dem Ruf, dass er die Gesichter umso mehr entmenschlichte, umso unfreundlicher und unmenschlicher er einen Menschen wahrnahm. Seiner Meinung nach hatte nur ein Mensch[5] das Recht, ein realistisches Ebenbild seiner selbst zu sehen. Er behauptete, dass er keinen solchen Menschen getroffen hätte, andere behaupteten, dass er dies als Ausrede benutzte, weil er nicht in der Fähigkeit stand, seine Büsten mit Realismus zu segnen. Der Feuilleton stritt nur kurz über seine Kunstfertigkeit oder vielmehr Kunstunfertigkeit, dann war Achille Petit wieder vergessen. Er war für die Pariser Kunstszene nicht exzentrisch genug, sein Werk nicht provozierend genug. Einen Paul Cézanne verspottete man jedenfalls noch unter Zeitgenossen, doch einen Achille Petit? Die Geschäfte liefen schlecht und man sah es dem Atelier an. Es war schmutzig und verfiel. Der Putz verabschiedete sich, im Galerieraum roch es feucht und unter dem Schaufenster setzte der berühmte Gießkannenschimmel[6] an. Es fühlt sich entweder klamm oder zu heiß an. François hatte bereits gemutmaßt, dass Achille schon eine Weile die Miete nicht mehr zahlen konnte. Wahrscheinlich würde es ihr letztes Treffen im Atelier werden.

François wartete am Ende des Lagers und stand in der offenen Holztür, eine Zigarette im Mundwinkel und die Taschenuhr in der Hand. Er blickte sich lächelnd um, als Sébastien sich durch die lagernden Werke kämpfte und mehr als einmal gegen am Boden liegende Metallreste stieß. Sein bester Freund war nicht alleine. Auf der anderen Seite der Tür stand ein Pfaffe, wenn Sébastien es richtig sah. Er hatte die Arme in seinen Ärmel verborgen, als hätte er eine Kutte an, auch wenn er ein einfaches, schwarzes Sakko trug. Er trug eine schwarze Manchesterhose[7] mit den berühmten Längsrippen. Sie war abgewetzt, aber Sébastien wusste, dass es ein Pfaffe war. Nicodème Bouthillier, wenn Sébastien sich recht erinnerte, war ein Pfarrer einer der nahegelegenen Kirche und ein Freund der Sozialisten. Wahrscheinlich sollte er einen Zugang zu Darboy ermöglichen oder zumindest mit Expertise über innere Angelegenheiten glänzen. François lächelte und schlug Sébastien auf die Schulter.
"Darf ich vorstellen? Sébastien - Nicodème, Nicodéme - Sébastien. Ich habe mir erlaubt, unsere Unterredung etwas vorzuziehen. Falls das jemand auf dem Platz in den falschen Hals bekommen hat und irgendeinen Gardisten anzusetzen wagt, nicht wahr?", François lächelte so, als hätte er dem Gesetz ein Schnippchen geschlagen, auch wenn die Nationalgardisten ihnen näherstanden als sie den Republikanern wohlgesinnt waren. Der Pfarrer in seiner Zivilkleidung wirkte beinahe leger, seine tiefbraunen Augen musterten Sébastien Moreau aufmerksam, aber nicht unfreudlich. Sie waren von ausgeprägten Krähenfüßen eingerahmt, wie auch sein Mundwinkel von tiefen Falten eingerahmt waren. Ein Gesicht, welches das Lachen gewohnt war. Er passte gar nicht in diese so ernste, tierische Galerie. Er war groß gewachsen und von hagerer Gestalt mit einem sympathischen Aussehen. Seine krumme Nase und sein unregelmäßiges Kinn bestimmten ein nicht schönes, aber eben offenes und markantes Gesicht. Er nahm seine etwas kleine Baskenmütze ab und nahm sie vor die Brust und deutete eine Verbeugung an. "Sehr erfreut.", setzte er hinterher. Die sonore Stimme eines Mannes, der Worte gewohnt war. "Wir müssen noch auf die Familie Lavalle warten.", erinnerte François und blickte kritisch auf seine Taschenuhr und blickte nach draußen. "Allerdings habe ich sie kurzfristig informiert, sie dürften sich also ein paar Minuten Zeit lassen."

Ein Moment der Stille folgte und der Pfarrer setzte die Baskenmütze wieder auf. Sein glattrasierte Gesicht lag in seiner rechten Hand. Er rieb sich die Wangen und dachte nach. Er blickte über seine Schulter. Etwas wie Nervosität lag in seinem Blicke. "Meine Herren, dann erlauben Sie mir, die Zeit so zu füllen, dass ich Sie ausdrücklich warnen möchte. Die Familie Lavalle, wie Sie sie nennen, sind vielleicht nicht die beste Gesellschaft. Monsieur Durand, ich weiß, dass Sie dieses Themas überdrüssig sind und nicht mehr darüber verhandeln wollten. Erlauben Sie mir, dass ich vor Ihrem besten Freund nochmal an Ihre Vernunft appelliere." Schuldbewusst blickte er zu Sébastien, weil er diesen in den Disput mit einbezog. François schnaufte verächtlich wie ein Kind, dass man zum zehnten Male belehren wollte, dass man nicht mit dem Feuerzeug spielte. Aber er intervenierte nicht. "Die Lavalles stehen im Unstern der Infamie und der Käuflichkeit, Monsieur. Ich habe einige Befürchtungen Ihres Planes bezüglich, denn der Fisch stinkt immer vom Kopfe her und wenn sie denn Herrn Darboy als Austausch für ihren Herrn Blanqui planen und zum Kopf ihrer Pläne die Lavalles machen... Die Lavalles haben ein Renommee für Gewalt, wissen Sie, Monsieur Durand. Nicht jene Form der Gewalt, die wir unter befreiende oder notwendige, oder zumindest gerechte Gewalt verstehen. Ich rede von ungerechtfertigten Übergriffen und Gewaltausbrüchen, von Zeter und Mordio. Ich wünschte, ich könnte Ihnen Beweise für meine Worte anvertrauen. Aber ich habe Sie nicht bei mir. Ich habe sie nicht, aber ich weiß es. Und wenn Sie zwar den Darboy nehmen wollen - denken Sie an unsere Abmachung, dass ihm dann nicht passieren soll - dann muss ich darauf bestehen, dass Sie mir helfen, dass keinem Klerikalen etwas passiert. Es ist schon ein brüchiger Kompromiß, aber machen Sie es mir nicht noch schwerer."
Hilfesuchend, wenn auch nicht verzweifelt, blickte der Pfarrer in Zivil zu Sébastien. "Oder was ist Ihre Meinung? Sie denken doch auch, dass wir von der Gewalt wenn möglich Abstand gewinnen sollten, nicht wahr? Ich meine, haben Sie von den Unruhen heute Morgen auf dem Place Blanche gehört? Die Nationalgarde soll hart gegen eine kleine Gruppe Aufständischer durchgegriffen haben. Ich habe die Befürchtung, dass wenn wir von der Gewalt zu sehr Gebrauch machen, dass es uns nicht zum Ziele von Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit bringen wird, sondern nur auf das Schafott, ehe wir uns vor Gott nochmal auf den Schuldstuhl setzen müssen." François blickte ebenfalls zu Sébastien, gespannt auf dessen Antwort. Ein kühler Luftzug drängte sich durch die Tür, im rückwärtigen Teil der Werkstatt begann derweil ein kurzes, schnelles Hämmern. Achille arbeitete an seinem nächsten Werk, welches in diesem Lager verrosten würde.
 1. Paul Cézanne (http://de.wikipedia.org/wiki/Paul_C%C3%A9zanne#Paris_1861.E2.80.931871)
 2. Guinguette (http://de.wikipedia.org/wiki/Guinguette)
 3. Achilleus (http://de.wikipedia.org/wiki/Achill)
 4. Februarrevolution (http://de.wikipedia.org/wiki/Februarrevolution_1848)
 5. im Sinne eines humanistischen (http://de.wikipedia.org/wiki/Humanismus) Weltbildes
 6. Schwarzschimmel (http://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzer_Gie%C3%9Fkannenschimmel)
 7. Cord (http://de.wikipedia.org/wiki/Cord_%28Gewebe%29)
avatar Sébastien Moreau 08.Mar.2014 09:03
Sébastien war froh, François nach einiger Zeit des Umherstreifens in den Straßen, in der er (wie angeraten) etwas Ruhe, aber auch der Zerstreuung gesucht hatte, am anderen Ende von Achilles Lager wiederzusehen. Die jüngsten Erlebnisse auf dem Place Blanche hatten ihn in den vergangenen zwei Stunden nicht losgelassen, besonders nicht der Anblick des sterbenden, jungen Lockenkopfes, der es trotz der Tollkühnheit, sich mit Bewaffneten anzulegen, nicht verdient gehabt hatte, mit einer Kugel im Auge zu enden. In gewisser Weise hatte Sébastien sich in dem Burschen wiedererkannt und wahrscheinlich war er selbst nur dank seines besten Freundes noch glimpflich aus der Situation hinausgekommen, denn wäre François nicht gewesen, der ihn mitgezogen hätte, hätte Sébastien sein Zögern vielleicht auch mit übleren Verletzungen bezahlt. Nach Hause zurückgekehrt war Sébastien nicht, da seine Joséphine wohl davon ausging, dass er in diesem Moment arbeitete, und es besser war, wenn sie nicht wusste, dass er sich davor drückte und was er stattdessen trieb. Die dröhnenden Kopfschmerzen war er noch nicht losgeworden, selbst ein kräftiger Schluck Fusel hatte keine Abhilfe schaffen können.

Doch Sébastien begrüßte seinen besten Freund mit einem breiten Grinsen und erwiderte lächelnd „Freut mich ebenfalls“, als er dem Pfarrer vorgestellt wurde. Vermutlich war es eine gute Idee gewesen, das eigentlich für den Abend geplante Gespräch vorverlegt zu haben. Von den Nationalgardisten hatte Sébastien für heute genug, aber auch allgemein konnten sie sich eine Vereitlung ihres Planes nicht leisten. Die Zeit drängte, denn der Termin der Wahlen stand fest und rückte Stunde um Stunde näher. Nicodème Bouthillier war, wie man es von Geistlichen erwartete, ein besonnener Mann, wie Sébastien aus dessen Worten schloss, besonnen und darauf bedacht, das Richtige zu tun. François hatte die Lavalles auf dem Place Blance als fähig und erfahren dargestellt, daher war Sébastien das Gerede von Käuflichkeit, Gewalt und sogar Mord neu. Sébastien selbst kannte die Lavalles nicht und konnte sich durchaus vorstellen, dass Nicodèmes Überzeugungsversuche, von einer Zusammenarbeit mit diesen Leuten abzusehen, nicht nur Paranoia oder ein verzweifelter Versuch eines Priesters waren, Darboy in Frieden zu lassen, aber da François sich von dieser scheinbar nicht zum ersten Mal geäußerten Warnung beeindrucken ließ, wusste Sébastien nicht, warum er selbst beunruhigt sein sollte, bevor er sich nicht selbst ein Bild gemacht hatte. Eigentlich wollte er es bei dem gedanklichen Entschluss, abzuwarten und sich die Lavalles erst einmal anzusehen, belassen, hätte der Pfarrer ihn nicht ins Gespräch mit einbezogen.

„Oh ja, ich habe von diesen Unruhen gehört“, bestätigte Sébastien mit einem kurzen Blick zu François, bevor er wieder den nervösen Pfarrer fixierte. „Aber es war keine kleine Gruppe Aufständischer: Die Nationalgarde hat sich unnötigerweise mit Waffengewalt in eine Rangelei eingemischt, die sie nichts anging und die sich ohnehin aufgelöst hätte, hätten beide Seiten erst einmal ihren überhitzten Gemütern Luft verschafft.“ Sébastien war zufrieden mit seiner Form der Richtigstellung. Die Gardisten hatten ihre Pflicht getan, für Ordnung zu sorgen, das mochte stimmen, aber wahrscheinlich hatte die Schlägerei nur deswegen sehr blutig geendet – und tödlich für zumindest einen Burschen. Nicodème schien Angst um sein Leben und Seelenheil zu haben, Angst vor dem Menschen, den seine Taten aus ihm machen könnten. Der Pfarrer hatte ein gutes Herz, nur fehlte ihm momentan noch die Entschlossenheit, kleinere Übel für das große Gute hinzunehmen. Sébastien konnte verstehen, dass ein Mann der Kirche Skrupel hatte, eine Vorgehensweise einzuschlagen, die ihn in Gewissenskonflikte bringen könnte, und verurteilte Nicodème dafür nicht. Er fasste es positiv auf, dass der Priester dennoch hier war, um sie zu unterstützen. Nun schenkte er Nicodème ein mitfühlendes Lächeln und versuchte, diesen zu beruhigen.
„Sehen Sie, Nicodème, wir alle wollen dies so zivilisiert wie möglich hinter uns bringen“, versicherte Sébastien, denn es dürfte selbstverständlich sein, dass „Zeter und Mordio“ ihrer Sache nicht dienlich sein konnte. Der junge Arbeiter konnte zwar durchaus impulsiv sein und wusste, seine Fäuste einzusetzen, doch obwohl dieser Weg manchmal ein sehr guter war, um den eigenen Standpunkt deutlich zu machen, sah er sich nicht als brutalen Menschen.
„Natürlich denke ich, wir sollten von unnötiger Gewalt Abstand nehmen und uns nicht zu Grausamkeiten hinreißen lassen“, sprach Sébastien aus, was Nicodème hören wollte, aber nicht nur, um diesem gut zuzureden, sondern auch aus eigener Überzeugung, „jedoch werden wir unweigerlich mit dem Gesetz in Konflikt kommen“, gab er zu bedenken, „– und davor sollten wir auch nicht zurückschrecken, genausowenig wie vor drohender Bestrafung, denn dieses Risiko werden wir gezwungen sein, einzugehen, damit wir unsere Ziele erreichen können. Und dies sind keine schlechten Ziele und wir sind keine schlechten Menschen, das wird Gott erkennen, selbst wenn einige uns für unsere Taten verurteilen werden. Umso mehr werden uns allerdings dankbar sein, wenn es uns gelingt, unseren Louis und Paris zu befreien.“
Sébastien hatte den Plan seines Freundes zu seiner eigenen Überzeugung gemacht. François hatte ein kluges Köpfchen und dass die Arbeiter Paris' Anleitung brauchen würden, um eins zu werden, war offensichtlich.
„Diese Stadt versinkt in diesen Tagen in einem blutigen Chaos“, fuhr Sébastien nach einer kurzen Pause fort, „das wissen Sie selbst, und wir brauchen Monsieur Blanqui als Unterstützer und Gesicht unserer Sache, um einen unangenehmen Ausgang der Wahl und womöglich weitere unschuldige Todesopfer zu verhindern. Dies soll trotz der Art unseres Vorhabens eine weitestgehend friedliche Lösung sein, denn Louis wird Paris auf den Weg der Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit bringen und uns helfen, diesen Weg nicht mehr zu verlassen.“
Er lächelte zuversichtlich, bevor er im Anschluss auf die Lavalles zurückkam, auf die er schon gespannt war. François' und Nicodèmes Darstellung unterschied sich schließlich grundlegend.
„Sie müssen allerdings auch verstehen, dass wir tüchtige Leute brauchen, um unseren Plan zu verwirklichen. Wir selbst haben kaum Erfahrung in solcherlei Dingen, aber ich will meinem Bruder“, dabei klopfte er François bestärkend auf die Schulter, „voll und ganz vertrauen, wenn er der Überzeugung ist, die Lavalles seien die Richtigen. Sorgen Sie sich nicht um den Darboy, denn er ist zwar ein Mittel zum Zweck, aber noch immer ein Mensch und zudem Pfaffe. Wir werden ihn freigeben, sobald Louis frei ist. Ich werde Ihnen helfen, von ihm und auch von anderen unrechten Schaden abzuwenden, ich gebe Ihnen mein Wort, Père.“ Wohl bot Sébastien nicht ganz die Unterstützung, die sich der Pfarrer wohl erhofft hatte, denn er sprach sich nicht gegen die Lavalles aus, aber er meinte es ernst, unnötig gewalttätige Übergriffe nicht zulassen zu wollen. Im Sinne von Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit wäre es tatsächlich nicht, eine Geisel oder auch andere Geistliche schlecht zu behandeln, da gab er Nicodème Recht.
avatar Carl von Lütjenburg 09.Mar.2014 08:03
Falls Carl nervös war, die Ungewissheit sich auf seine Nerven schlagen sollte, dann konnte man dies höchstens an sein seinem finsteren Gesicht erkennen und daran, dass er Pauls Cidre zwar dankend angenommen hatte, jedoch nicht trank. Er spielte mit dem Glas herum während er selbst gesprochen hatte und hielt es ruhig zwischen beiden Händen, währen er Pauls Ausführungen aufmerksam zuhörte.
Ehrlich gesagt wusste Carl nicht, was er tun sollte, würde Paul seine Bitte ablehnen. Kurz dachte er an den schwarzen Braunschweiger. Wäre so einer nicht geeigneter, um Carls Aufgabe zu lösen? Hätte er Paul überhaupt um Unterstützung gebeten und wenn ja, hätte er dem alten Mann etwas angetan, wenn dieser abgelehnt hätte?
"-tun, was mir möglich ist, um Leben zu erhalten. Sie müssen mir Ihr Wort geben, dass Sie das nicht ausnutzen werden." Carl hatte zugehört, während er sich seine Gedanken gemacht hatte, doch nur langsam sickerten Pauls Worte in den Verstand des Soldaten. Es brauchte etwas, bis sich das befreiende Gefühl, die Erkenntnis einen kleinen Erfolg errungen zu haben in ihm aufkeimte, so dass sein Mienenspiel weniger düster daherkam und sich die Andeutung eines milden Lächelns erkennen ließ.
"Herr Zeidler, ich danke Ihnen, Sie geben mir neue Hoffnung." Diese Worte mochte Paul vermutlich schon öfter gehört haben, jedoch wohl niemals unter solchen Umständen. Endlich trank Carl einen Schluck Cidre und fuhr dann fort "Sie kennen nun meine Intentionen und wissen, dass ich im Sinne der Preußen handle. Im Moment bedeutet das, dass wir beide Leben schützen und erhalten wollen und ich sehe nicht, dass sich das so bald ändern sollte. Dennoch gebe ich Ihnen mein Ehrenwort als deutscher Offizier, dass ich alles dafür geben werde, dass sie Ihr Vertrauen und ihre Hilfsbereitschaft nicht bereuen werden. Dennoch kann ich nicht versprechen, dass wir gewaltfrei aus der Sache herauskommen können, nicht wenn sich Menschen-" Carl unterbrach sich, ehrlich aufgebracht von der eigenen Wortwahl "- nicht wenn sich Subjekte, wie die Lavalles ebenfalls auf dem Schachbrett befinden." Kurz verstummte er, blickte in dem ansonsten unbelebten Raum umher, sah in sein Glas, trank einen Schluck und blickte dann Paul an.
"Ich habe darüber noch nie mit jemandem gesprochen, und ich werde auch keine Details nennen, doch sie sollten es wissen, um einen Eindruck von diesen... Personen zu bekommen.
Im Winter '63 habe ich in Kiel studiert, damals war ich Leutnant und eben für das Studium freigestellt. Ich wurde mit zusammen mit einigen Freunden und anderen Personen, von denen ich manche heute meine Freunde nennen darf in einen gewissen diplomatischen Vorfall verwickelt."

Kurz dachte Carl an die damaligen Ereignisse und besonders an Alfred Nobel zurück. Wo er sich wohl gerade aufhielt und was er tat? Ihre Korrespondenz war im besten Falle sporadisch, dennoch war eine Freundschaft aus ihr erwachsen.
"Der Mann - Lavalle - man nennt ihn den Tortionnaire[1]. Damals erschoss er einen meiner Freunde, und direkt darauf auch beinahe mich selbst. Seine Frau verfügt meines Wissens nach über keinen so farbenfrohen Beinamen. Jedoch führte sie kurz nach den tödlichen Schüssen ihres Mannes einige Söldner gegen uns in den Kampf, zudem versteht sie sich aufs Übernatürliche.
Sehen Sie, Paul, in dieser Sache ging es unter anderem um die damals beschlossene Bundesexekution und  damit dem nachfolgenden Krieg. Ich habe selbst meinen Anteil daran, wie die Dinge damals zustande gekommen sind, doch dieses infernalische Duo arbeitet mit vollkommen anderen Methoden. Erpressung, Fälschung, Mord, Verschleppung und nicht zuletzt zwingen sie Unschuldige und Unbeteiligte in ihre Dienste. Darüber hinaus tun sie dies nicht für einen Staat oder einer Idee, der sie anhängen, sie sind Söldner, Herr Zeidler! Söldner!"
Es klang ein wenig so, als wäre für Carl das Söldnertum der Lavalles ein viel größeres Gräuel als die Wahl ihrer Methoden. Er war nicht erregt, aber dennoch lauter geworden und unterbrach sich nun, um wieder zur Ruhe zu kommen.

Er saß nun breitbeinig vornübergebeugt, die Ellen auf die Oberschenkel gestützt und die Finger ineinander verschränkt.

"Was schlage ich also vor? Wir müssen herausfinden, wer dieser Louis ist, denn die Kommunarden befreien wollen und wer die Person ist die sie den Parisern wegnehmen wollen. Den Leuchtturm des Mutes, sagt Ihnen das etwas?
Ist Ihnen auf dem Place Blanche der große Kerl mit dem Tischbein aufgefallen? Ich glaube, dass er der Sohn von General Lecomte ist, der vorgestern ermordet wurde. Sie haben vielleicht bemerkt, dass ihm einige junge Männer gefolgt sind. Offiziere und Soldaten, wie er und sein Vater. Ich weiß noch nicht wie man das angehen sollte, aber wir werden sie vermutlich brauchen. Entweder um Stimmen bei der Wahl auf ihn zu bündeln, oder wenn es hart auf hart kommt...
Ich kenne mich in Paris noch nicht gut genug aus, aber Sie, Paul, Sie kennen sich gut aus, die Leute kennen Sie und Sie kennen Leute. Was denken Sie?"

 1. franz. Folterknecht
avatar Menthir 11.Mar.2014 10:03
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:32 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Nicodéme nickte und es wirkte etwas resigniert. Nicht aufgrund er genauen Worte, die Sébastien benutzte, sondern vielmehr, weil er diese Art der Reaktion erwartet hatte. Dass François ein leichtes, aber eben sichtbares, zufriedenes Lächeln ausstrahlte, bestärkte den Ausdruck Nicodémes nur. Beinahe unmerklich zuckte er mit den Schultern, eine Geste des Einlenkens. "Ich will euren Worten glauben, ich kann es nicht gänzlich. Aber dennoch werde ich euch weiter helfen. Ich will in Gott vertrauen, dass eure Wege euch nicht an Pässe mit hohem Blutzoll führen und wenn doch, dass ihr das Rückgrat habt, umzukehren, ehe ihr euch im uferlosen Meer der Gewalt ertrinken seht." Nicodéme nickte eindringlich und Sébastien erkannte, dass der in Cord gekleidete Priester mehr über die Ereignisse des Morgens auf dem Place Blanche wusste. Allerdings sprachen ihre Körper auch noch Bände von den jüngsten Zusammenstößen. Nicodéme hatte ein waches Auge für die wunden Fingerknöchel von jungen Männern. Das Zeichen, ob sie zurückzuschlugen oder eher die zweite Wange hinhielten. Sowohl die Fingerknöcheln von François als auch jene von Sébastien zeigten deutliche Abschürfungen und kleine Blutergüsse. Ihre Fäuste erzählten kleine Geschichten der Gewalt. Es machte es Nicodéme nicht leichter, seine Befürchtungen zu schlucken. Aber für die Sache tat er es, aus seinen eigenen Gründen, wohl hin und her gerissen zwischen der Hoffnung auf göttlich-inspirierte Hilfe und der Notwendigkeit des Menschen sich und seinen Nächsten selbst zu helfen. François, der die Angewohnheit hatte, solche Szenen zu kommentieren, behielt jedoch seine Worte zurück. Es gab nichts mehr zu sagen, außer er wollte, dass Nicodéme doch noch zurückzog. Zudem sah er durch die Tür, genau wie Sébastien, dass eine Frau sich bestimmt und schnell, doch mit elegantem Schritt näherte.

Sie hatte rote Haare, die fast kirschrot sein mochten. Sie war etwas größer als die durchschnittliche Französin, sie war von schlanker Gestalt und trug ein blaues Kleid, welches zumindest im Torso ihrer schlanken Figur angepasst war. Sie trug vielleicht etwas zu viel Lippenstift und zu viel weißes Puder, welches ihr scharf geschnittenes Gesicht mit den erkennbaren Wangenknochen fast etwas puppenartig wirken ließ. Ihr blaues Kleid unterstrich diesen Anblick noch und dennoch schien durch, dass sie zumindest von vielen Männern eher den attraktiven Frauen zugerechnet wurde. Ihre Augen deuteten jedoch eine wenig romantische Tiefe an. Sie stachen bereits aus einigen Metern hervor, und verrieten eine ungewöhnliche Art Entschlossenheit, wie wenig Menschen sie in die Gesichtszüge geschrieben hatten. "Erica Lavalle.", sagte François trocken und schaute zu, wie die Frau mit den langen roten Haaren sich der Werkstatt durch den Hinterhof näherte. Nicht schwebend, sondern mit kräftigen, festen Schritt überquerte sie die Türschwelle und stellte sich wie selbstverständlich zwischen die drei Männer mit den sozialen Gedanken.
"Mein Mann lässt sich entschuldigen.", eröffnete sie bestimmt und erhob die Hand zum Gruße und um die Worte der anderen, Worte der Vorstellung, der Höflichkeit, des Annäherns zu ersticken. Ihre Stimme hatte etwas herrisches, nichts duldendes. Ihr linkes Augenlid zuckte, als sei sie erzürnt. An der linken Schläfe pulsierte unter dem weißen Puder eine zarte Ader. "Er lässt ausrichten, dass er wenig erfreut über Ihre Unzuverlässigkeit ist und rät Ihnen, sich etwas an der preußischen Zuverlässigkeit zu stählen. Der Arme hasst Unzuverlässigkeit und Unabwägbarkeiten und Ihre willkürlichen, nicht im Vornherein benannten Bonbons, die sie sich mit einer unverschämten, impertinenten Selbstverständlichen nehmen und zwar aus unserem Naschtopf. Da Sie jedoch nicht die verabredeten Termine halten, aufgrund unziemlicher Paranoia vor Ihren eigenen Verbündeten - Den Nationalgardisten! - hat mein Mann sich dafür erwärmt, Ihnen Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Er lässt Sie also in dieser Stunde alleine und erwägt, über seine Befehle nicht weiter auf Augenhöhe zu diskutieren. Ihre unprofessionelle Art gefährdet das Geschäft.", dozierte sie mit wütender, etwas rauchiger Stimme, die trotz ihres Klanges etwas faszinierendes hatte, eine Spur des Verruchtseins. Ihre Augen musterten jetzt alle Anwesenden und lagen ein wenig länger als notwendig auf Sébastiens[1]. "Wie dem auch sei. Ich übernehme die Geschäfte mit Ihnen vorerst, bis Sie sich würdig erwiesen haben, mit meinem Mann direkt in Kontakt zu treten. Als Test Ihrer Würdigkeit sieht er die Entführung von Darboy. Sollten Sie darin erfolgreich sein, werden wir Ihnen mehr als nur unser Wissen anbieten, sondern auch für Sie handeln. Für jetzt jedoch müssen Sie ohne unsere Tat leben und zeigen, was Ihnen steckt." Kurz wanderten zwischen ihre Augen zwischen den drei Männern hin und her. Sie atmete jetzt ruhiger, im Hintergrund war der Hammer Achilles auf dem Eisen zu hören. Ihre Augen kehrten zurück zu Sébastien. "Und er ist der ungewöhnliche junge Mann, in den Sie Ihre Hoffnungen stecken?" Sie berührte Sébastien prüfend mit Klavierspielerfinger an der rechten Wange. Sie fühlten sich kalt und trocken an, dennoch spürte er ein leichtes, fast elektrisches Prickeln in der Wange. "Ihr Vertrauen könnte gerechtfertigt sein." Sie ließ ihn wieder los. François wollte etwas sagen, doch sie hob die Hand, um ließ ihn verstummen. Scheinbar war François diese Geste gewohnt, denn er ließ sie weitersprechen. "Ich mag Männer mit Visionen. Nicht jene, die nur Männern mit Visionen hinterherlaufen." Beinahe strafend blickte sie François an und blickte dann zu Sébastien. "Sind sind Sébastien Moreau, oder? Ich habe von Ihnen gehört. Beantworten Sie bitte eine Frage. Wenn ich Ihnen eine nagelneue Chassepot[2] mitgeben würde, würden Sie diese einsetzen oder würde Sie dem Sentiment dieser...Männer...hier folgen und Darboy mit einem Blackjack[3] aus seiner Kirche zerren? Oder würden Sie gar versuchen, den Mann zu überzeugen?" Bei dem letzten Satz lachte sie beinahe, als würde sie diese Option für närrisch halten. Provozierend blickte sie Sébastien an, etwas verruchtes lag in diesem Blick. Dann schmunzelte sie. "Sorgen Sie sich nicht. Von Ihrer Antwort hängt lediglich ab, welche Informationen ich Ihnen darbiete."
 1. Doch doch, ich liebe meine Frau, aber...
 2. Chassepot-Gewehr (http://de.wikipedia.org/wiki/Chassepotgewehr)
 3. Blackjack (http://de.wikipedia.org/wiki/Blackjack_(Knoten))
avatar Sébastien Moreau 14.Mar.2014 11:03
Sébastien erkannte, dass Nicodème im Klaren über das Treiben der beiden jungen Freunde an diesem Morgen war. Gewiss, Fäuste waren gepflogen und Menschen verletzt worden, doch hatte es, bevor sich die Nationalgarde eingemischt hatte, niemanden gegeben, den Sébastien als Opfer bezeichnet hätte. Dabei nahm er Paul Zeidler, der nicht in den Kampf verwickelt gewesen war, aus der Zählung heraus. Beleidigungen und Zorn hatten zu der Schlägerei geführt – und nicht zuletzt das streitsuchende Gehabe des ersten, der Sébastiens Faust zu spüren bekommen hatte –, allerdings fasste Sébastien derartig in einer Meinungsverschiedenheit und zudem beidseitig ausgetauschte Gewalt nicht als wirkliche Gewalt, sondern als faire Argumentation auf. Nicodème musste als Mann, der Nächstenliebe predigte, anderer Meinung sein, aber Sébastien fand, dass der Priester überdramatisierte. Der junge Arbeiter war sich sicher, zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu können, und wollte sich, wie bereits geäußert, nicht zu Grausamkeiten hinreißen lassen. Der Pfaffe schien ein anständiger Kerl, allerdings aber auch ein Schwarzseher zu sein. „Pässe mit hohem Blutzoll“ und „Ertrinken im uferlosen Meer der Gewalt“: malerische Formulierungen, aber höchst pessimistisch. Sie ließen ein betretendes Schweigen folgen. Sébastien sagte nichts, nickte nur kurz als Zeichen der Zustimmung, in der Not Rückgrat beweisen zu wollen, denn Nicodème schien schon genug mit sich zu ringen, und dass selbst François den Mund hielt, war für dessen besten Freund Mahnung genug, es genauso zu halten.

So wäre Sébastien wohl jede Ablenkung recht gewesen, das ersehnte Auftauchen von Erica Lavalle fiel allerdings nicht so aus, wie der junge Arbeiter erwartet hätte. Zunächst erschien sie nicht in Begleitung ihres Mannes, aber auch sie selbst war anders als die Frauen, die er kannte, ja, auch anders seine Joséphine, die ihr sanftes Wesen selbst im Zorn nicht ablegte. Madame Lavalle war nicht nur von auffallendem und – wie Sébastien fand – ansehnlichem Äußeren, sie trat auch überaus selbstbewusst auf und zeigte ein Temperament, das so feurig war wie ihr rotes, langes Haar. Tatsächlich überrumpelte sie Sébastien mit ihrer bestimmenden Art und ihrem wütenden, tadelnden Tonfall, wobei sie das Wort allein für sich beanspruchte und noch nicht einmal eine Begrüßung von Seiten der drei Männer zuließ, zu denen sie gestoßen war. Ihre Predigt prasselte auf Sébastien ein wie harter Platzregen, was durch seine Kopfschmerzen nur verstärkt wurde, und ein Verdacht, warum François beim Nennen von Erica Lavalles Namen kaum mit Freude erfüllt gewesen war, kam in ihm auf. Aber dennoch… dennoch übte die Stimme dieser Frau, zusammen mit ihrer besonderen Erscheinung, eine Anziehungskraft aus, der Sébastien sich nicht entziehen konnte. Das und die Überraschung behinderten ihn etwas darin, unterdessen der genauen Bedeutung der Worte ihrer Standpauke zu folgen.

Noch ehe er nähere Gedanken über Unzuverlässigkeit, Bonbons und Paranoia fassen sowie über die Erwähnung von Befehlen, die Monsieur Lavalle gab, sinnieren konnte, oder gar zu einer Reaktion bereit gewesen wäre, lenkte Erica Lavalle ihn ab, indem ihr Blick auf ihm zum Ruhen kam. Zumindest musterte sie ihn länger als François und Nicodème und länger als unbedingt notwendig, was Sébastien durchaus auffiel und womit sie endgültig sein Interesse an ihr weckte. Denn obwohl er verheiratet war und seine Ehefrau und Kinder liebte, konnte er Vergnügungen und Verlockungen jeglicher Art nur schwer widerstehen – und was war verlockender als eine erotische Schönheit, die wusste, was sie wollte? Er war ein Mann und hatte seine Laster, weswegen er Madame Lavalles Aufmerksamkeit als Einladung ansah, oder wenigstens als Zeichen dafür, dass sich Bemühungen bezahlt machen könnten; und diese Aussicht gefiel ihm.

Sie redete von ihrem Mann, dem wenig erfreuten Monsieur Lavalle, der Spontanität nicht schätzte, und sie mit der Entführung des Darboys auf die Probe stellen wollte. Sébastien verspürte noch immer Neugier für diesen mysteriösen Lavalle, aber noch neugieriger war der junge Arbeiter auf die rothaarige Erica. Das Geschäft schien eindeutig zu sein: Wenn sie den Pfaffen entführten, würden die Lavalles ihnen mit Taten zur Seite stehen – und, das wichtigste: sie wären der Befreiung Louis‘ einen Schritt näher. Sébastien wollte zeigen, was ihn ihm steckte, vielleicht würde das auch Madame Lavalle gegenüber beweisen, dass er professionell sein konnte, wenn er es wollte – selbst wenn er nicht verstand, warum die Lavalles ein solches Aufheben um die Vorverlegung eines Treffens machten, jedoch fühlte Sébastien sich im Allgemeinen nun in gewissem Maße uneingeweiht. Es war so, als sei ihm irgendetwas entgangen.

Als die Frau Sébastien daraufhin gesonderte und offensichtliche Aufmerksamkeit zuwandte, wurde ihm klar, dass der gute François gegenüber den Lavalles offenbar in hohen Tönen über ihn gesprochen hatte. Aber gleiches hätte Sébastien auch über seinen besten Freund getan, auf den er große Stücke hielt. Als einen Mann mit Visionen hatte Sébastien sich noch nie gesehen, aber dies mochte wohl durchaus auf ihn zutreffen, obwohl eigentlich er es war, der auf François Betreiben anwesend war und nicht ungekehrt – aber das vergaß Sébastien über der Schmeichelei, als die er diese Äußerung auffasste (möglicherweise fälschlicherweise, aber er hörte, was er hören wollte). Allerdings hatten Erica Lavalles Berührung, vor der er nicht zurückzuckte, das folgsame Verhalten seines Freundes, zusammen mit ihrer verruchten, provozierenden sowie dabei entwaffnenden Art etwas Irritierendes, aber, nach wie vor, Anziehendes an sich.

Wenn Erica Lavalle Sébastien damit aus dem Konzept bringen und um den Finger wickeln wollte, verbuchte sie wohl einen Erfolg, allerdings wurde er sich ihrer Manipulation nicht wirklich bewusst. Im Gegenteil, diese fiel bei ihm auf fruchtbaren Boden. Einerseits wollte er mit seiner Antwort auf ihre Frage bezüglich seiner angestrebten Vorgehensweise bei der Entführung Eindruck bei ihr machen und sie zufriedenstellen – und was genau sie von ihm hören wollte, war nicht unbedingt leicht einzuschätzen –, andererseits wollte Sébastien auch an seiner eigenen Überzeugung und seinem Versprechen gegenüber Nicodème festhalten, dass er unnötigen Schaden von Darboy und anderen abwenden wollte. Es gab vielerlei Faktoren, die noch nicht genau geplant waren. Zumindest hatte Sébastien keine Kenntnis von solchen Planungen. Wo würden Darboy auflesen wollen und wie und wann? Wollten sie ihn aus der Kirche entführen, von der Straße oder aus seinem Bett? Wollten sie während der Entführung großes Aufsehen erregen oder Zeugen vermeiden? Sébastien wollte Verletzte vermeiden, auf beiden Seiten, denn Paranoia vor der Nationalgarde, wie Madame Lavalle es genannt hatte, wäre wohl auch in diesem Fall gerechtfertigt. Die Gardisten wären sich wahrscheinlich nicht im Klaren darüber, dass es eigentlich ihre „Verbündeten“ sein würden, die den Pfaffen entführten. Vermutlich würden sie so eine Aktion mit Waffengewalt unterbinden wollen. So war die Entscheidung für eine Antwort für Sébastien nicht schwer.

„Waffen sind überzeugender als Worte allein, Madame“, ging er im selbstsicheren Ton auf ihre Wortwahl ein, ohne ihrem Blick auszuweichen, und versuchte dabei, möglichst gelassen zu klingen, „doch würde ich davon absehen, Darboy niederzuknüppeln oder ihn mit einem Gewehr aus seiner Kirche zu scheuchen. Ich würde zunächst eine unauffälligere Methode bevorzugen, um Probleme zu vermeiden, bis wir ihn dort haben, wo wir wollen – die Ahnung von spitzem Stahl oder einem kurzen Lauf im Rücken wird ihn sicherlich fügsam machen und für weniger Aufsehen sorgen. Es sei denn, das genau ist erwünscht, oder Heimlichkeit ist irrelevant. In dem Fall wäre eine Chassepot wohl nützlicher als anderes.“
Nun blieb es wohl abzuwarten, was Erica Lavalle davon hielt.
avatar Paul Zeidler 19.Mar.2014 01:03
Paul hörte dem deutschen General unruhig zu. Seinen Cidre hatte er fast nicht mehr angerührt. Er seufzte hörbar auf, als von Lütjenburg geendet hatte. "Und ich dachte, dass ich mit der Politik fertig sei. Ich hatte mir damals gesagt, dass nicht mehr Deutschland oder ein anderes Land meine Heimat sei, sondern nur noch ecclesia[1]."

Paul stand auf und ging im Raum herum. Er brauchte einen klaren Kopf und das Gehen half ihm beim Nachdenken. Da waren viele lose Enden, die sich für ihn nicht zusammenbringen ließen. Viele Dinge störten ihn: das Politische, die persönlichen Feindschaften, das Parteiergreifen und die Aussicht auf Gewalt. "Herr Jesus Christus, was hättest Du getan?", murmelte er, als er die spärlichen Informationen rekapitulierte.
Paul wünschte sich, dass er sich aus der Sache heraushalten könnte, doch dies hätte den Tod von vielen guten Menschen zur Folge. Fakt war, dass Paul Teil dieser Welt war und er wahrscheinlich schon darum nicht ohne Sünde aus ihr heraus kam. 'Ein gottloser Mann, der die Geringen bedrückt, ist wie ein Platzregen, der die Frucht verdirbt', wusste schon König Salomo[2] und auch, dass 'kein Mensch so gerecht ist auf Erden, dass er nur Gutes tue und nicht sündige'[3]. Es war ein Dilemma und ohne Schaden kam er aus der Sache nicht heraus. Paul wusste aber auch, dass er genau aus diesem Grund nun eine Entscheidung treffen musste.

Paul kehrte von Lütjenburg den Rücken und kniete sich vor das kleine Kreuz auf dem Tisch an der Rückwand,eine Geste, die er sonst nicht tat. Doch angesichts der Sache,die zu tun war, war es ihm ein tiefstes Bedürfnis, in Demut vor seinen Herrn und Schöpfer zu treten. "Einem jeden Mensch hast Du ein Leben gegeben. Wir können uns die Umstände nicht aussuchen, aber wir können uns entscheiden, was die Umstände mit uns machen. Mein Herz sagt mir, dass ich für von Lütjenburgs Sache eintreten muss. Ich tue es, Gott, weil ich die Menschen so sehr liebe, wie Du sie geliebt hast. Ich habe nicht die Kraft, dass ich es schaffe, ohne mich zu versündigen. Ich bereue meine Sünde schon jetzt, aber tun muss ich sie. Ich vertraue Dir meine Schuld an und bitte Dich, sie mir um Deines Sohnes Willen zu vergeben oder mich zu richten, wie es Dir gefällt. Aber tun muss ich sie. Amen.", betete er leise.

Er bekreuzigte sich und stand auf. Er blickte von Lütjenburg streng an. "Bemühen Sie sich nicht, mir zu beweisen, wie verdorben und böse die Lavalles sind. Machen Sie mich nicht zu einem Teil einer privaten Rechnung. Ich höre doch, wie sie die Sache aufbringt. Ich möchte, dass sie ihren Freund in liebevoller Erinnerung behalten - aber ansonsten lassen Sie alle ich Gefühle fahren. Böse Gedanken vernebeln Ihren verstand und verleiten zu Dummheiten."

Paul setzte sich wieder an den Tisch zu von Lütjenburg. Er wischte sich mit der flachen Hand über das Gesicht, als könnte er die Anstrengung der Entscheidungen wie Schweiß einfach von sich abwischen. "Also gut. Unser erstes Problem ist, dass wir zu wenig wissen darüber, was in der Stadt vor sich geht und welche Möglichkeiten wir haben. Ich weiß auch nicht, wer oder was der 'Leuchtturm des Mutes' ist. Dass es ein Katholik sein muss, noch dazu einer mit einem gewissen Amt und Einfluss,ist deutlich. Es ist nicht ungefährlich für einen Protestanten in Paris und ich meide den Umgang mit Katholiken. Darum kenne ich mich da nicht aus. Dies herauszufinden, ist das Erste.
Mit diesem Louis, zweitens, kann ich Ihnen weiterhelfen
[4]. Es ist meines Erachtens der Kommunard Louis Auguste Blanqui gemeint. Er ist für den gewaltsamen Umsturz der Verhältnisse und will eine Diktatur des Proletariats erreichen. Auf ihn wird ein Zitat zurückgeführt, dass lautet: 'Dass Frankreich vor bewaffneten Arbeitern strotzt, ist der Beginn des Sozialismus'. Momentan ist er im Gefängnis.
Drittens müssen wir wissen, wer uns helfen kann und auch, was unsere Helfer selbst im Schild führen.Wir wollen doch nicht den Teufel mit dem Beelzebuhl austreiben, nein?
"

Paul schien noch einen Moment nachzudenken. "Also gut, Herr von Lütjenburg, ich schlage vor, dass sie versuchen, etwas über den Leuchtturm herauszufinden und warum dieser so wichtig ist. Ich werde mit dem Sohn von Lecomte sprechen. Oder sollen wir gemeinsam gehen?"
 1. alt-gr.:Kirche bzw. Versammlung von Gläubigen
 2. Spr 28,3
 3. Kohelet, 7,20
 4. Ich hatte den ersten Wurf ja geschafft (http://games.dnd-gate.de/index.php/topic,7708.msg882149.html#msg882149).
avatar Menthir 20.Mar.2014 09:03
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:34 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Die Augen der rothaarigen Dame schienen beinahe zu funkeln, mit diesem unheilvollen wie verlockenden Glänzen von spielerischer Zufriedenheit. François wollte abermals das Wort erheben, doch wieder diese Geste, die François verstummen ließ. Er öffnete den Mund einen Mund, als würde er wütend etwas erwidern wollen, doch die Frau legte nur den Kopf zur Seite und starrte François nieder. Etwas, was Sébastien bei seinem besten Freund noch nicht gesehen hatte, zumindest nicht mehr seit seine herrische Mutter Mathilde vor zwei Jahren verstorben war. Sein bester Freund war bekannt für seine Dickköpfigkeit und sein dandyhaftes[1] Gehabe, doch irgendwas an der Lavalle ließ den jungen Franzosen wieder so wirken wie ein Jüngling, der sich das erste Mal einer erwachsenen Frau mit den Hintergedanken von Erotik näherte.
Nicodéme jedoch fand seine Besinnung wieder und unterbrach nun seinerseits Erica Lavalle, die gerade zu einer Antwort an Sébastien ansetzte.
"Mit dem Leben Fremder zu kokettieren, Madame, ist unverzeihlich. Dies ist kein Spiel und es geht nicht um Personen. Sie werden bezahlt für Ihre Hilfe. Ich teile Ihr Verhalten nicht, Madame, hier aufzukreuzen und so zu tun, als sei das Wohl und Wehe einer gerechten, einer sozialen Sache von Ihrer Willkür allein abhängig. Wir wissen Ihre Hilfe zu schätzen und sie macht die Dinge einfacher, aber sein Sie versichert, dass wir uns nicht der persönlichen Belange von Ihnen und Ihrem zu unrecht erzürnten Gatten aussetzen, nur um Ihnen zu gefallen. Wir sind weder in unserer Sache blind, noch sind wir Ihnen ausgeliefert. Also fangen Sie uns an wie Menschen zu behandeln, und kommen Sie bitte zum Punkt."
Kurz zuckte die linke Augenbraue der rothaarigen Frau erzürnt, doch ihr Gesicht zeigte dennoch ein nur wenig glaubhaftes Lächeln. Sie drehte sich über die Schulter, ihren Körper noch immer Sébastien zugewandt, und versuchte Nicodéme ähnlich niederzustarren wie François, allerdings versuchte der sanftmütige Pfarrer gar nicht ihrem Blick standzuhalten. Er spürte, worauf es hinauslief, also blickte er unter ihrem Blick auf den Rock ihres blauen Kleides. "Sie sind kein Spaß, Pére. Sie sind einfach kein Spaß. Liegt Ihre Sorge etwa darin, dass Bürger des neuen italienischen Staates[2] nach Frankreichs Niederlage in Sedan[3] dem Kirchenstaat das Ende[4] bereiteten? Keine Sorge, Pére...", säuselte sie spöttisch und drehte sich, während sie sprach wieder zu Sébastien zurück, "Männer wie Sébastien werden Ihre katholischen Hintern verteidigen und auch Ihre Rechte, zumindest im Rahmen der Brüderlichkeit, der Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetze. Und Frauen wie ich, sind in der Tat Ihre einzige Chance, nun etwas zu verändern." Ihre Augen fixierten Sébastiens und ein lüsternen Blick schlich sich in ihr Antlitz, von Nicodéme und François nicht zu sehen. "Sehen Sie es so, es ist ein Schachspiel. Manchmal werden die Bauern geopfert, um das Spiel zu gewinnen. Die Spielregeln haben sich geändert und mit ihnen die Taktiken. Glauben Sie mir, ich habe viel mehr Schlachten und Revolutionen begleitet, als Sie sinnige Messen gehalten haben. Nun ist es so, dass die Bauern eben einen Läufer[5] opfern, um das Spiel zu gewinnen. Die Könige sind sowieso längst gefallen und in anderen Ländern fallen sie noch. Der Papst ist nichts anderes mehr als ein Johann Ohneland[6], der wild um sich schlägt. Sie sehen doch auch, dass Sie die Strukturen Ihrer Kirche verändern müssen, wenn Sie in der neuen Zeit Ihre Privilegien und Ihren Einfluss behalten wollen, Pére. Die Kirche verharrt im feudalen System. Die Kirche wird zurecht enteignet werden, wenn Sie sich weigert. Und glauben Sie tatsächlich, dass Männer wie Darboy umdenken, um die eigene Kirche zu retten? Mitnichten! Und so Pére, haben sie doch auch ideell zwei Möglichkeiten. Entweder Sie nehmen die Chance an, die ich und nur ich Ihnen biete oder Sie warten darauf, dass Gottes Mühlen langsam, aber gerecht mahlen. Ich fürchte jedoch, dass Ihre Kirche an Gerechtigkeit eher zugrunde gehen könnte."
Sie lächelte sanft, ohne Nicodéme anzuschauen. Sie hatte ihn, zumindest für ihr Empfinden, abgestraft und kümmerte sich nun wieder um Sébastien.

Sie sprach gleich weiter, mit ihrer leicht getragenen Stimme, um Nicodéme die Möglichkeit zum Gegenwort zu nehmen, und sie wechselte das Thema abrupt, um einen Rückbezug auf den Angriff, sollte der Pfarrer das wagen, unangenehm und deplatziert wirken zu lassen. "Sehr schön, Sébastien. Kein Mann, der sinnlos mit Gewalt prahlt, aber weiß Sie einzusetzen, wenn sie vonnöten ist. Das ist ideal. Das lässt jetzt die Wahl für zwei Vorgänge, zu denen ich ausreichend Information darbieten will. Es bleibt Ihnen, Darboy heute Abend beim Abendessen mit Freunden zu entführen. Das würde der stille Weg sein, zumindest der stillste, der Ihnen nützt. Ich würde jedoch einen Moment eher zuschlagen. Denkbar wäre hier, in die Abendmesse einzudringen und ihn vor möglichst vielen Augen zu entführen. Nicht für die Gewalt, für den Effekt. Man denke nur daran, wie sehr es dem Umstürzen alter Strukturen nützte, wenn möglichst viele..." Diesmal unterbrach François Erica, etwas fassungslos. "Aber die Kirche des Erzbistums ist die Kathedrale, also Notre-Dame[7]?" "Genial, oder? Wer würde denken, dass man den Darboy mitten aus seiner Abendmesse stibitzt. Das würde die Republikaner erst richtig unter Druck setzen, wenn sie nicht einmal ihre Pfaffen mitten am Tagen schützen können. Ich gebe zu, hier wäre zu viel Gewalt fatal. Aber es wäre ein Symbol, welches Ihrer Bewegung sehr hilfreich sein könnte. Und wenn Sie die richtigen Parolen rufen, das gilt auch für Sie, Pére, dann könnte es sogar der ganzen französischen Kirche helfen." Nicodéme räusperte sich nur unglücklich und verärgert und schwieg. Im Hintergrund hörte der Schmiedehammer auf zu arbeiten, ein letztes, erzürntes Zischen der Hitze im kühlenden Nass eines Eimers, dann schwieg die behelfsmäßige Schmiede. "Wenn Sie das nicht wünschen, wird Ihr Pére Ihnen helfen können, Zugang zum Hause zu bekommen, nicht wahr?" Nicodème schaute jetzt wirklich unglücklich drein, als würde es ihm auf einmal noch weniger gefallen. "Die Familie Bouthillier hat schließlich häufig und gerne reiche und einflussreiche Gäste im Haus, als kleine Reminiszenz an die alten Zeiten vor der Fronde[8], als man noch hoch im Lichte der Krone und Kirche stand[9] und die Söhne des Hauses nicht einfache Pfarrer werden mussten, sondern noch nach Bischofskronen griff. Eine Familie, verzerrt von dem Wunsche wieder in Glorie zu baden, abgesehen des abtrünnigen Sohnes, der sich mit Pack abgibt und dem niederen Volke den Aufstieg gönnt. Aus diesem Grunde ist Monsieur Darboy übrigens im Hause Bouthillier. Er möchte etwas vermitteln, hält sich unser Nicodéme doch für den kleinen Nachfolger, zumindest im Geiste, aber nicht in der Tat, eines großen Mönches. Arman Jean Le Bouthillier de Rancé[10]. Ach, die armen Bouthilliers, so eine tragische Familie. Wir sehen also, dass dieser Plan so seine Nachteile brächte, wenn man ihn im Hause Bouthillier durchführte. Zum einen wären es weniger Zeugen, sodass die Verhandlungsposition danach zwar noch immer stark ist für Blanqui, allerdings wären die Optionen und Limitierungen der Verhandlungen andere, zudem würde man die schwache Republikaner nicht brüskieren. Zum anderen würde Nicodéme damit wahrlich in Ungnade fallen bei seiner Familie. Das ist wirklich tragisch, nicht wahr?" Jetzt blickte sie über die Schulter zurück zu Nicodéme, sie lächelte jetzt süffisant und verletzend. "Ach nee. Nicodéme steht ja voll und ganz hinter der sozialen Bewegung. Deswegen wird es ihn nicht stören, wenn seine Familie ihn enterbt und er seinen Posten als gut bezahlter Pfarrer verlöre. Dann ist der Plan vielleicht doch ohne Haken, nur eben etwas effektloser." Ihr Blick fing wieder Sébastien ein. Während Nicodéme deutlich erbleichte. Er drehte sich weg und blickte jetzt aus der Tür hinaus, scheinbar um frische Luft zu atmen, vielleicht auch, damit man sein Gesicht nicht sah. Was mochte auf ihm liegen? Zorn, Ärger, Schuld? "Eure Mitstreiter haben nicht euren Verstand, Monsieur. Bestimmen Sie also, Sébastien, ob Sie in die Abendmesse wollen und Ihren Mitstreiter das Ordal[11] ersparen, oder ob Sie lieber den unauffälligeren, sichereren Weg wählen und dafür die Zukunft Ihres Freundes im Geiste opfern."
 1. Wir sind in der Zeit des klassischen Dandytums (http://de.wikipedia.org/wiki/Dandy).
 2. Das moderne Italien steht erst (mit nur noch kleinen Veränderungen seit Ende des Risorgimento (http://de.wikipedia.org/wiki/Risorgimento)
 3. Schlacht von Sedan (http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_von_Sedan)
 4. Der Kirchenstaat (http://de.wikipedia.org/wiki/Kirchenstaat) wurde am 6. Oktober 1870 von italienischen Truppen aufgelöst.
 5. In der englischen Sprache ist der Läufer im Übrigen der Bishop, deswegen das Gleichnis.
 6. John Lackland (http://John Lackland)
 7. Kathedrale Kathedrale Notre-Dame de Paris (http://de.wikipedia.org/wiki/Notre_Dame_de_Paris)
 8. Fronde (http://de.wikipedia.org/wiki/Fronde)
 9. Gemeint sind die beiden französischen Außenminister zur Zeit Kardinal Richelieus (http://de.wikipedia.org/wiki/Armand-Jean_du_Plessis,_duc_de_Richelieu) Claude Bouthillier (http://de.wikipedia.org/wiki/Claude_Bouthillier) und sein Sohn Léon Bouthillier (http://de.wikipedia.org/wiki/Léon_Bouthillier)
 10. Arman Jean Le Bouthillier de Rancé (http://de.wikipedia.org/wiki/Armand_Jean_Le_Bouthillier_de_Rancé)
 11. Ordal (http://de.wikipedia.org/wiki/Ordal)
avatar Sébastien Moreau 29.Mar.2014 08:03
Sébastien erkannte erfreut, dass seine Worte bei Erica Lavalle Anklang fanden, was seine Selbstsicherheit in der aktuellen Situation nur steigerte. Er war schon immer jemand gewesen, der offen seine Meinung sagte, und durchaus ein Mann der Tat war, wenn die Situation es erforderte, und wenn diese Einstellung einer anziehenden Frau gefiel, war das durchaus schmeichelhaft. Selbstzufriedenheit machte sich in ihm breit. Sein bester Freund hingegen schien sich von der persönlichkeitsstarken, rothaarigen Frau einschüchtern zu lassen. Wundern sollte Sébastien dies schon, immerhin kannte er François als sonst so selbstbewussten Sturkopf, aber die Erkenntnis, dass François zwar vieles nicht scheute, jedoch aber resolute Frauenzimmer, wie dessen Mutter eins gewesen war, amüsierte Sébastien dann doch. Der junge Arbeiter selbst fand gerade dieses selbstsichere Auftreten Madame Lavalles äußerst reizvoll. Sie war eine Frau, die wusste, was sie wollte – und sie wollte ihn, das gab ihr lüsterner Blick ihm unmissverständlich zu verstehen. Vermutlich konnte sie als Erwiderung ebenfalls Verlangen in seinen Augen aufblitzen sehen. Sébastien hatte das Empfinden, Herr der Lage zu sein, ein trügerisches Empfinden, höchstwahrscheinlich, doch von der Art, in der Erica Lavalle über ihn und mit ihm sprach, war er recht angetan. Er erwischte sich dabei, dass sein Blick interessiert über ihren Körper huschte, als sie Nicodème ihre Aufmerksamkeit zuwandte, korrigierte das jedoch, noch bevor sie wieder ihn fixierte.

Obwohl die Reize, denen Sébastien sich ausgesetzt fühlte, ablenkend und einnehmend waren, fand er genügend Konzentration, um den Inhalt Madame Lavalles Vortrag folgen zu können. Notre-Dame. Dies sollte also der Ort des Geschehens sein, wenn sie diese Option wählten. Erst als François den Namen der Kathedrale aussprach, wurde Sébastien wirklich bewusst, was sie da gerade planten. Darboy war kein einfacher Pfaffe, der in einem beschaulichen Gotteshaus seine Messen hielt. Ein Erzbischof predigte in einer viel größeren Kategorie von Kirche. Mit erheblich mehr Zuhörern. Sébastiens Augen entglitten für einen kurzen Moment Madame Lavalles Gesicht und suchten Blickkontakt zu François. Die Überraschung, die Sébastien seinem besten Freund deutlich angehört und angesehen hatte, empfand er ebenso. Notre-Dame. „Genial“ nannte Madame Lavalle diesen Plan. Vielleicht war er das wirklich. Obwohl Sébastien nicht umhinkam zu bemerken, dass sich mit einem Mal leichte Zweifel in ihm regten, ob sie hier das Richtige taten. Nicodème machte einen wenig begeisterten Eindruck – jedoch wirkte er nach Madame Lavalles nachfolgendem Vorschlag, Darboy aus dem Hause Bouthillier zu entführen, und den dargelegten Konsequenzen, die das für Nicodème haben würde, geradezu entgeistert und wandte sich sogar ab – vermutlich, um sich zu sammeln und gegen innere Dämonen anzukämpfen.

Sébastien selbst fühlte sich etwas überfordert mit der Situation, bis Erica ihm überließ die Entscheidung überließ – als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass sie ihm die Erlaubnis dazu erteilte. Doch Sébastien zögerte nicht zu antworten. Er hatte sich entschieden, noch während Madame Lavalle den zweiten Vorschlag dargelegt hatte.
„Ich gebe zu, dass ich noch immer eine möglichst sichere Vorgehensweise bevorzugen würde“, begann er, ohne, im Gegensatz zu seinen Mitstreitern, dem Blick dieser Frau auszuweichen. „Ich möchte nicht, dass jemand unnötig zu Schaden kommt. Aber ich will ebenfalls niemanden in die Lage bringen, für unsere Sache gegen die eigene Familie vorgehen zu müssen. Nicht, wenn dies nicht freiwillig geschieht. Die Entscheidung, dieses Opfer zu bringen oder nicht, zusammen mit dem möglichen Verlust seines Amtes, liegt allein bei Nicodème. Ein derartiger Beweis von Treue zu uns ist unangemessen und gleichermaßen unnötig. Das werde ich von niemandem verlangen. Nicodème ist hier, um zu helfen, und es wäre weder im Sinne der Freundschaft noch der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, ihm Bedingungen aufzuzwingen, die er nicht mit sich vereinbaren kann, Madame“, legte Sébastien seine Sicht der Dinge entschlossen dar. Er würde nicht über das Schicksal des Priesters entscheiden. Das wollte er nicht und er war auch der Überzeugung, dass ihm das nicht zustand.
„Familie bleibt Familie, auf welcher Seite sie auch stehen mag, und was wäre ein Pfaffe ohne seine Kirche?“
Dem Pfaffen deutlich anzusehen, dass ihm der Plan, Darboy im Hause seiner Familie zu entführen, was eine Demütigung seiner Verwandtschaft durch ihn selbst und den Verlust seiner Existenz einschließen würde, nicht gefiel – milde ausgedrückt. Und so war dieser Plan für Sébastien keine Option, sofern Nicodème keine Zustimmung geben würde. Auch würde Sébastien Nicodème für dessen Entscheidung, wie auch immer diese ausfallen würde, nicht verurteilen. Der junge Arbeiter würde, wie gesagt, Nicodème nichts abverlangen, was diesem unangenehm wäre. Das widerspräche seinen Werten und seinem Kameradschaftssinn, zumal Sébastien selbst seine Familie niemals derart verraten würde. Nicodèmes Anwesenheit hier, obwohl dies den übrigen Bouthilliers missfallen dürfte, war für Sébastien Beweis genug für Nicodèmes Entschlossenheit, Gutes zu tun und den Arbeitern zu helfen. Große persönliche Opfer zu bringen, nur um die eigene Bereitschaft zu zeigen, für eine gerechte Sache einzustehen, hätte weder Sinn noch Nutzen. Sébastien bedachte Nicodème mit einem mitfühlenden Blick, bevor er sich wieder besann und auf die Entführung Darboys aus der Kirche zurückkam.

„Notre-Dame ist ein gewagtes Ziel, aber erwarten wird man uns dort bestimmt nicht, da haben Sie Recht, Madame“, äußerte er sich, nachdem er sich wieder Erica Lavalle zugewandt hatte, unabhängig davon, was sie nun von ihm denken mochte. Er wollte ihr gefallen, das mochte stimmen, doch vollends verbiegen würde er sich zu diesem Zweck nicht. Er stand hinter Nicodème und kameradschaftlichem Verhalten allgemein. So skrupellos, auf eine Vorgehensweise zu bestehen, weil sie ihm attraktiver erschien, aber dabei einem Verbündeten gegen dessen Willen wissentlich zu schaden, war er nicht. Außerdem: Notre-Dame... Den Gegner zu überrumpeln und für Aufsehen zu sorgen, reizte Sébastien. Sehr sogar, mehr als auf der sicheren Seite zu bleiben; und vermutlich war dies seinen Augen abzulesen.
„Die Entführung des Darboy während der Messe hat tatsächlich die Vorzüge, viele Zeugen zu haben und die Republikaner zu demütigen, aber würde es das richtige Licht auf unsere Bewegung werfen, wenn wir einen Pfaffen aus einer Messe mitnehmen?“, wandte er dann dennoch ein und runzelte etwas nachdenklich die Stirn.
„Selbst wenn wir Darboy nicht dabei nicht verletzen, wovon ich überzeugt bin, dass es ohnehin nicht notwendig sein wird, könnten nicht nur die Republikaner daran Anstoß nehmen. Was nützt es uns, unseren Louis freizubekommen, wenn wir mit der Methode auch unsere Brüder und Schwestern im Geiste gegen ihn aufbringen? Unser Erfolg hätte einen schalen Beigeschmack.“
Vielleicht würde man diese Worte als ausgesprochene Gedanken werten und nicht genauer darauf eingehen, da Sébastien anschließend einlenkte.
„Doch ich will Ihrer Einschätzung vertrauen, dass Notre-Dame die bessere Wahl ist. Was genau haben Sie im Sinn, Madame?“, interessierte es ihn, mehr zu erfahren.
avatar Menthir 08.Apr.2014 10:04
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:35 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Nicodéme drehte sich um und blickte zu Sébastien. Ein dankbares, ein zutiefst dankbares Nicken folgte. Sébastien hatte eine unglaublich schwere Entscheidung getroffen und hatte Nicodéme das Schicksal erspart, zwischen den Mühlen der Ereignisse gänzlich zerrieben zu werden. Und doch zeigte Nicodémes Gesicht, dass es ihm noch immer wie eine Wahl zwischen Pest und Cholera vorkam. Die Pest jedoch, sie schien für den Moment abgewendet und diese Dankbarkeit zeigte sich in seinem Gesichtszügen. Es blieb gleichwohl schwer für den Priester, immerhin war deutlich, dass er die Hand gegen einen Kirchenoberen erheben musste. Einen Kirchenoberen in Bedrängnis zu bringen, das konnte für keinen gestandenen Katholiken, der Teil dieser Hierarchie war, einfach sein. Er war noch immer in einer Zwickmühle in moralischer Hinsicht und in Fragen seiner Loyalität. Und zurecht konnte man sich fragen, ob Darboy wirklich das richtige Ziel war. Dennoch erhob Nicodéme nicht die Sprache. Zu dankbar war er und zu sehr war ihm bewusst, dass wenn sie jetzt etwas erreichen wollten, dies zumindest eine greifbare Chance war. Er rang sichtlich mit sich, vielleicht redete er sich schließlich dann doch ein, dass seine Opfer seiner Kirche helfen würde. War es nicht die Aufgabe eines Kirchenmannes, auch die Schwachen zu versorgen? War etwas anderes je sein Ziel gewesen?

Erica Lavalle spitzte die Lippen und lächelte freundlich. Wenn sie eine andere Reaktion Sébastiens erhofft hatte, dann verbarg sie diese gut. Wenn sie jedoch gewisse Ideale teilte, wie sie Glauben machen wollte, dann war ihr Lächeln durchaus berechtigt. Wenn es an Sébastien war, an seinen persönlichen Prinzipien festzuhalten und dabei Menschlichkeit zu beweisen, dann hatte er diese Prüfung, wenn man es denn so sehen wollte, bestanden.
"Wenn Sie eine sichere Methode bevorzugen, Monsieur, und dennoch für Trubel sorgen wollen, dann bin ich genau Ihre Dame.", versicherte sie schließlich, dass sie mit Sébastiens Wahl einverstanden war. Ihre Augen leuchteten aufgeregt. "Am heutigen Abend zur zwanzigsten Stunde werden sie sich zur Messe einfinden. Sie können sich den Spaß gönnen, und dem guten Mann bei seiner Predigt zuhören. Er redet gerne und viel. Auf jeden Fall werden sie sich in die oberen Ränge des Chores mischen. Dort werden Sie sicherlich etwas vorsichtiger sein müssen, das dürfte ihrem Gemüt jedoch entsprechen. Dort finden Sie alles an Ausrüstung, was Sie benötigen werden[1]. Ich überlasse Ihnen freilich, wann sie genau zuschlagen. Sie sollten es jedoch nicht vor 21:00 Uhr tun. Das liegt daran begründet, dass recht unweit von Notre-Dame die Nationalgarde ein Appell abhält und Sie insofern in Unbill geraten könnten, wenn die Gardisten sich noch nicht verzogen haben. Den genauen Zeitpunkt danach können Sie selbst Ihrem Sinn für Theatralik und Dramatik überlassen. Gewöhnlich gehen seine Abendmessen um die zwei Stunden. Für die Zeit nach neun Uhr wird in der Nähe des Hauptportals der Kathedrale eine Kutsche bereitstehen, in der Sie Darboy abtransportieren können an einen Ort Ihrer Wahl. Diesen Ort sollten Sie vielleicht noch festlegen."
Sie tätschelte die Wange Sébastiens und schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln. "Sie sollten jedoch nicht, Monsieur, jetzt anfangen zu zweifeln. Sicherlich wird der eine oder andere an Ihrem Vorgehen zweifeln, aber allen Menschen Recht getan, Monsieur, ist eine Kunst, die niemand kann. Denken Sie nur an den schicksalshaften 14. Juli 1789. Der berühmte Sturm der Bastille[2]. Ihre Bewegung, mit Verlaub, entstammt doch denselben menschlichen Idealen, und da machen Sie sich im Vergleich Sorge, dass Ihr Vorgehen ungewöhnlich oder überzogen sein könnte? Ich hätte Ihn gerne auch genügend Dynamit zur Verfügung gestellt, um Notre-Dame gleich zu sprengen. Allerdings habe ich eine Schwäche für Kulturdenkmale und gotische Architektur, und sagen wir, dass unsere Beziehung zur wichtigsten Dynamitdynastie[3] etwas angespannt ist.", sie lachte glockenhell und freundlich und nahm ihre Hand jetzt von Sébastiens Gesicht. "Große Visionen, Monsieur, verlangen nach großen Taten."

Sie wandte sich ab und ging zur Tür. Nicodéme trat drei Schritte zur Seite und musterte Erica Lavalle mit unfreundlicher und nachdenklicher Miene. Doch er sagte nichts. Die rothaarige Frau mit den tiefen Augen drehte sich nochmal um. "Sie werden das schaffen, Sébastien. Sie haben den Hunger und die Republikaner schon besiegt. Sie werden Tatkraft und Vision miteinander vereinen können. Wenn Sie Darboy haben, werde ich mich wieder an Sie wenden." Sie blickte Sébastien lange in die Augen, wieder einen Tick zu lange, um unberührt zu sein. "Und dann werden wir unter vier Augen die wirklich wichtigen Informationen austauschen, Monsieur." Worte wie ein gehauchter Kuss. Dann verschwand sie aus dem Sichtfeld.

Sie ließ Sébastien, Nicodéme und François alleine und alle drei brauchten sie einen Moment, um die Situation sacken zu lassen. Es war die kohlenhafte Stimme Achillés, die sie aus den stillen Überlegungen riss. "Meinetwegen hier.", sagte er, kurz angebunden wie immer, und deutete an, dass er ihnen zugehört hatte. Zumindest seit sein Schmiedehammer still geblieben war. Doch dann ging er wieder wortlos an ihnen vorbei und nahm in der Nähe der Tür drei kleine Rohlinge auf, die er zu seiner Schmiedebank trug. "Typisch, Achillè.", lachte François schließlich auf und schien wieder aufzuwachen, nachdem die rothaarige Frau gegangen war. Sein Gemüt lichtete sich rasch wieder auf, anders bei Nicodéme. Dieser lenkte das Gespräch sofort zurück auf das Thema. Er blickte auf seinen Cordstoff, den er trug, nachdenklich wie ein alter Philosoph. "Das waren wenig Informationen, und doch so, als hätten sie das eigentlich schon geplant. François, was hast du im Vornherein mit ihr ausgemacht?"
"Nicodéme, du alter Griesgram. Wir haben nur die Bezahlung ausgemacht. Dass sie so viel vorbereiten und scheinbar ja auch auf deine möglichen Gegenworte vorbereitet waren, zeigt doch nur, dass wir professionelle Revolutionäre angeheuert haben. Haben wir nicht genau danach gesucht? Wir brauchen sie doch auch nur solange, bis wir Auguste wiederhaben. Wir müssen eben etwas wagen, wenn wir das zu unseren Gunsten entscheiden wollen, oder nicht? Habt ihr je erlebt, dass die Zögernden in dieser Welt etwas bewirken? Wir haben entschieden: Ungleich ist Unrecht. Aber der Weg dahin ist eben mit Opfern und Mut verbunden."
"Ich finde die Methoden eben nicht ziemlich. Ich mache mir nur Sorgen. Wie viele Männer haben mit guten Absichten begonnen und sich dann im Strudel der Taten verloren? Wir können das gerne durchziehen. Aber ich sage nur, dass wir vorsichtig sein müssen. Wer weiß, vielleicht können wir ja auch mit Darboy verhandeln? Oder kennt ihr noch Mitstreiter? Zu Dritt so eine Entführung? Ich bin mir da auch noch nicht sicher. Sèbastien, was meinst du dazu? Sollen wir das wirklich wagen? Was machen wir nun?"
Nicodéme fing sich einen wütenden Blick von François, als würde er sich von Nicodéme wie von Erica behandelt fühlen.
 1. Die Ausrüstung kannst du entweder selbst bestimmen, mich bestimmen lassen oder wir zusammen bestimmen, je nachdem. :)
 2. Sturm auf die Bastille (http://de.wikipedia.org/wiki/Bastille)
 3. Kleiner Verweis auf die Alfred Nobel und Co. (http://de.wikipedia.org/wiki/Dynamit_Nobel) und die Vorgeschichte der Lavalles und der Nobels
avatar Sébastien Moreau 12.Apr.2014 07:04
Sébastien hatte eine Entscheidung getroffen, mit der er zufrieden war. Und dass nicht nur, weil Nicodème ihm sichtlich dankbar dafür war und auch Madame Lavalle einverstanden zu sein schien, sondern auch, weil er sie für die richtige hielt. Darboy beim Abendessen mit Freunden zu entführen hatte weder den Effekt noch den Reiz einer fast schon dreisten Vorstellung inmitten einer Messe in Notre-Dame. Das würde sicherlich für das Aufsehen sorgen, was sie sich versprachen. Die Republikaner würden gezwungen sein, Louis freizugeben, wenn in aller Munde war, dass sich ihr örtliches Kirchenoberhaupt in den Händen der Blanquisten befand.

Sébastien lauschte Ericas Plan. Sie schien sich gut vorbereitet zu haben. Es war nützlich zu wissen, wann genau sie am besten zuschlagen sollten, denn es könnte unschön enden, wenn die Nationalgarde ihnen in die Quere kam. Obwohl die Nationalgarde eigentlich auf ihrer Seite stand, bezweifelte Sébastien, dass die Gardisten dies erkennen würden, wenn sie sich den Darboy schnappten. Die morgendlichen Ereignisse auf dem Place Blanche hatten wieder einmal bewiesen, dass sie mit Vorsicht vorgehen müssten. Mit der Nationalgarde war im Zweifelsfall nicht zu spaßen.

Als die rothaarige Frau Sébastien berührte, durchfuhr ihn erneut ein Prickeln. Sie reizte ihn vor seinen Freunden, was ihn nicht störte, denn dazu gefiel ihm ihre Aufmerksamkeit viel zu sehr. Ihr gelang es, seine Bedenken für den Moment fortzuwischen. Er war bereit, das Wagnis einer Entführung einzugehen, und für überzogen hielt er es nicht unbedingt, doch zwischen dem, was er dachte und dem, was andere dachten, mochten dennoch Welten liegen. Die Idee, dass nicht nur Republikaner Anstoß an der Entführung des Erzbischofs von Paris nehmen könnten, war ihm nicht ohne Grund gekommen. Letzten Endes, auch wenn er sich wenig mit der Institution Kirche verbunden fühlte, war er auch ein Katholik und nicht ohne Skrupel, was das Verhalten gegenüber Geistlichen und das Wahren der Sitte in Gotteshäusern betraf. Der Gedanke, Notre-Dame zu sprengen… Madame Lavalle hatte wirklich einen außergewöhnlichen Humor. Diese Verwegenheit machte sie umso anziehender. Ihre Worte bestärkten Sébastien, gerade weil sie ihm gut zuredete und ihm schmeichelte, und auch wenn Fragen in seinem Kopf herumschwirrten, stellte er diese nicht. Innerlich brannte er vor Vorfreude auf das Treffen, das sie ihm in Aussicht stellte, und es schlich sich ein selbstzufriedenes, schelmisches Schmunzeln in sein Gesicht, als Erica Lavalle ging und er ihre Rückansicht genoss. Als sie verschwunden war, meinte er noch ihre kalten, filigranen Finger an seiner Wange zu spüren und ihren Blick auf sich, mit dem sie ihn verschlang.

Dann dachte Sébastien jedoch darüber nach, ob ihm nicht ein Ort einfiel, an den sie Darboy unterbringen könnten, bis es zum Austausch kommen würde.[1] Vielleicht hatte François schon etwas geplant, so wie er seinen besten Freund kannte, allerdings schadete es nicht, ebenfalls Ideen zu sammeln, immerhin war dieser Punkt für das Gelingen ihres Vorhabens vermutlich von großer Bedeutung. Sie brauchten für den Darboy eine Unterbringung, die unauffällig war. Neben Achilles Werkstatt fielen Sébastien, neben  den Wohnungen seiner Mitstreiter, nicht wirklich Orte ein, auf die sie einen schnellen, sicheren und stetigen Zugriff hätten. Sein eigenes Heim schloss er dabei aus, immerhin waren dort Joséphine und die Kinder, die er nicht in die Sache mit hineinziehen wollte – auch, weil seiner Frau das (gelinde gesagt) nicht gefallen würde, das wusste Sébastien mit Sicherheit. Eher wäre da François‘ Elternhaus eine Möglichkeit, da die Mutter seines besten Freundes tot und sein Vater senil war, seine Brüder schon lange nicht mehr zuhause wohnten oder ebenfalls Blanquisten waren. Da dort zudem wenig Besuch ein- und ausging, wäre dies ein relativ geeigneter Ort – aber nur, wenn François aufgrund der Vorkenntnisse seiner selbst bei der Polizei ebenfalls den Ball flachhielt. Genau das machte diese Option vielleicht gefährlich. Vielleicht wäre eine Bauruine besser. Doch diesen Gedanken verwarf Sébastien wieder, denn ihm fielen zwar einige ein, doch diese Orte waren nicht sicher.

Achille riss Sébastien aus seinen Überlegungen, wie auch Nicodème und François, die ebenfalls in Schweigen gehüllt gewesen waren. Sébastiens bester Freund schien sein sonniges Gemüt wiedergefunden zu haben und steckte Sébastien an, der auf François‘ Lachen mit einem Lächeln reagierte. In der Tat, Achille war eher ein guter Zuhörer als ein gesprächiger Geselle, doch Sébastien mochte den verschrobenen Künstler und seine etwas unheimliche Skulpturensammlung. Nicodème gedachte jedoch, bei der Sache zu bleiben, und über ihr gemeinsames Vorhaben und auch über Madame Lavalle zu reden. Sébastien verfolgte den Austausch zwischen François und dem Pfarrer nachdenklich sowie mit einem zustimmenden Nicken zu François‘ Worten, bis Nicodème wichtige Fragen aufwarf und ihn ansprach.

„Ja“, antwortete Sébastien und wechselte seinen Blick zwischen seinem besten Freund und Nicodéme, „lasst es uns wagen.“ In ihm machte sich nun wieder Aufregung breit – im positiven Sinne. Unsicherheiten bestanden, das mochte stimmen, dennoch war Sébastien entschlossen, ihr Vorhaben durchzuziehen.
„Eine Chance wie diese bekommen wir nie wieder. Und die Zeit drängt.“ Anschließend fixierte er wieder Nicodème.
„Aber du hast Recht: wir sollten uns vielleicht nach tüchtigen Helfern umschauen. Notre-Dame ist groß und es schindet bestimmt mehr Eindruck, wenn wir mehr als nur zu Dritt sind. Vielleicht sollte auch jemand Schmiere stehen. Nicht dass wir der Gardisten mit Darboy in die Arme rennen.“
Sébastien ging kurz in sich und rieb sich nachdenklich die Wange.
„Meinst du denn, Darboy ließe mit sich reden?“, fragte er dann, an Nicodème gerichtet. Auch wenn Madame Lavalle über diese Möglichkeit gelacht hatte, war sie vielleicht nicht ganz abwegig. Wäre das nicht genial? Ein Erzbischof, der sich freiwillig entführen und gegen Louis austauschen lassen würde… Ein großer Schwindel und umso mehr ein Schlag ins Gesicht der Republikaner, auch wenn diese nie davon erfahren würden. Die Idee hatte ihren Reiz. Doch hatte sie auch ihre Haken.
„Wenn er mitspielen würde und die Entführung nur zum Schein wäre, wäre vielleicht einiges einfacher. Doch was machen wir, wenn er ablehnt? Dann müssten wir ihn sofort mitnehmen, ohne großes Publikum. Wie wäre dann unsere Verhandlungsposition? Oder was ist, wenn er zustimmt und dann nicht in der Kirche auftaucht oder uns sogar an die Nationalgarde verrät? Wenn wir Darboy einweihen, sollten wir wahrscheinlich ihn ständig überwachen, sonst steht unser ganzes Vorhaben auf der Kippe, Nicodème. Du müsstest das tun und ihm nicht von der Seite weichen, denn du bist unser Pfaffe und wirst dort weniger auffallen als François, ich oder jeder andere. Und selbst dann würde noch ein Risiko bestehen. Denn was wäre, wenn er mitten in der Messe vor der versammelten Menge unser Vorhaben preisgibt? Die Überraschung gibt uns einen Vorteil, denn wir können uns Darboy nur unentdeckt nähern und selbst mit Waffen kommen wir gegen zu viele Gegner, die sich in der Menge bestimmt finden, nicht an. Wir würden nicht nur unsere Freiheit und unser Leben riskieren, wenn wir uns fälschlicherweise auf Darboy verlassen, sondern auch Louis‘ Freiheit und die Zukunft aller Arbeiter. Darboy ist keiner von uns und ist auch nicht wie du, Nicodème. Wenn du dir sicher bist, dass er unsere Sache unterstützt und nicht die der Republikaner, dann wäre es eine Überlegung wert, mit ihm zu reden, doch wenn das stimmt, was Madame Lavalle über ihn gesagt hat, dann glaube ich nicht, dass er mit uns verhandeln wird.“
Am besten würde es wohl sein, den Darboy nicht vorzuwarnen. Sie könnten ihm später immer noch erklären, was sie mit ihm vorhatten und dass ihm nichts geschehen würde. Vielleicht würde er es sogar verstehen.
„Mmh“, machte Sébastien. Ja, was sollten sie nun machen? Er hatte noch immer Kopfschmerzen, weil der Hüne ihn kräftig am Kopf erwischt hatte, und das Nachdenken und Planen besserte dies nicht.
„François, ich denke, mit den Lavalles hast du wirklich einen guten Fang an Land gezogen. Weißt du wen, der uns bei Darboy helfen würde?“
Er dachte selbst überlegte angestrengt und runzelte die Stirn.[2] Sébastien kannte nicht viele mögliche Helfer.
„Mehrere unserer Brüder im Geiste würden mir einfallen“, sagte er, „doch haben einige von den letzten Konflikten noch verletzt sind. Jean, Jaques, Niccolo und Gerard würde ich noch dazuzählen. Ihre Bereitwilligkeit steht sicher nicht infrage, vielleicht aber ihre Willens- und Nervenstärke, wenn’s zu heikel wird, denn sie sind alle noch sehr jung. Das müsste man ausprobieren“, vermutete er, allerdings würden sie die jungen Leute vielleicht Gefahr aussetzen.
„Wir müssen uns auch Gedanken über den Ort machen, an dem wir Darboy unterbringen. Das Passendste, was mir nun einfällt, wäre hier bei Achille oder dein Elternhaus, François.Man bringt dich vielleicht mit Darboys Entführung in Verbindung, mein Freund, wie auch mich. Wir wissen nicht, wer alles auf dem Place Blanche mitgehört hat. Am besten wäre ein Ort, mit dem niemand rechnet, der uns aber gut zugänglich ist. Da hast du deine Antwort, was wir nun machen, Nicodème. Bis zur Abendmesse haben wir noch Zeit, uns ein wenig umzusehen, um etwas Passendes zu finden und ein paar Kameraden zusammenzutrommeln.“
 1. Gassenwissen: 3 (gut)
 2. Gassenwissen: 0 (mäßig)
avatar Paul Zeidler 13.Apr.2014 01:04
Paul und von Lütjenburg verständigten sich ziemlich schnell darauf, gemeinsam vorzugehen. Es schien ihnen sicherer, nicht alleine durch die unruhigen Straßen von Paris zu gehen. Außerdem waren ihre Pläne noch sehr unausgereift und es wäre wohl besser, nicht alleine mit den Leuten zu sprechen. Gemeinsam würde man wohl mehr ausrichten können, als wenn sie beide getrennt vorgingen.

In wenigen Stunden hatten sie sich unter den Bekannten umgehört. Sie brachten in Erfahrung, dass mit dem Leuchtturm wohl am wahrscheinlichsten der Erzbischof von Paris, seine Würden Georges Darboy (http://de.wikipedia.org/wiki/Georges_Darboy), gemeint war. Außerdem erfuhren sie, dass der Tischbeintitan ein Sohn von Lecomte war, ganz so wie von Lütjenburg es gemeint hatte. Zu diesem erfuhren sie, dass sein Vater wohl von den Aufständischen füssiliert worden war und er seitdem auf Rache an den Aufständischen sonn. Von beiden erfuhren sie zudem den gegenwärtigen Wohnort.

Paul war es sehr unwohl. Die ganze Sache nahm ungeheure politische Dimensionen an. Natürlich hatte er sich bereits in der Predigt gegen die Aufstände ausgesprochen. Aber wenn sie jetzt mit den Oppositionellen gemeinsame Sache machten - und dies auch noch bekannt werden würde - dann würde man ihn schnell zum Verräter erklären. Er würde es schwer haben, noch Einfluss auf die Männer auf der Straße auszuüben. An seine Sicherheit dachte Paul dabei noch gar nicht.

Paul und von Lütjenburg verständigten sich, dass sie zuerst den Erzbischof aufsuchen würden, da dieser in unmittelbarer Gefahr schwebte. Sie begaben sich also zu seinem Wohnort und wünschten, mit dem Erzbischof über " eine vertrauliche Angelegenheit" zu sprechen.
avatar Menthir 28.Apr.2014 09:04
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:39 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

François runzelte die Stirn und überlegte einen Moment, während er sich mit prüfenden Blick zwischen den so verzerrten Skulpturen umblickte. Er entdeckte etwas, was ihn augenscheinlich erheiterte, während Achillé längst schon wieder auf dem anderen Ende der Werkstatt seinem schaffenden Kunsttriebe nachging. Sein Finger deutete auf eine von der Sonne erhellte Ecke. Tatsächlich gab es auch eine dieser verzerrten Fratzen von Georges Darboy. François konnte nicht anders als zu lachen und selbst Nicodéme schmunzelte verlegen, während er näher trat und sich das Werk genauer betrachtete. Die metallene Maske, so musste dieses Werk wohl bezeichnet werden, zog die Wagenknochen des Erzbischofs viel zu hoch, während er die leeren Augenhöhlen in die Länge zog und mit metallischen, kleinen Fältchen umgab, zusammen mit den runtergezogenen Brauenbögen sah Darboy[1] lachthaft entschlossen aus, mit einer ridikülen Zornigkeit, die sein wild geformtes, und doch so rabiat weichendes Haar unterstrich, als wollte die eiserne Maske, die beinahe helmartig und an manchen Stellen absichtsvoll nicht komplettiert war, sagen: Solange mein Kopf noch nicht kahl ist, bin ich Rebell. Der Wind - in diesem Kunstwerk die Statik des wilden Haares - ist eine Allegorie für den Widerstand. Dieser metallische Darboy war schmallippiger, die Stirn gefurcht wie dies eines alten Philosophen, hier und da hatte Achillé jedoch ein zörniges Äderchen in seiner stirnwölbenden Form versteckt. Der Künstler hatte alle Attribute eines zornig-nachdenklichen Gesichtes eingebracht und die Proportionen derartig verändert, dass es dennoch nicht ernst, sondern entblößend wirkte. Es war leicht zu sehen, warum die Kirche ihm dieses Werk nicht abgenommen haben mochte. Doch nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass es ein zumindest handwerklich ausgezeichnetes Kunstwerk war. François sprach es an, während Nicodémes Lächeln geringer wurde. Wahrscheinlich hatte er angefangen das Kunstwerk zu interpretieren oder mit seinen eigenen Erfahrungen mit dem Erzbischof gemessen, zumindest wenn er ihn denn in irgendeiner Form je wirklich menschlich getroffen hatte und nicht nur in förmlicher, ja, mehr oder weniger nur professioneller Weise.

"Wir sollten das zu zweit machen und Nicodéme passt auf, sodass, wenn etwas schief geht, er zumindest einen sicheren Zufluchtsort hat. War doch so, Nicodéme, oder? War doch so im Mittelalter, dass ein Strafverfolgter oder Beschuldigter in der Kirche Asyl finden konnte, wenn man ihm sofort ans Leder wollte[2]. Habt ihr Pfaffen doch so gehalten, oder? Dann wärest du doppelt sicher und müsstest dir deine Zukunft nicht verbauen, während du trotzdem nützlich bist, falls was schief geht. Außerdem sind Sébastien und ich für solche Aufgaben eh besser geeignet.", sagte François schließlich und stieß Nicodéme freundschaftlich gegen die Schulter, der daraufhin nur mit den Schultern zuckte, als wollte er nicht über sowas streiten. "Die Jungen sollten wir nicht reinziehen. Sie sind noch zu grün für so einen...Akt." Nicodéme lachte verächtlich und blickte Sébastien und François an, die ebenso noch sehr junge Männer waren. "Ich meine das im Ernst. Wir haben einiges erlebt. Wir haben Gewehrkolben im Gesicht gehabt und wütende Ehemänner im Rücken, die uns mit Flinten verfolgten. Wir haben mehr gesoffen als ein gemeiner Mann aushalten kann. Wir sind durch unsere Erlebnisse abgehärtet. Wir waren dabei, als die Pariser sich gegen Frankreich erhoben, um weiter Krieg zu führen. Unsere Jungen? Sie sind erst durch den Hunger dazugekommen. Das soll nicht gegen sie sprechen als Menschen, jedoch als Akteure. Aber auch ab von den Grünschnäbeln. Je mehr Männer wir sind, desto verdächtiger sind wir, desto mehr riskieren wir gegen die Garde. Und je größer unsere Masse an Mitstreitern hier ist, desto eher eskaliert die ganze Chose, wenn etwas schiefgeht." "Und du bist dir sicher, dass du es nicht aus Gründen persönlicher Heldentumswünsche tust, mein Freund?" François missachtete Nicodémes nachdenklichen, provozierenden Kommentar einfach.
"Das ist eine Sache, die wir wirklich alleine tun sollten. Und zum Ort? Dafür habe ich auch eine Idee. Die Sache mit dem Asyl bei den Kirchen. Sie kam mir gerade." François blickte so euphorisch, dass seine Augen im dämmrigen Licht der Werkstatt gemmenartig funkelten. "Wir haben ja noch die Sorge, dass Unsergleichen unsere Aktionen nicht gutheißen könnte. Und da dachte ich..." "Du sollst nicht denken, sondern nachdenken.", fuhr Nicodéme ihm grantig dazwischen, als fürchtete er, dass François' Worte nichts Gutes verheißen konnten. François zuckte diesmal mit den Schultern. "Und da dachte ich, dass...du, wir haben doch gestern diesen Pfaffen getroffen, Zeidler. Den Teutschen. Nun, er ist protestantischer Pfaffe und wird uns sicher Asyl gewähren. Wir könnten Darboy doch in seinem Sektenhäuschen[3] unterbringen? Ich mein, ist das nicht eine gute Idee? Wenn die Blanquisten unsere Aktion für überstürzt halten, können wir auf diese Art argumentieren, entweder dass das so eine Christensache ist oder dass Zeidler Deutscher ist. Dann können wir es so hinstellen, dass wir uns schnell von Darboy trennen und es nicht mehr unsere Sache ist. Und wenn es sich ausgeht, können wir später verlegen. Was meinst du, Sébastien?
Ist doch ein Ort, an dem niemand den Darboy erwarten wird und meinst du, der Zeidler wird uns verraten? Ihm wird doch auch nur daran gelegen sein, dass die Franzosen nicht mehr hungern und das Chaos endet. Damit könnten wir ihn doch locken? Und wenn nicht, können Protestant und Katholik sich doch über ihren Jesus unterhalten."
Nicodéme schüttelte sprachlos den Kopf, sein Mund stand ihm leicht offen, als könnte er nicht glauben, was er dort gehört hatte. Doch François versuchte sein Argument weiter zu bekräftigen. "Und wenn wir dann Nicodéme bei uns haben und den Pfaff' Zeidler, dann haben wir gleich zwei Männer mit denen er eher über sowas reden wird als mit zwei Blanquisten, die von den Kirchen soviel halten, wie ein Bonvivant[4] vom harten Schanker[5]. Nichts für ungut, Nicodéme, du weißt, wie manche von uns sind, seit sie ihren Marx gelesen haben. Die Sache mit dem Opium und so[6]. Das ist unsere beste Chance den Darboy auch ruhig zu halten und auch den Zeidler, oder?" Nicodéme konnte nur immer wieder den Kopf schütteln, doch er sagte nichts weiter. Wie sollte er mit Monsieur Durand auch nur irgendwie diskutieren. Es blieb ihm nur, das Gesagte zu erdulden und auf Sébastiens Vernunft zu hoffen. Zumindest warf Nicodéme Sébastien dementsprechende Blicke zu. François redete derweil ungebremst weiter.
"So ließe sich also mit Georgi reden. Das ließe vielleicht auch doch noch die Möglichkeit einer stillen Entführung, um den Zeidler vielleicht vorher ins Boot zu holen? Ansonsten sehe ich das so wie du, mein Freund. Wenn wir nur den Erzpfaffen einweihen, könnte er uns zu schnell in den Rücken fallen. Ansonsten sollten wir auf jeden Fall den Erzpfaffen bei Achillé unterbringen, wenn wir uns gegen die deutlich bessere Variante entscheiden; dann jedoch ihn erst entführen und dann mit ihm sprechen. Wenn wir ihn bei mir unterbringen wollen, würde ich als Akteur auch ausfallen. Das wäre nicht gut. Du alleine gegen die Welt, Sébastien? Nein, jede gute Geschichte braucht mindestens zwei Halunken." François hatte sich seinem besten Freund genähert und schlug ihm nun freundschaftlich und lachend auf die Schulter.
Nicodéme seufzte. "In Ordnung. Also eine Sache muss noch geklärt werden: Bringen wir ihn nun hierhin oder zu diesem Zeidler? Wer ist das überhaupt[7]?"
 1. Ein Bild Darboys (http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/43/Mgr_Georges_Darboy_Photographie_ca1860_BNF_Gallica.jpg)
 2. Bis in die frühe Neuzeit und teilweise bis in die Neuzeit wurden die Kirchen als Orte gewertet, in denen weltliches Recht nicht ausgeübt werden durfte, also konnte dort Flüchtenden sicheres Asyl gewährt werden, tatsächlich galt dasselbe auch lange Zeit für Tavernen und Gaststätten.
 3. Das ist ein Verweis auf den Zeitungsartikel in Pauls Hintergrund
 4. Bonvivant (http://de.wikipedia.org/wiki/Bonvivant)
 5. Harter Schanker (http://de.wikipedia.org/wiki/Syphilis)
 6. Marx' Religionskritik (http://de.wikipedia.org/wiki/Opium_des_Volkes)
 7. Ich würde dich gerne noch für einen Beitrag in dem Gespräch halten, um den anderen die Chance zu geben, sich kurz mit Darboy auszutauschen, ehe wir in deine entschiedene Richtung gehen. :)
avatar Menthir 28.Apr.2014 11:04
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:55 Uhr - Place du Châtelet (Quartier Saint-Germain-l’Auxerrois)

Die Wetter hatte sich etwas zugezogen, nachdem der Frühlingsmorgen sich zwar in aprilhafter Laune gezeigt, doch immerhin die letzte Stunde sonnig versöhnt hatte. Es sah aber für die nächsten Minuten nicht nach Regen aus. Paul Zeidler und Carl von Lütjenburg, die beiden Deutschen, wenn auch unterschiedlich betont in ihrer Nationalität, hatten herausgefunden, dass Georges Darboy in einer Mietswohnung am Place du Châtelet[1] wohnte, direkt neben dem Théâtre du Châtelet[2]. Nicht nur, dass Darboy den schönen Künsten nicht abgeneigt war, er hatte das Quartier im Laufe des Krieges bezogen, um seine Nähe zur Bevölkerung zu symbolisieren. Und vielleicht war es auch, um sich selbst zu erden, denn auch dafür stand der Leuchtturm des Mutes im Gegensatz zu vielen Vertretern seiner Berufung. Nicht nur hatte er offen gegen die Unfehlbarkeitsdoktrin[3] Pius IX.[4] gestanden, er ist auch für seine relative Bescheidenheit gerühmt wurden, obwohl er dem gutbürgerlichen Leben, so es mit seinem Stand vereinbar war, nicht gänzlich abgeneigt war. Bekannt war auch, dass Papst Pius IX., auch vor den Verwerfungen auf dem vatikanischen Konzil[5], ihm die Kardinalswürde verweigert hatte, weil Darboy ihm zu liberal war. Und nun hatte er immerhin die Möglichkeit vom Fenster seiner Wohnung im zweiten Stockwerk auf die Conciergerie[6] zu schauen, das dürfte neben der Ablehnung durch den Papst Erdung genug sein.

Wahrscheinlich war es eine gewisse Genugtuung für das preußische Herz Carls als er an dem Denkmal der napoleonischen Siege[7] vorbeischritt, unter den Augen der vier Verkörperungen napoleonischer Siegestugenden: Klugheit, Mäßigung, Gerechtigkeit, Mut. Nur ein kurzer Blick auf die bronzene Platten auf dem Denkmal erinnerten ihn an die französischen Siege in Lodi[8], Ägypten[9], Marengo[10], Ulm[11] und Danzig[12]. Die Franzosen hatte hier ihre Siege über Mamluken[13] und Osmanen, Österreicher und Preußen gefeiert und nun ging ein preußischer Soldat, wenn auch inkognito, nach gewonnenem Krieg unter diesen französischen Erinnerungen an alte Glorientage flanieren.

Sie erreichten das Haus, in dem der Erzbischof in Krisenzeiten zu residieren pflegte und diese Tage durften genau als solche Zeit gelten. Das Haus hatte eine frisch gemalte, weiße Fassade und schön verzierte Kleinigkeiten, wie kleine Figurinen, welche die Fensterbänke trugen als wären sie Atlas[14] selbst. Sie betraten einen nüchternen Flur, der nicht mehr hergab als hölzernen Treppen, die für ein Haus dieser Ausmaße sehr schmal waren. Es roch auch hier nach frischer Farbe. Sie folgten der Treppe bis sie im zweiten Stockwerk war und lasen auf einem windschief angebrachten Holzschildchen den unleserlich eingebrannten Nachnamen Darboy.
Die Erfindung Joseph Henrys[15] kündigte ihr Kommen an und sie mochten verwundert sein, als weniger als eine halbe Minute später ein Mann mit schütter werdenden und doch etwas länglich gewachsenen, sauber gekämpften Haar ihnen die Tür öffnete. Das Alter hatte die Haare in ein mattes Silber verwandelt, um seine Augen waren Augenringe zu sehen, sie waren klein als hätte er zu lange in dunklen Kammern über alten Bibeltexten gesessen, die Lider hingen etwas aufgrund des Alters und der ihm anzusehenden Müdigkeit, es ließ ihn etwas streng wirken. Er trug recht einfache Kleidung und roch etwas nach alten Schweiß. Er wirkte in seinen einfachen, dunklen Tageskleidern wenig sublim. Er trug in seiner rechten Hand ein kleines, gebundenes Buch, dessen Rücken jedoch nicht beschrieben war, sodass schwer zu sagen, was er da bis eben gelesen haben mochte. Der schwarze Ledereinbund und die rot gefärbten Seitenränder ließen darauf schließen, dass es eine Taschenausgabe einer heiligen Schrift sein mochte. Seine Hände waren knöchern und der Mann nicht von großer Gestalt. Er war vielleicht etwa in Pauls Alter.

"Guten Tag. Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?" Als Paul Zeidler von einer vertraulichen Angelegenheit sprach, schoss seine rechte Augenbraue in die Höhe, er machte jedoch auf seiner Türschwelle Platz und bat Carl und Paul Zeidler hinein. "Mein Haus steht jedem freundlich gesinntem Manne offen.", antwortete und schloss die Tür hinter den beiden wieder. Ein dunkler Flur lag vor ihnen, es roch auch hier nach frischer Farbe. Der Flur hatte eine sehr hohe Decke und wirkte ansonsten, trotz der weißen Farbe dunkel, weil kein direktes Licht einfiel. Er war kahl, weil er nach dem Streichen noch nicht wieder möbliert war. Auf dem Boden lagen alte Zeitungen, die voller Farbkleckse waren, darunter schaute eben bekleckster Dielenboden hervor. Die Dielen würden wohl als nächstes bearbeitet werden. Und überall dieser Geruch von Farbe auf Lackbasis, er ließ einen fast schwindelig werden. "Entschuldigen Sie die Unordnung.", sagte er leichthin und deutete auf die einzige Tür, die vom Flur abging und offenstand, weil sie gar nicht wieder eingehängt war. Auch sie war wahrscheinlich neu lackiert wurden.
Sie betraten einen Raum, welcher wohl das Wohnzimmer des Mannes darstellte. Der Raum war menschenleer. Ein gemütliches Sofa auf Holzbeinen stand im Zentrum eines nicht sehr großzügig geschmuckten Raumes. Gegenüber dem Sofa stand ein Sessel der mit demselben, milchiggrünen Stoff bezogen war, der von rauer Beschaffenheit war. "Nutzen Sie gerne die Ruhebank. Möchten Sie etwas trinken? Ich kann leider nur Wasser oder einen ein paar Tage stehenden Wein anbieten." Er ging zu einer kleinen Anrichte, legte das Büchlein und nahm zwei der vier dort stehenden Weingläser von einem Silbertablett und blickte nachdenklich auf eine mechanische Uhr, die auf ihr stand. "Elf Uhr.", flüsterte er sich hörbar zu, auch wenn die Uhr noch kurz vor anzeigte. Er stellte die Gläser auf einem niedrigen Holztisch ab, der schon bessere Tage gesehen hatte. Kratzspuren waren darauf zu identifizieren, als hätte er lange in einem Lager gestanden. Sein dunkles Holz war an vielen Stellen hell verfärbt mit unregelmäßigen Kreisen, weil zu heiße Gegenstände darauf gestanden hatten. Ungeordnet lagen mehrere Zeitungen zugeschlagen, aber nicht in eigentlicher Ordnung, auf dem Tisch. Das Fenster zum Place Châtelet stand offen und die Geräusche von exaltiertem Stadtleben drang an die Ohren. Er stellte eine halbvolle Karaffe Wasser aus Kristallglas und eine Weinflasche auf den Tisch, sie war recht formlos und das Etikett war von Hand beschrieben. Wahrscheinlich ein Produkt einer kleineren Winzerei. Auch der Wein war etwa zur Hälfte geleert. Er setzte sich auf den Sessel, auf dem noch immer eine Wolldecke zur Seite geschlagen lag. Er legte sie zusammen, während er fragte: "Was ist die vertrauliche Sache, über die Sie sprechen wollen?"
Ja, es gab keinen Zweifel, das war Georges Darboy, auch wenn in dieser Wohnung wenig darauf hindeutete. Lediglich ein Bild an der Wand hinter Geoges Darboy bestätigte diese Vermutung endgültig. In seinen liturgischen Gewändern ist er dort abgebildet, wie er mit Papst Pius IX. vor irgendeinem Alter steht. Sein Gesicht ist auf dem Bild jünger, das Bild wirkt, als hätten die beiden eine Vertraulichkeit, fast Freundschaftlichkeit miteinander, die sie wohl nie hatten. Aber es war unverkennbar Darboys Gesicht. Daneben waren noch mehr Bilder in einfachen Rahmen, die ihn in unterschiedlichen Alterstufen darstellten. "Also?"
 1. Place du Châtelet (http://de.wikipedia.org/wiki/Place_du_Châtelet)
 2. Théâtre du Châtelet (http://de.wikipedia.org/wiki/Théâtre_du_Châtelet)
 3. Päpstliche Unfehlbarkeit (http://de.wikipedia.org/wiki/Päpstliche_Unfehlbarkeit)
 4. Pius IX. (http://de.wikipedia.org/wiki/Pius_IX.)
 5. Erstes vatikanische Konzil (http://de.wikipedia.org/wiki/Erstes_Vatikanisches_Konzil)
 6. Conciergerie (http://de.wikipedia.org/wiki/Conciergerie_(Paris))
 7. Koalitionskriege (http://de.wikipedia.org/wiki/Napoleonische_Kriege)
 8. Schlacht von Lodi 1796 (http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_von_Lodi)
 9. Schlacht bei den Pyramiden 1798 (http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_den_Pyramiden)
 10. Schlacht bei Marengo (http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_Marengo)
 11. Schlacht bei Ulm (http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_Ulm)
 12. Belagerung von Danzig (http://en.wikipedia.org/wiki/Siege_of_Danzig_(1807))
 13. Mamluken (http://de.wikipedia.org/wiki/Mamluken)
 14. Atlas (http://de.wikipedia.org/wiki/Atlas_(Mythologie))
 15. Joseph Henry (http://en.wikipedia.org/wiki/Joseph_Henry) gilt als Erfinder der elektrischen Klingel
avatar Paul Zeidler 02.May.2014 02:05
Paul und von Lütjenburg folgten der Einladung des Paters ohne viele Worte. Paul hätte ohnehin nichts gewusst, was er noch zu seinem Begehren hätte hinzufügen sollen. Freundliche Worte und Gesten kamen ihm jedenfalls nicht in den Sinn. Er wirkte nachdenklich und zerstreut. Und er musste an sich halten, dass ihm die vielen Gedanken nicht aus dem Mund fielen, so wie dem alten Galetti[1], den er sogar selbst einmal getroffen hatte. Am Rande seiner Wahrnehmung war da die einfache Wohnsituation des Paters und es verwunderte ihn auch, da er nicht erwartet hatte, dass ein so hoher Herr so einfach lebte. Das war aber einer von vielen Gedanken und Bildern, so dass es ihn kaum beschäftigte und sogleich war es wieder vergessen.

Paul folgte dem Pater und setzte sich auf das Sofa. Die Situation hatte schon fast etwas komisches, dachte er für einen Moment. So stellt die Tochter ihren Umwerber dem Vater vor. Er auf dem Sofa, der Vater in einem Sessel gegenüber. Nur dass nicht ein junges glückliches Dinge neben ihm saß, sondern von Lütjenburg.

Die Frage nach dem Getränk riss Paul aus seinen Gedanken. "Wein, bitte", antwortete er und wagte nicht, sich selbst einzuschenken, denn vielleicht wäre das unhöflich. Dann dachte er: "Unter allen Umständen den Wein - und wenn er sauer ist, umso besser. Dann bitte einen Zweig Ysop dazu, wegen dem Bilde." und es erschien ihm das Vorstellung des gequälten Heilands am Kreuze[2]. Und als er das Bild in aller seiner Deutlichkeit vor seinem inneren Auge ausgemalt hatte, da erschrack er über sich selbst und musste sich fragen, ob er nun toll oder größenwahnsinnig wurde. Indessen, er wußte nicht, warum ihm das Bild gekommen war oder was es ihm bedeuten sollte. Vielleicht waren seine Nerven einfach überreizt. Aber gut.

Als der Pater ihn schon zum zweitenmal aufforderte, zu sprechen, zwang sich Paul sich zusammenzureißen und begann, sich zu erklären. "Pater, ich danke Ihnen, dass Sie uns beide empfangen. Der Grund unseres Besuches liegt darin, dass wir besorgt sind um die jüngsten Geschehenisse in Paris, und dass wir von einer unmittelbaren Gefährdung Ihrer Person wissen. Doch bevor wir ihnen das alles davon berichten, will ich uns vorstellen. Es soll niemand sagen können, dass wir Sie trügen wollten. Neben mir sitzt Carl von Lütjenburg. Er ist Oberst der deutschen Armee vor Paris. Ich bin ebenfalls ein deutscher, noch dazu ein Protestant. Ich habe eine kleine Gemeinde hier in der Stadt, schon einige Zeit. Wir beide haben uns durch einen Zufall kennengelernt und die Sorge um eine blutige und blutigste Revolte der Blanquisten und Socialisten hat uns bewogen, zusammenzuarbeiten, so unterschiedlich unsere Ziele sonst auch sein mögen. Was meine Person angeht, so weiß ich sehr wohl, in welcher Gefahr ich schwebe, mich Ihnen zu offenbaren. Bitte verstehen Sie dies aber insofern, dass ich Ihnen mein Vertrauen anbiete, bevor ich über mein Wissen spreche."

Paul machte eine Pause und wartete darauf, wie der Pater reagieren mochte.
 1. Johann Georg August Galetti (http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Georg_August_Galletti): Gymnasiallehrer in Gotha. Bekannt für seine Zerstreutheit, seine wunderliche Art und vor allem für seine Stilblüten. Etwa: Sie wissen wohl, dass der Klügere immer nachgibt, aber da kennen sie mich schlecht, denn ich gebe nicht nach.
 2. Johannesevangelium 19,29f.: Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht!, und neigte das Haupt und verschied.
avatar Sébastien Moreau 05.May.2014 11:05
„Ein verdammter Moralapostel“, antwortete Sébastien lachend, als François seinen Redeschwall beendet hatte und Nicodème fragte, wer Paul Zeidler überhaupt sei. „Ein Pfaffe und Prediger, fast wie du, nur eben ein Protestant. In den vergangenen Tagen ist er uns zwei-, dreimal über den Weg gelaufen, erst heute Früh zuletzt“, erinnerte sich der junge Arbeiter. Genau… Paul Zeidler war auf dem Place Blanche gewesen und hatte versucht, die Schlägerei zu verhindern.
„Fast habe ich schon den Eindruck, er folgt uns“, fügte er hinzu und war sich gar nicht so sicher, ob er das so scherzhaft meinte wie er es klingen ließ.

Sébastien hatte Nicodème sehr wohl angemerkt, dass dieser eindeutig nicht überzeugt von der Idee seines besten Freundes war, aber Sébastien ließ sich für ausgefallene Ideen meist begeistern, gerade wenn sie von François stammten. War dies einerseits Loyalität dem Freunde gegenüber verschuldet, war diese Entführung, die sie planten, für Sébastien ein Abenteuer, dem er nicht widerstehen konnte. Einerseits ging es um die große, übergeordnete Sache, aber auch lockte sie wieder das Jungenhafte in dem eigentlich bereits erwachsenen Arbeiter und Familienvater hervor, der früher gern mit seinen Brüdern und Freunden auf den Straßen Paris‘ Soldat gespielt und Streiche ausgeheckt hat. Er wollte beeindrucken – nicht zuletzt die hübsche, reizvolle Madame Lavalle.

„Ich war bei ihm in seiner kleinen Suppenküche“, erzählte Sébastien weiter, „und habe mir angehört, was er zu sagen hatte. Nun, eins ist sicher: Er will weder Blanquist noch Republikaner sein. Er möchte am liebsten, dass wir unsere Revolution vergessen, uns brav mit dem Feind die Hände reichen und gemeinsam die Nachfolge Christi antreten.“
Ein breites Lächeln huschte über Sébastiens Gesicht. Ein Kirchenmann war manchmal zu wenig Realist. Die Idee mochte nett und schön sein, doch sie war in den Augen des jungen Arbeiters nicht umsetzbar. Würden sie nun nicht kämpfen, würde sich an der Situation der Armen nie etwas ändern. Die Zukunft lag im Moment in ihren Händen. Wenn sie die Gelegenheit nicht nutzten, würde sich ihre Bewegung zerstreuen, und Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit würde weiterhin nur ein Traum bleiben.
„Er ist ein guter Mensch, doch kein Mann der Tat…“, urteilte Sébastien deswegen über Paul Zeidler, dessen Herangehensweise an das Problem in seinen Augen den Republikanern in die Hände spielen würde.
„Zumindest nicht in einer Art, die vergleichbar mit deiner wäre, Nicodème“, fügte er anerkennend hinzu und schlug ihrem Pfaffen dabei freundschaftlich auf die Schulter. Ein Priester, der Farbe bekannte und für die Rechte der Arbeiter eintrat, so wie Nicodème, war eine erfreuliche Erscheinung. Das war in Sébastiens Augen die Art von Nachfolge Christi, die gerecht war.
Doch dann kam Sébastien zum Wichtigsten zurück: ihrem Vorhaben.
„Wahrscheinlich ist die Idee, Zeidler ruhighalten zu wollen, gar nicht so verkehrt“, gab er seine Gedanken preis. „Zutrauen würde ich es ihm, dass er entschlossen und auch offen gegen uns arbeitet, wenn er kann, nur um unsere armen Sünderseelen zu retten“, lachte er. „Er versteht nicht so wie unser Pfaffe“, bezog Sébastien noch einmal Nicodème ein, „dass die Ereignisse sich nicht von allein bessern, sondern manchmal einen kräftigen Schubs in die richtige Richtung brauchen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der alte Mann uns freudig aufnehmen würde, wenn wir mit dem Darboy bei ihm anklopfen“, vermutete er, bevor er schelmisch lächelte und fortfuhr, „doch er muss ja nicht begeistert sein.“
Sébastien dachte nicht daran, seinen besten Freund zur „Vernunft“ zu bringen. Im Gegenteil: Er fand die Variante, den Erzbischof bei Zeidler unterzubringen, ebenfalls besser, als ihn direkt zu Achilles Werkstatt zu führen. Bezogen sie den alten Protestanten mit ein, würden sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zeidler würde sicher nicht mit der Entführung des örtlichen, katholischen Kirchenoberhaupts in Verbindung gebracht werden wollen. Und François‘ Einwand, dass Darboy sich wohl eher von anderen Pfaffen bereden ließ als von Blanquisten, war nicht aus der Luft gegriffen.
„Mir gefällt der Plan, so können wir uns Zeidlers Schweigen sichern und ihn doch noch für unsere Sache gewinnen, wenn er erstmal erkennt, dass wir die Dinge nicht schlecht angehen, sondern damit die unnötige Gewalt verhindern, die auch wir nicht wollen.“ Das betonte Sébastien noch einmal mit einem Zwinkern in Nicodèmes Richtung. „Und wer würde schon erwarten, dass wir einen Pfaffen aus seiner Kirche mitnehmen und in eine andere bringen? Mehr oder weniger. Vorwarnen sollten wir Zeidler lieber nicht, wir überraschen ihn einfach, sonst macht er sich selbst noch Vorwürfe und kommt auf dumme Ideen, weil ihn Gewissensbisse plagen und er sich selbst schon vor dem himmlischen Richterstuhl sieht.“ Hier bestand womöglich ein ähnliches Risiko wie es das, sich bereits vor der Entführung mit Darboy abzusprechen. Sébastiens Gesprächspartner hatten Paul Zeidlers Predigt und Argumentationen gegen eine nicht gewaltfreie Vorgehensweise nicht mit angehört, doch Sébastien selbst waren diese gut in Erinnerung geblieben – vor allem aufgrund der Diskussion, an der er selbst nicht unbeteiligt gewesen war.
„So würden wir erst Darboy einen Schreck einjagen und dann dem Protestanten, doch wir wollen ihnen ja nichts Böses“, unterstützte Sébastien weiterhin François‘ Vorschlag. „Beide werden schon mit sich reden lassen, wenn wir sie vor vollendete Tatsachen stellen. Da fällt mir ein: Ich glaube, da war noch ein zweiter Pfaffe bei unserem Zeidler. Und dieser Kerl. Dieser Charles – erinnerst du dich noch an den, François? Der war heute Morgen auch dabei. Gehört ja vielleicht zu Zeidlers Jüngern“, scherzte er. „Sollte er heute Abend ebenfalls dort sein, wird bestimmt auch er einen guten Kameraden abgeben, wenn wir ihn erst einmal überzeugt haben“, war er zuversichtlich. Andernfalls müssten sie sich ja nicht mit Zeidlers Leuten anfreunden, wenn diese nicht wollen würden.

Damit war für Sébastien ihre Vorgehensweise entschieden, sofern seine beiden Brüder im Geiste nicht widersprechen würden. Im Stillen, aber nickend, hatte er François zugestimmt: Sie würden Darboy zu zweit aus der Kirche holen, ihn in die Kutsche verfrachten, die bereitstehen würde, und ihn dann zu Zeidler bringen. Vorerst. Was sich danach ergeben würde, würde sich noch zeigen. Zu Achille könnten sie immer noch umziehen, wenn die Gelegenheit dazu günstig sein würde.
avatar Menthir 13.May.2014 11:05
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 11:00 Uhr - Place du Châtelet (Quartier Saint-Germain-l’Auxerrois)

Darboy hatte die Hände aneinander gelegt, Fingerkuppe an Fingerkuppe, bis auf die Daumen, welche an seinem Kinn ruhten. Die Pose eines nachdenklichen, aufmerksamen Mannes. Und in der Tat hörte er den Worten Paul Zeidlers aufmerksam zu. Seine Mimik veränderte sich von Augenblick zu Augenblick, von einer gewissen Ungläubigkeit über ein Erstaunen bis zu einem erschrockenem Ernst, als Paul so freigiebig davon sprach, dass ein preußischer Oberst neben ihm saß und das ausgerechnet ein preußischer Oberst[1], ja viel mehr, gleich zwei protestantische Deutsche sich so sehr um seine Sicherheit sorgten. Paul konnte in den Augen des nachdenklichen Mannes sehen, dass er gut daran getan hatte, vorwegzusetzen, dass eine Täuschung nicht in seiner Absicht lag.

Darboy nahm Wasser und Wein, schenkte Carl von Lütjenburg eben jenes, klares Wasser und Zeidler vom Weine. Es war eine grüne Flasche mit einfachem Etikett und sie enthielt einen tiefroten Wein, der trotz der wenigen Tage, die er schon offen stand noch aromatisch und fruchtig roch. Wenn aus nur einer Flasche ein Geschmack abgeleitet werden konnte, dann war der Erzbischof ein Freund lieblicher Weine. Er goss beide Gläser, sowohl Wasser als auch Wein, halbvoll und stellte dann Karaffe als auch Wein wieder genau an dem Ort ab, an dem er sie aufgenommen hatte.

Er hatte dabei geschwiegen und sich Zeit gelassen. Zeit, die er dringend benötigte, um das Gehörte einen Moment sacken zu lassen und zu verdauen. Es war ungewöhnlich, gerade von so einer dann doch deutlich ungleichen Paarung über Geschehnisse informiert zu werden und scheinbar wägte er ab, inwieweit er darauf eingehen sollte oder nicht.
"Zuerst danken ich Ihnen für Ihre Sorge, meine Herren.", begann er schließlich im freundlichen Ton. "Sie haben recht, es dünkt mir ungewöhnlich, wie Sie zurecht andeuten. Zuletzt, da ich mir zwar sicher nicht Ihrer spezifischen Sorge bewusst sein werde, doch der Allgemeinheit der Gefahr gegenüber sehr vertraut zu sein habe. Ich erinnere daran, dass das politische Attentat doch freilich und leider, sowas wie das Erkennungsmerkmal politischer Umwälzung und politischer Unzufriedenheit geworden ist. Alleine Napoléon III.[2] Oder denken wir an den Tod Lincolns[3], von dem Sie zweifelsohne gelesen haben werden. Oder wenn Sie davon reden, dass Sie beide aus protestantischen Landen kommen, denken Sie doch alleine nur daran, welche Attentate in Preußen in den letzten Jahren verübt wurden, sei es aus politischer Unwucht oder aus verletzter Ehre. König Friedrich Wilhelm IV.[4] wurde aus verletzter Ehre angegriffen, der jetzige Kaiser wurde angegriffen, weil ein Student der Meinung war, dass er der Einigung des deutschen Reiches im Wege stünde[5], dem preußischen Ministerpräsidenten stellt man ewiglich nach, zuletzt um einen Krieg gegen Österreich zu verhindern[6]. Ich werde nie verstehen, warum Menschen überhaupt zur Überzeugung kommen, dass selbst in einem Alter der Personen-dominierten Politik, ein Anschlag, ein Toter reichen könnte, um seinen Willen durchzusetzen. Ich bin kein Historiker, beim besten Willen nicht. Aber wenn mir meine Zeit als Kirchenmann, in der Seelsorge und in der Verantwortung für die Christen etwas gezeigt hat, dann dass der Tod, so von jemanden gewollt, nie alleine kommt und dass in der Gewalt nie eine bleibende Lösung zu suchen ist. Wir Christen kennen das gut, Herr Zeidler. Wie viele unserer Toten sind nicht tot geblieben, sondern sind entweder Heiland oder Heiliger und Märtyrer geworden? Nicht, dass ich das in dieser Situation wollen würde, aber sie verstehen den Punkt: Der Mensch hat keine Macht über den Tod, selbst wenn er ihn bringt."
Darboy nahm die Hand vom Kinn, lehnte sich zurück und legte die Hände in den Schoss. Er blickte das ungleiche Paar einen Augenblick an.
"Ich fürchte die Gefahr, ein Stück weit werde ich Ihr dennoch trotzen müssen. Ich habe meinen Posten nicht im Kriege mit den Preußen aufgegeben, ich habe den Posten nicht im Zwiste mit dem Heiligen Vater aufgegeben, Sie sind sich deshalb auch bewusst, dass wütende Blanquisten, Sozialisten oder gar Kommunisten mich kaum von diesem Posten verdrängen können. Ich weiß, nur, weil in den letzten Jahren kein hochrangiger Kirchenmann durch ein Attentat niederging, muss das nicht heißen, dass dies so bleibt. Aber sehen Sie, wir leben in sehr unsteten Zeiten. Die Menschen kommen mit ihrem Lebenswechsel vom Land in die Fabriken nur spärlich klar, und was die einen als Fortschritt feiern, liefert den nächsten an das sprichwörtliche Messer. Überall toben Krieg und Wut und Verzweiflung. Ja, lassen Sie es mich drastisch formulieren: Es herrscht das Chaos. Und in diesem Chaos braucht der Mensch einen Anker. Der ist freilich für unterschiedliche Menschen unterschiedlich geartet, aber es ist eine christliche Pflicht, dieser Anker zu sein. So handeln doch ähnlich, Herr Zeidler. Sie geben dem Menschen auch Sicherheit in der Zeit der Unsicherheit, in dem sie ihn ernähren. Da bin ich ganz bei ihnen. Ich kann also nicht gehen, wenn Sie so etwas andeuten. Ich kann und darf nicht die Sache aus dem Blick verlieren, auch wenn ich selbst Angst vor dem Tode habe."
Darboy blickte beide eindringlich an. Seine Worte war ein Testament dafür, dass scheinbar schon im Allgemeinen die ein oder andere Person bei ihm persönlich aufgetreten war, um ihn davor zu warnen, alleine in der zumindest vergleichsweise bescheidenen Wohnung zu leben oder stoisch an seinem Posten festzuhalten. Wahrscheinlich mutmaßte er hier ähnliche Motive.
"Wie dem auch sei. Sie genießen mein Vertrauen, um mich in die Einzelheiten Ihrer Sorgen und Befürchtungen einzuweihen. Ich bin Ihnen dafür verbunden."
 1. Carl von Lütjenburg ist eigentlich Major.
 2. Napoléon III. (http://de.wikipedia.org/wiki/Napoléon_III.) wurde 1855 zuerst am 28. April von dem Italiener Giovanni Pianori beschossen, dann am 8. September vom Amtsdiener Edouard Bellemare. Zwar wurde bei zweiten Geistesgestörtheit festgestellt, beide können aber im weitesten Sinne darauf zurückgeführt werden, dass Napoléon gegen die italienische Vereinigung (Risorgimento (http://de.wikipedia.org/wiki/Risorgimento)) war und als Verteidiger des christlichen Glaubens auftrat. Napoléon inszenierte sich gerne als Schwertarm des Christentums, das war beispielsweise seine Legitimation, im Krimkrieg (http://de.wikipedia.org/wiki/Krimkrieg) (1853-1856) einzugreifen. 1858 fand das schwerste Attentat statt. Bei einem Bombenattentat starben acht Menschen und 150 wurden verletzt, jedoch überlebten Napoléon und seine Frau unverletzt. Dieses Attentat hatte sogar Effekt. Der Italiener Felice Orsini (http://de.wikipedia.org/wiki/Felice_Orsini) hat zwar Napoléon nicht getötet, aber ihn in der Gerichtsverhandlung danach soweit persönlich beeindruckt, dass Napoléon seine Beziehung zu Italien verbesserte und ein großer Förderer der Einigung wurde (mit Ausnahme, dass er den Kirchenstaat erhalten sehen wollte). Napoléon III. ließ sogar Orsini in der Todeszelle durch den Polizeichef ausrichten, dass er es bedauerte, ihn aus Staatsräson seiner Strafe zuführen zu müssen.
 3. Attentat auf Abraham Lincoln (1865) (http://de.wikipedia.org/wiki/Attentat_auf_Abraham_Lincoln)
 4. Friedrich Wilhelm IV. (http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Wilhelm_IV.) wurde 1844 von Heinrich Ludwig Tschech (http://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Ludwig_Tschech) angegriffen, der damit seine Ehre wiederherstellen wollte.
 5. Kaiser Wilhelm I. (http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_I._(Deutsches_Reich)) wurde 1861 (damals war er also noch König und gerade frisch Nachfolger seines verstorbenen Bruders Friedrich Wilhelm IV.) vom Studenten Oskar Becker (http://de.wikipedia.org/wiki/Oskar_Becker_(Attentäter)) in Baden-Baden verwundet.
 6. Otto von Bismarck (http://de.wikipedia.org/wiki/Otto_von_Bismarck) wurde 1866 durch Ferdinand Cohen-Blind (http://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Cohen-Blind) leicht verletzt.
avatar Menthir 13.May.2014 01:05
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:45 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Damit war es entschieden. Es herrschte eine hart erkämpfte Eintracht zwischen den dreien, die ihren mutigen Plan unter der groben Anleitung der Lavalle dingfest machten. "Das ist sehr gut. Dann lasst uns nachher bei mir treffen, so zwei Stunden vor der Abendmesse des Darboy. Was haltet ihr davon? Ich bringe alles an Ausrüstung, die wir brauchen dorthin, wir machen uns noch ein bisschen Mut und dann geht das auch schon los."
Selbst Nicodéme musste jetzt lachen, dass Monsieur Durand selbst in diesem Moment noch an Wein denken konnte. Aber wer konnte es ihm schon verübeln. Jeder hatte vor wichtigen Entscheidungen Angst, und meist half es nicht, diese Entscheidung dann noch umsetzen zu müssen. Ja, es war doch gar so geartet, dass viele zwischen dem Entschluss und der Umsetzung dieses Entschlusses keine oder kaum Zeit verstreichen lassen wollten, denn jede zähe Minute zwischen Entschluss und möglicher Umsetzung machte die Umsetzung fraglich, gerade wenn man sich seiner Sache nicht ganz sicher war. Vielleicht war die Lavalle deswegen zuerst ungehalten? Wollten sie diese Zeitspanne verkürzen und hatte Sorge, dass die drei Revolutionäre zu große Manschetten hatten? Nicodéme versuchte sich noch immer etwas zweifelnd zu geben, aber Sébastien erkannte, dass er im Großen und Ganzen einverstanden war.
"Es ist sicher kein wasserdichter Plan, aber wer kann schon behaupten, so einen aufstellen zu können, wenn er eine Welle des Moments reitet[1]. Wir sollten den Moment dann wohl ausnutzen. Immerhin kann keiner darauf vorbereitet sein, weil wir selbst erst seit eben davon wissen."
Nicodéme versuchte vor allem das Positive daran zu sehen. Sébastien wusste, dass es ihn beruhigen musste, dass auch weitere Geistliche an dieser Unternehmung, wenn auch unfreiwillig teilnehmen würden. Irgendwie mutmaßte der junge Pfarrer, dass dies helfen würde, alles auf vernünftigen Bahnen zu halten. François rieb sich die Augen einen Moment. Im Hintergrund hatte Achille wieder seiner harte, schweißtreibende und kreative Arbeit aufgenommen. Er beteiligte sich wie immer nicht sonderlich an diesen konspirativen Sitzungen. Sein Zeichen des Widerstands blieb die Kunst. François dachte noch einen ganzen Moment über das nach, was Sébastien gesagt hatte. Er war zufrieden mit dem Plan, aber dieser Charles war ihm augenscheinlich nicht geheuer.
"Ja, ich erinnere mich an diesen Charles.", antwortete er schließlich. "Ich habe nicht wirklich, dass Gefühl, dass er ein Zeidlerscher Jünger ist. Irgendwas anderes verbindet sie, da bin ich mir sicher. Ich mein, kann sein, dass diesen Charles auch nur Nächstenliebe antreibt, dass er sich hinter den alten Mann stellt und ihn schließlich aus der Menge trägt. War aber vielleicht auch nur sein schlechtes Gewissen. Ich mein, man musste ja auch den Republikanern heute morgen lassen, dass sie meist älteren Jahrgangs waren. Hatten mehr Rückgrat als die meisten Amtsträger und Konservativen, die hier so durch Paris kreuchen. Und weil viele Alte Rückgrat hatten, hat sich dieser Charles wohl schlecht gefühlt und eingegriffen. So handeln doch viele mit Stock im Arsch."
François bemerkte Nicodémes nachdenklichen Blick und versuchte dann nicht weiter auf seine Beschreibung einzugehen, sondern weiter auf diesen Charles. "Dann sind die beiden ja auch fix verschwunden. Zumindest habe ich sie nicht mehr gesehen. Es könnte jedoch eine Verbindung gemutmaßt werden, weil sie immer an ähnlichen Orten auftauchen."
"Nun ja, wenn man an Wohl und Wehe dieser Stadt interessiert ist und sein Quartier in Montmatre hat, gibt es auch nicht unendlich viele Möglichkeiten am öffentlichen Leben im Moment teilzunehmen.", gab Nicodéme zu bedenken. François nickte. "Das kann gut sein." Und atmete dann durch. Das Gehämmere von Achille ging ihm langsam auf den Zeiger und zehrte an seiner Konzentration. "Also um sechs bei mir.", sagte François und hob die Hand zum Abschied, klopfte dann beiden auf die Schulter und setzte noch nach. "Das wird ein unvergessliches Erlebnis! Wir drei gegen die Welt, für den Menschen!" Dann ging François aus dem Ausgang, aus dem auch die Lavalle gegangen war. "Ich werde da sein.", sagte Nicodéme nur. Er hatte sich wahrlich mit dem Plan abgefunden und würde ihm folgen. Noch immer würde es seinen Stand beim Erzbischof verschlechtern, wenn er von dessen Partizipation erfuhr. Aber wenn er nur Schmiere hielt und im Hintergrund wirkte, würde sich das schon ausgehen. Das war wahrscheinlich seine Hoffnung, und sie taten es schließlich für die Sache. Nicodéme folgte mit einer Verzögerung François und dann waren beide verschwunden. Erst in ein paar Stunden würden sie sich wieder sehen, dann jedoch würden sie sich ausrüsten und stolz in ihre persönliche Zukunft ziehen. Das war der Plan. Ein gefährlicher Plan.

Sébastien hörte, wie das Hämmern im Hintergrund verstummte als Nicodéme gegangen war. Der Mann mit den eingesackten Schultern kam mit unsteten Schritt auf ihm zu und wischte sich dabei die öligen Finger in einem alten Tuch ab. Achille Petit hatte immer schon die Angewohnheit gehabt, immer Ölreste aufzubrennen, um seine kleinen Schmiedefeuer in Gang zu bringen. Von seiner Position aus sah Sébastien, dass ein neues Stück Roheisen in dem kleinen Häufchen auf Temperatur gebracht werden sollte. Unvermittelt begann er zu sprechen und so ungewöhnlich, wie es war, er sprach von sich. "Ich war ein guter Freund von Louis Blanc[2]. Ich weiß nicht, hast du sein Werk gelesen oder mit ihm drüber gesprochen? L'organisation du travail[3]? Ob du es glaubst oder nicht, ich war daran beteiligt. Nicht groß. Aber ich war daran beteiligt. War ein Parteigänger für ihn, so ein richtiger Partisan[4] also. Wusstest du, dass Louis seit kurzem wieder hier ist? Er ist ein guter Mann, vielleicht nicht ganz deins, weil er weiß, Kompromisse zu schmieden. Ich mein nur." Achille Petit hielt inne und musterte Sébastien durch seine knopfartigen, dunkelgrünen Augen. "Ich war auch mal wie du. Genauso. Verstehst du? Unser Traum von einer sozialen Welt, im Umsturze errungen hielt keine vier Monate und das obwohl wir Männer wie Louis bei uns hatten[5]. Ja, wir haben die Todesstrafe für politische Delikate abgeschafft gehabt, Pressefreiheit eingeführt, Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien, das allgemeine Wahlrecht, von dem ihr Jungs in ein paar Tagen profitieren könntet und Louis hat sogar sein Recht auf Arbeit durchbekommen. Aber wir waren noch zu strikt, noch zu schnell, zu umstürzend." Er seufzte und krempelte seine Ärmel auf und zeigte vernarbte Arme. Narben, die zu groß war, um zufällig und bei normalen Arbeiten entstanden zu sein. "Ich war auch so. Alles jetzt und nicht erst morgen. Als unsere Idee zerbrach, habe ich sie mit der Waffe in der Hand verteidigt. Wusstest du, dass über 3000 Arbeiter gestorben sind in den Gefechten? Wir haben sie, die schon arm und verhärmt sind, wie Schlachtvieh in die Fleischerei getrieben. Über 15.000 sind in die Kolonien verschifft wurden und dort an Malaria und anderen Krankheiten oder an Zwangsarbeit verreckt. Verstehst du, Sébastien? Eure Vordenker, wie der alte Marx, denken, dass dies nur bewiesen hätte, dass die Arbeiterschaft keine Kompromisse eingehen darf. Er hat Louis auch mal scharf angegriffen, weil er nach England geflohen ist, wie so viele Freidenker. Der Marx ist kein Prophet, sieh es bitte ein, Sébastien. Wie oft ist er nach England geflohen?" Die Erinnerungen, die er äußerte, machten Achille zu schaffen und augenscheinlich auch etwas bitter, ja, gar wütend. "Der Marx ist ein Tölpel. Männer, die nie gearbeitet haben, wissen doch nichts vom wirklichen Leid der Arbeiter. Marx ist so ein Mann, und er lässt sich von einem Mann finanzieren, protegieren[6], der genau vom Manchester-Kapitalismus[7] profitiert und dann treten die beiden auf, als hätten sie die Arbeiterheiligkeit gepachtet. Dabei haben sie sogar ihre Erkenntnisse fast alle geborgt." Er winkte ab. "Tut mir leid. Ich will einfach nicht, dass du auch durch das viele Blut waten musst, durch dass ich waten musste, nur um deine Ideen und Ziele sterben zu sehen." Er zeigte auf das langsam glühende Eisen in der Entfernung. "Menschen sind nicht so viel anders als Eisen. Es verändert sich über die Zeit und mit sehr vielen Fehlentwicklungen. Es braucht Mühe, Arbeit und die Bereitschaft zu Scheitern, ja, aber es braucht auch Geduld, viel Geduld und Anpassung. Wenn ich Eisen zu schnell und zu heftig bearbeite, dann wird es spröde oder bricht. Steter Tropfen höhlt den Stein, andere Formen der Gewalt lassen ihn brechen und nicht formen." Er seufzte nochmal. "Ich weiß, ihr habt einen Plan. Aber denke darüber nach, nochmal Louis aufzusuchen. Er ist im Café nebenan zum Mittag. Wir treffen uns nach Jahren mal wieder. Was sagst du?"
 1. 
Fun Fact (Anzeigen)
 2. Louis Blanc (http://de.wikipedia.org/wiki/Louis_Blanc)
 3. Organisation der Arbeit
 4. Partisan (http://de.wikipedia.org/wiki/Partisan)
 5. Das ist ein Verweis auf die Februarrevolution 1848 (http://de.wikipedia.org/wiki/Februarrevolution_1848) und deren Niederschlagung im Juni 1848
 6. gemeint ist natürlich Friedrich Engels (http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Engels)
 7. Manchester-Kapitalismus (http://de.wikipedia.org/wiki/Manchester-Kapitalismus)
avatar Carl von Lütjenburg 17.May.2014 02:05
Carl war zunächst ruhig geblieben, denn er hatte entschieden Paul das Reden zu überlassen. Zum Einen würden die beiden Geistlichen trotz der nicht gänzlich identischen Glaubensauslegung sicher einen besseren Draht zueinander haben, als ein französischer Priester zu einem preußischem Offizier es jemals haben könnte. Zum Anderen, fiel es ihm in der Regel einfach schwer mit sehr frommen Menschen im Allgemeinen und Geistlichen und dergleichen im Speziellen umzugehen. Er hatte es Zeit seines Lebens versäumt einen Zugang zum Glauben zu gewinnen und so kamen ihm die Fragen und Monologe, die von den Kanzeln dieser Welt auf die Menschen herab schallten oftmals unglaublich unwichtig vor. Es war stets irritierend mit welcher Vehemenz man Geschichten, die niedergeschrieben wurden, lange bevor es Dampfmaschinen, Gewehre und Eisenbahnen gab, immer wieder aufs neue auswringen konnte, um Andere davon zu überzeugen wie sehr diese doch ihr modernes Leben und ihre modernen Probleme betrafen.

Doch auch insofern war Carl sehr preußisch, als dass er diese Menschen nicht verstehen musste, um sie ihr Leben leben zu lassen. Wie Darboy im allerdings sein Leben zu leben pflegte erstaunte Carl dann allerdings schon ein wenig, immerhin war die Prunksucht der katholischen Geistlichen doch ein gern gepflegtes Bild in vielen protestantischen Ländern. Doch so wie der Mann sprach schien er tatsächlich näher an Zeidlers Idealen als an denen einer verschwendungsfreudigen Kirche zu stehen.

Als Darboy geendet hatte räusperte sich Carl leise und beugte sich vor, nach dem Glas mit Wasser greifend. "Herr Darboy. Zunächst muss ich Herrn Zeidler korrigieren." langsam trank er einen Schluck des Wassers und setzte das Glas wieder ab, bevor er sich zurücklehnte und weitersprach. "In der Tat bin ich im Range Major und nicht Oberst. Major Carl Heinrich von Lütjenburg, Stab der 2. Armee." Als Paul Carls Identität freimütig heraus plauderte, musste Carl stark an sich halten, um diesen nicht erschrocken anzublicken. Offensichtlich meinte der Alte es mit der Ehrlichkeit besonders Ernst oder er hatte einfach gar kein Gefühl für Geheimnisse beziehungsweise dafür, dass Carl sich in einer Stadt voller Feinde befand.
"Tatsächlich wäre ich darüber hinaus sehr dankbar, wenn meine Identität nicht dieses Haus verlässt. Ich bin nicht aus unredlichen Gründen in der Stadt, aber ein Deutscher ist dieser Tage ungern in Paris gesehen, möchte ich meinen, besonders wenn er dazu in einer preußischen Uniform steckt.
Und als nächstes muss ich Sie korrigieren, Herr Darboy. Oder vielmehr bestätigen. Sicherlich sind Sie ein bedeutsames Symbol für ihre leidgeplagten Mitbürger. Doch was wird geschehen, wenn jemand ihnen ein Leid antut oder sie gefangen nimmt? Ich möchte nicht respektlos sein, doch ich glaube bei der momentanen Lage werden nur die wenigsten niederknien und für ihr Wohlergehen beten. Ich sehe es vielmehr so, dass es ein letzter Tropfen ist, nach dem die Stadt schon seit vielen Tagen lechzt, so dass sie endlich überlaufen kann. Ich bewundere Ihre Bereitschaft sich der Möglichkeit des eigenen Todes bereitwillig und trotz eigener Furcht entgegenzustellen, doch geht es hier um mehr als darum einen einzelnen Menschen auszulöschen. Die Männer, die Ihnen nachstellen sind nicht alleine. Sie werden angeleitet von professionellen Attentätern und Söldnern, die ich zufällig einigermaßen gut kenne..."
Kurz berichtete Carl von den Ereignissen um den Deutsch-Dänischen Krieg, ohne jedoch direkt auf die damalige Vertragsfälschung und die Standpunkte einzelner Personen einzugehen.

"Sie sehen also wozu diese Menschen fähig sind. Und was ich mich darüber hinaus noch frage ist, wer hinter den Lavalles steht. Sie sind Söldner und es fällt mir schwer zu glauben sie leisten den Blanquisten aus purer Nächstenliebe Schützenhilfe. Übrigens, Herr Zeidler, erinnern Sie sich an den Mann mit dem Kalabreserhut, der in ihre Predigt geplatzt ist? Den habe ich übrigens auch heute Morgen bei der Schlägerei auf dem Place blanche beobachten können, wie er seinerseits die Schlägerei beobachtete. Es scheint mir als sind viele zwielichtige Gestalten in der Stadt die ein Interesse an einer Eskalation haben."
avatar Paul Zeidler 20.May.2014 11:05
Paul antwortete nicht direkt auf die Frage von Lütjenburg. Er schien sehr nachdenklich, wenn nicht gar etwas verwirrt. "Um offen zu sein, schon jetzt mag ich die Ereignisse kaum zu überblicken. Ich bin weder ein Politiker noch ein Intrigant. Ich bin ein einfacher Pfarrer und was mich seit vielen Jahren antreibt, ist das heftige Verlangen nach der Erlösung der Menschen vom Hass der Welt.[1] Und der Hass der Welt ist in diesen Tagen deutlich vor Augen. Ich sehe die guten Menschen um mich herum, die in ihren Tagen nicht anders können, als sich körperlich und seelisch in den Fabriken zerstören zu lassen. Das Kapital hat bewirkt, dass die Menschen sich kaum mehr von den Maschinen unterscheiden, die sie bedienen. Ja, wenn sie mir diesen launischen Ausspruch gestatten, so hat man im vorigen Kahrhundert ausrufen können, Gott sei tot und es lebe der Mensch. In diesem Jahrhundert müssen wir ausrufen, dass der Mensch tot sei und es lebe das Kapital. Das ist der Götzendienst unserer Zeit: Dass wir alles, jede kleine Lebensregung, dem Kapital zu opfern haben. Es ist paradox, dass der Mensch sich aufopfert für das Werk seiner Hände. Der körperliche, humanitäre und seelische Verfall ist deutlich, doch wir sind so sehr im Rattern dieser Blutmaschine, dass es nichts Minderes bedürfte als ein Umsturz allen Bestehenden. Daher: Ich muss sagen, dass ich die Sozialisten, die Kommunisten und die Blanquisten verstehen kann, wenn sie die Pflugscharen zu Messern wetzen und sich mit Gewalt dieser Ordnung entledigen. Verstehen kann ich sie, aber ich werde sie nicht gutheißen.

In mir drängt sich die unbändige Liebe zu allem Leben und es schmerzt mich tief, wenn ich an das Blut und die Vernichtung der kommenden Tage denke. Ich bin überzeugt, dass sich die wahre Humanität und der Glaube zuerst in den Herzen der Menschen verwirklichen muss. Wahrlich, erst muss das Herz des Menschen Frieden finden, bevor es den Frieden in die Welt tragen kann. Welch große Worte, wie gering die Möglichkeit.

Ach, in diesen Tagen bin ich bis ins Tiefste betrübt. Können Einzelne dem Hass der Welt mit der Aussicht auf Frieden entgegentreten? Ich denke mir, gerade weil es keine realisitische Möglichkeit gibt, muss ich mein Möglichstes tun. Das Absurde dieser Tage hat nur insofern einen Sinn, als dass man sich nicht mit ihm zufrieden gibt
[2]. Vater, Sie sagen, dass Sie entgegen aller Bedrohung nicht von ihrem Hirtenamt fliehen wollen. Das scheint mir sehr richtig und erinnert mich an das selige Wort des Evangelisten Johannes, wo es heißt: "Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. "[3]. Sie haben mir Hoffnung gemacht. Ich danke Ihnen, Vater."

Paul schwieg einen Moment, schien die folgenden Worte zu sammeln. "Ich habe es bereits gesagt, ich bin ein kleiner Mann und nicht geschaffen für die Politik. Wir wissen, dass die Revoltierenden planen, Sie zu entführen. Sie sagen, dass Sie ein Leuchtturm der Hoffnung seien. Was meinen Sie damit? In welcher Weise treten Sie für die Hoffnung der Menschen ein, Vater? Und wie können Sie all die Liebe unseres Herrn und ihre geistgegebenen Kräfte für die Mühe der Arbeiter einsetzen? Was haben Sie in diesen Tagen dem Hass entgegenzusetzen? Und welche Aufgabe können Sie mir, als ihrem Bruder, geschieden durch die Konfession und verbunden im Geiste, geben?"
 1. Anklang an das Johannesevangelium, in welchem der Hass der Welt die Liebe des Heilands gegenübergestellt wird. Siehe z.B. Joh 15,18: Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat.
 2. Nach Camus: Mythos des Sisyphos (http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Mythos_des_Sisyphos)
 3. Johannes 15,13
avatar Sébastien Moreau 29.May.2014 12:05
„Hm“, machte Sébastien nachdenklich und fuhr sich mit der Hand über seinen etwas verspannten Nacken. Achilles Worte hatten ihn überrascht – genauso wie der Anblick der Narben, die der Künstler im gezeigt hatte. Es waren die Art von Narben, die das Jugenhafte und Abenteuerlustige in Sébastien faszinierte und die den Revolutionär in ihm nicht etwa abschreckte, sondern in aufgeregte Entschlossenheit versetzte – etwas, das Achille vermutlich nicht derart beabsichtigt hatte, denn mit seiner Rede hatte er Sébastien zur Zurückhaltung ermahnt, das war offensichtlich gewesen. Obwohl Achille vielleicht bereute und wie ein geläuterter Sünder klang, fand Sébastien, dass man auf Narben, die vom Kampf für Gerechtigkeit herrührten, stolz sein konnte. Die Opferbereitschaft für ein größeres Ziel – das zeichnete doch alle Freiheitskämpfer aus, oder nicht? Dennoch berührte den jungen Arbeiter selbstverständlich auch Achilles Schicksal, das dieser ihm offenlegte. Insgeheim fürchtete Sébastien, dass ein blutiger Tod auch über ihn hereinbrechen könnte, über François, die Jungen – überhaupt über viele, die ihrer Bewegung angehörten. Achille machte Sébastien mit der Schilderung der Ereignisse, die er durchlebt hatte, nicht gerade Mut, das musste man ihm lassen, auch weil Sébastien nun in Achille ein Stück weit sich selbst in einigen Jahren sah. Einen besiegten Mann, der viel verloren hatte, viel mehr, als ihm lieb war.
Wenn er einmal genauso war wie ich, überlegte Sébastien, werde ich dann einmal genauso sein wie er?, obwohl er die Vorstellung von sich, die er (über den revolutionären Asperkt hinaus) unwillkürlich hatte, schmiedend in einer Werkstatt wie dieser und Protest mit verzerrten Abbildern ausdrückend, etwas befremdlich fand.

Keiner von ihnen wusste, was sie erwarten würde. Doch Zeit für Geduld, die Achille ihm nahelegen wollte, hatten sie nicht. Die Wahl war nah und auch darüber hinaus mussten sie die Gelegenheit nun am Schopfe packen, bevor sie verstrich. Jeder Moment, den sie warteten, gab den Republikanern die Möglichkeit, gegen sie zu arbeiten. Sébastien wollte nicht durch Blut waten müssen – wer würde das schon wollen? Sicher war aber: Er würde kämpfen, wenn es nötig war, wenn es sein musste. Darum führt kein Weg herum, wenn man die Arbeiter dazu zwingen würde, neben ihren Zielen auch sich selbst und ihre Familien zu verteidigen. Dennoch, gerade für die, die sie liebten, waren die Arbeiter dazu bereit, war er sich sicher. Sie würden einen blutigen Kampf sich nehmen, wenn es soweit kam. Denn Ideen und Ziele starben nicht. Sie waren wie Pflanzen, dachte Sébastien, die überall wuchsen und gediehen, die selbst, wenn man versuchte, sie niederzumachen, wiederkehrten und noch mehr wucherten und noch prächtiger erblühten als zuvor. Marx mochte kein Heiliger sein und noch nicht einmal zum Proletariat gehören, doch er hatte Recht. Und seine Ausführungen, die in den Köpfen der Leidtragenden Wurzeln geschlagen hatten, würden von dort nicht einfach wieder verschwinden.

„Ich mache mir auch Sorgen, Achille“, gab Sébastien seufzend zu und musterte seinen Gesprächspartner mit Bedauern im Blick. Er verstand die Verbitterung des alten Künstlers, doch er selbst konnte nicht anders, als Zuversicht zu zeigen. Was blieb ihm anderes übrig als das Vertrauen in seine Ziele und seine Bewegung und die Hoffnung, dass ihr Vorhaben gelingen und sich alles zum Guten wenden würde?
„Sorge ist gut, wenn sie einen vorsichtig macht“, wandte er deswegen mit einem zögerlichen Lächeln ein, „aber hinderlich, wenn sie das Denken bestimmt. Wir Arbeiter sind freie Männer und Frauen, das wissen wir, und dieses Wissen kann uns niemand nehmen, mein Freund. Sieh, was ihr damals geschafft habt, du hast es mir gerade aufgelistet. Viele gute Menschen wurden getötet oder sind verschleppt worden, doch nicht ohne Grund haben sie für ihre Sache gekämpft. Ihr Kampf war gerecht.“
Nun versuchte Sébastien, auch dem von Selbstzweifel verfressen scheinenden Achille – diese Seite kannte Sébastien gar nicht –, gut zuzureden.
„Nur weil sie verloren haben, nur weil du verloren hast, mein Freund, waren deine Taten nicht vergebens“, sprach er voller Überzeugung und fand dabei selbst wieder aus dem beklemmenden Gefühl der Trauer hinaus, das Mitgefühl für Achille und auch eigene Angst in ihm ausgelöst hatte.
„Wie viele sterben täglich an ihrer Armut? An Hunger und Krankheit und an Folgen von schwerer Schufterei, mit der sie versuchen, ihre Kinder und die Alten zu ernähren? Der Krieg gegen die Preußen hat alles nur noch schlimmer gemacht. Keine Kompromisse einzugehen bedeutet Blutvergießen, möglicherweise, aber Kompromisse, Anpassung und Geduld sind kein Mittel gegen das Elend auf den Straßen. Das spielt alles nur Thiers‘ Leuten in die Hände und am Ende wird sich gar nichts ändern. Auch ich will nicht durch Blut waten müssen, aber ich werde meine Kameraden und mich verteidigen, wenn der Gegner mich zwingt.“
Wieder seufzte Sébastien. Er hatte sich heißgeredet und musste sich zügeln, um wieder zu einem ruhigen Tonfall zurückzureden. Fast klang er resigniert, als er fortfuhr, obwohl es eher Müdigkeit war, die ihn befallen hatte. Er war müde, sich zu rechtfertigen. Achille meinte es nur gut mit ihm, das wusste Sébastien, doch er hatte ein Ziel vor Augen, das ihn nicht losließ.
„Ich will meine Kinder nicht verhungern und auch nicht als billige Arbeitskräfte in den Fabriken enden sehen. Ich will ihnen eine Zukunft schenken, in der sie glücklich sein können. Auch Joséphine verdient ein besseres Leben als das, das ich ihr derzeit bieten kann. Sieh es einmal so“, versuchte er, Achilles bildhafte Schilderung aufzugreifen: „Aus der Nähe betrachtet mag es ein schnelles und heftiges Unterfangen sein, aber unsere Ideen sind nicht jung und neu, sie ziehen sich durch die Geschichte unserer Heimat. Es ist einfach ein nächster Schritt, den wir tun, ein nächster Tropfen auf den Stein, nach den vielen anderen, die bereits gefallen sind. Mit diesem hier werden wir schlussendlich erfolgreich sein und den Stein aushöhlen. Blanqui wird uns dabei helfen, wenn wir ihn erst einmal freibekommen haben.“
Das hörte sich gut an, fand Sébastien.
„Aber na schön: Ich werde mit deinem Louis sprechen“, willigte er ein und klopfte Achille freundschaftlich auf die Schulter. „Bis gleich“, fügte er noch hinzu, bevor auch er erst einmal die Werkstatt verließ. Nach dem ganzen Pläneschmieden brauchte er etwas Zeit, um den Kopf freizubekommen. Und bis zum Mittag blieb noch etwas Gelegenheit dazu.
avatar Menthir 29.May.2014 04:05
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 11:03 Uhr - Place du Châtelet (Quartier Saint-Germain-l’Auxerrois)

Der Erzbischof nickte Carl von Lütjenburg, Major Carl von Lütjenburg zu. "Haben Sie meinen Dank für Ihre Richtigstellung." Er drehte seinen Kopf zur Seite und blickte in das triste Wetter des Tages durch das Fenster, welches sicher wieder einmal geputzt werden könnte und müsste. "Ich werde Ihrer Bitte nachkommen. Ich sehe nicht, was es mir brächte, Sie in Ihrem sicherlich hehren Auftrag bloßzustellen. Und selbst wenn ich einen Sinn darin sähe, bin ich - so hoffe ich doch - nicht der Mensch, der Ihre Identität zu meinem Vorteil ausnutzen wollte, gerade nicht, wenn Sie beide mir vertrauliche Informationen geben." Sein Kopf drehte sich wieder zu seinen Gesprächspartnern und er schlug die Beine übereinander. An seinen Beinen ließ sich erkennen, dass er körperlich unter den letzten Monaten gelitten hatten. Er war nah daran spindeldürr zu sein. Entweder hatte er freiwillig den Hunger der Pariser geteilt, er hatte sein bischöfliches Brot mit ihnen gebrochen oder der viele Stress forderte seinen körperlichen Tribut. Seine Beine wirkten fast, durch die Hose, streichholzartig[1].
"Ich weiß die Sorge wahrlich zu schätzen, Herr Major, jedoch bin ich mir dessen sicher, wozu Menschen fähig sind. Die menschliche Kulturgeschichte ist voll menschlicher Verfehlungen, die wir ihn ihrem Kern überall finden, ob wir mit der Erbsünde[2] beginnen wollen oder dem Morde Abels durch Kain[3], oder selbst wenn wir uns die religiösen Bilder verlassen, finden wir das menschliche Unheil überall." Der Erzbischof blickte den preußischen Offizier eindringlich an. "Sie sind nicht gekommen, um mir zu sagen, dass gewisse Menschen gefährlich sind. Dass ich dessen bewusst bin, dürfte mein Einblick in die Attentate gezeigt haben. Sie wollen mir etwas ganz Konkretes mitteilen, und sie finden mich erfreut vor, wenn Sie bei dem Konkreten blieben. Zumindest erscheint mir ein argumentativer Tanz, der letztendlich um eine gewisse und grundsätzliche Einigkeit herumführt, müßig. Wir beide wissen doch, dass wir Pflichten sehr ernst nehmen, trotz aller Gefahren, also reden wir bitte nicht darüber, dass etwas gefährlich ist, sondern wir reden darüber, wie wir dieser Gefahr begegnen. Stimmen Sie mir dort zu? Wollen wir diese Art des Gespräches führen, Herr Major?

Der Erzbischof hörte Paul Zeidler sehr aufmerksam zu, auch wenn er bei diesen inneren Überlegungen sehr nach innen gekehrt war. Seine Augen ruhten nicht auf dem Sprechenden, sondern auf seinen überkreuzten Knien. Die rechte Hand ruhte an der rechten Wange seines Gesichtes, den Daumen unter dem Kinn, der Zeigefinger an der Schläfe. Seine Augen waren nur halboffen, sein Atmen gleichmäßig und doch konzentriert. Hin und wieder war ein zustimmendes Nicken zu sehen oder ein zustimmendes Gemurmel. Er verharrte noch einen Augenblick in dieser Haltung. Dann legte er die Hände auf dem Schoß zusammen und blickte Paul Zeidler an.
"Sie nehmen mir die Worte meiner heutigen Predigt beinahe aus dem Mund. Es erscheint mir teilweise gar als Wiederkehr in das Alte Testament. Denken wir doch nur an die Zeit der Pharaonen, als sie sich riesige Pyramiden bauen ließen, als Gottkönige verehrt, um sich ein gutes Nachleben im Jenseits zu ermöglichen[4], doch was taten sie mit den vielen Arbeitern? Sie starben für ihre Projekte. Die Monumentalität der Vergangenheit spiegelt doch genau jenes, Herr Zeidler, was sie konstatieren und es führt es etwas fort: Sie sind nicht nur Opfer ihrer Hände Werk, denn es sind nicht einmal ihre eigenen Werke. Ohne Karl Marx zur Gänze folgen zu wollen, ist sein Konzept der entäußerten Arbeit[5] in der Hinsicht faszinierend. Heute haben sie nichts von ihrem Werke, wie damals, nur dass die Pharaonen inzwischen personifizierte Götzen des Mammon[6] sind.

Ich kann ihnen, den Revolutionären, also auch nur mit Verständnis begegnen. Ich sehe doch eine gewisse Sorge darin, dass Sie gleichwohl alles der alten Ordnungen mit vernichten wollen. Was haben die Kirchen ihnen getan? Sie sehen die Fehlbarkeit einzelner Männer, die auch in Kirchenwürden stehen, und verdammen eine ganze Organisation. Carl, verdammen Sie alle Franzosen, nur weil Sie die Lavalles kennen? Die Revolutionäre sehen die Probleme, doch zu selten sehen sie Lösungen. Alles zu entzünden und dem Chaos zu überantworten, dies bedeutet nur Tod und Verderben. Es bedeutet, die Uhren zurückzustellen und alle Schwierigkeiten der Entwicklung wieder durchmachen zu müssen. Das möchte ich verhindern, deswegen weiche ich nicht von meinem Posten.

Und deswegen nennen Sie mich - zu unrecht - einen Leuchtturm des Mutes. Ich weigerte mich im Krieg zu gehen, ob die Revolutionäre mir an das Schlafittchen wollten. Die Kirche hingegen fürchtete, dass die Preußen mich töten würden. Unlautere Geister der Kirche fürchtete, dass des Bischofs Besitz veruntreut werden würde.
Doch die Kirche hat dadurch eine kleine Restitution erlebt. Das hat den Menschen etwas Mut gegeben, dass jemand Ihnen in Zeiten der Sorge ein Ohr leiht, ihren gefallenen Frauen, Männern und Kindern die Sakramente erteilt, dass jemand mit ihnen im Hunger sein Brot bricht."

Er öffnete die Beine wieder und setze sich wieder gerade hin. Er deutete auf das sachte durch die Wolken brechende Licht. "Ein jeder kann ein Leuchtturm des Mutes sein und viele, unbesungene Menschen sind es dieser Tage, für ihre Nächsten, für Freunde, für Fremde, jeder nach seiner Kraft. Meine Position lässt mich nur etwas höher stehen und deswegen entsteht das Gefühl, dass ich von mehr Menschen gesehen werde. Aber qualitativ leuchte ich nicht stärker als Sie, Herr Zeidler. Dementsprechend steht es mir nicht zu, Ihnen irgendeine Weisung zu geben. Es ist gar andersherum. Sie sind es, der sich nicht vom Amtswegen blockiert sehen muss, der sich noch mit jedem Bedürftigen auseinandersetzen und ihm behilflich sein. Und ist es nicht nur das, was wir leisten können? Ich gebe Ihnen vollkommen Recht, Herr Zeidler. Der Mensch muss sich als Ganzes noch für den Frieden öffnen, doch wir alle - als einfache Menschen - können das nicht alleine und nicht gänzlich leisten. Frieden, das ist eine Entscheidung, die am Ende jeder Mensch für sich treffen muss. Nur hierbei können wir helfen und dabei, die Schmerzen menschlichen Leides zu lindern und sie sind ein Leuchtfeuer dessen. Das ist das, was ich mir von Ihnen weiter wünschen würde: Reden Sie weiter mit den Menschen und zeigen Sie Ihnen dem Weg zum Frieden und helfen Sie jenes Leid zu lindern, dass niemand von uns verhindern konnte."

Er stand jetzt auf und ging zum Fenster. Er legte seine rechte Hand an den hölzernen Fensterrahmen und lehnte sich an und blickte runter auf den Platz, von dem die Geräusche des alltäglichen Lebens hochgetragen wurden. "Ich werde heute Abend eine Friedensmesse halten. Ich habe Partisanen und Verbündete aller Lager eingeladen. Die Kirche ist nicht einverstanden mit meinem Vorgehen, aber was bleibt mir zu tun? In den revolutionären Kräften haben meine Worte - in deren Augen - keine Legitimität, da ich ein Kirchenmann bin. Heute morgen habe ich sogar eine Art Spottbrief vom Erzbischof von Mechelen[7] bekommen. Er warnte mich eindringlich davor, in diesen Tagen in die Geschäfte weltlicher Politik einzugreifen. Das stelle man sich vor? Sind wir alles Mönche, die dem Weltlichen entsagen? Sein wir ehrlich, die Waffen sind gezogen, die Schwerter gewetzt, alle Seiten starren auf ihre Generäle und ihre Standartenträger und warten, dass das Gefecht beginnt. Alle Seiten kleiden sich in den Mantel von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, freilich einer Brüderlichkeit wie Kain und Abel sie am Ende lebten." Der Erzbischof wirkte selbst ein wenig resigniert. "Was bleibt mir also, als mit Ihnen zu reden? Sagen Sie mir als, Herr Zeidler? Was können wir tun, außer predigen und Wunden lindern?"
In der Ferne pfiff der eisige Wind durch ein undichtes Fenster.
 1. Ein passabler Heilkundewurf (+2) könnte mehr über die Gründe per grober Ferndiagnose eröffnen.
 2. Erbsünde (http://de.wikipedia.org/wiki/Erbsünde)
 3. Kain (http://de.wikipedia.org/wiki/Kain) und Abel (http://de.wikipedia.org/wiki/Abel_(Bibel))
 4. Altägyptisches Totengericht (http://de.wikipedia.org/wiki/Altägyptisches_Totengericht)
 5. Entfremdete Arbeit (http://de.wikipedia.org/wiki/Entfremdete_Arbeit)
 6. Mammon (http://de.wikipedia.org/wiki/Mammon)
 7. Victor-Augustin-Isidore Kardinal Dechamps (http://de.wikipedia.org/wiki/Victor-Augustin-Isidore_Dechamps)
avatar Menthir 29.May.2014 07:05
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 12:06 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Achille war erleichtert gewesen, als Sébastien sich bereit erklärte, zumindest mit Monsieur Blanc zu sprechen. Gleichwohl hatte der junge Monsieur Moreau auch schnell erkannt, dass eine unausgesprochene, aber eben sichtbare Form der Dankbarkeit, in Form von wenigen, zufriedenen Tränen, sich in die Augenwinkel Achilles gestohlenen hatte, als Sébastien die Revolution des Jahres 1848 eben nicht als vollkommenes Versagen darstellte. Eine Kritik, die Achille und seine Leidensgenossen dieser Tage nicht nur von den Republikanern zu hören bekamen, sondern auch immer wieder von den jungen und frischen Sozialisten und Kommunisten. Viele kompromissbereite Revolutionäre litten darunter in der einen oder anderen Form. Sie waren eben nicht das Idealbild des kompromisslosen, aber doch wohlwollenden Revolutionärs, wie Louis-Auguste Blanqui es war. Ein Mann der an allen französischen Erhebungen seit der Julirevolution 1830[1] beteiligt war und viel mehr Jahre im Gefängnis verbracht hatte als in seiner Freiheit. Ein Mann, der jede Faser seines Daseins - so sahen es die Revolutionäre - dafür aufopferte, der Arbeiterschaft ihren Durchbruch zu bringen. Ein Mann, der die Diktatur des Proletariats[2] forderte, ein Mann, der Barrikadenkämpfe gelebt hatte, sein ganzes Leben, und der es immer noch tun würde, wenn er nur in Freiheit wäre. Die Menschen hingen diesem Vorbild nach und nicht den Achille Petits oder den Louis Blancs. Das konnte den Idealisten wohl auch kaum jemand verübeln, aber darüber, dass sie die Beteiligung dieser weniger geschätzten Revolutionäre vergaßen oder absichtsvoll verdrängten, waren diese oftmals betrübt und Sébastien fragte sich - vielleicht nicht zum ersten Male - ob Achilles Enttäuschung wirklich den Niederlagen geschuldet war, oder ob er sich nicht doch so fühlte, als würde sich das Verhalten anderer Revolutionäre ihm gegenüber wie ein Dolchstoß in den Rücken empfinden lassen. Zwar sprach Achille nie schlecht über andere, aber das mochte seinem Naturell geschuldet sein. Vielleicht kam es deshalb, dass er der Bewegung nur noch grob ideell verbunden war. Ein Kind der Sache, aber nicht der Menschen, die diese Sache in den Kampf trugen.
Dennoch sagte Achille nichts mehr zu den Argumenten, wischte sich die Augenfeuchte von den Lidern, nickte Sébastien zu und so trennten sich ihre Wege für kurze Zeit.

Das Guinguette war mit vielen Gästen gefüllt zur Mittagszeit. Eine ideale Zeit, um das inzwischen etwas aufklarende Wetter bei inzwischen erträglichen Temperaturen in einer warmen Jacken, einem Kaffee, einer Zigarette und einem süßen Croissant zu verbringen. So ähnlich verbrachte auch Louis Blanc seinen Mittag, er saß mit Achille an einem Tisch unter einer noch nicht blühenden Linde. Sie hatten einen weißen Wein in ihren Gläsern und Achille lachte gerade über irgendeine Bemerkung von Louis, als Achille schließlich Sébastien bemerkte und ihn an den Tisch bat, der von drei Holzklappstühlen umstellt war.
"Darf ich vorstellen? Louis, das ist der junge Kerl[3], von dem ich dir erzählt habe, Sébastien Moreau. Und das, lieber Sébastien, ist Louis Blanc."
Louis Blanc war ein sehr schmaler Mann von nicht nennenswerter Statur, klein, und er hatte ein inzwischen etwas hängendes Kinn und ein gewisses Altersbäuchlein wachsen lassen. Er trug ein braunes Jackett und darunter eine graue Weste, die jedoch etwas spannte. Sein baumbraunes Haar war halblang und fiel in natürliche Wellen, das Deckhaar trug er jedoch mit Seitenscheitel. Trotz seines eher unauffälligen Äußeren, hatte er sehr aufmerksame grünbraune Augen und eine gewisse Jugendlichkeit an sich. Seine sechzig Jahre sah man ihm nur dann an, wenn man sein Alter kannte und wusste auf die Zeichen des Alters zu achten.
"Ah, Sébastien. Achille hat in der Tat von euch geschwärmt. Setzt euch doch zu uns. Einen Wein?"
Ein drittes Glas stand bereits griffbereit und einer der beiden hatte gleich eine Karaffe von Weißwein bestellt, sodass sich die Frage rhetorisch gestaltete und Louis Blanc Sébastien bereits einen Wein eingoss.
"Es ist ein lieblicher Wein, ein bisschen das Erwachen des Frühlings, ein bisschen die Süße der Jugend, stellvertretend für das erneute Erwachen der Arbeiterschaft.", sagte er freundlich und stellte das Glas an den für Monsieur Moreau vorgesehenen Platz.

Das Drumherum war umtriebig und laut genug, dass man sich entspannt unterhalten konnte, zumal dieser Tage sowieso keiner so stark darauf achten mochte, worüber man sich privat unterhielt. Die Wahlen waren überall das Thema schlechthin, auch wenn die Gespräche darüber meist ziellos und blind mit wüsten oder unrealistischen Wünschen verbunden war, oder mit Platzhalter: Faire Arbeit, Faire Löhne, Essen für alle, Wohnraum für alle, was auch immer das im Detail bedeuten mochte. Sébastien fiel auf, dass neben dem Teller mit dem Croissant, mit etwas Butter und Erdbeermarmelade, ein kleines Büchlein lag. Wenn er es recht auf den ersten Blick sah, war es Proudhons[4] Qu’est ce que la propriété? Ou recherches sur le principe du droit et du gouvernement.
Louis Blanc, der eine kleine, zur Mode der Zeit passende Rundbrille trug massierte seine Nasenflügel und lächelte dann entschuldigend.
"Das darf ich doch so sehen? Hach, welch große Chance so eine Wahl ist, meinen sie nicht? Die einzige Frage, wie sich wahrlich stellt, ist doch die folgende: Warum haben wir es in den letzten Jahrzehnten immer wieder geschafft, genügend Menschen auf die Barrikaden zu bekommen?" Er lachte leise bei der politischen Doppeldeutigkeit dieses Satzes. "Aber wieso bekommen wir kaum Leute an die Wahlurne? Es erscheint mir nicht so, dass dies alleine in der so viel proklamierten Unbildung oder Nicht-Bildung des einfachen Volkes liegt. Da muss es etwas anderes geben. Und ich frage mich - sie sind nahe am Puls der Zeit Monsieur Moreau - wie kommt das? Wissen sie darauf nicht etwa eine Lösung?"
Er nahm das Croissant auf, bestrich es mit einem bisschen Butter und Marmelade und biss genüsslich ab, während er Sébastien fragend anblickte. Das zu Kauende in eine Wangentasche verschwinden lassend, fügte er hinzu. "Ich mein, wie kann es sein, dass sich eine Handvoll Arbeiter gleich am Morgen der Ankündigung auf dem Place Blanche mit alten Männern prügelt, aber gleichwohl ich noch nicht eine Truppe von Männern gesehen habe, die ernsthaft, am Menschen interessiert, mit ihnen über ihre Möglichkeiten diskutiert? Wissen Sie es? Wenn nicht, betrachten Sie sich als ersten Mann, der in diesem Interesse angesprochen wurde. Was genau, Monsieur, erwarten Sie sich von dieser Wahl?"
Achille blickte Sébastien auch gespannt an, auch wenn er etwas verwundert war, dass Louis Blanc direkt in das Thema einstieg.
 1. Julirevolution 1830 (http://de.wikipedia.org/wiki/Julirevolution_von_1830)
 2. Diktatur des Proletariats (http://de.wikipedia.org/wiki/Diktatur_des_Proletariats)
 3. Kerl ist hier lobend zu verstehen, in der klassischen Wortbedeutung des freien Mannes.
 4. Pierre-Joseph Proudhon (http://de.wikipedia.org/wiki/Proudhon)
avatar Sébastien Moreau 13.Jun.2014 12:06
Sébastien fand sich, nachdem er sich die übrige Zeit bis zum Mittag damit vertrieben hatte, durch die Straßen und Gassen von Montrematre zu streifen und sich damit ein wenig die Beine zu vertreten sowie den Kopf freizubekommen, am Guinguette in Nachbarschaft zu Achilles Werkstatt ein, um dort diesen selbst und auch Louis Blanc zu treffen. Was genau den nach seinen Idealen strebenden Arbeiter erwarten würde, wusste er nicht. Würden die beiden alten Freunde versuchen, ihm „Vernunft“ beizubringen? Würden sie ihn ausbremsen wollen? Achille wollte nicht, dass Sébastien durch Blut waten musste und scheiterte, weil er sich zu viel versprach, weil er auf Seiten einer Revolution stand, statt ein Befürworter eines langsamen, stetigen Fortschritts zu sein. Sébastien hatte in den vergangenen Augenblicken darüber nachgedacht – über die Zukunft und das, was den Arbeitern Paris‘ bevorstehen könnte. Kaum etwas anderes hatte ihn in den vergangenen Tagen seit dem Kampf gegen Thiers‘ Truppen auf dem Place Blanche beschäftigt. Vorfreude und kameradschaftliche Gefühle, Hoffnung, Tatendrang, aber auch Sorge. Durch Blut zu waten, das mochte von so manchem Barrikadenkämpfer und selbsternannten Revolutionär romantisiert werden, und auch für Sébastien klang dies nach Abenteuer, Heldentum und Freiheit – dennoch wollte er nicht, dass seine Freunde und seine Familie zu Schaden kamen. Viele gute und ehrliche Menschen hatten im Zuge der vielen Kämpfe im Zuge der revolutionären Geschichte dieses Landes ihr Leben verloren. Nein, sie hatten es für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gegeben, dies war die richtige Formulierung. Sie hatten für eine bessere Welt gekämpft – und was wäre gerechter, als dies nun, da sich die Gelegenheit dazu bot, nicht nur fort-, sondern auch zum Ziel zu führen? Blut war ein notwendiges Übel, denn Freiheit kostete Blut… Oder nicht? Friedlich-christlich zu sein und sich mit dem Feind die Hände zu reichen, so wie Paul Zeidler es gepredigt hatte – dies hielt Sébastien noch immer nicht für erfolgsversprechend. Frieden und eine gewaltfreie Lösung waren ein verlockender Gedanke – ebenso verlockend wie utopisch, in Sébastiens Augen –, dennoch besaß der Geruch von Aufruhr, der in diesen Tagen in der Luft der Hauptstadt lag, einen anderen, sehr verführerischen Reiz.

Sébastien ließ sich von Achille, der ihn und Louis Blanc miteinander bekannt machte, an den Tisch bitten und nahm, nachdem die gegenseitige Begrüßung vollbracht war und er dem Künstler freundschaftlich auf die Schulter geklopft hatte, auf dem Stuhl Platz, den man ihm bereitgestellt hatte. Etwas Wein nahm der junge Arbeiter gern an. Vielleicht würde er ein wenig gegen die Kopfschmerzen helfen, die ihn nun schon seit Stunden plagten. Innerlich verfluchte er den fistelnden Hünen mit dem Tischbein für den gelungenen Kopftreffer, dessen Sébastien noch immer spürte.

Monsieur Blanc schien redselig und offen zu sein, aber kaum belanglose Worte verlieren zu wollen, da er schnell zum eigentlichen, politischen Thema ihrer kleinen Runde kam. Sébastien reagierte, während Blanc redete, hauptsächlich mit seiner Mimik auf das Ausgesprochene: ein beipflichtendes Lächeln oder Nicken, aufmerksame Nachdenklichkeit… Schließlich versiegten die Worte und als sowohl Louis als auch Achille Sébastien anblickten, bot sich endlich die Gelegenheit zu sprechen, ohne Blanc zu unterbrechen. Allerdings fiel die Beantwortung der letzten Frage, die Blanc ihm gestellt hatte, nicht so leicht, wie gedacht. Was erwartete sich Sébastien von der Wahl? Eigentlich sollte es leicht sein, dies zu beantworten sein, dennoch geriet er in ein kurzes Zögern, bevor er antwortete:
„Hauptsächlich, dass nun ein Grundstein dafür gelegt wird, dass sich die Lage von uns Arbeitern bessern wird“, schloss er an die letzte Frage Blancs an. „Wenn wir nun an einem Strang ziehen, wird unsere nächste Regierung eine Regierung, die im Sinne aller handelt und nicht nur im Sinne der Reichen. Ich wünsche mir, dass meine Kinder keinen Hunger leiden müssen und in einem Paris aufwachsen, in dem wir Arbeiter nicht ausgebeutet werden, sondern in dem Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit herrscht.“
Formulierungen, die Alles im Allem, wohl etwas abstrakt waren. Das Ziel war klar, der Weg dorthin jedoch lag noch im Ungewissen. Sébastien selbst wusste, dass das, was getan werden musste, viel leichter gesagt war. Doch er selbst war kein Politiker, er wusste nicht im Einzelnen, was zu tun war, er handelte einfach so, wie er es für richtig hielt. Monsieur Blanqui hingegen, er wüsste, was zu tun sein würde. Auch deswegen war es wichtig, dass der Tausch mit dem Darboy gelingen würde.
„Was die Stimmung auf den Straßen betrifft“, fuhr Sébastien dann fort, „haben Menschen, die Grund haben, auf die Barrikaden zu gehen, wahrscheinlich kein Vertrauen in die aktuelle Regierung – warum sollten sie also eine neue wählen, könnten sie sich denken, wenn man dadurch nur einen Teufel gegen den anderen tauscht? Ich halte es daher für kein Wunder, dass sich mehr Freiwillige für Barrikaden als Wähler finden. Doch auch anderes spielt mit hinein. Frust abzulassen  und sich selbst um die eigenen Geschicke zu kümmern zu können, nach einem Leben nahezu ohne Selbstbestimmung – das macht es reizvoll, auf die Straße zu gehen. Aktiv und sofort etwas zu tun, anstatt andere auszuwählen und zu warten – oder zu reden. Neben der Euphorie herrscht momentan Verunsicherung und Ungewissheit, denke ich. Es ist wohl kaum zu vermeiden, dass Streit aufkommt.“
Gerade nicht, wenn Beleidigungen ausgetauscht wurden und Ärger gesucht wurde. Die älteren Republikaner auf dem Place Blanche an diesem Morgen waren provozierend aufgetreten. Sébastien hatte zwar den ersten Schlag ausgeteilt, doch dies war nicht ohne Grund geschehen.
avatar Paul Zeidler 01.Jul.2014 11:07
Die Worte des Bischofs hätten Paul bekräftigen müssen. Stattdessen spürte er eine gewisse Unruhe in sich hochsteigen, die aus einem Gefühl der Ohnmacht resultierte. "Ja, wir müssen weiter gegen die Unruhen predigen und die Wunden lindern. Das ist wohl alles, was wir verrichten können. Wissen Sie, Vater, in diesen Stunden würde ich gerne mehr tun. Es würde mir leichter fallen, mich zu verausgaben oder ein Opfer zu bringen, wenn es nur eine sichtbare Auswirkung hätte. Aber das ist das Geheimnis GOttes, dass er von uns nur die kleinen Taten fordert und Opfer unserer Geduld fordert. Vielleicht ist unsere Hoffnung und nicht unsere Taten Lobpreis genug. Gib uns Mut und Hoffnung, oh GOtt, dass wir nicht verzagen in unserer Kleinheit."

Paul hatte sich das herunterreden müssen und schien nun in die Situation zurückzukehren. Er räusperte sich. "Nun haben wir lange genug drumherum geredet. Eine kleine Gruppe von radikalen Kommunarden bedroht Sie. Sie befürchten, dass in der bevorstehenden Wahl die gemäßigten Kräfte die Mehrheit erlangen werden und versuchen, das Volk zu agitieren. Außerdem ist einer aus ihren Reihen in Gefangenschaft geraten, ein gewisser 'Louis'. Daher planen sie, Sie zu entführen, womöglich, um einen Tausch zu arrangieren. Wir haben nur durch Zufall ein kurzes Gespräch in den Straßen mitbekommen und kennen ihre genauen Pläne und ihr Vorgehen nicht. Aber wir maßen der Angelegenheit genug Bedeutung zu, als dass wir Sie in Kenntnis setzen wollten. Von Lütjenburg, habe ich es richtig zusammengefasst?", fragte er mit Blick auf den Major.
avatar Menthir 09.Sep.2014 03:09
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 11:05 Uhr - Place du Châtelet (Quartier Saint-Germain-l’Auxerrois)

Der Erzbischof blickte vom Fenster weg, blieb jedoch an ihm stehen, lehnte sich jetzt gegen die hölzerne Fensterbank und blickte Paul Zeidler und eindringlich an, während er auf die Antwort Carls von Lütjenburg wartete, die für den Moment jedoch ausblieb. Eine Aussage, die wahrscheinlich der Bestätigung nicht harren brauchte.
Der Erzbischof verschränkte die Arme, die typische, unbewusste Haltung der Abwehr, wenn auch nicht der Abkehr. Krause Falten erschienen auf seiner Stirn, er dachte angestrengt nach, die verschränkten Arme als Barriere des Momentes, als Ausgrenzung der beiden Gästen, der Schaffung eines kleinen, gedachten Raumes, in dem nur er für den Moment mit sich und seinem Gott alleine war. Während er Paul anschaute, wurde der Fokus seiner Augen ersetzt durch die Leere der Gedanken. Paul spürte, wie der Erzbischof durch ihn hindurchblickte.

Es vergingen unzählige Sekunden, lediglich das Ticken irgendeiner Uhr verdeutlichte diesen unangenehmen Vorgang, ließ ihn aber bemessen auf eine Zeit von fast zwanzig Sekunden betretenen Schweigens. Dann spürte Paul, wie die Augen des Pariser Kirchengranden seine Augen wieder trafen.
"Dieser Louis, von dem sie sprechen, es wird ihr Arbeiterlouis sein. Ein sehr schmeichelnder Satz, entstammt er doch auch privilegierten Verhältnissen. Louis-Auguste Blanqui[1] wird gemeint sein. Er wurde vor nicht ganz sechs Tagen, wenn ich die Nachrichten recht im Kopf zu behalten weiß, in Bretenoux[2] auf Antragen und Wunsch von Adolphe Thiers[3] gefangen genommen. Ich habe mir schon gedacht, dass die Arbeiter darauf nicht gemäßigt reagieren würden."

Langsam ging Darboy wieder zu seinem Sessel. Es war augenscheinlich, dass es ihm an Kraft fehlte, zu lange zu stehen oder viele Schritte zu gehen. Die letzten Monate hatten ihn ausgelaugt. Es wäre ein Akt des Willens seinerseits, die Messe am heutigen Abend zu halten. Er ließ sich sehr rasch in den Sessel plumpsen und atmete tief durch, wahrscheinlich sogar etwas Schmerz weg. Doch er überdeckte dies mit einem freundlichen Lächeln und einem unerwarteten Antragen.
"Was halten Sie davon, Herr Zeidler? Wir halten die Messe oikumen. Wissen sie, vor einigen Jahren gründete sich hier der Christliche Verein junger Menschen[4] und seit jeher kamen junge Männer hierher, nicht viele, aber doch mehr als einer, die von dieser Oikumene[5] sprachen. Und dieser Konflikt - wir haben ausreichend festgestellt, dass wir Wunden lindern, Armut lindern und Gewalt verhindern wollen - ist kein konfessioneller Grabenkampf und soll er doch auch nicht sein. Wir können über unsere möglichen, theologischen Differenzen hinweg zusammen für etwas mehr Frieden predigen, das zum einen. Zum anderen wird es die, sie nannten sie Kommunarden, oder welche Art von Rotröcke es auch sein mögen, verwirren, wenn zwei Männer in Eintracht auf der Kanzel stehen. Wenn diese sich ihrer Methode der Brüderlichkeit, doch eben wahrer, gewaltloser Brüderlichkeit bedienen, um den Männern und Frauen, den Kinder und Greisen, hier etwas Hoffnung zu geben.[6]" Er blickte erwartungsvoll zu Paul.
"Im Gegenzug will ich Ihnen meine Unterstützung zusagen für Ihre Projekte, Herr Zeidler. Was sagen Sie? Ich stelle Ihnen bischöfliche Gelder zur Verfügung, damit sie die Armen nachhaltiger versorgen können und nicht selbst alles zusammenklauben müssen. Das ist, was ich Ihnen anbieten kann."

Sein Blick wanderte zu Carl von Lütjenburg. "Und Sie sagen, dass die Preußen nicht an einer weiteren Eskalation interessiert sein? Erlauben Sie mir, Sie zu bitten, dass Sie dies unter Beweis stellen?" Er räusperte sich. "Sie sollen das nicht nach außen beweisen, Sie wollen Ihre Identität ja leise halten. Doch, ich habe preußische Kanonen auf Paris schießen sehen, als das Gros der Bevölkerung sich schon gar nicht mehr wehrte. Ich habe erleben dürfen, wie das Deutsche Reich sich am 18. Januar ausgerechnet im Spiegelsaal von Versailles[7] ausrufen ließ, obwohl Ihre Hauptstadt doch Berlin sein sollte. Sehen Sie, es fällt einem schwer, wenn man über Monate beschossen wurde und viele Freunde im Kriege verlor, den nicht alle freiwillig gewählt haben, an die Integrität eines jeden Preußen zu glauben, so gern ich das als Mensch gern wollte. Ich biete Ihnen also an, und sei es auch so, dass Sie nur Sorge vor der Eskalation im preußischen Sinne haben, dass Sie sich insofern beweisen, dass Sie ein Auge offenhalten, dass Ihrem Freunde Paul Zeidler und mir auf der Kanzel nichts geschieht. Wie steht es darum? Sie sind doch ein Preuße, also werden Sie doch darum bemüht sein, in seinem Sinne zu handeln, nicht wahr[8]?"

Jetzt blickte er seine beiden Gäste gespannt an. Es blieb deutlich, dass er die Gefahr entweder nicht ernst nahm oder zumindest, dass er sich davon keineswegs von seinen Absichten abbringen ließe. Vielleicht war es dumpfe Sturheit, vielleicht hatte er seinen Spitznamen doch verdient.
 1. Louis-August Blanqui (http://de.wikipedia.org/wiki/Louis-Auguste_Blanqui)
 2. Brentenoux (http://en.wikipedia.org/wiki/Bretenoux)
 3. Zur Erinnerung, mal wieder Thiers (http://de.wikipedia.org/wiki/Adolphe_Thiers)
 4. Christlicher Verein junger Menschen (http://de.wikipedia.org/wiki/Christlicher_Verein_Junger_Menschen) - Die französische Variante wurde 1852/1855 in Paris gegründet mit dem Ziel überkonfessionalem Dialogs. Henry Dunant (http://de.wikipedia.org/wiki/Henry_Dunant) ist wohl das bekannteste Mitglied des französisch-sprachigen Zweiges dieser Bewegung, wenn auch er Sekretär in Genf war, aber er war auch an der Pariser Gründung beteiligt.
 5. meint eigentliche die bekannte Welt in der Antike, oder den bewohnten Erdkreis, wird später zur berühmten Ökumenischen Bewegung (http://de.wikipedia.org/wiki/Ökumenische_Bewegung).
 6. Er spielt deinen Aspekt Leading by Example an.
 7. Deutsche Reichsgründung (http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Reichsgründung)
 8. Er spielt deinen Aspekt Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben? an, da er deine preußische Integrität spielerisch anzweifelt.
avatar Menthir 09.Sep.2014 04:09
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 12:07 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Louis Blanc leerte seine Wangentasche und legte das angebissene Croissant, nun bar jeder Butter und in diesen Tagen sündhaft teurer Erdbeermarmelade, die eher geleeartig war, weil die ganze Früchte zu kostbar waren. Er legte es auf den Teller und wischte seine Hand in einer burgundfarbenen Serviette[1] ab. Sein Gesichtsausdruck war von Genuss zu Unlust gewechselt und er blickte Achille an, als hätte dieser etwas verbrochen. Dieser unangenehme, viel sagende Blick, der einem ein so oftmals trügerisches Gefühl gab, weil er im Zusammenhang der verfügbaren Informationen aufgenommen wurde. Aber wer wusste schon, worüber sich Louis und Achille sich vorher unterhalten hatten, dass dieser Wechsel so unmittelbar kam, als hätte sich eine anthrazitfarbene, wasserschwängerte Wolke vor die Sonne geschoben und würde sich gleich abregnen. Er warf die nun benutzte Stoffserviette auf das Croissant und nahm den Serviettenring, wahrscheinlich aus Messing, in die Hand und legte ihn ebenfalls auf dieses Konstrukt der Aussage des vergangenen Hungers.

"Ich hoffe, es ist Ihnen jetzt unangenehm, wie ich mir aufführe.", sagte er schließlich gereizt, nachdem er Sébastien einen ganzen Moment angeblickt hatte. "Wahrscheinlich hatten Sie jetzt das Gefühl, Sie hätten etwas Falsches gesagt oder mir in irgendeiner Form Unrecht getan. Möglicherweise habe sich in Ihrem Geiste Abwehrmechanismen abgespielt, ohne dass Sie diese bewusst steuern mussten. Was wollte dieser Mann von mir? Wieso reagiert er so? Sie sind ohne erkenntlichen Grund defensiver geworden, ihre Stirn hat sich möglicherweise kraus gezogen. Sie spüren, wenngleich auch keine körperliche Gefahr, die von einem kleinen, dicklichen Mann hohen Alters kaum ausgehen kann, droht, dass etwas im Argen ist und werden kritischer, abwehrender. Sie ziehen sich in eine natürliche Schutzhülle zurück und warten darauf, sich zu verteidigen. Wird der Mann mich anklagen? Wie soll ich mich rechtfertigen? Sie waren schon langsam dahin gekommen, als ich Sie nur ansprach, nicht wahr? Er sagte kaum Guten Morgen und schon zwang er Sie, dieser dreiste, alte Mann, sich für ihr mögliches, vielleicht sogar wahrscheinliches Verhalten zu rechtfertigen. Ohne, dass er spezielle Dinge Ihres Lebens wissen kann, arbeitet er mit stumpfen Erwartungen, wie ein schlechter Statistiker, und zwingt sich gleich zur Rechtfertigung, und als Sie diese, selbstverständlich, geben, erdreistet er sich auch noch sein Essen zu beenden und sie weiter unter Druck zu setzen. Bis zu diesem Moment. Puuf. Der Druck ist weg."
Er nahm den Messingring wieder vom Tuch, nahm die Serviette vom Croissant und das Croissont wieder in die Hand und biss mit einem verschmitzten Lächeln hinein. Auch Achille, der vorher ungewohnt angespannt gewirkt hat, lächelte jetzt, wenn auch etwas gezwungener, als würde ihm etwas auf dem Magen liegen.

"Ich will Ihnen erklären, warum dieser Druck weg ist. Verzeihen Sie mir einfach, dass ich Sie zu Beginn unseres Gespräches gleich mit dem Rücken an die Wand gestellt habe, und mit Fragen traktiert habe, die einem rhetorischen Erschießungskommando gleichkommen. Aber ich möchte Ihnen damit etwas verdeutlichen, nämlich die Rhetorik der Blanquisten. Sie spielen mit Ihrer Angst, die durchaus berechtigt ist, und mit Ihrem Gewissen. Jede Tat, die Sie also tun sollen, ist eine Tat Ihres Gewissens. Ihnen wird gesagt, Ihnen wird geradezu gepredigt, und glauben Sie mir, die Blanquisten sind fromme Priester, dass Sie hilflos sind, dass Sie nur Ihre Familie ernähren können, Ihren Beruf, vielleicht als gemeiner Fabrikarbeiter, nur dann ertragreich ausfüllen können, ernährend bestreiten können, wenn Sie sich einfach nehmen, was Ihnen zusteht. Ein Schreckensszenario wird verbal errichtet, welches den wahren Umständen soweit entspricht, dass es in seiner dystopischen Macht plausibel bleibt und Ihnen das Gefühl von Hilflosigkeit gibt. Sie wähnen sich folglich zwischen den Mühlsteinen der Fabrikanten und Republikaner, und ehe Sie in diesem Zustand zu nutzlosem, aber den Fabrikanten ernährende Mehle werden, erheben Sie sich mit erhobener, gereckter Rotfaust[2], brüllen Zeter und Mordio[3], schmeißen sich auf die nächste Barrikade, erheben irgendeine Form von Gewehr und schießen nieder, wer da auch die Barrikade zu stürmen droht. Auch wenn Sie noch immer nicht wissen, wie Ihre Tat sie nun ernährt und die Situation der Arbeiter verbessert, Sie tun eine Gewissenstat: Sie wissen, Sie haben - im Gegensatz zur faulen Masse des Mittelstandes - Ihr Schicksal in die Hand genommen und werden - wenn es schlecht läuft - einen Heldentod sterben. Das ist eine beruhigende Aussicht, wenn die Alternativ ewige Knechtschaft unter dem Joch des Fabrikanten ist, nicht wahr?"
Das Messer glitt in die Butter, dann in die eher geleeartige Marmelade, alles schmeckte aneinander, Blanc blickte mit kulinarischer Wolllust auf diese an sich einfache, doch in Zeiten der Krise außergewöhnliche Speise, ohne dabei Sébastien aus den Augen zu verlieren. Er biss schmatzend ab und zeigte seinen Genuss damit deutlich an. Er kaute ostentativ deutlich und spülte dann, nachdem er bereits zweimal geschluckt hatte, die Reste seines Bissen mit diesem süß-lieblichen Weißwein hinunter.
"Ich sehe Ihrem Gesicht doch an, dass meine Analyse gar nicht so weit daneben liegt. Nun ist der Druck jedoch fort, in diesem Gespräch zumindest. Erlauben Sie mir, wenn ich mir nämlich herausnehme, Sie nicht weiter mit dem Rücken an die Wand zu stellen, wenn ich mir erlaube, Sie nicht in meinem Sinne manipulieren zu wollen. Ich bin kein Blanquist und ich brauche kein Fußvolk, etwas, was Ihnen sowieso nicht gut steht, mein lieber Monsieur Moreau, denn soweit ich das beurteilen kann, sind sie nicht auf den Kopf gefallen.

Ich komme dennoch nicht umhin, zu bemerken, dass Sie mich mit Platzhaltern in Ihren Ausführungen bedacht haben, die allesamt sehr wenig aussagen. Aber das ist schwer, Ihnen also nicht zu verübeln.
Es ist schwer zu erkennen, wie die Anfeindung einer Person, einen Fortschritt bringt. Wenn ich das Gespräch so fortgeführt hätte, wir wären im Streit geendet, und wir hätten keinen Fortschritt erlebt, weil sie Ihre Ideale, und ich die meinen, schlachtengleich verteidigt hätten. Wir sind stolze Männer und glauben zu wissen, wofür wir einstehen. Ich für die Wahl, sie für die Änderung der Verhältnisse im blanquistischem Wege. Wenn wir uns jedoch streiten - Sie haben ihre biologische Selbstfunktion demonstriert bekommen, wie sie automatisch ablehnender werden, sobald Sie eine Form von Gefahr wittern - vergessen wir beide allzu schnell, dass wir doch über das Wohl der Arbeiterschaft in gleichem Maße besorgt sind. Und das wollen wir nicht, dass wir einander beweisen wollen, wer von uns die Zukunft besser lesen kann. Das ist ein Streit über ein gehaltloses Thema, da wir beide ausgebildeten Wahrsager sind, nicht wahr?

Doch obgleich wir die Zukunft nicht zur Gänze vorhersagen können, haben wir die Fähigkeit entwickelt, einzelne Ereignisse erahnen zu können. Und ich erahne folgendes: Der Weg der Blanquisten führt in eine Gegengewaltspirale. Selbst wenn es Ihnen gelingt, wie bei der Eroberung der Kanonen, Teilerfolge zu feiern oder gar soziale Entwicklungen in Gang zu setzen, wird es nach ihrer Niederschlagung keine Rolle mehr spielen. Das haben uns alle alten Revolutionen doch schmerzlich bewiesen. Ich erinnere an die Errungenschaften der großen, unser geliebten Revolution; wie viel ist von ihr geblieben, als Napoleon sie über das Knie legte und ihr den Hintern versohlte? Sie ahnen es, Monsieur. Sie ahnen ist. Hier stehen wir wieder.

Ich habe deswegen das Gefühl, dass ein Versuch der Veränderung mit der Legitimation eines ganzen Volkes oder zumindest der Mehrheit, ein größeres Erfolgspotenzial verspräche, auch wenn wir kleinere Schritte gehen müssen und das Schicksal nicht mit einem tatkräftigen Schwerthieb ändern können.

Ich stelle es ihnen frei zur Wahl und werde nicht enttäuscht sein, sollten Sie ablehnen, ich will Sie nicht manupulieren, nein, Sie sollen Ihren klugen Kopf nutzen, doch bedenken Sie bitte folgendes:

Sie sind ein, das steht außer Frage, tatkräftiger wie verzweifelter Mann. Sie haben menschliche Schwächen, wie wir alle, doch sie haben den Blick für das Ganze nicht verloren. Im Gegensatz zu vielen Ihrer Mitstreiter, haben Sie Ihre Vernunft noch nicht dem radikalsten Ideal geopfert, nur weil es schön klingt. Sie wissen, dass der Weg schwer ist, und trotz allem sind sie leidensfähig. Das macht sie prädestiniert für eine größere Rolle als die eines Blanquisten, verstehen Sie?
Was hielten Sie davon, wenn Sie ihren abendlichen Aufstand vergessen und sich stattdessen dem Bürgermeister Montmatres anschließen. Kennen Sie, Georges Clemenceau[4]? Ein guter Mann. Ich könnte Sie miteinander bekannt machen und Sie könnten hehrere Wege, parlamentarische Wege gehen und müssten nicht mehr diesem prämodernen Zustand des Rechts des Stärkeren folgen, sondern könnten wirklich und fortwährend etwas bewegen. Was sagen Sie?"

Achille blickte weg beim letzten Teil des Gespräches, in sein Weinglas starrte er geradezu. Es war klar, dass er mit Louis Blanc über die geplante Befreiung von Blanqui im Detail gesprochen hatte und sie jetzt versuchten, Sébastien umzustimmen, ihn vor seinen Freunden zum kleinen Verrat zu bringen. Dennoch war es vielleicht verlockend eine erhöhte Position an der Seite des Bürgermeisters anzunehmen. Das versprach, soviel wusste Sébastien, ein geregeltes Gehalt, ein legaler Posten außerhalb einer Fabrik und damit eben die Chance, dass seine Frau und er nicht hungern mussten, während seine Kinder sogar eine Schule besuchen konnten und später vielleicht sogar eine Universität. Das könnte zumindest den Zustand seiner Familie bessern und gab ihm doch immerhin die Chance, immer noch etwas zu verändern, wenn auch weniger radikal[5].

Louis Blanc biss wieder von seinem Croissant ab, diesmal geräuschlos und freudloser, denn er war konzentriert, ob der Reaktion von Sébastien.
 1. Das sind freilich noch alles Stoffservietten, die modernen Papierservietten werden 1894 in Deutschland erfunden.
 2. 
Ein Beispiel der Arbeiterfaust (Anzeigen)
 3. Zetermordio (http://de.wikipedia.org/wiki/Zetermordio)
 4. Georges Benjamin Clemenceau (http://de.wikipedia.org/wiki/Georges_Clemenceau)
 5. Ich spiele deinen Aspekt "Doch doch, ich liebe meine Frau, aber... " an, und zwar in der Hinsicht, dass Sébastien ja jetzt durchaus die Chance hätte, sein schweres Gewissen seiner Frau gegenüber zu beruhigen, in der er ihr, als auch Jules und Viviane ein besseres Leben verschaffen könnte.
avatar Carl von Lütjenburg 14.Sep.2014 03:09
Carl hatte zunächst darauf verzichtet Darboy zu antworten und es vorgezogen das Hin und Her zwischen dem Bischof und Zeidler, Carls ebenso neuem wie auch merkwürdigem Verbündeten, zu beobachten. Überhaupt hatte er den Eindruck, dass es klüger war Zeidler reden zu lassen und selbst zu schweigen. Eigentlich verhielt es sich vermutlich so, dass Paul dem preußischen Offizier in dieser Situation mehr Glaubwürdigkeit und Wohlwollen verschaffte, als jedes Dokument oder auch Geschenk, dass er hätte vorweisen können.
Er hatte sich fest vorgenommen, nur wenn es wirklich notwendig wurde in das Gespräch einzugreifen und gegebenenfalls im eigenen Sinne in die rechte Direktion zu bewegen. Doch all die guten Vorsätze wurden alsbald auf eine harte Probe gestellt, als Darboy an Carls eigener Integrität zweifelte.
Doch es war nicht so als hätte Carl eine große Wahl gehabt, tatsächlich merkte er bei jedem Wort, wie der Ärger ein Stück mehr in ihm aufstieg und als der Bischof zu reden aufhörte, musste Carl diesen Worten einfach entgegentreten. Er wollte nicht laut werden, doch seine Wut ließ ihn seine Worte zischend ausspucken.

"Ja, unsere Hauptstadt ist Berlin und es ist ein großes Glück, dass ihr sie uns 1807[1] gnädiger Weise doch noch gelassen habt, als Preußen halbiert und versklavt wurde. Ein Jahrhundert des Wachstums mit einem einzigen Vertrag vernichtet! Frankreich sicherte sich ohne Rücksicht die Ostflanke und ließ tausende Deutsche in Russland an Seuche und Hunger verrecken, wenn sie nicht das Glück hatten, sich eine Kugel für die Grande Nation[2] einfangen zu dürfen. "

Carl beruhigte sich wieder ein wenig, war aber noch nicht fertig mit seiner Tirade: "Und nun wollen Sie mir erklären, dass es nicht aussieht, als wäre Preußens Interesse an einer Deeskalation  nicht glaubwürdig, weil wir uns ihren Spiegelsaal ausgeliehen haben? Ich möchte Ihnen mal etwas sagen, Herr Darboy. Zum Einen sollten Sie sich als Franzose wohl eher geschmeichelt fühlen, dass wir in ganz Berlin offenkundig keinen vergleichbaren Raum besitzen um unser Kaiserreich auszurufen und zum Anderen wird Frankreich sich nun damit abfinden müssen, dass es in Deutschland nun nichts mehr zu sagen hat. Nie wieder! Ich kann verstehen, dass die Art dies zu verdeutlichen, bei keinem Franzosen auf Gegenliebe stößt, doch haben auch wir ein Interesse daran, endgültig klarzustellen, dass die Zeit, in der man uns klein halten konnte nun ihr Ende gefunden hat.

Offensichtlich scheinen ihre Landsleute ja nicht immer vollkommen Aufnahmebereit zu sein, also sind deutliche Zeichen wohl notwendig. Vor den Toren steht eine riesige Armee, die langsam ungeduldig wird und hier drinnen fabulisieren  sie davon zuerst ein Königreich der Arbeiter zu errichten und uns danach wieder aus Frankreich zu werfen. Dass es für Paris bald gar keine Nahrung mehr geben wird und Seuchen demnächst in allen Straßen wüten werden, interessiert und besorgt - soweit ich dies beobachten konnte - zumindest ein paar Preußen, aber so gut wie keine Franzosen. Hier läuft doch etwas gewaltig verkehrt, oder nicht?"


Mit den letzten Worten hatte Carl sich vollends wieder beruhigt und an seiner Mimik war deutlich zu erkennen, dass ihm sein Ausbruch auf der einen Seite leid tat und vermutlich sogar etwas peinlich war. Auf der anderen Seite lag aber vor allem in seinen Augen eine gute Portion Trotz, die davon kündete, dass weder er sich als barbarischen Invasor sah, noch so wahrgenommen werden sollte und es ihm arg zu schaffen machte, wenn er derartig in Frage gestellt wurde. Sicherlich gab es haufenweise Revanchismus in den Reihen der Preußen zu finden und auch wenn Carl sich eher nicht davon antrieben ließ, so war er dennoch nicht dazu bereit das Vergangene zu vergessen, wenn ihm die Gegenwart vorgeworfen wurde.

Nach einem kurzen Moment des Schweigens räusperte sich Carl und setzt erneut an zu reden - diesmal wieder ruhig und gefasst, vielleicht auch ein wenig demütig: "Um dann doch auf ihre Frage zurückzukommen... Ich habe Paul um Hilfe gebeten, weil ich hier vollkommen auf mich allein gestellt bin und das obwohl ich sehr wohl weiß, dass es gefährlich, wenn nicht gar tödlich sein kann, sich in diese Dinge einzumischen. Ich habe drei Kriege gefochten und für mein Vaterland und meine Kameraden gebe ich mein Leben gerne, wenn es denn irgendwann sein soll. Dennoch es ist niemals einfach sowas von anderen zu erbeten.
Ich sage das nur, damit sie verstehen können, dass ich Paul nicht aus bloßem Kalkül oder gar leichtfertig angesprochen habe, sondern weil es mir  anders nicht möglich schien meine Befehle zu erfüllen und damit indirekt in der Stadt Schlimmeres zu verhindern. Ich könnte es mir also nur schwer verzeihen, sollte Herrn Zeidler hier etwas geschehen, nur weil er mir zur Seite steht. Wenn Sie beide, es also für klug halten mehr oder weniger ins offene Messer zu laufen, dann will ich vor Ihnen herlaufen und das Messer im rechten Moment beiseite stoßen.  Sie beide Seite an Seite wäre sicherlich ein gutes Signal an die Bevölkerung, aber ich kann nur schwer einschätzen, ob es nicht besser wäre dem Anschlag einfach zu entgehen und die Feinde so ins Leere laufen zu lassen."

 1. Carl meint den Frieden von Tilsit (http://de.wikipedia.org/wiki/Frieden_von_Tilsit)
 2. Grande Nation (http://de.wikipedia.org/wiki/Grande_Nation)
avatar Sébastien Moreau 17.Sep.2014 12:09
Sébastien war, während er Blancs Ausführung verfolgte, leicht irritiert. Der Mann war wortgewandt, keine Frage, doch fand seine Art bei Sébastien nicht sonderlich Anklang – was vielleicht daran lag, dass sich der junge Arbeiter tatsächlich recht unwohl in diesem Gespräch fühlte. Teils hatte er etwas Mühe, zu folgen. Nicht, weil er die Bedeutung der Worte nicht verstand, sondern weil er Sinn dahinter suchte, eine Intention. „Dreister, alter Mann“ nannte Louis Blanc sich selbst, wenn er dies auch den Gedanken seines Gesprächspartners zuschrieb… Berechtigterweise. Sébastien gefiel nicht, wie Blanc mit ihm umsprang, es versetzte ihn noch immer in Unruhe. Nein, kein „Puuf“. Der Druck war keinesfalls weg, auch wenn Sébastien versuchte, die Anspannung, die ihn befallen hatte, loszuwerden. Das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, Dinge richtigzustellen, war nach wie vor gegeben.

Zu widersprechen wäre eine Option gewesen, denn so, wie Blanc die Blanquisten darstellte, war es sehr negativ und pessimistisch dargestellt. Das Gefühl, dass er von seinen Kameraden ausgenutzt und manipuliert wurde, hatte Sébastien nicht. Er fühlte sich wohl unter Seinesgleichen – nicht so hier, in Gegenwart Blancs, dessen Worte genauso provokant waren wie die Art, in der dieser Mann sein Croissant vertilgte. Der Behauptung zum Trotz, sich nicht streiten zu wollen, trug Blanc jedenfalls nicht viel dazu bei, um bei Sébastien nicht anzuecken. Vielleicht hatte Blanc gewissermaßen Recht: Die Blanquisten waren bereit, für ihre Sache ihr Leben zu geben. Unmittelbar geholfen war damit noch niemandem, mit dem Heldentod, zumindest, wenn es chaotisch von Statten ging, so wie Blanc es beschrieben hatte… Aber genau deswegen planten sie ja, den Arbeitern ihren Louis wieder zurückzugeben.

Ungeachtet dessen wurde Sébastien den Eindruck nicht los, dass Blanc mit ihm spielte, ihn in eine bestimmte, anti-blanquistische Richtung zu lenken, was sich final durch bestätigte, dass Blanc ihm die „freie Wahl“ ließ, sich statt der Darboy-Aktion für eine Anstellung beim Bürgermeister Montrematres zu entscheiden. Hatte Sébastien sich zuvor bemüht, nicht sonderlich gequält oder verstimmt dreinzublicken, verfinsterte sich seine Miene bei Blancs letzten Worten schließlich etwas.

Doch war es nicht Blanc, den Sébastien vorwurfsvoll ansah, als man ihm das Wort überließ, sondern Archille. Archille, der in sein Weinglas starrte, anstatt Sébastiens Blick zu erwidern. Wohl vom schlechten Gewissen geplagt – und das nicht ohne Grund!
„Ich dachte, du seist mein Freund, Archille“, sagte Sébastien etwas kühl. Er fühlte sich in eine Falle gelockt. „Ich weiß, dass dir unser Plan nicht zusagt, aber das gibt dir nicht…“
Nein, er unterbrach sich selbst, bevor er laut wurde. Er schnaubte stattdessen.
„Was hast du dir dabei gedacht?“
Er führte dies an dieser Stelle nicht näher aus. Er war aufgewühlt und Archille konnte sich sicher denken, dass er sich darüber empörte, dass er einerseits Details ausgeplaudert und andererseits Sébastien selbst in diese aktuelle Situation gebracht hatte.

Sébastien wartete keine Reaktion ab, sondern wandte sich direkt Louis Blanc zu.
„Sie, Monsieur, Sie stellen mich vor eine Wahl, die ich nicht treffen möchte“, stellte er ernst klar, fühlte sich allerdings nicht selbstsicher, sondern wie ein in eine Ecke getriebenes Tier.
„Entweder soll ich meine Freunde, meine Brüder hintergehen, indem ich sie im Stich lasse, oder aber meine Familie, denn nichts anderes wäre es doch, wenn ich Ihr Stellengebot ablehne, nicht wahr?“
Es war eigentlich eine unverhoffte Gelegenheit, eine beinahe schon glückliche Wendung für Sébastien, Arbeit angeboten zu bekommen. Gut bezahlte Arbeit, wie er vermutete. Denn um seine jetzige Stelle stand es vermutlich nicht erfreulich, da heute nicht der erste Arbeitstag war, den er versäumte. So etwas wurde, selbstverständlich, nicht gern gesehen. Nicht von seiner Frau Joséphine (weswegen Sébastien sich auch davor hütete, nun, da er eigentlich arbeiten sollte, Zuhause vorbeizusehen), aber auch nicht von seinem Arbeitgeber – einem ihrer Gegner im Kampf um Freiheit und Gleichheit, wenn man so wollte. Doch derzeit war Sébastien, war Sébastiens Familie, von dem Lohn abhängig, den er verdiente. Joséphine wäre nicht erfreut zu erfahren, wenn Sébastien seine Anstellung verlieren würde… Das wäre fatal. Er konnte eine Anstellung beim Bürgermeister sehr gut gebrauchen, das stand fest. Allerdings…
„Sie wollen mich also nicht manipulieren, nein? Das hört sich für mich ganz anders an.“
Es war für ihn nur natürlich, auf die „freie Wahl“, die Blanc ihm anbot, misstrauisch und abweisend zu reagieren.
„Sie wollen nicht, dass ich helfe, Blanqui zu befreien, also bieten Sie mir… was eigentlich?“, verlangte er zu wissen. „Geld? Ansehen? Macht? Soll ich Ihrem Freund Clemenceau den Rücken freihalten? Wahlzettel sortieren? Oder seine Möbel reparieren?“
Sébastien schnaubte erneut.

„Ich bin Tischler, Monsieur Blanc“, betonte Sébastien, „kein gebildeter Mann, der mit Zahlen und Worten jonglieren kann, so wie Sie es wahrscheinlich tagtäglich tun. Habe ich den Eindruck vermittelt, dass ich eine größere Rolle spielen möchte als meine Brüder im Geiste? Vielleicht will ich mich gar nicht gar nicht von den anderen Arbeitern abheben, haben Sie daran schon einmal gedacht? Gleichheit, darum geht es doch. Um Kameradschaft. Das Nutzen der Gelegenheit, solange noch Zeit dafür ist und Thiers sich nicht wieder einmischt.“
Sich zu wehren, Trotz zu beweisen, hatte vielleicht keinen Sinn. Sébastien war sich bewusst, dass er sich in einer furchtbaren Zwickmühle befand. Nein: Er wollte die Wahl, vor die Blanc ihn stellte, wirklich nicht treffen. Aber blieb ihm nun ein Ausweg? Sébastien sah keinen. Entweder, oder – zwei Optionen. Er sank in seinem Stuhl zurück.

„Sie wollen also wissen, was ich sage“, nahm er resigniert, nach einer kurzen Pause, wieder das Wort auf, fixierte dann allerdings Archille, als er fortfuhr:
„Ich kann François und Nicodème das nicht allein tun lassen. Wir wollen niemanden verletzen. Das ist alles nur Schau. Wir wissen das, natürlich, doch falls es zu Schwierigkeiten kommt…“
Sébastien mochte es sich nicht vorstellen.
„Ich würde mir nie verzeihen, wenn den beiden etwas zustieße und ich nicht da gewesen wäre, um das zu verhindern.“
Ein Verrat an seinen Freunden, gerade an François, konnte Sébastien nicht mit seinem Gewissen vereinen.
Nun suchte er wieder Blickkontakt zu Blanc. „Dennoch sitze ich noch hier, wie Sie sehen. Ich bin noch nicht aufgestanden und gegangen.“
Nein, seine Familie konnte Sébastien auch nicht dem Elend überlassen. Seine Liebsten versorgt zu wissen, war eine Herzensangelegenheit. Um seine Frau und Kinder abzusichern, würde er sofort und jederzeit sein Leben geben.
„Offenbar bin ich wirklich verzweifelt“, murmelte Sébastien, seine Lage kommentierend, als er nun nach seinem Weinglas griff und es, wenig genießend, mit einem Zug leerte.
„Verraten Sie mir, Monsieur Blanc: Was genau haben Sie im Sinn? Was genau wollen Sie von mir?“
Dass Blanc uneigennützig handelte, konnte Sébastien nicht glauben. Dass dieser Mann ihn nicht zu manipulieren versuchte, sowieso nicht. Blanc sollte die Karten auf den Tisch legen, statt allgemeine, schwammige Aussagen zu machen. „Hehrere, parlamentarische Wege“? Sébastien sah nicht, wie genau diese größere Rolle aussehen sollte, die Blanc ihm zugedachte. Er sah nicht, wie genau das erfolgsversprechender sein sollte, als den Arbeitern ihren Louis zu geben. Denn langsame Änderungen waren zwar auch Änderungen, aber wer sagte ihnen, dass sie wirklich beständiger waren als schnell errungene?
avatar Menthir 19.Sep.2014 09:09
Donnerstag, 23. März 1871 - Mittag - 12:11 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Achille fühlte sich nicht besser, als Sébastien ihn persönlich geradezu diffamierte, ihn als Betrüger oder Verräter zu entlarven gedachte. Er blickte jetzt hilfesuchend zu Louis Blanc, der jedoch gar nicht weiter auf Achille achtete, sondern stattdessen Sébastien im Blick hatte und seine Reaktion sehr sorgsam beobachtete, wie ein Mann, der sich dem Studium der menschlichen Ausdruckskraft verschrieben hatte und jetzt seine Messgeräte heranzog, um alles genau zu studieren. Vielleicht wäre Monsieur Blanc gerne Physiognom[1] geworden. Stattdessen war er ein gescheiterter Journalist, ein schon ein gescheiterter Reformer, ein immerhin geschätzter Historiker mit dem Blick für die große Bewegungen und Ströme zu Zeiten des wachsenden Kapitalismus, und nicht zuletzt war er oder galt zumindest als Begründer der Sozialdemokratie[2] und geschätzter Orator[3], wenn nicht überall, dann doch im französischsprachigen Raum. Nicht zuletzt war für Sébastien zu erkennen, dass Monsieur Blanc bei weitem nicht so revolutionär gebrochen schien wie sein Komparse Achille, was wohl auch an den anderen Wegen liegen mochte.

Und so war Achille doch eine tragische Figur. War er nur beschämt, weil Sébastiens Worte einen wahren Kern hatten, und war da noch mehr? So wie Achille zu Blanc schaute, in sich zusammengesackt beinahe aufschaute, ließ sich etwas wie eine Linie der Abhängigkeit zwischen ihnen erkennen. Achille war der Mann, der Louis Blanc folgte, soviel war sicher. Es lag sowas wie Resignation in den Blicken des Künstlers, vielleicht die glimmenden Überreste eines alten Feuers, die dieser eher bildend begabte Künstler nicht in Worte zu fassen vermochte, seinen Gedanken also keinen freien Lauf zu geben wusste, und folglich von seinem Freund Louis erhoffte, dass dieser in seinen Gedanken lesen und sie formulieren konnte. Sébastien mochte sich gar Fragen, so wie Achille nach wenigen Sekunden des nahezu bettelnden Stierens den Kopf sacken ließ, ob der manchmal so schrullige, verhärmte Künstler gar einst vor derselben Frage stand? Hatten Louis und Achille einst dasselbe Gespräch geführt? Achille blieb in sackender Haltung und wagte es nicht, Sébastien anzuschauen, geschweige denn Worte an ihn zu richten, während Louis weiter interessiert zuhörte.

"Bureaucratie, mein lieber Freund, ist keine Aufgabe, welche nur im Schubsen von Zahlen und Lettern Anwendung finden würde. Sie ist die große Chance einer gütlichen, stückweisen Veränderung der Welt. Aber lassen Sie mich dazu ausholen, und unser Gespräch nochmal Rahmen und mit ein paar Erklärungen versehen.", sagte Louis schließlich, während er die restliche Hälfte des Croissants auf den Teller legte und von sich schob. Diesmal war er wahrscheinlich tatsächlich gesättigt oder das Croissant verdiente nicht mehr seine Aufmerksamkeit. "Ich habe Ihre Wahl sehr drastisch formuliert. Deswegen klingt ihnen das nach Manipulation, als würde ich wie ein Sitten- oder Spielwächter agieren und ihr Schicksal festlegen. Doch diesen - durchaus falschen - Eindruck, den Sie von mir gewinnen, will ich Ihnen wahrlich nicht übel nehmen. Ich trage volle Verantwortung für meine Worte, aber wenn ich Ihre Rolle nicht mit einbezöge, würden Sie den Eindruck gewinnen, dass wir über etwas allzu Abstraktes sprechen und es würde Sie vielleicht gar nicht, aufgrund der Verpackung, gar nicht interessieren, was in ihrem Inneren schlummert, obwohl der Inhalt Sie gleichwohl angeht und brennend interessiert. Sie wissen schon, diese Sprache, welche man den populistischen Politikern unserer Zeit vorwirft, die viel reden und wenig sagen, um Sie von einem Interesse an den brennenden Themen des Alltags abzulenken. Jene Sprache, die Ihnen das Gefühl geben will, dass Sie nicht dazugehören zum Zirkel der Verstehenden und dieses eben jenen Männern überlassen, die sich, nachdem Sie sich peinlich berührt fühlen, als so verständig beweisen. Ich habe also eine direkte Methode gewählt, damit Sie sich persönlich angesprochen fühlen, sprechen wir doch über Sie, nicht alleine über die große, abstrakte Arbeiterschaft."

Louis Augen ruhten die ganze Zeit auf dem Gesicht des jungen Arbeiters. "Gerade deswegen, weil es Ihr Leben ist, will ich Ihnen beide Wege offenhalten, auch wenn ich freilich mit dem friedfertigen Weg kokettiere. Und darin liegt auch, was ich von Ihnen möchte, Monsieur Moreau. Ich möchte, dass Sie ernsthaft überdenken, wie Sie die Zukunft gestalten. Ich will darum etwas konkreter werden.
Sie sind also ein Tischler und können mit Zahlen nicht so um, wie Sie es vielleicht gerne würden, oder wie Sie glauben, dass es in der Bureaucratie schicklich sei. Mitnichten müssen Sie sich dadurch gering stellen, Monsieur. Ich will Ihnen erklären, wie Sie direkt etwas tun könnten. Sie sind Tischler und demnach kennen Sie wohl besser als ich, wo den Tischlern der Schuh drückt. Aber lassen Sie mich ein paar Vermutungen aufstellen: Möglicherweise verlieren viele klassische Möbeltischer gerade in diesen Stunden ihren Beruf, weil hochwertige Möbel nicht ganzheitlich, oder zumindest zu 70% wie in jüngster Zeit, manufaktiert werden. Vielmehr sind Sie und Ihre mitleidenden Tischler, die noch arbeiten können, damit beschäftigt in Massenproduktion, an Dampfsägemühlen zu stehen und diese einfach zu beaufsichtigen oder eben nur stossweise Einzelteile an oder für Holzkonstruktionen anzubringen. Holzbänke für Kutschen, Speichen für Räder, Stuhlbeine und dergleichen, die sie nur noch zusammenstecken. Der Unterberuf des Drechslers ist höchstwahrscheinlich auch weitestgehend von großen, dampfmaschinen-betriebenen Drechselmaschinen abgelöst, vielleicht sind noch ein oder zehn Männer in ihrem Werk für die Nachbearbeitung und die Aufsicht eingestellt. Die große Maschine nimmt ihnen die Arbeitsplätze, weil sie billiger und mehr arbeitet. Obwohl sich aufgrund des Wiederaufbaus die Arbeitslage verbessert haben wird, und sie eigentlich schon mehr als ausgelastet sind, haben Sie weder eine Lohnerhöhung bekommen, noch hat sich Ihr Arbeitgeber bemüßigt, mehr Arbeiter anzustellen, um Sie nicht in 12-14-Stundenschichten an sechs Tagen der Woche zu schikanieren. Die Kantinen und die dreißig Minuten Pause am Tage sind kaum ausreichend, Ihr Arbeitgeber verhindert möglicherweise auch, dass Sie sich mehr als nötig in Gewerkschaften organisieren und wirft Ihnen von Ihnen selbst verfertigte Knüppel zwischen die Beine. Möglicherweise schafft er es auch dadurch, dass ie gar nicht alle, wie im Idealfall, in der Fabrik untergebracht sind, sondern dass viele von ihnen auch Arbeiten an unterschiedlichen Orten versehen, manchmal sogar in Heimarbeit; was eben in Heimarbeit geht wie bei den Zigarrendrehern. So können sie sich nicht zusammenrotten. Ihr Fabrikant nutzt sie offenkundig aus, auch wenn er Ihnen entgegenkommt, um das Schrecklichste zu verhindern. Er bietet Ihnen eine Wohnung an, die auf dem Fabrikgelände oder nahegelegen steht, sie können dort wohnen zu einem Vorzugspreis, und vielleicht geht es soweit, dass er Ihnen Mitgliedschaft in einem firmeninternen Verein anbietet, und er hat Ihnen sogar angeboten, 5% ihres Lohnes einzubehalten, eine Art Alters- oder Krankheitsfond, damit Sie in Notzeiten sogar über die Runden kommen und gar nicht auf die Idee kommen, sich zum Streik zu stellen oder sich außerhalb mit Vereinen und Gewerkschaften zu verbinden. Und doch, die Arbeiter kommen und gehen. Es gibt keinen Kündigungsschutz, und die konservativ-bureaucratische Maschine der Fabrik kennt keine Einzelschicksale: Sie kennt Gewinnmaximierung und die Anpassung an die jeweilige Conjunctur. Ihr Fabrikant ist eher mit den Aktienkursen und der Compagnie des agents de change[4] beschäftigt, denn mit ihren Arbeitsbedingungen und ihrer Gesundheit."
Louis machte eine Pause und nahm einen Schluck Wein zu sich. Er blickte Sébastien unentwegt an. "Das berührt Sie ausreichend, dass Sie sofort etwas ändern wollen. Aber insgeheim wissen Sie, dass die Arbeiter nicht gesammelt genug sind, und Gewalt die Zustände nicht auf Dauer ändert. Wenn Sie streiken, dann werden Sie entlassen, vielleicht inhaftiert, wieder freigelassen und suchen sich einen neuen Beruf oder eine neue Anstellung, oder Sie gehen ins Exil wie ich oder Ihr geliebter Blanqui. Sie versuchen es weiter, es ist lobenswert. Ich bewundere Sie wirklich dafür, dass Sie noch so sind, wie wir einst waren, Monsieur. Doch..."

Louis' Augen wanderten das erste Mal weg von Sébastien, und blickten über ihn hinweg. Wortschwalle kamen näher, eine Gruppe junger Männer kam an der Guinguette[5] vorbei. Sie waren augenscheinlich politisch aktiv. Sie brüllten irgendwas, aber sie waren wohl schon eine Weile unterwegs und heiser. Sébastien konnte es nicht genau verstehen, weil sie in einer Traube waren, und ihre Stimmen von Trauben schwer. Es ging um die Wahl, soviel war sicher. Es waren unflätige Bemerkungen darin, sie überdeckten Rufe nach Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit, und doch hörte Sébastien auch den Namen Thiers', den sie positiv in den Mund nahmen. So alsbald - störten sie sich doch nicht an der Guinguettebelegschaft - waren sie weitergegangen. Es waren sechs, vielleicht Studenten, sie wirkten nicht mager, wenn auch nicht kräftig. Sie waren schnell weitergetorkelt, palavernd. Und doch blieb eins erkennbar, die Schlachtworte der Revolution führte jede Gruppe auf den Lippen, selbst Napoleon III[6]. hatte sie immer auf den Lippen geführt, selbst als er die Diktatur ausgerufen hatte, ließ er nicht von diesen Worten ab.

"Was ich sagen wollte. Ich möchte, dass Sie sorgsam was für die Menschen tun, denen Sie helfen können. Niemand kann die Welt im Umsturz gänzlich verändert. Den Menschen zu verändern, das ist keine Sache der Nacht. Der Mensch hat seinen Nächsten ausgebeutet seit Beginn der Menschheit. Das soll uns nicht einschüchtern, aber realistisch bleiben lassen. Stellen Sie sich auch zur Wahl, Sébastien. Ich stelle Sie bei mir an und gebe Ihnen die notwendigen Ressourcen für den Wahlkampf. Lassen Sie sich zum Sprecher für die Arbeiterbelange von Paris oder doch zumindest Montmatre machen. Georges Clemenceau wird Sie unter seine Fittiche nehmen. Wenn Sie das nicht wollen, in Ordnung, aber schauen Sie es sich für einen oder zwei Tage an, was sagen Sie?"

Louis lachte jetzt freundlich. "Doch vorher möchte ich natürlich, dass Sie auch mal eine andere Seite kennenlernen und sehen, wie Sie Dinge auch verändern und beeinflussen können. Haben Sie je mit einem Fabrikanten gesprochen?" Louis deutete an den Nachbartisch. Ein kleiner, wenn auch adretter Mann in ordentlicher Ausgehkleidung saß entspannt, die Nase nicht ganz in der Tageszeitung verborgen und blickte wie auf das Kommando auf. Er hatte einen sehr gepflegten und auffälligen Bart, der seinen kleinen, wie markanten Kopf rahmte[7].

"Alfred. Hätten Sie die Güte, sich an unserem Gespräch zu beteiligen und diesem jungen Mann zumindest etwas zu helfen, die Fabrikwelt, wenn auch schon als problematisch, nicht nur als todbringendes Gespenst zu sehen?"
Es wurde immer klarer, dass dieses Gespräch beim besten Willen kein Zufall und schon gar nicht ein improvisiertes Gespräch war.
"Darf ich vorstellen. Monsieur Nobel, das ist Sébastien Moreau. Monsieur Moreau, das ist kein geringerer Herr als Alfred Nobel. Herr Nobel wird Ihnen, wenn er auch kein Missionar ist, eine andere Seite präsentieren können, die Sie nicht vollends überzeugen, doch gleichwohl zum Nachdenken anregen soll. Vielleicht sehen Sie dann, warum ich einen verträglicheren Umgang empfehle. Die Wahl bleibt Ihnen ganz überlassen." Louis Blanc lächelte freundlich und doch triumphierend, während Alfred Nobel sich mit seiner Tageszeitung und einem Korbstuhl im Schlepptau an den Tisch dazugesellte, derweil Achilles Miene nicht freundlicher wurde. Er blickte immer noch, mental erschöpft oder peinlich berührt, auf die Kopfsteinpflasterung unter ihm.
 1. Physiognomie (http://de.wikipedia.org/wiki/Physiognomie)
 2. Sozialdemokratie (http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialdemokratie)
 3. Orator (http://de.wikipedia.org/wiki/Orator)
 4. Pariser Börse (http://en.wikipedia.org/wiki/Paris_Bourse)
 5. Guinguette (http://de.wikipedia.org/wiki/Guinguette)
 6. Napoleon III. (http://de.wikipedia.org/wiki/Napoleon_III.)
 7. 
Bild von Alfred Nobel (Anzeigen)
avatar Paul Zeidler 24.Sep.2014 02:09
Paul war gerade dabei, über den Vorschlag des Bischofs nachzudenken, da wurde er von von Lütjenburgs Ausbruch überrascht. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung und Enttäuschung, während er von Lütjenburg ansah. Natürlich war er sich die ganze Zeit über bewusst gewesen, dass er mit einem deutschen Oberen im Bunde gewesen war. Dennoch war er irgendwie erschrocken, als dieser seinen Standpunkt so vehement verdeutlichte. "Ich habe zu sehr versucht, meine eigene Geschichte in ihm wiederzufinden.", dachte sich Paul. "Damals habe ich für ein geeintes Vaterland gefochten und als wir es errungen hatten, war ich enttäuscht gewesen, da sich keine unserer großen Hoffnungen erfüllt hatten. Die Menschen waren nicht brüderlicher noch waren sie rechtschaffener. Sie gehörten nur der Form nach zu einander. Ich habe erwartet, dass von Lütjenburg diesselbe Enttäuschung durchlebt hat, aber das hat er nicht. Der Gedanke an das Vaterland ist immer noch stark in ihm... - und dennoch ist da so etwas wie eine (joviale) Sorge für die Menschen hier."

Gedankenverloren ging Paul zum Fenster und betrachtete die Straße dahinter. Sein Blick folgte den Männern und Frauen, bis sie am Rande verschwunden waren. Paul fragte sich, wer sie waren und was sie in diesen Tagen erhofften. Er fragte sich, ob sie wirklich von so hohen Idealen wie dem Sozialismus oder der Kommune träumten - oder ob sie einfach nur etwas Menschlichkeit und einen gefüllten Bauch wollten.

Paul fragte sich unwillkürlich, was er selbst wollte. Er war sich sicher, dass er Frieden und Sicherheit für die Menschen wollte, dass die Menschen gemeinsam lachten und weinten und dass sich mehr Türen öffneten als schlossen in der Welt. Hatte das politische Implikationen? War er deshalb Kommunist, Sozialdemokrat oder Christdemokrat? Und wenn dem nicht so war, konnte er öffentlich auftreten ohne als solcher wahrgenommen zu werden?

Paul fühlte sich leer und abgespannt. Er hatte den Eindruck, als würde ihn das ganze Nachdenken auslaugen. Vielleicht hatte der Bischof recht und es war die mutige Tat, die in einer solchen Situation geboten war. "Eine gemeinsame Predigt für den Frieden..., ja..., vielleicht müssen wir gemeinsam für den Frieden predigen...", formulierte er langsam in seinem Kopf eine wage Entscheidung[1]. Paul dachte darüber nach, was er sagen würde, ob er einen Talar oder Straßenkleidung tragen würde, ob es ein Abendmahl geben sollte. Dann wurde er sich bewusst, dass die beiden Männer ihn wahrscheinlich ungeduldig beobachteten.

Er drehte sich zu den beiden Männern um. "Ich glaube, wir müssen heute Abend gemeinsam predigen. Wir dürfen es nicht unversucht lassen...", sagte er langsam.
 1. Hier streiten die beiden Aspekte "Zwischen den Welten" und "Leading by Example"
avatar Alfred Nobel 26.Sep.2014 05:09
Behäbig stellte Alfred den Korbstuhl an den kleinen Tisch und gab sich keine Mühe, seinen verdrossenen Gesichtsausdruck zu verbergen. Es musste etwas an der Wortwahl Blancs geben, was ihn wohl zu stören schien. Doch Alfred gab keine weiteren Anzeichen, seinen Missmut Kund zu tun, lediglich seine buschigen Augenbrauen zuckten ein kurzes mal finster zusammen.
Der neue Gesprächsgast nahm sich alle Zeit um sich zu setzen. Das währenddessen herrschende Schweigen mochte Betretenheit in manch einem der Anwesenden auslösen, doch dies schien Alfred offenbar nicht zu stören. So nahm er mit einem Ächzen auf den geflochtenen Stuhl Platz, der unter dem geringen Gewicht des kleinen Mannes nur wenig nachgab. Der formelle Umgang des ordentlichen Herrn ließ ihn deutlich älter wirken, als er vielleicht sein mochte.

"Guten Tag, Monsieur Moreau. Sehr erfreut,", begrüßte Alfred Sebastién höflich, und blickte ihn mit einem wachen und neugierigem Blick an. Wortlos nickte er auch Achilles zu, der sich jedoch weder äußerte, noch an dem neuen Gast interessiert zu sein schien. Die Zeitung knisterte zwischen Alfreds Händen, als er sie zusammengefaltet auf den Tisch legte.

"Sie interessieren sich also für die Industrie?", begann Alfred vorsichtig, sprach zu Sebastién und warf Louis Blanc einen fragenden Blick zu. "Es ist, ehrlich gesagt, ganz einfach. Ich weiß beileibe nicht, woher diese zeitgemäße Verurteilung und Verdammung der Fabrikanten herstammt. Es gibt nämlich, Monsieur, drei simple aber wirkungsvolle Prizipien, die dem Unternehmertum zugrunde liegen."

Alfreds Blick war ernst und seine Stimme schwerbedeutend, als er wieder zu Sebastién sah und diesen fixierte. Der Schwede saß noch ruhig auf dem Korbstuhl und hatte die Hände über seinem Bauch gefaltet, beugte sich bei seinen nächsten Worten jedoch vielsagend nach vorne.

"Diese drei Prinzipien führen in Ihrer Gesamtheit dazu, dass der Mensch mithalten kann. Mithalten mit den Fortschritten der Wissenschaft. Den Bedeutungen der Industrie für die Gesellschaft. Der eigenen Verantwortung, ein Bestandteil unserer morgigen Zukunft zu sein."

Mit einer Kunstpause zog Alfred seine Augenbrauen in die Höhe, ehe er weitersprach.

"Sie wissen sicherlich, wovon ich rede. Die Worte sind in den letzten Tagen wieder in aller Munde.
Es gibt drei Prinzipien, die dem Unternehmertum zugrunde liegen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
"

Der dichte Bart des Schweden zuckte an den Schnurrbartspitzen, als Alfred seinen Mund zu einem Strich verzog und seinen ernsten Blick beibehielt. Es war eine uneindeutige Mischung aus einer art trockenem Humor und zynischer Kritik, mit der er den Wahlspruch der französischen Republik zitierte. Hohn, jedoch, blieb aus.
Alfred lehnte sich wieder in seine Lehne zurück und überschlug die Beine, faltete die Hände wieder über seinem Bauch und begann, sich zu erklären.

"Es ist ganz einfach. Nehmen Sie die Freiheit, beispielsweise. Die Freiheit ist, ganz frei nach Smith[1], die Fähigkeit eines Privatmannes auf die Nachfrage einer weiteren Privatperson ein Angebot zu stellen. Will ich einen Apfel kaufen, so hat jedermann die Freiheit, mir einen solchen zu einem ihm angemessenen Preis anzubieten; ich habe wiederum die Freiheit, den Apfel bei derjenigen Person zu dem für mich angemessenen Preis zu erstehen. Es bildet sich ein Gleichgewicht, eine Ausgewogenheit zwischen jeglichem Angebot und jeder Nachfrage[2].

Als Unternehmer nutze ich diese Freiheit, um nach bestem Gewissen ein Angebot zu schaffen, das der Nachfrage gerecht wird. Es liegt dabei natürlich in meinem Ermessen, welches Produkt ich vertreibe, welchen Preis ich verlange, und welchen Lohn ich zahle. Gestalte ich es das Angebot aber dermaßen, dass es der Nachfrage gerecht wird, stellt sich schließlich das Gleichgewicht ein.
"

Alfred legte eine Gedankenpause ein und zog herausfordernd die Stirn in Falten.

"Mit der Gleichheit verhält es sich ähnlich. Gleichheit ist das Gebot nach Gerechtigkeit, im kleinen wie im großen Maße. Denken Sie zum Beispiel, ein Fabrikant zahle zweien seiner Arbeiter, welche die selbe Arbeit, für die gleicher Zeit, mit gleichem Maße verrichten, zwei unterschiedliche Löhne. Eine undenkbare Dummheit, denn natürlich wird der um seinen Preis Betrogene seine Arbeit ob der Ungerechtigkeit in Zukunft schlechter verrichten oder gar niederwerfen.[3] Denn für ihn gilt das Maß der Gleichheit ebenfalls, wenn er sich vor die Frage stellt, für wen er denn arbeiten solle. Für ihn gilt die Gleichheit der Fabrikbesitzer, ist es ihm nämlich gleich, in wessen Fabrik er die Kohlen schleppt und für welchen Industriellen er arbeitet.[4] Schließlich wird er die Arbeit nur dort annehmen, wo er sie als gerecht empfinden wird, nicht wahr?"

Der Schwede räusperte sich, die Stimme trocken vom vielen reden, griff in die Innentasche seiner Jackets und zog ein Taschtuch hervor. Mit einer geruhsamen Bewegung tupfte er sich die Stirn ab, bevor er zum letzten Punkt ansetzte.

"Und abschließend die Brüderlichkeit. Eine ungeschickte Wortwahl, wie ich ja finde, aber in ihr stecken immerhin die wesentlichen Konzepte: Vertrauen und Verantwortung. Denn das Verhältnis zwischen einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer basiert streng auf diesen Werten. So vertraut der Arbeitgeber auf die Bereitschaft und Arbeitskraft eines Arbeiters und ist im Zuge dazu bereit, die Verantwortung für dessen Wohlstand und zu übernehmen. Gleichermaßen vertraut der Arbeitende dem Arbeitgeber, dieser Verantwortung durch die erfolgreiche Führung des Unternehmens gerecht zu werden, und übernimmt die Verantwortung für das Unternehmen in Form seiner Arbeitsleistung und Energie.

Vielleicht sind Sie, Monsiuer Moreau, von ihren bisherigen Bekanntschaften mit einem Bild des verantwortungslosen Fabrikanten geprägt, doch seien Sie versichert, nur ein kurzsichtiger Tölpel ignoriert die Bedürfnisse seiner Angestellten. Es geht wieder um das Gleichgewicht, nein? Ist der Arbeitnehmer zufrieden, ist es der Arbeitgeber ebenfalls. Ist der Arbeitgeber zufrieden, so ist es auch der Arbeiter.[5]

Ich sagte es bereits, es ist ganz einfach. Die drei Grundprizipien für ein erfolgreiches Unternehmertum. Liberté, Égalité, Fraternité.
"

Mit dunklen, wachen Augen blickte Alfred gespannt zu Sebastién. Er war neugierig, wie der ihm fremde Franzose, der in seiner Arbeiterkleidung offenkundig Farbe zu bekennen schien, reagieren würde. Natürlich war Alfreds zynischer Exkurs gleichermaßen eine Provokation und eine Kritik, doch machte er es schwer zu erkennen, ob er die Arbeiterbewegung, die soziale Verantwortungslosigkeit der Fabrikbesitzer, die gewaltsamen Märsche auf den Straßen - oder vielleicht sogar nur Louis Blanc dafür kritisierte, ihn bei seiner Lektüre zu stören.

Mit einem Seitenblick zu Blanc tippte er mit dem Zeigefinger auf die Titelseite der Zeitung, welche unberührt auf dem Tisch lag. In großen Kapitalen streckte sich der Name "JOURNAL DES DÉBATS"[6] über die Kopfzeile hinweg. Vorwurfsvoll und gleichzeitig amüsiert sprach er zu Blanc.

"Sie streiten sich also immer noch über Ereignisse von vor über 20 Jahren? Ich weiß doch, mein lieber Louis, '48 war eine bedeutsame Zeit. Aber man sollte meinen, dass ein Abgeordneter der Nationalversammlung den Streit in den Ereignissen von heute sucht!"[7]
 1. Adam Smith (http://de.wikipedia.org/wiki/Adam_Smith)
 2. Marktgleichgewicht (http://de.wikipedia.org/wiki/Marktgleichgewicht)
 3. Arbeit als Menschenrecht (http://de.wikipedia.org/wiki/Arbeit_%28Philosophie%29#Arbeit_als_Menschenrecht)
 4. Homogenität der Güter, angewandt auf das Verhältnis Arbeitgeber / Arbeitnehmer (http://de.wikipedia.org/wiki/Homogenit%C3%A4t_%28Wirtschaft%29)
 5. Mitarbeiterzufriedenheit (http://de.wikipedia.org/wiki/Mitarbeiterzufriedenheit), ein in diesem anachronistischer Begriff.
 6. Journal des Débats - Politiques et Littéraires (http://en.wikipedia.org/wiki/Journal_des_d%C3%A9bats)
 7. Die Ausgabe vom 23. März 1871. (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k4579102) Seite 3 enthält ein Transskript der Nationalversammlung vom 22. März.
Austausch zwischen de Juigné und Blanc, auf den sich Alfred bezieht (Anzeigen)
avatar Sébastien Moreau 07.Oct.2014 09:10
Dass Louis Blanc dem am Nachbartisch sitzenden Alfred Nobel ins Gespräch einband, überrasche Sébastien, doch er ließ die Männer wortlos gewähren und harrte einfach der Worte, die noch kamen. Tatsächlich war es eine ungewohnte Situation für den Arbeiter, einem Fabrikanten von Angesicht zu Angesicht gegenüberzusitzen und sich mit diesem zu unterhalten. Wenn ein „kleiner“ Arbeiter die Gelegenheit bekam, mit dem Vorstand eines Großunternehmens zu sprechen, war dies (vermutlich) meist nicht aus erfreulichem Anlass. Sébastien war unschlüssig, ob dieser aktuelle Anlass erfreulich für ihn war. Ihm schmeckte es nicht, sich hier als Blancs Spielfigur zu fühlen.

Dennoch begrüßte er den Fabrikanten erwidernd und hörte dessen Ausführungen aufmerksam zu. Die drei Schlagworte der Revolution im Kontext der Prinzipien des Unternehmertums zu hören, war etwas gewöhnungsbedürftig für Sébastien. Nobels Darlegung hörte sich schlüssig an, aber klang es in den Ohren eines Tischlers, der die Sorgen hatte, die Blanc zuvor aufgeführt hatte, dennoch etwas realitätsfern. Alles in Allem entging Sébastien jedoch nicht die Kritik, die bei Nobels Worten mitschwang. Er ließ den Mann ausreden. Und lachte dann leise auf, als er Blanc wieder mit einbezog. Sébastien ignorierte diese neue Situation einfach, sondern setzte einfach seinerseits nun zu einer Antwort auf all das Gesagte an.

„Wissen Sie“, setzte er nun selbst mit eher etwas zynischem Unterton an, „während Sie“, er meinte Louis Blanc, weswegen er dieses ansah, „mir vorhalten, wie die Situation aussieht, und Sie“, sein Blick wechselte zu Alfred Nobel, „wie einfach die Welt auch für die Fabrikanten wäre, wenn sie Umsicht zeigen und uns Arbeiter anständig behandeln würden, weiß ich immer noch nicht, warum Sie sich mich als Gesicht für Ihre politischen Wege wollen, mit denen ich bisher nichts zu tun gehabt habe. Würde ich mich bereits für Ihre Sache engagieren, könnte ich nachvollziehen, warum Sie mich fördern wollen, aber so…“
Sébastien ließ diesen Gedankengang offen, den er durchaus für relevant hielt und formulierte es anders.
„Bin ich hier das Ziel Ihres Strebens oder das Mittel zum Zweck?, frage ich mich. Wir kennen uns nicht, Sie hätten, wenn Ihnen danach gewesen wäre, jeden anderen vor diese Wahl stellen können, vor die Sie mich immer noch stellen, egal, in welche Worten und angeblichen Absichten Sie es verpacken. Warum gerade ich?, frage ich mich. Sie hätten jeden anderen Arbeiter dazu bringen können, für Sie zur Wahl anzutreten. Vielleicht hat Archille Sie gebeten, mit anderen Mitteln dort anzusetzen, wo er scheiterte, mich von meinem Vorhaben abzubringen“, spekulierte er. „Vielleicht fürchten Sie aber auch das, was ich bewirken könnte, wenn ich mein Vorhaben in die Tat umsetze, also wollen Sie mich vorher bekehren. Ist es so?“

Er musterte Blanc, ließ diesem aber keine Gelegenheit, zu antworten.
„Ich habe den Verdacht, dass es Ihnen darum geht, Blanqui dort zu lassen, wo man ihn momentan festhält. Sie fühlen Ihre Ideale durch die seinen bedroht und wissen, dass er die Arbeiter vereinen wird, sobald er dazu in der Lage ist. Sie wissen, wenn Blanqui freikommt, wird es möglicherweise, wenn nicht sogar wahrscheinlich, zu spät sein, Ihren behutsamen Weg zu gehen. Deswegen haben Sie mir diese hübsch durchdachte Falle gestellt, lassen mir die Wahl, das Geld anzunehmen und dafür meine Freunde zu hintergehen, oder mich für meine Freunde zu entscheiden und damit meiner Familie die Chance auf ein besseres Leben dank Ihrer Finanzierung zu verwehren. Die Lösung für mein Problem scheint klar zu sein:“
Der Zynismus war aus seiner Stimme nicht verschwunden, wurde nun sogar etwas deutlicher.
„Ich nehme Ihr Angebot an und überzeuge meine Freunde, umzudenken, denn wenn Sie mit mir Ihre Meinung ändern, begehe ich keinen Verrat an ihnen. Danach werde ich meine politische Laufbahn nach Ihren Wünschen gestalten, weil Sie es sind, der mich bezahlen. Aber was passiert, wenn ich nicht gewählt werde? Werde ich dann keinen Nutzen für Sie mehr haben?“

„Vielleicht unterstelle ich Ihnen nun zu Unrecht eine gewisse Hinterlist“, eigentlich war es, ihn hierherzulocken und ihn in ein moralisches Dilemma zu bringen, ziemlich hinterlistig, „aber anders als mit Misstrauen kann ich dem, was Sie mir anbieten, nicht begegnen. Womöglich bin ich einfach geprägt vom ausnutzenden Umgang kurzsichtiger Fabrikanten mit der Arbeiterschaft“, griff er Alfred Nobels Ausführung noch einmal auf, „denn die Lage der Tischler, die Sie, Monsieur Blanc, vorhin beschrieben haben, ist auch die Lage aller anderen Arbeiter – und diese sieht nun einmal so aus, wie sie ist, weil Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit nicht die Maxime der Pariser Arbeitgeber ist. Vielleicht vereinzelt, doch in ihrer Ganzheit gewiss nicht. Recht ist Ihnen alles, was in ihrem Interesse liegt und, hauptsächlich, Gewinn bringt. Weil das die Arbeiter unzufrieden stimmt, müsste ein Fabrikant nun, um das Gleichgewicht herzustellen, das wichtig ist, wie Sie sagen, Monsieur Nobel, auf Teile seines Gewinns verzichten, nicht wahr? Warum sollte er das tun? Da Freiheit herrscht, kann er sich aussuchen, dass er Arbeiter einstellt, die dankbar für geringen Lohn sind, anstatt sich darüber zu beschweren, weil sie sonst überhaupt keine Arbeit finden und verhungern.“

Möglicherweise lag es in Sébastiens Natur, alles skeptisch zu sehen, was man ihm vorsetzte, aber was sollte er schon denken, wenn jemand ihn mit Geld zu locken versuchte, seine Einstellung zu überdenken und eine andere anzunehmen, ihm dabei aufzeigte, was an der Welt der Industrie nicht stimmte, während ein anderer sich als Positivbeispiel der „Feindesseite“ darstellte, um zu offenbaren, dass es auch anders funktionierte?

„Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Monsieur Nobel.“
Tatsächlich glaubte Sébastien dies zu durchschauen (die Männer wollten ihm, so ahnte er, insgesamt eine Richtung zeigen, in die sich die Situation der Gesellschaft, die Politik entwickeln sollte).
„In der Theorie mag das ja auch funktionieren, aber nur weil Sie anständig und vernünftig sind und Ihre Grundprinzipien des erfolgreichen Unternehmertums befolgen, nehme ich an, bedeutet das nicht, dass sich andere Fabrikanten so einfach davon überzeugen lassen. Das Bild von verantwortungslosen Fabrikanten besteht nicht ohne Grund. Die Welt ist voller kurzsichtiger Tölpel, das ist das Problem. Auf beiden Seiten dieses Streits zwischen Fabrikanten und Arbeitern. Am Ende geht es allen um Geld, wenn auch aus verschiedenen Beweggründen. Mir ebenfalls, weswegen Sie es auch schaffen, mich mit Ihrem Angebot in einen Gewissenskonflikt zu bringen, Monsieur Blanc.“
Sébastien ließ sich nun zu einem verdrießlichen Lächeln hinreißen.
„Sie halten auch mich für kurzsichtig. Vielleicht bin ich nicht der Richtige für das, was Sie mir zutrauen“, sagte er seinen Gesprächspartnern.

Nein, er hielt schnelle Änderung, notfalls mit Gewalt, für effektiv. Gewalt oder die Angst davor war ein überzeugenderes Argument als Streik… oder Politik. Blanc mochte Recht haben, Nobel dachte dies vermutlich auch: Ein schneller Umsturz würde zwar zu sofortigen Änderungen führen, diese würden nicht unbedingt von langer Dauer sein. Doch Politik konnte scheitern. Und was dann? Dann wäre die Chance vertan, möglicherweise, die sich den Arbeitern nun bot.

Sébastien war unentschlossen, was er tun sollte, vielleicht diskutierte er deswegen so ausgiebig mit diesen Männern.
„Ich möchte niemanden verletzen, das nicht“, wirklich nicht, obwohl der Gedanke an Straßenkämpfe auf Barrikaden, Seite an Seite mit seinen Freunden und Brüdern im Geiste, natürlich etwas Verheißendes, Heldenhaftes, Lockendes an sich hatte, „aber warum sollte ich von meinem Weg abweichen, weil zwei Fremde mir das schmackhaft machen wollen?“

Blanc und Nobel mochten ihm gut zureden wollen, aber die Meinung dieser beiden war Sébastien, wenn er ehrlich zu sich war, nicht besonders wichtig. Blanc war für den jungen Arbeiter momentan der Mann, der ihn in einer gewissen Form drängte, wenn nicht sogar erpresste, und Nobel in seiner Form ein Idealist, zwischen dem und Sébastien selbst eine Distanz bestand – die einfach dadurch existierte, weil Blanc Nobel „Fabrikant“ genannt hatte. In so kurzer Zeit damit warm zu werden, gestaltete sich für Sébastien etwas schwierig.

Sébastien war hier, weil ein Freund ihn darum gebeten hatte. Ein Freund, der seit ihrer Begrüßung schwieg und schuldig bis beschämt seinem Blick auswich.
„Archille, hast du hierzu nichts zu sagen?“, interessierte Sébastien zu wissen. Es missfiel ihm, dass der Künstler sich aus dem Gespräch heraushielt. Bisher hatte sich der Künstler vielleicht nicht in der Lage gesehen, sich dazu zu äußern, Sébastien sprach seinen Freund aber nun bewusst direkt an, um ihn aus der Reserve zu locken. Archille hatte diese gesamte Situation angezettelt. Archille hatte Blanc das abendliche Vorhaben mit Darboy verraten. Achille verließ sich auf Blanc, welcher Archille zu ignorieren schien.

Archilles Meinung war Sébastien allerdings wichtig. Und er wollte sie aus Archilles Mund hören.
avatar Menthir 16.Nov.2014 06:11
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 11:08 Uhr - Place du Châtelet (Quartier Saint-Germain-l’Auxerrois)

Der bischöfliche Darboy kam nicht umhin, kurz zusammenzuzucken, als Carl seiner nationalen Wut bildgewaltigen Ausdruck verlieh und die sich andeutende Eintracht in ihren Grundfesten erschütterte. Was der Bischof gar nicht als persönlichen Angriff verstand, sondern eher nur als rhetorische Stilblüte zu nutzen gedachte, um Carl dazu zu bringen, dass er auch dafür einstand, wofür sein Preußen sich auszuzeichnen bemühte, entpuppte sich als explosive Wortwahl mit einem augenscheinlich gefährlich kurzem Zünder. Sein indifferenter Blick, der irgendwo zwischen Mitgefühl und gebotener Vorsicht pendelte, und sich durch kurzzeitige Unentschlossenheit auszeichnete, ließ es zu, das Gesicht des Mannes wie ein offenes Buch für einen Moment zu lesen. Es war zu lesen, dass er am liebsten hätte dem Preußen zugesprochen oder ihn ausreichend beruhigt, und in ihm kämpfte es, weil er es schlichtweg nicht konnte. Und so kam die Antwort erst nach einer kurzen Bedenkzeit, in der er Carl von Lütjenburg ausgiebig betrachtete, beobachtete, musterte, ohne dabei abschätzig zu werden; eher so, als wollte er dem Preußen die Möglichkeit geben, sein Gemüt durch den Verlauf von Zeit kühlende Linderung zu verschaffen.

"Ich erkenne - und das tut mir leid - dass wir mit unterschiedlichen Blickwinkeln einander betrachten. Lassen Sie mich das kurz erklären, Herr Major. Ich glaube nicht an Uniformen und Nationen, was ihre Attributisierung und Typisierung angeht. Wissen Sie, wie Uniformen ursprünglich entstanden[1]? Viele Männer glauben daran, dass es darum ginge, sich auf dem Schlachtfeld zu erkennen oder unterschiedliche Berufsgruppen und Funktionen zu erkennen. Das ist nicht immer falsch, aber bezeichnet nur einen positiven Nebeneffekt. Das Wort, was ich Ihnen jetzt nenne, da werden Sie denken, dass das Aussehen und die Funktion doch eingeschlossen sind. Und auch das ist nicht gänzlich falsch, aber eine Vereinfachung. Das Wort ist Zugehörigkeit. Diese Zugehörigkeit ist oftmals ein zweischneidiges Schwert und ihre agitierten Worte haben mir das noch einmal verdeutlicht.", der Bischof lehnte sich jetzt etwas in seinem Sessel nach vorne, als würde er seinen Gästen näherkommen wollen. Er unterstrich die Worte erstmalig mit ausladender Gestik, als habe er lange und breit über dieses Thema nachgedacht, und sei nur allzu bereit, darüber zu debattieren.

"Schon in den ältesten Mythen geht es um diese Zugehörigkeit. Zugehörigkeit ist eine Gewissenssache und das möchte man gerne darstellen, das ist mir bewusst; oder gewisse Kleidung wird eben tradiert und ist dann so oder so mit einem gewissen Berufsstand verbunden und man muss es deswegen tragen; denken wir nur an die liturgischen Gewänder[2] meiner Kirche. Doch eigentlich passiert damit etwas anderes im Geiste des Menschen. Denken wir an Mythos und Herakles[3], denken wir daran, dass er den Balg des nemëischen Löwen[4] trug und er fortan zur Löwenartigkeit des Herakles stilisiert wurden, und dann Herrscher und Männer des Krieges anfingen, sich Tierhäute über die übermäßig, stolze Brust hingen, um anzudeuten, dass sie Löwe, Tiger und Bär sein oder ähnlich unverwundbar wie Herakles durch den beinahe unzerteilbaren Balg des Löwen, der nur von dessen eigenen Krallen zerschnitten werden konnte. Es geht um Attributisierungen; wenn wir einen Löwenpelz tragen, dann denken wir alle, wir gehören im übertragenen Sinne zu den Löwentötern oder zur Göttlichkeit des Olymps. Und ganz so verfährt es sich mit der Uniform in seiner heutigen Zeit; wenn sie einen preußischen Mann vor sich haben in seiner pfauenartigen Gestaltung voller Medaillen und Orden, dann macht er sich einerseits - unter Umständen - glauben, dass er alle Attribute Preußens in den Kampf trägt, andererseits will er den anderen dies glauben machen. Deswegen kleiden sich manche Menschen nach der Art anderer, die sich hervorgetan haben. Sie hoffen nichts weniger - mal bewusst, mal unbewusst - dass sie etwas von Prestige, vom Charme, von den Stärken und dem Einfluss dieser - denken sie an die eigentliche Bedeutung des Wortes Avantgarde[5] - Vorhut. Wenn sie Attentäter sind, der eine rote Rose im Revers hat, und vor dem Könige und Prinzen schlottern, was glauben sie, werden andere Attentäter tun, um ihre Präsenz zu verstärken? Mörder? Männer des Friedens? Hirten? Dass ich die Symbolkraft von Kleidung nehme, soll nur einen ganz kleinen Einblick in die Welt der Attributisierung geben, und wie wir mit ihr umgehen. Aber sie ist gut dafür geeignet, zu erklären, dass wir unterschiedliche Blickwinkel auf die Problematik haben."

Er lehnte sich wieder zurück, überkreuzte die Beine wieder in seiner typischen Manier mit diesen spindeldürren Beinchen, legte nun auch die Finger aneinander und kam zum Abschluss seiner Erörterung. "Ich selbst weiß durchaus die Funktion dessen zu schätzen, dieser Attributisierungen, aber sie leiten zu oft fehl. Sie funktionieren nicht nur positiv, sondern auch negativ. Sie tragen zufälligerweise gerne rote Hemden, wie Garibaldi[6] es tat, und schnell werden sie mit dieser Bewegung verbunden in diesen schrillen Zeiten, man schimpft sie - wenn man Garibaldi verschmäht - Mörder, Söldner und was nicht alles und wird sie so behandeln. Hingegen - wenn man Garibaldi respektiert - wird man sie Freigeist, Vorkämpfer der Menschenrechte und was nicht nennen. Dasselbe tun sie. Sie laden ihren eigenen Farben viel Positives auf, während sie der Trikolore dieses Landes viel Negatives angedeihen lassen und mich zu einem nationalen Franzosen machen mit Wohl und vor allem Wehe. Ich hingegen glaube nicht daran, dass das im Land sein oder das Kleiden von irgendwelcher Kleidung mich als Menschen macht. Ich glaube, an die Schwäche wie an die Stärke des einzelnen Mannes. Und ich bevorzuge es, jeden Einzelnen ausgiebig zu prüfen, so sich mir eine Chance bietet. Verzeihen Sie also, wenn ich Sie mit meiner Denkweise brüskiert habe. Das lag nicht in meiner Absicht; aber bitte zeigen Sie etwas Verständnis für meine Rolle; die mir nahelegt zu glauben, dass alle Menschen vor Gott gleich sind. Obzwar ich mich diesem Ideal - in meiner menschlichen Schwäche - immer nur annähernd kann, sehe ich es doch als meine höchste Aufgabe, den Blickwinkel des HERRN nachzuvollziehen und zu beachten, sodass es für mich keine Preußen, keine Franzosen, keine Briten gibt, sondern Menschen in preußischen Gewand, Menschen in französischem Gewand, Menschen in britischem Gewand. Wir alle tragen Kleidung, leben, blühen und leiden mit unseren zugeschriebenen Attributen, doch sobald wir nackt sind; auf das Letzte verengt, sind wir doch alle die gleichen, nackten Menschen."

Ein Anflug von Gelöstheit, dieses Thema von der Brust zu haben, machte sich in dem buchartigen Gesicht des Bischofs breit, bei dem es jetzt nicht mehr verwunderlich schien, dass er so einfache, normale Kleidung trug.
"Ich weiß jedoch zu beherzigen und zu schätzen, dass Sie den Idealen, denen sich zugehörig fühlen, gerecht werden wollen. Das zeichnet Sie als Mensch aus, Herr von Lütjenburg. Und das ist das, was ich sehr respektieren kann. Sie, Herr Zeidler und ich, wir sind uns in diesem Ansinnen gar nicht so unähnlich, auch wenn unterschiedliche Lebenssichten uns trennen. Und als solches, schulde ich Ihnen Dankbarkeit, die Ihnen auch sicher ist, auch wenn ich Ihre Generalverurteilung aller Menschen im französischen Gewand nicht nachvollziehen kann und sie ihrem erregten Gemütszustand zuschreibe. Und Sie werden mir lassen, dass ich nicht Preußen im Allgemeinen und Sie nicht als Mensch verurteilt habe, sondern lediglich angedeutet habe, dass die Erwähnung von Preußen mir nicht reicht, um einen Menschen als fleißig, tadellos und ehrenhaft zu empfinden. Das gilt, so hoffe ich doch, für jede Kleidung, in die ein Mensch sich metaphorisch wandet."

Der Bischof stand wieder auf. Scheinbar fiel ihm langes Sitzen ähnlich schwer wie langes Stehen. Er wirkte, je länger man ihn betrachtete, erschöpfter und erschöpfter. Aber er wollte gerne antworten und er schuldete Paul Zeidler noch eine Antwort.
"So steht es denn. Ich danke Ihnen von Herzen, dass wir es nicht unversucht lassen wollen. Dennoch erlauben Sie mir, dass ich gerne - zumindest im Kurzen - von Ihnen, von uns, wissen möchte, wie wir dieses Thema angehen möchten und worüber wir im Genauen die Messe halten. Gibt es Bücher, Kapitel oder Gedanken, die Sie im Speziellen einsetzen wollen, Herr Zeidler? Ich werde Ihnen da gerne entgegenkommen, doch möchte ich Ihnen in dieser Debatte das erste Wort lassen. Sie sind ein derartig genuiner Mann des Friedens, dass ich es für angebracht halte, dass sie meine Feder in dieser Sache führen; freilich nur wenn sie denn wollen. Oder wir arbeiten alles gemeinsam aus; wie es Ihnen eben recht ist."
Er war hinter seinen Sessel gegangen und stützte sich jetzt an der Lehne des Sessels ab, um den Rücken etwas durchzudrücken und die Beine zu entlasten. Er blickte Paul Zeidler kurz an, durchaus bemerkend, wie der Mann in Gedanken war. Und als gehörten seine Gedanken ihm, wollte der Bischof nicht aufdringlich sein. Also blickte er wieder aus dem Fenster, um dem Deutschen die Zeit zu lassen, die er benötigte.
 1. Uniform (http://de.wikipedia.org/wiki/Uniform) - Darboy folgt nicht der klassischen Betrachtung von Uniform und ihrer Entstehung.
 2. Liturgisches Gewand (http://de.wikipedia.org/wiki/Liturgisches_Gewand)
 3. Herakles (http://de.wikipedia.org/wiki/Herakles)
 4. Nemëischer Löwe (http://de.wikipedia.org/wiki/Nemëischer_Löwe)
 5. Avantgarde (http://de.wikipedia.org/wiki/Avantgarde)
 6. Giuseppe Garibaldi (http://de.wikipedia.org/wiki/Giuseppe_Garibaldi) war einer der berühmtesten Berufsrevolutionäre des 19. Jahrhunderts und maßgeblich am Risorgimento (http://de.wikipedia.org/wiki/Risorgimento) beteiligt.
avatar Menthir 17.Nov.2014 10:11
Donnerstag, 23. März 1871 - Mittag - 12:14 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Louis Blanc rückte sich sein Haar zurecht und sein Lächeln schwand auch, als er merkte, dass seine Gesprächspartner immer kritischer und teilweise auch unfreundlicher wurden, und mit mehr oder weniger direkten Tiraden oder indirekten Anspielungen an seiner guten Laune und seiner Absicht drehen wollten. Er nahm sich eine Minute, um seine Gedanken mit dem restlichen Weißwein in seinem Glas herunterzuschlucken und zu schätzen. Wenn man unfreundliche Gedanken oder Eingebungen jeder Art irgendwie verarbeiten wollte, waren sie dem Wein vielleicht gar nicht zu unähnlich. Es ging, wenn man sie kelterte und unter die Leute brachte, immer um das Bouquet[1] und darum, den Wein mit entsprechenden Beschreibungen zu versehen, damit der Trinkende das Gelesene in das Getränk, in den Geschmack, interpretierte. Louis hatte sich seit Ewigkeiten schon gefragt, warum dies immer so war. Aber Sébastien Moreau bestätigte ihn immerhin in seinem Vorgehen, warum er nicht über das Abstrakte, sondern über das Konkrete sprechen wollte. Blanc behielt den letzten Schluck einen Moment im Mund und beobachtete Achille, diesmal lag sogar sowas wie eine Forderung in der Luft, auch seitens von Blanc, dass er sich endlich selbst äußerte[2].

Achille blickte nun auf, die Lippen zu einem Strich verzogen. Der Mann war nicht sehr glücklich über seine Anwesenheit, darüber, dass er Sébastiens Pläne ausplauderte und dass er ihn in eine solch schwere Lage brachte, und Sébastiens Analyse der Situation, ob sie nun stimmen mochte, ganz, tendenziell oder doch nicht, das änderte nichts daran, dass sich sein Gewissen wie eine Garrotte[3] um seinen angespannten Hals schloss. Es ließ ihn nur noch gedämpft sprechen, doch er musste es sich von der Seele reden. Es half alles nichts. "1848. Ich arbeitete damals noch mit Auguste[4] zusammen. Er war wirklich ein Erhabener[5] für uns, auch für Louis, das weiß ich. Wir standen auf den Barrikaden. Auch hier in Montmatre. Ich weiß noch, dass Auguste sehr ungehalten war, weil Lamartine[6] ihn versprochen hatte, dass er mehr Mitglieder aus der Bürgerschaft für die Barrikaden hier heranschaffen würde. Lamartine war ein brillanter Redner, aber kein...für uns kein zuverlässiger Mann. Er suchte Unterschlupf bei den anderen, gemäßigten Revolutionären. Ich weiß nicht, ob das der wirkliche Grund, warum Auguste sich für den Nachschub..."
Hilflos blickte Achille zu Louis, der schmerzhaft das Gesicht zu einer enttäuschten und noch immer wütenden Fratze verzog, aber dann doch nickte, als wollte er Achille zum Weiterreden ermutigen.
"Auguste traf sich mit einem merkwürdigen Mann in irgendeiner Spelunke. Sie nannten ihn Le Tortionnaire[7], weil er Berufsrevolutionär[8] wie Auguste war. Er war ein paar Jahre jünger als Auguste. Er hatte ein entstelltes Gesicht, so richtig pockenartig, und er war eine großgewachsene Gestalt. Beeindruckend und furchteinflößend, und dann sprach er noch kaum ein Wort und trug dieses alte Gewehr über der Schulter, aus weißen Holz. Auguste hatte mir erklärt, dass der Mann einen Feind auf 400 Metern unversehens aus dem Leben holen kann und ideal für die Barrikade ist. Ich bekam seinen wahren Namen nie mit während der Zeit. Aber dieser Mann, er stellte Söldner zur Verfügung. Es war ganz ungewöhnlich und fast romantisch, dass wir auf einmal mit grobschlächtigen Schotten und Söldnern aus allen Herren Ländern auf der Barrikade standen. Doch das ging schnell aus der Hand, entglitt unserer Kontrolle. Auf einmal beschossen die Männer von der Barrikaden auch Civilisten[9], um das dem Königshaus und den Truppen zuzuschieben. Auguste versuchte es nicht einmal zu verhindern. Das war der Moment, in dem Louis und er schlussendlich miteinander brachen. Manche Männer bettelten, dass es enden sollte. Die Söldner ließen es schließlich. Die Februarrevolution dauerte ja nun nicht so lange. Ich springe an das Ende."
Achille schenkte sich aus der Weinkaraffe nach und nahm einen tiefen Schluck. Die Erlebnisse von damals lasteten auf seiner Leber und höchstwahrscheinlich sparte er alle grausamen Details, die er an den Tagen sah, aus. Er schluckte stark. Jene Geschichten von Vergewaltigungen und Misshandlungen, sie blieben ungesagt, auch wenn alle am Tisch wussten, dass es sie - wie in wohl jedem Konflikt - gab und wohl nicht zu knapp während der Februarrevolution in Montmatre. "Die Revolution hatte Erfolg, der Bürgerkönig[10] floh ins Anglikanerland, wir hatten gesiegt. Triumphal rotteten wir uns zusammen, wir wollten unseren Sieg feiern und mit ins neu zu bildende Parlament einziehen, hatten wir dafür doch Blut vergossen. Kennen Sie das berühmte Bild von Philippoteaux[11]; Lamartine devant l’Hôtel de Ville de Paris le 25 février 1848 refuse le drapeau rouge?[12] Genau, Lamartine verwehrte allen Sozialrevolutionären den Eintritt in das Hôtel de Ville[13]. Le Tortionnaire hatte alle Geheimnisse und Pläne von Auguste verraten an Lamartine und die Republikaner. Wir waren sprachlos, wortlos, kraftlos, geschlagen. Ein Handwinken reichte. Wir waren geschlagen, verraten, gelinkt. Es hat meine Hoffnung nie wieder aufrichten können, dass Lamartine auch verraten wurde von diesem Mann, und bei der Präsidentenwahl Napoleon III. ausgeliefert war."
Achille trank das Glas aus und knallte es auf den Tisch.
"Und jetzt sah ich ihn wieder, genau mit der Frau, die sich bei euch darum bemühte, dass ihr sie an der Entwendung des Pfaffen beteiligt. Seine junge Frau wohl. Und ich habe ihn auch in der Stadt gesehen, nahe des Place Blanche. Le Tortionnaire, und scheinbar nutzt er den Namen...was war er?"
"Lavalle.", kommentierte Louis Blanc kurz angebunden, noch immer mehr oder weniger in Gedanken.
"Selbst Auguste glaubt nicht, dass diese Söldner ihn verkauft haben. Wie sollt ihr mir das glauben? Das ist kein Weg...", Achille blickte wieder nach unten. Wahrscheinlich hatte er Philippoteauxs Bild wieder vor Augen. Achilles Lippen wurden wieder zu einem Strich. Der Stachel des Verrates saß tief. Leise murmelte er: "Was ist schlimmer? Einzelne aus den richtigen Gründen verraten, oder die Sache verraten, weil man an falscher Brüderlichkeit festhält?"

Louis Blanc atmete scharf ein. Er blickte nun zu Alfred Nobel, scheinbar hatte er eine für sich befriedigende Antwort auf den kleinen Stich gefunden, ohne sich in irgendein Wortgefecht zu stürzen, welches er weder führen kann noch möchte. "Ihre Feststellung, Herr Nobel, wird sich doch nicht ernsthaft verwundern; bei einem Historiker festzustellen, dass er die Vergangenheit zur Bewältigung der Gegenwart heranzieht. Und sie werden sich wundern, wie oft Sie dieselben Strukturen durch die Geschichte in allen zeitgeschichtlichen Konflikten wiederkehren sehen. Das macht nicht alle Geschichte gleich, aber doch ähnlich, weil wir Menschen immer noch Menschen sind, nicht wahr?[14]"

Louis Blanc versuchte beiden Seiten gleichzeitig, zumindest in Sachen Aufmerksamkeit, gerecht zu werden, also blickte er immer wieder zu Alfred Nobel und dann zu Sébastien Moreau. "Deswegen Bureaucratie und Gewaltenteilung[15]. Wir sind ja nicht ernsthaft in einer Diskussion, die die Antike schon längst abgeschlossen hat in der Gyges-Parabel[16] durch Platon[17]. Wenn einem Menschen die Möglichkeit gelassen wird, auf Gerechtigkeit zu verzichten, zu seinem reinen Vorteil handeln kann, ohne dass er Strafe oder Ungemach fürchten muss, wird er dies machen. Und wenn er es auf Kosten anderer tun kann, wird er es erst recht tun. Deswegen benötigt es durchaus einen Staat und ein System, für den Beginn[18]. Deswegen braucht es eine starke Volksvertretung, um das Volk das überwachen zu lassen, und selbst darin braucht es Gewaltenteilung und Überprüfung und Kontrolle der jeweiligen Gremien. Wenn wir uns alleine auf die Gnade - durchaus ein Machtbeweis des Mittelalters - der hohen Herren verlassen, wird es uns nicht verwundern, wenn es diese - ich nutze Ihre Worte - kurzsichtige Tölpel gibt. Macht macht Tölpel. Deswegen muss sie verteilt sein. Und der Staat muss die Arbeiter zur Selbstverantwortung in allen Hinsichten erziehen."

"Sie haben recht, wenn ich nicht möchte, dass Blanqui seinen Aufenthaltsort verlässt. Sie haben jedoch Unrecht, wenn Sie glauben, dass er die Arbeiterschaft gänzlich vereinigen wird. Das ist keine Falle. Sie sind in keine Falle hier gegangen. Tun Sie, wozu Sie ihr Gewissen drängt, Sébastien. Ich werde Sie nicht aufhalten; ich werde Sie, wie Sie sich auch entscheiden, Ihres Weges gehen lassen. Ich werde Ihnen nichts tun und nichts über Sie verraten. Sein Sie sich sicher. Doch überschätzen Sie Ihre Person nicht so, als würde alles mit Ihnen stehen und fallen. Ihre Freunde wagen den Versuch vielleicht trotzdem. Und ich frage dauernd Unbeteiligte, ob Sie sich für die Demokratie und Parlamentarismus begeistern können. Warum sollte ich sonst in einem Künstler- und Arbeiterviertel sitzen? Ich umgebe mich eben nicht nur mit meines Gleichen. Und ich versuche mich mit allen Seiten zu beschäftigen. Es bleibt wohl die Grundlage jeder Einigung, dass wir miteinander reden, auch wenn wir nicht einer Meinung sind oder sein wollen. Wer nicht mit einander redet, kann einander nur anfeinden. Und so rede ich auch mit einem Mann aus der Privatwirtschaft, obwohl ich mir hoffe, dass die Staaten sinnige Konkurrenten dazu werden, und kann mich trotzdem mit ihm verstehen.

Und sehen Sie doch auch das Positive. Sie wissen sicherlich, wer Herr Nobel ist, das heißt, wenn Sie mir nicht folgen können oder wollen - metaphorisch gesehen - dann kann Herr Nobel seine Vorstellung von Freiheit gleich nutzen und Ihnen vielleicht gute Preise in der Hinsicht von Beschaffungen machen, die Sie bei ihrer Problemlösung dringend gebrauchen können. Er hat den Apfel, sie den Wilhelm Tell[19]."


Louis Blanc räusperte sich noch einmal, und griff dann ohne zu Fragen auf Alfreds Zeitung zu. Scheinbar hatte er von dem Artikel bereits gehört und wollte nochmal darauf eingehen. Er schlug sie auf, antwortete aber dabei weiter Sébastien, den er auch anschaute. "Sie sind auch ohne Wahl von Bedeutung, selbst wenn Sie sich nicht zur Wahl stellen, selbst wenn Sie ihren Weg gehen. Sie sind nicht zu wichtig, wie keiner in einer Demokratie, aber sie sind als Demokrat wichtig, wenn Sie ihre Stimme geben oder sich um den Erhalt der Gesellschaft bemühen, um Verbesserung, um Menschlichkeit. Ich bin nicht der Mann, der Sie als Werkzeug sieht. Ich bin der Mann, der Ihnen Ihren Kampf erleichtern will mit dem Grundproblemen des Überlebens, damit Sie sich dem politischen Kampf stellen können. Das ist eine Geste des Respekts. Sie sind mir dann weder hörig, noch sind sie mein Angestellter. Sie können es als Patronage[20] sehen, die nur eine Einschränkung hat; und da haben Sie mich vorbildlich durchschaut. Blanqui bleibt dort, wo er kein, letztes Blutbad verursachen kann. Der Rest ist Ihre Entscheidung. Das garantiere ich Ihnen nochmals."

Er las für einen Moment die Zeilen durch, auf die Nobel verwiesen hatte, klappte die Zeitung dann wieder zu, faltete sie so ordentlich, wie der Schwede es getan hatte, und legte sie zurück. Er beschloss, nicht nochmal auf diesen Wortwechsel einzugehen. Stattdessen bemühte er sich, eine neue Gesprächsflasche zu öffnen. Er wäre gerne auf die Darstellung des Fabrikanten eingegangen. Blanc vertrat durchaus eine andere Meinung, doch für den Moment wollte er Sébastien nicht auch in der Debatte noch das Gefühl geben, er gehöre nur als Anhängsel dazu.
War es immer noch, um Sébastien über eigentliche Verantwortung belehren zu wollen oder war es genuines Interesse, welches ihn Nobel eine neue Fragen stellen ließ?
"Apropos. Ich habe Sie noch gar nicht gefragt, Herr Nobel, was Sie in diesen bewegenden Zeiten in das aufgerührte Paris führt. Dieselbe alte Liebe, die mich alten Mann hierhin zurückführte?"
Er lächelte freundlich, als könnte er Alfreds zynische Art damit glattbügeln; so aussichtslos dieser Versuch auch sein mochte.
 1. Bouquet (http://de.wikipedia.org/wiki/Bouquet_(Wein))
 2. 
Gespürwurf gegen Passabel (+2) (Anzeigen)
- Sébastien und Alfred dürfen zudem Überzeugenwürfe oder einen verwandten Wurf machen, um Louis zu treffen. Ab diesem Moment ist es ein Gespräch, welches einen mentalen Konflikt widerspiegelt. Ihr könnt davon ausgehen, dass Blanc bereits eine leichte, mentale Konsequenz hat (Selbstzweifel). Achille beginnt auch mit einer leichten, mentalen Konsequenz (Schuldgefühl).
 3. Garrotte (http://de.wikipedia.org/wiki/Garrotte)
 4. gemeint ist Blanqui (http://de.wikipedia.org/wiki/Louis-Auguste_Blanqui).
 5. bezogen auf die Bedeutung des Namens Augustus.
 6. gemeint ist Alphonse de Lamartine (http://de.wikipedia.org/wiki/Alphonse_de_Lamartine)
 7. Der Folterknecht
 8. Berufsrevolutionär (http://de.wikipedia.org/wiki/Berufsrevolutionär) - Achille offenbart hier, dass er den Begriff nicht marxistisch nutzt, sondern eher so, wie die Zeitungen der Zeit ihn inflationär für jeden mehrfach tätigen Revolutionär nutzen.
 9. Vielfach wird interpretiert, dass erst seit den Genfer Konventionen (http://de.wikipedia.org/wiki/Genfer_Konventionen) oder der Haager Landkriegsordnung (http://de.wikipedia.org/wiki/Haager_Landkriegsordnung) in Konflikten wirklich konsequent der Zivilist von sonstigen Parteien unterschieden wird, nachweisbar ist der Begriff jedoch spätestens seit der Julirevolution 1830 (http://de.wikipedia.org/wiki/Julirevolution_von_1830) im französischen Diskurs.
 10. Louis-Phillipe (http://de.wikipedia.org/wiki/Louis-Philippe_I.)
 11. Henri Félix Emmanuel Philippoteaux (http://en.wikipedia.org/wiki/Henri_Félix_Emmanuel_Philippoteaux)
 12. 
Das Bild (Anzeigen)
 13. Hôtel de Ville (http://en.wikipedia.org/wiki/Hôtel_de_Ville,_Paris)
 14. Es bleibt unklar, ob es eher strukturell-menschlich ist bei Blanc, oder ob er sich auf historischen Materialismus (http://de.wikipedia.org/wiki/Historischer_Materialismus) oder gar dialektischen Materialismus (http://de.wikipedia.org/wiki/Dialektischer_Materialismus) bezieht.
 15. Gewaltenteilung (http://de.wikipedia.org/wiki/Gewaltenteilung)
 16. Gyges (http://de.wikipedia.org/wiki/Gyges)
 17. Bei Platon ist es gefasst im Ring des Gyges (http://de.wikipedia.org/wiki/Platonischer_Mythos#Der_Ring_des_Gyges)
 18. Blanc erreicht eine soziale Ordnung, in seiner Theorie, über den Zwischenschritt des mit den Privatwirtschaftern konkurrierenden Wirtschaftsstaates, der zudem eine Sozialordnung einrichtet; und dann irgendwann durch eine egalitäre Verteilungsutopie abgelöst wird.
 19. Wilhelm Tell, der berühmte schweizerische Freiheitskämpfer (http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Tell) - Das ist eine doppelte, ironische Wendung, also sowohl Apfel als auch Wilhelm Tell. Wegen der Schusskünste dürfte Le Tortionnaire gemeint sein.
 20. Patronage (http://de.wikipedia.org/wiki/Patronage)
avatar Sébastien Moreau 26.Dec.2014 12:12
Dass Achille nun endlich mit der Sprache herausrückte, stimmte Sébastien etwas milder. Nur wegen des alten Bildhauers und Kameraden war er hier bei Blanc, hier bei Alfred Nobel, und Sébastien fühlte sich immer noch recht unwohl in der Gegenwart dieser beiden Männer. Da dieses Gespräch für den jungen Arbeiter einen bisher eher unerfreulichen Verlauf genommen hatte, konnte er seinen Argwohn nicht ganz ablegen und sich auf Blanc einlassen. Es war nicht einfach, wenn jemand etwas – oder eine Person wie Blanqui in Frage stellte, die man zuvor nie selbst in Zweifel gestellt hatte. Da half es Blancs Anliegen schon, dass Achille mit Sébastien seine Erlebnisse teilte und auch (für Sébastien überraschend) Monsieur Lavalle eine tragende Rolle dabei zugestand. Sébastien hätte nicht erwartet, dass Achille und Blanc Lavalle kannten. Aber nun machte es für ihn auf einmal mehr Sinn, dass der Künstler ihn davon abhalten wollte, den Darboy zu entführen. Er hatte keinen Grund, an der Ehrlichkeit Achilles zu zweifeln, auch wenn er es nicht guthieß, dass der Künstler nicht von Anfang an mit offenen Karten gespielt hatte. Wäre Achille schon in der Werkstatt an Sébastien herangetreten, anstatt ihn erst in dieses Café zu bitten, hätte er wohl allen Versammelten Ärger erspart. Doch Sébastien entging es nicht, dass es Achille auch jetzt sehr schwer fiel, über das Vergangene zu sprechen, und es vielleicht nur tat, weil er sich genötigt fühlte.

Blanc hingegen war offener und trat selbstbewusster auf. Klar war, dass er nicht wollte, dass Blanqui freikam. Und er behauptete, dass er keine anderen Hintergedanken dabei hegte. War dem zu trauen? Sollte Sébastien Blanc vertrauen, weil Achille ihm vertraute? Auf Achilles Menschenkenntnis war vielleicht nicht Verlass, wenn man die Vergangenheit des Künstlers betrachtete. Jedoch stand sich Sébastien hier mit seiner generellen Annahme, dass man ihn übervorteilen würde, wenn man konnte, auch selbst im Weg. Etwas in ihm suchte verzweifelt nach Haken an der Sache, wenn er ein finanziell großzügiges Angebot erhielt – nicht, dass ihm jemals schon etwas in der Art, in der Blanc dies tat, geschehen war.

Anspannung lag in der Luft. Der Tonfall war von allen Seiten kühler geworden. Sébastien war auf die Provokation, die gegen ihn gleichermaßen wie gegen Alfred Nobel gerichtet gewesen war, nicht eingegangen. War es es noch wert, auf jede Kleinigkeit einzugehen? Er spürte, dass diese Versammlung hier ihn in Selbstzweifel gerissen hatte. Er fühlte sich ein wenig verloren. Blanqui war ein Held. Zumindest war er es bisher für Sébastien gewesen. Und Lavalle… Die Wahrheit über einen Mann zu erfahren, den er nicht kannte, war leichter zu verarbeiten als die Wahrheit über einen Mann, von dem er vor wenigen Momenten noch felsenfest überzeugt gewesen war, das richtige Gesicht für die Arbeiter und ihre Wahl zu sein. Reichten einige wenige Worte aus, um seinen Glauben zu zerrütten?

„Ich kenne diesen Lavalle nicht persönlich“, begann Sébastien schließlich bedächtig, eher an Achille gerichtet als an die anderen Anwesenden. Er wusste nicht, wie viel der Künstler wirklich von ihrem Treffen aufgeschnappt hatte. Oder wie viel er schon vorher von François‘ Abmachung mit den Lavalles gewusst hatte.
„François hat ihn und seine Frau“, seine junge, anziehende Frau, „irgendwo aufgetrieben.“
War es so gewesen wie zwischen Auguste und Lavalle in Achilles Bericht? War dies der Beginn einer weiteren Tragödie?
„Er hat beide gelobt und sie machte auf mich einen tüchtigen Eindruck gemacht, als wir uns vorhin trafen.“
Sébastien schnaubte lächelnd.
„Sie wirkte sehr zielstrebig, aber darüber, dass sie und ihr Mann uns benutzen könnten, habe ich noch nicht nachgedacht. Wenn es mit Lavalles Ehrlichkeit wirklich nicht weit her ist, verstehe ich deine Sorge. Ihre Sorge“, korrigierte er sich. Blanc schien Lavalles Auftauchen nicht weniger Bauchschmerzen zu bereiten.
„Danke, Achille, für die Warnung. Auch wenn ich sie dir aus der Nase ziehen musste: Ich werde sie beherzigen und auf der Hut sein“, sicherte Sébastien nachdenklich nickend zu, bevor er seine Aufmerksamkeit Louis Blanc widmete.
 
„Dennoch ich werde nicht mit Ihnen gehen. Ich werde mich nicht hinter Ihnen und Ihrem Freund Clemenceau verstecken und mich dafür bezahlen lassen, dass ich meine Brüder im Stich lasse. Mein Platz ist an ihrer Seite genauso wie an der meiner Familie. Sie sind meine Familie“, betonte er. Es war schwer für ihn, sich festzulegen, ob sein Herz in dieser Sache überhaupt einen Unterschied machte. Für Blanc und Achille waren Loyalität und Verrat keine leeren Begriffe ohne Bedeutung. Sie mussten die Zugehörigkeit, die Sébastien zu seinen Freunden empfand, doch verstehen. Für ihn war es keine falsche Brüderlichkeit, zu seinen Brüdern im Geiste zu halten. Er musste ihnen beistehen. Sie von Dummheiten abhalten, wenn es nötig war. Und wenn sie sich nicht davon abhalten ließen, könnte er sie nicht dennoch ruhigen Gewissens in die Gefahr ziehen lassen, nur um den eigenen Kopf aus der Schlinge zu halten.
„Vielleicht haben Sie Recht, was Blanqui betrifft. Und ich glaube Ihnen, was Ihren Folterknecht betrifft.“
Le Tortionnaire – kein sehr schmeichelhafter Titel. Wie musste ein Mann gestrickt sein, damit man ihm diesen Beinamen gab? War das wörtlich zu verstehen? Sébastien spürte beim Gedanken an Lavalle innere Unruhe, obwohl er ihm, wie gesagt, nie begegnet war.
„Aber denken Sie nicht, dass mich das dazu bewegt, dass ich zulasse, dass meine Brüder ohne mich losziehen und Kopf und Kragen riskieren. Die Warnung vor Lavalle ist ein zusätzlicher Beweggrund für mich, sie zu begleiten. Ich möchte ebenso wenig ein Blutbad, wie Sie es wollen. Erst recht nicht an meinen Freunden. Ich werde mich nicht zurücklehnen, während sie sich in Gefahr begeben“, stellte er klar. Kein Angebot, so verlockend es in anderer Hinsicht auch war, würde ihn in dieser Sache umstimmen können. Nun war er sich sicher. Seine Familie würde er auch ohne Blancs Hilfe ernähren können. Aber er würde sich niemals verzeihen, seine Freunde für Geld verraten zu haben. Handelte es sich hierbei um die falsche Brüderlichkeit, die Achille gemeint hatte? Sébastien konnte an Loyalität nichts Falsches finden.

Sébastien erhob sich von seinem Stuhl und schob diesen, wohl um der Geste willen, zurück an den Tisch. Doch er ging nicht sofort, sondern blieb noch einen Moment, mit den Händen auf die Stuhllehne gestützt, stehen.
„Ich stimme Ihnen zu, Monsieur“, richtete er sich noch einmal an Blanc. „Auch ohne mich würden sie vermutlich weitermachen. Doch wenn ich mich aus der Sache heraushalte, heißt das nicht, dass Ihr alter Freund deswegen hinter Gittern bleibt.“
Blancs Vorhaben, nur ihn allein, Sébastien, von den anderen zu isolieren, die die Messe zur abendlichen Erzbischofjagd in Notre Dame besuchen wollten, schien ihm, wenn man das Motiv dahinter betrachtete, nicht ganz schlüssig.
„Allerdings gelingt es mir ja möglicherweise, sie davon zu überzeugen, den Pfaffen in Ruhe zu lassen. Oder möglicherweise geht unser Plan nicht so auf, wie es sich die Lavalles gedacht haben – Sie verstehen mich. Soweit könnte ich Ihnen entgegenkommen“, bot er ihm an.
„Könnte. Ich werde darüber nachdenken.“
Vielleicht würde er dies ja wirklich in Erwägung ziehen. Der Abend war noch einige Stunden weit entfernt. Zeit genug, in der Sébastien einen klaren Kopf bekommen konnte. Vielleicht sollte er endlich zur Arbeit gehen. Besser, er tauchte (viel) zu spät als gar nicht dort auf.
„Aber verraten werde ich meine Freunde nicht, indem ich mich von ihnen abwende. Ich brauche keinen Patron, der so etwas von mir verlangt. Nicht für jeden lumpigen Centime, den Sie mir dafür anbieten. Ich tue, was mein Herz für richtig hält und nicht meine Geldbörse. Verwechseln Sie mich nicht mit einem dieser Söldner, von denen Achille erzählte.“
Sébastiens Blick ruhte noch einen Moment auf Blanc, wanderte dann aber auch zu Achille und Alfred Nobel.
„Au revoir, meine Herren“, verabschiedete er sich, bevor er sich zum Gehen wandte.[1]
 1. Dies muss von Sébastiens Seite aus nicht das Ende des Gesprächs sein, wenn ihr es weiterführen und ihn noch einmal ansprechen wollt.
avatar Menthir 28.Dec.2014 08:12
Donnerstag, 23. März 1871 - Mittag - 12:16 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

"Es ist bezeichnend, aber akzeptabel von einem menschlichen Standpunkt aus." Die Worte Blancs kamen erst verzögert, nach zehn oder elf Sekunden langen Schweigens, in denen sein Blick auf Sébastien Moreau lag und ihn ausgiebig, forschend musterte. "Sie sind ein Mann ihres Wortes, weshalb ich Ihnen meine Bitte antrug, aber Sie sind auch ein Mann, der gerne seine Welt derartig konstruiert, dass Sie seinen Wünschen und Vorstellungen entspricht, selbst wenn dieses der Wahrheit der Situation nicht entsprechen mag. Dass Sie mich für einen Söldnerwerber in sozialdemokratischen Gewande halten, verletzt mich ehrlich gesagt. Ich deute es aber so, dass Sie damit einfach Ihren Punkt, in Ihrer Loyalität nicht wanken zu wollen, deutlich machen wollen und werde versuchen, es nur so zu deuten." Blanc verzog das Gesicht in einem Anflug von Unzufriedenheit. "Ihre Loyalität habe ich jedoch nie in Frage gestellt, ganz im Gegenteil, habe ich Ihnen versucht zu vermitteln, dass Sie aufgrund Ihrer Loyalität zu Ihren Idealen und Freunden Ihre Idee überdenken sollten. Ich jedoch habe versucht, was ich konnte und werde Sie nicht aufhalten. Sie sind in meinen Augen ein freier Mann, und freie Männer - und Frauen - haben auch das Recht Dummheiten zu begehen. Das ist eine der Vorzüge der Demokratie, Monsieur Moreau. Sie haben das Recht dumm zu sein und dumm zu handeln. Und während es Ihre Aufgabe scheint, dass Sie Ihre Freunde in ihren Torheiten unterstützen wollen, will ich treu zu meinem Wort stehen und Sie und Ihr Vorhaben - trotz meiner Ablehnung - zumindest insofern decken, dass Sie Achille nicht als Verräter an Ihrer Sache sehen müssen; ergo ebenso töricht sein. Wir alten, verzweifelten Männer werden einträchtig an diesem Tische mit Brotkorbe bleiben, die Sache abwarten, und wenn sich Ihr revolutionärer Furor erkaltet, aus Enttäuschung und Niederlage, dann wird der Stuhl, den Sie gerade zurückgeschoben haben, noch immer für Sie frei sein und wir drei werden dann über unsere Arglosigkeit lachen, die uns zum Glauben führte, dass vehementer Furor Dinge verändern könnte, und der dann in der Realität einen erbarmungslosen und perfiden Mörder fand."

Louis Blanc nahm die Zeitung Alfred Nobels wieder auf und schlug sie auf. So sehr er sich hinter seinen Worten versteckte, wie viele Menschen großer und inhaltloser Worte es taten, so deutlich war zu erkennen, dass er in der offenen, wenn auch freundlichen Ablehnung Sébastiens einen Affront gegen die Sache sah, und viel mehr noch, anerkennen musste, dass er anderen zugestehen musste, dieselben Fehler wie er selbst zu tun. Scheinbar gab es in seinem Denken keinen Platz für die Möglichkeit, dass der Plan Sébastiens und seiner Freunde funktionieren könnte oder zumindest andere Dinge, politische Entscheidungen und Taten in Bewegung setzen könnte, welche bis zur Wahl von Bedeutung wären. Blanc schien an die Determiniertheit des Scheiterns einer revolutionären Sache zu glauben, wenn mit Revolution diese neue Bedeutung des Umsturzes gemeint war; nicht wenn damit die Rückführung oder Umdrehung im astronomischen oder britisch-politischen Sinne gemeint war. Oder negativer ausgedruckt, konnte Louis Blanc, in seiner gebildeten Borniertheit, nur davon ausgehen, dass die Revolution (Die Drehung der Sache in diesem Falle) eben am Ausgangspunkt des Arbeiterunglücks begann, der revolutionäre-umstürzlerische Furor eine zu heftige Drehung auslöste, welche am Ende wieder dazu führen musste, dass es den Arbeitern dreckiger und zumindest ebenso dreckig wie zu Beginn ging. Der Historiker Blanc hätte, wäre er weniger verdrießlich ob der Ablehnung gewesen, möglicherweise die große französiche Revolution selbst angeführt, die schnell von seinen Idealen in eine Terrorherrschaft abfiel, oder er wäre weiter auf die letzten beiden Revolutionen eingegangen, wie er angedeutet hatte, in denen am Ende aufgrund der Barrikaden wieder konservative Kräfte gewannen; und darüber hätte er nochmal kraftvoll - hätte es irgendwo Kraftstoff gegeben - die Sache der sorgsamen Sozialdemokratie verteidigt. Aber in seiner Muffeligkeit, dass jemand menschliche Gründe und keine politischen Gründe heranzog, wurde Louis Blanc blind für solche Erwägungen; und gleichwohl zeigte der Politiker Blanc gleichzeitig in einer emotionalen Umkehr auch endlich eine Menschlichkeit und erzürnte Weichheit, die ihm so wenig Leute zugetraut hatten, da der Mann sonst immer als rationaler Beobachter galt. Und damit vermittelte er schlussendlich den Eindruck eines Mannes, der sich und seine Ideen zwar als wichtig ansah, sich damit jedoch im Untergang oder auf dem Weg in die Vergessenheit wähnte und nicht mehr bereit war, wenn dieser Untergang denn unvermeidlich war, diesen Weg mit wehenden Fahnen zu beschreiten. Blanc - und in letzter Konsequenz auch Achille Petit - waren geschlagene Männer. Zumindest was Barrikaden und den Glauben an eine gute Revolution anging; und mithin war auch zu bemerken, dass sie inzwischen an einer allumfassenden Kraftlosigkeit litten. Sébastiens Einbindung in ihre Geschäfte war viel weniger ein Versuch, diesen von einer Abkehr von der Kraft und Jugend der Revolution zu überzeugen per se, sondern seine Kraft für ihre sanfteren Zwecke in Anspruch zu nehmen; Sébastien als Jungbrunnen und brennenden Kohlescheit zu nehmen, der mit seinem Engagement den Druckkessel der Sozialdemokratie wieder unter Dampf setzte. Doch es blieb ein gescheiterter Versuch, den Louis Blanc in Kleinkariertheit nur so zu ertragen schien, indem er seinen Kopf - der sich gleichsam brüskiert puterrot färbte - in der hellen, mit dem Gesicht konstratierenden Zeitung verbarg.

Achille Petit blickte nochmal entschuldigend zu Sébastien auf. "Ich kann deine Gründe gut nachvollziehen. Ich wünsche dir ein glückliches Händchen.", seine Worte kamen zögernd und waren trotz aller Sorgen, Nöte und Niedergeschlagenheit aufrichtig gemeint und gesprochen. Wie so häufig war dem Künstler anzusehen, dass mehr Worte in seinem Inneren garten und brodelten, doch nichts Satzgleiches wollte sich daraus kochen lassen. Achille war ein Mann, der nur in der Kunst sein Ventil fand und auch in diesem Falle würde er es tun. Unwillkürlich mochte dem einen oder anderen der Gedanke kommen, ob er nun vor seinem Künstlerauge auch Sébastien sah -  den jungen Mann, der sein Herz auf der Zunge trug und mit dem Kopf durch die Wand wollte - und dieser sich derartig zu verzerren schien, wie es die vielen Plastiken in Atelier Petits taten, oder ob es nicht gerade, obwohl es Achille ins Unglück stürzte, seinen Freund dasselbe durchleiden zu sehen wie er selbst, den Blick des Künstlers auf Sébastien und sein Abbild schärfte. Waren die ganzen reichen Bürger in seinem verfallenden Atelier nicht verzerrt dargestellt gewesen, weil sie wenig menschlich waren[1]? Vielleicht ging es nicht nur um die Menschlichkeit im humanistischen Sinne bei Achille Petits Kunst, sondern auch um Prinzipien. Es mochte aufgrund seiner Lebensgeschichte Sinn machen, zu wähnen, dass seine Kunst seiner Enttäuschung über die Revolutionen ein Bild gab; und jenes war, dass viele sich ein klares Bild von sich und ihren Prinzipien gaben, doch beides in Wirklichkeit verzerrt und somit falsch war. Die vielen Revolutionäre hielten sich nie oder selten an ihre Prinzipien, wurden willkürlich und wütend, töteten und schändeten, plünderten und masskrierten; Wohltäter wurden zu Schuften, Weltverbesserer zu Weltwürgern. All dies drückte das Werk Achille Petits aus, und sein jetzt aufbrandendes, schüchternes Lächeln, konnte Sébastien vielleicht zumindest für einen Augenblick das Gefühl geben, dass Achille im tiefsten Herzen froh war, dass Sébastien sich hatte nicht auch Louis Blanc eingelassen, dass er noch an seinen Prinzipien festhielt und dass noch Hoffnung bestand, dass Sébastien vielleicht nicht verzerrt sein würde. Erst jetzt fiel Sébastien auch ein, an welcher verzerrten Büste Achille als Letztes gearbeitet hatte. Es war kein anderer gewesen als Louis Jean Joseph Charles Blanc.

Dann blickte Achille jedoch wieder auf seinen Weinkelch, und es schien an der Zeit, dass jeder wieder seines Weges ging[2].
 1. 
Der alte Betragsteil zu Achilles Kunstwerken (Anzeigen)
 2. Ich lasse hier noch Zeit, damit Alfred noch reagieren kann, wenn er möchte. Sébastien kann sich hingegen schonmal überlegen, ob er noch an einen bestimmten Ort möchte (aufgrund neuer Infos nochmal diskutieren? Willst du auf der Arbeit was ausspielen? Hast du selbst eine Szene im Kopf?) oder ob ich dich in die Minuten vor der Messe stecken soll.
avatar Carl von Lütjenburg 28.Dec.2014 06:12
Darboys Worte über Uniformen und Zugehörigkeit nötigten Carl ein gewisses Maß an Anstrengung ab, er war es nicht gewohnt aus dieser Richtung zu denken. Zu viele Nationen hatte er in den letzten Jahren bekämpft und besiegt, als dass er es ihm so leicht fallen könnte die Einwohner eines Landes nicht mehr mit ihrer Nation gleichzusetzen. Allerdings konnte er so vielleicht ein wenig besser verstehen, wieso die Franzosen ihre Niederlage nicht einsehen wollten, wo ihre Armee doch geschlagen war?
"Ich denke, dass Sie recht haben Monsier Darboy. Wir betrachten das Geschehen um uns herum offensichtlich stark verschieden, nur fällt es mir anscheinend schwerer das anzunehmen, als Ihnen. Ich neige normaler Weise nicht zu solchen Unhöflichkeiten und wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir das nachsähen, es tut mir leid."

Carl verspürte eine gewisse Erleichterung durch die Entschuldigung, allerdings fühlte er sich mehr denn je deplatziert, seit er diesen Auftrag angenommen hatte.
"Es ist schon merkwürdig. Ich persönlich sehe mich eher als Arbeiter, als einen Mann für die gröberen Aufgaben, aber meine Vorgesetzten glauben mir das nie und entsenden stets mich auf solche heiklen Missionen. Aber wer bin ich, gegen das Schicksal aufzubegehren?", versuchte Carl ein wenig zur Entspannung beizutragen, kehrte jedoch ohne weitere Umschweife wieder zum Geschäftlichen zurück, "Wir geben sicher ein merkwürdiges Bild ab als Gruppe, aber nicht zuletzt deshalb, weil wir im Augenblick die einzigen sind, die sich diesem Anarchismus entgegen stellen, können sie unbedingt und unentwegt auf mich zählen, meine Herren.

Dennoch würde ich uns gerne weitere Hilfe zusichern. Sehen Sie, ich weiß nicht wie dieser geplante Übergriff heute Abend aussehen wird, aber wenn sie beide predigen wird es mir schwerfallen den Versuch im Alleingang zu unterdrücken. Es scheint immer noch eine Handvoll von Thiers' Leuten in der Stadt zu geben und auch einige Offiziere könnten uns hilfreich sein. Ich glaube in der Tat auf dem Place Blanche den Sohn General Lecomtes gesehen zu haben. Es wäre zwar möglich, aber für mich nicht sehr leicht diese Leute für die Sache einzunehmen, aber auf Sie, Exzellenz, wäre es ungleich einfacher möchte ich meinen. Es sind Katholiken allesamt und sie werden Ihnen von Hause aus mehr Vertrauen entgegenbringen als mir. Sind sie mit eingebunden, kann es auch leichter fallen sie zu kontrollieren und somit der Eskalation einen weiteren Riegel vorzuschieben.
Wenn solch ein Bündnis in der Stadt bekannt würde, wäre dies auch in unserem Sinne, wenn man an die bevorstehende Wahl denkt."
, überlegte Carl laut, "Was halten Sie davon? Können Sie mir vielleicht einen Kontakt herstellen? Ansonsten müsste ich mich bald verabschieden und dies selbst besorgen."
avatar Alfred Nobel 29.Dec.2014 05:12
Stumm war Alfred geblieben, nachdem er mit seiner sarkastischen Darstellung die Motive der Privatwirtschaft über alle Stränge überzogen und verzerrt hatte. Natürlich war ihm bewusst, dass er nur Ideale traf, allerdings hatte er seine Provokation absichtlich als funktionierenden Status Quo formuliert, als Alternative zu dem, den auch die Idee der Arbeiterbewegung zu erzeugen suchte - ganz ohne eine Diktatur, weder durch das Protelariat noch durch die Bourgeoisie. Doch plötzlich waren seine theoretischen Gedanken über die Gesellschaftstheorien nicht mehr wichtig.

Kreidebleich saß der Schwede in seinem Stuhl und war in seiner Haltung eingesackt. Unruhig massierte er mit zwei Fingern seine Schläfe unter dem kahlenden Haupthaar, während er angespannt Blanc und den Bildhauer erzählen hörte. Lavalle. Der Name war Alfred seit Jahren nicht mehr begegnet, worüber er keineswegs klagen mochte. Doch wunderte es den Unternehmer nicht, dass diese Figuren noch immer ihr Leben mit Intrigen, Täuschungen und politischem Wechselspiel gestalteten. Mit geschürzten Lippen hörte er noch aufmerksamer als zuvor Sébastien zu, um ein Gefühl für dessen Absichten und Unternehmen zu gewinnen, von welchen Louis ihn offenkundig abhalten wollte. Doch die Zusammenhänge waren für Alfred nicht eindeutig genug, um aus den Andeutungen schlau zu werden. Doch er wusste, er musste reagieren. Somit erschreckte Alfred sich selbst, als er mit Sébastien gemeinsam aufstand, als dieser sich zum Gehen wandte.

"Hören Sie, Monsieur, geben Sie mir eine Minute," begann Alfred schließlich unruhig. Jegliche Zynik war aus seinem Ausdruck verflogen, seine Miene war voller Ernst. Mühsam überlegte Alfred, was er seinem Gegenüber eigentlich mitgeben wollte.

"Monsieur Blanc und Ihr Freund haben Ihnen schon ausreichend Grund geliefert, um dem Namen Lavalle zu misstrauen. Doch hören Sie, Sie ermessen das Ausmaß noch nicht, wie viel Schaden diese Figuren anrichten können."

Unschlüssig, wie er seine Worte wählen sollte, rieb sich Alfred die Stirn. Er seufzte tief, ehe er begann.

"Es ist mittlerweile acht Jahre her, als die Lavalles mich und meine Familie bedroht und erpresst haben. Ihre Absichten waren damals niemals ideell und werden es heute auch nicht mehr sein. Ihrem Wort ist nicht zu trauen, wenn man bedenkt, wie frei sie dieses in der damaligen Angelegenheit bereit waren zu brechen. Ich weiß nicht, welche Versprechen sie Ihnen geboten haben, doch sie tun gut daran, Ihnen keinen Glauben zu schenken. Im Gegenteil, womöglich wäre Ihrer Sache mehr geholfen, wären die Lavalles an Ihrem Streben völlig unbeteiligt..."

Finster sah Alfred zu Sébastien, ein Versuch, seiner Warnung Nachdruck zu verleihen. Er wusste, dass der Franzose keinerlei Grund hatte, ihm zu glauben, war er nicht nur ein Sinnbild derer, gegen die der Arbeiter einstand, sondern hatte der Schwede vor wenigen Minuten noch unschmeichelhaft die Sache Sébastiens ins lächerliche gezogen. Aber diese Angelegenheit wurde Alfred plötzlich wichtig, zu wichtig, um sie unversucht fallen zu lassen. Beschwichtigend hob Alfred die Hand, als er weitersprach.

"Ich kenne Ihr Vorhaben nicht, Monsieur Moreau, zu welchem Madame Lavalle sie angestiftet haben mag. Und, es sei mir erlaubt, sie geht mich auch sicherlich nichts an. Doch kann ich Sie überzeugen, dass jegliche Anstrengung Ihrerseits, den Absichten der Lavalles zum Erfolg zu verhelfen, Ihnen und Ihrer Sache nur schaden kann? Was lässt Sie glauben, dass diese Betrüger Sie nicht kurzerhand verraten, wenn es ihnen selbst nur zum Vorteil gelingt? Kann ich wenigstens diesen Zweifel in Ihnen säen? Denn hätte man vor acht Jahren einen solchen gehegt, wäre viel Schmerz und Leid verhindert werden können..."

Unzufrieden runzelte Alfred die Stirn. Louis Blanc hatte eine Geschichte zu erzählen gehabt, es fühlte sich so an, als wäre es an Alfred, seine zu erzählen. In den vergangenen acht Jahren hatte er nicht mehr ein Wort über sie verloren, doch seine Erinnerung war nicht im geringsten getrübt.

"Bitte, Monsieur, hören Sie sich wenigstens an, was ich zu erzählen habe. Lassen Sie mich Sie begleiten, wenn Sie einen wichtigen Weg vor sich haben. Ich will Sie überzeugen, und ich will Sie verstehen lassen warum: Sie müssen die Lavalles von Ihrer Angelegenheit fernhalten!"
avatar Menthir 05.Jan.2015 08:01
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 11:13 Uhr - Place du Châtelet (Quartier Saint-Germain-l’Auxerrois)

Der Bischof lächelte endlich, als Carl versuchte die Situation aufzulockern, auch wenn es nur andeutungsweise und ein schwaches, wenn auch ehrliches Lächeln war. Sein Gesicht blieb gut lesbar, und neben dem Schmerz, der in sein Antlitz gemeißelt war, war nun auch etwas wie erhöhte Vorsicht geboten, als Carl anfing von Thiers und seinen Männern zu sprechen. Dennoch kam er nicht sofort auf dieses Thema zurück, sondern ging an dem Sessel vorbei wieder Richtung Fenster. Es sog die leicht klamme Luft der unfertigen Wohnung durch die Nase ein und verharrte einen Moment vor dem Fenster, um auf den Place du Châtelet unter sich schauen. Seine Augen fixierten etwas und folgtem ihm eine ganze Weile, wahrscheinlich irgendein Passant oder eine Person, die er kannte oder sonstwie seine Aufmerksamkeit auf sich zog, vielleicht ein Pferdegespann, welches sich über den Platz schob. Der Place du Châtelet war immer ein sehr lebhafter Platz, selbst zur Mittagszeit. Von draußen drang der Lärm des städtischen Lebens an das Fenster. Lachen, Wut, Enge, Mief, Anonymität und doch ein gewisses Geborgensein in der Gänze und eben dieser Anonymität. Diese galt aber nicht für alle, und wahrscheinlich schon gar nicht für einen katholischen Bischof, einen bekannten und geschätzten wie verachteten Mann wie Paul Zeidler, der zwar als guter Mann wahrgenommen wurde und doch vielen als unwillkommene Konkurrenz oder sanfter Rüttler an der Ordnung gelten musste und schon gar nicht für einen zwar noch anonym-seienden, aber doch sich unter dem Druck der Spionage befindlichlichen preußischen Offizier. Sie alle konnten diese Art von Anonymität einer Großstadt nicht mehr genießen, und wenn diese Warnungen und Befürchtungen wahr würden, dann wäre dies auch einer der letzten Momente beinahe kontemplativer Ruhe, etwas losgelöst von der Hektik dräuender Anarchie und Chaos.

"Haben Sie je darüber nachgedacht, dass Sie gerade deswegen ausgewählt wurden, weil Sie sich für einen Arbeiter halten?", begann der Bischof schließlich mit einem kurzen Seitenblick und durchbrach das Schweigen, während er Paul Zeidler weiterhin die Zeit ließ, über die Fragen Darboys nachzusinnen. "Es sind in dieser Stadt nun die Arbeiter, die sich bewegen lassen. Da ist es doch nur sinnig aus der Sicht einer Armee mit noch alten, aristokratischen Wurzeln einen Mann zu nehmen, der vielleicht kein Arbeiter in diesem Sinne ist, aber eine Mentalität von Dienstbarkeit, Fleiß und Pflichtbewusstsein verinnerlicht hat und als solcher auf Augenhöhe mit dem gemeinen Volke zu sprechen, ohne die Position seiner Herkunft und seiner Hierarchie zu vergessen. Demnach dürften Sie weit besser geeignet als der jetzige, preußische Gesandte. Harry von Arnim[1] ist ein wahrlich erzkonservativer Mann, der dem Arbeiter wenig abgewinnen kann. Er würde nicht freiwillig mit einem Théophile Ferré[2] oder gemäßigteren Männern des Volkes, wie Benoît Malon[3], reden. Sie machen sich hingegen ein Bild von der Stadt; und es bleibt Ihnen gar nichts anderes über, weil sie keinen warmgesessenen Diplomatenstuhl besetzen, sondern Ihre eigenen Aufgaben haben. Wer auch immer Sie im genauen beauftragt haben mag, Herr Major, er hält große Stücke auf Sie und ihre Fähigkeit der Anpassung, des Zurechtfindens zwischen feindlichen Linien und Ihrer Erfahrung; und er misstraut dem preußischen Gesandten darin, diese Aufgabe ausreichend erfüllen zu können."

Darboy blickte weiter mit seinen schweren Lidern und heruntergezogenen Augenwinkeln müde in die Stadt, seine Beobachtung hatte er gemacht und folgte ihr nicht mehr oder sie war aus dem Sichtfeld verschwunden. Auf der Seine fuhren mehrere beladene Boote mit Steinen vorbei. Noch immer wurden zerstörte Häuser und Mauerteile abgetragen, welche unter der Belagerung gelitten hatten, und noch immer wurden für manchen Bürger eine neue, notdürftige Unterkunft gebaut, die Industrie der Stadt erholte sich ebenso erst langsam wieder vom Schrecken der Belagerung. Ein Kontrast zum Place de Châtelet im Allgemeinen, doch keiner zu dieser Wohnung des Erzbischofs und keiner zum politischen Bild der Stadt und wahrscheinlich des ganzen Landes; es wirkte nach dem großen Schock des Zusammenbruchs und des Kampfes unfertig.

"Es steht mir nicht zu, Herr Major, Sie über Geschichte aufzuklären, aber lassen Sie mich einen Fakt als Frage aussprechen. Wussten Sie, dass Bismarck 1862 auf demselben Platz saß, an dem Sie jetzt sitzen? Die Thematik war vielleicht gar nicht so viel anders, wenn auch nicht wirklich vergleichbar. Er war damals preußischer Gesandter in Frankreich, und er kam auf mich zu. Ich war noch nicht im Amt, hatte aber seit jeher diese Wohnung in Paris. In dieser Wohnung habe ich die Werke des Dionysius Areopagita[4] übersetzt, und habe viel von Denis Auguste Affre[5] gelernt. Affre ist jener Erzbischof, der 1848 im Juniaufstand[6] auf den Barrikaden starb, als er für die Republik und gegen König einstand, aber den Frieden zwischen den Kämpfenden bewirken wollte. Diese Geschichte wird Ihnen vielleicht bekannt vorkommen. Der unstolze, aber menschenliebende Pfaffe, der sein Leben riskiert, um anderen ein Vorbild zu sein und Ihnen in der schweren Zeit gegen unkontrollierte Gewalt zu helfen. Nun war einer meiner Ziehväter 1848 im Kampf gegen König gestorben, ich aber in der öffentlichen Wahrnehmung sehr von Napoleon III. und dem Kaiserhof gefördert, wir also in der Wahrnehmung gegeneinander ausgespielt. Und wahrscheinlich stimmt das auch; doch Bismarck wusste um meine Ausbildung, meine eigenen Kämpfe mit der Kurie und lud mich nach Paris ein, derweil ich doch Bischof von Nancy[7] war. Bismarck hielt nicht viel von meinem Vorgänger[8], und so galt es fast als Affront, dass er mich lud. Wir saßen in dieser Wohnung, vor neun Jahren in etwas besserem Zustande als nun. Er trank nichts, er aß nichts. Er führte das Gespräch. Es ging um die sogenannte Französische Intervention in Mexiko[9], an der eben viele europäische Kräfte teilnahmen und teilnehmen wollten, und für deren Einmischung Bismarck einerseits wahrlich wenig übrig hatte. Aber andererseits er interessierte sich naturgemäß für das Thema: Ein Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen, welche das eigene Land damit an den Rand des Abgrundes brachten, und Österreich war daran beteiligt. Entschuldigen Sie, wenn es mir verwehrt ist, aus dieser Anekdoten Lehren für diesen Konflikt zu ziehen. Aber manchmal frage ich mich, ob an Marxens Idee der zyklischen Geschichte nicht doch etwas dran ist[10]. Und dann wundere ich mich, dass dies Ganze gar nicht so weit von den alten, christlichen Geschichtsbildern, wie der Vier-Reiche-Lehre[11] entfernt ist..." Er driftete kurz in Gedanken an Affre ab und blickte aus dem Fenster.

Nach wenigen Sekunden atmete er nochmal tief ein und kehrte zurück zu seinem Sessel, nur um sich abermals hinzusetzen.

"Er, das heißt Bismarck, hatte noch weitere Treffen versprochen. Ich will Sie nicht mit den Inhalten quälen, aber er lud mich sogar für den September wieder ein, ins Palais Beauharnais[12]. Doch die Wahrheit ist, es kam nie wieder zustande. Er hatte die Zeit hier als Verschwendung angesehen, auch wenn er sich mit Land und Mentalität beschäftigt hat. Er wollte Ministerpräsident werden und hatte schon vor seiner Berufung nach Paris darauf gehofft. Er war ehrlich in diesem Punkt gewesen. So waren unsere Unterredungen nur informeller Natur, und von kurzer Dauer. Er wurde am 22. August 1862 Ihr Ministerpräsident.

Was will ich Ihnen damit sagen? Dass die Lage kompliziert ist, zum einen, zum anderen, dass ich Ihnen gerne Glauben schenken möchte, dass Sie Ihren preußischen Auftrag ernst nehmen, aber noch fürchten muss, dass Sie mir ebenso schnell entrissen werden, wenn ich mit Ihnen über substanzielle Dinge sprechen möchte. Da Ihre Rolle aber nicht die eines normalen Botschafters ist, der auf politischen Aufstieg sinnt, mache ich mir Hoffnungen. Sind diese berechtigt? Oder was erhoffen Sie sich von Ihrem Auftrag in Paris? Nur dessen Erfüllung oder wollen Sie das Beste daraus machen? Etwas für sich daraus machen? Sein Sie bitte ähnlich ehrlich wie ihr Ministerpräsident."


Er lächelte entschuldigend, als sei er in seiner Forschung nach den Motiven zu weit gegangen. Paul Zeidler war mit seinen Motiven offener gewesen, und so wollte Darboy auch mehr über Carl von Lütjenburg wissen, wohl wissend, dass dieser sich möglicherweise hinter seinem Preußentum weiter versteckte oder es tatsächlich so sehr lebte, dass seine eigene Identität sich zeitweilig im Preußentum auflöste.
"Entschuldigen Sie, ich wollte und sollte Sie nicht bestürmen. Aber die Lage ist tatsächlich komplex. Wussten Sie, dass Louis Blanc und Adolphe Thiers bereits 1848 eine zentrale Rolle spielten, als Monsieur Affre auf der Barrikade getötet wurde? Dieser Konflikt ist so alt wie die französischen Republiken; der Kampf zwischen Monarchismus und Liberalismus, beheizt von Sozialismus und ähnlichen Ideen, die in der Zeit immer weiter ausreiften. Adolphe Thiers war maßgeblich am Tode Affres beteiligt. Thiers ist eine faszinierende, zwitterartige Gestalt, müssen Sie wissen. Er befürwortet Wahlrecht und katholische Erziehung, er stritt mit König und Monarchismus, aber alles dreht sich scheinbar um seinen Hass für die politische Linke, der er einst noch angehörte. 1830 war er ein Sprachrohr der Revolutionäre, in der Vorbereitung 1848 ist er erst ein Mann des Königs gewesen und ein Mann, mit dem Affre viel verkehrte, und dann durch den Streit mit dem Bürgerkönig fiel er zurück in die Opposition, die nun weniger liberal, sondern immer sozialistischer wurde, und entdeckte seinen persönlichen Furor für die Linke. Nach dem Staatsstreich Napoleons III. betonte er die Größe von Napoleon I., obwohl dieser viele Errungenschaften der Französischen Revolution im Handstreich wieder einstampfte, nur um sich kurz darauf mit Napoleon III. zu zerstreiten und uns Exil zu fliehen. 1862/63 kehrte er erst wieder ins politische Leben zurück, wurde zur Galeonsfigur des Liberalismus bis Preußen und Frankreich Krieg führten und Napoleon III. abdankte; und sie haben die Nachrichten die letzten Tage verfolgt, nun ist der Mann gewählt und spricht sich auf einmal wieder für die Monarchie aus. Diese Punkte, die ich Ihnen nenne, soll Ihnen die Komplexität dieses Mannes anschaulich machen."

Schließlich legte er die Hand an das Kinn und begutachtete Carl, nachdem er so viele Punkte genannt hatte. "Andere würden es opportunistisch nennen. Ich selbst habe den Mann nie verstanden. Wenn Sie also glauben, dass Sie Thiers und seine Männer überzeugen können, will ich Ihnen anraten, dass Sie die Sache genau prüfen. Mehr kann und will ich nicht tun. Jedoch werden sie Monsieur Thiers nur in Versailles dieser Tage antreffen. Allerdings soll sein Minister für Inneres in der Stadt sein, Ernest Picard[13]. Vielleicht haben Sie über ihn Glück, da dieser sich einen Überblick über die Lage machen will. Ich glaube, dass Jules Favre[14] auch in der Stadt ist. Bei den Soldaten kann ich Ihnen aber kaum behilflich sein. Aber interessant, dass sie Lecomte erwähnen. Dieser Fall wird nämlich noch für viel Unbill sorgen, erscheint es mir. Aber Sie haben wirklich seinen Sohn gesehen? Claude-Martin war einer der wenigen Männer des Militärs, zu denen ich Kontakte pflegte. Ich könnte Ihnen zumindest sagen, wo sein Haus steht. In der Rue Lepic[15], in Montmatre."

Jetzt war es aber an dem Bischof, etwas kritischer dreinzublicken. "Aber meinen Sie nicht, dass das Aufsuchen dieser Männer die Problematik verschärfen würde, wenn man nach mir trachtete? Lecomte ist von den Sozialisten füssiliert wurden." Er verzog sein Gesicht etwas. "Und wenn Sie denken, dass Sie mich nicht schützen könnten, darf ich davon ausgehen, dass Sie befürchten, dass die Gruppe an Bedrohern mehr als ein, zwei Mann beinhaltet?"
So langsam schien Darboy zu dämmern, in welcher Gefahr er sich real befand. Dieser Augenblick verging jedoch rasch und seine ruhige, von Schmerz durchflimmerte Miene kehrte zurück. Nun betrachtete er Carl wieder nachdenklich, in der Hoffnung, dass dieser ihn in seine Gedanken einbezog, während er weiterhin den ruhigen, nachdenklichen Paul Zeidler in jenen Gedanken beließ.
 1. Harry von Arnim (http://de.wikipedia.org/wiki/Harry_von_Arnim_%28Diplomat%29)
 2. Théophile Ferré (http://en.wikipedia.org/wiki/Th%C3%A9ophile_Ferr%C3%A9)
 3. Benoît Malon (http://en.wikipedia.org/wiki/Beno%C3%AEt_Malon)
 4. Dionysius Areopagita (http://en.wikipedia.org/wiki/Dionysius_the_Areopagite)
 5. Erzbischof Denis Affre (http://en.wikipedia.org/wiki/Denis_Auguste_Affre) - Affre war der erste von drei Pariser Erzbischöfen, die zwischen 1848 und 1871 ihr Leben lassen sollten. Der zweite war Auguste Sibour (http://de.wikipedia.org/wiki/Auguste_Sibour) durch Mord durch einen abgesetzten und rachesuchenden Priester, und der dritte schließlich Charles Darboy selbst.
 6. Der Juniaufstand ist Teil der Revolution 1848 und hatte die Errichtung von Nationalwerkstätten (http://de.wikipedia.org/wiki/Nationalwerkst%C3%A4tten) zum Ziel, welche maßgeblich auf Louis Blanc zurückgehen. Im Scheitern der Nationalwerkstätten ist wohl auch Louis Blancs Frust begründet.
 7. Nancy (http://de.wikipedia.org/wiki/Nancy)
 8. François-Nicholas-Madeleine Morlot (http://de.wikipedia.org/wiki/Fran%C3%A7ois-Nicolas-Madeleine_Morlot)
 9. Französische Intervention in Mexiko (http://de.wikipedia.org/wiki/Franz%C3%B6sische_Intervention_in_Mexiko)
 10. Das ist wieder ein Verweis auf den historischen Materialismus (http://de.wikipedia.org/wiki/Historischer_Materialismus) und damit in der Hinleitung auf die klassische Bedeutung von Revolution (vollständige Umdrehung einer Sache)
 11. Vier-Reiche-Lehre (http://de.wikipedia.org/wiki/Vier-Reiche-Lehre) - Mit dieser Lehre ist oftmals der Gedanke verknüpft, dass am Ende des vierten Reiches das jüngste Gericht steht, also alles in den christlichen Urzustand (zumindest für jene heiligen und guten Christen) zurückgeführt wird, also eine historische Revolution im Sinne der vollen Umdrehung der Geschichte.
 12. Das Palais Beauharnais (http://de.wikipedia.org/wiki/Palais_Beauharnais) ist bis heute Sitz des deutschen Botschafters, früher Arbeitssitz, heute Wohnsitz.
 13. Ernest Picard (http://en.wikipedia.org/wiki/Ernest_Picard)
 14. Jules Favre (http://en.wikipedia.org/wiki/Jules_Favre)
 15. Rue Lepic (http://en.wikipedia.org/wiki/Rue_Lepic) - Die Straße liegt direkt am Place Blanche.
avatar Sébastien Moreau 07.Jan.2015 07:01
Sébastien strafte Blanc zum Abschied mit einem finsteren Blick, weil er sich durch dessen abschließende Worte verspottet fühlte, aber er sah davon ab, auf den Mann einzugehen, der sich bereits, scheinbar wütend und beleidigt, in den Zeilen der Zeitung versteckt hatte. Es war die Sache vermutlich nicht wert, sich noch weiter damit zu befassen. Gewiss trug er nun eine gewisse Art von Groll, den er gegen Blanc hegte, mit sich. Trotz regte sich in Sébastien – der Trotz, Blanc zeigen zu wollen, dass dieser sich irrte. Enttäuschung und Niederlage? Das würde sich noch zeigen!
Doch für Achille hatte Sébastien dennoch ein Lächeln übrig, zusammen mit einem freundschaftlichen Abschiedsgruß als stummem Dank für dessen Glückwünsche, indem er dem Künstler seine rechte Hand auf die Schulter legte.

Ein kompletter Reinfall war dieses Treffen mit Louis Blanc schlussendlich nicht gewesen. Es hatte Sébastien geholfen, die Dinge klarer zu sehen und nun auch die Interessen der Lavalles zu hinterfragen. Alfred Nobels Formulierung – dass Madame Lavalle sie, François, Nicodème und Sébastien selbst, zu ihrem Vorhaben angestiftet hatte – traf, im Grunde genommen, zu. Die Entführung Darboys sollte im Austausch gegen zukünftige Dienste des Paares geschehen. Doch wenn es stimmte, dass Lavalle Blanqui, damals im Jahre 1848, verraten hatte, was versprachen sich dieser Mann nun davon, dass Blanqui freikam? Oder ging es Lavalle nicht um Blanqui, sondern um Darboy?

Zweifel waren gesät, die sich nicht ignorieren ließen. Nicht in diesem Moment. So war es, dass Sébastien Alfred Nobels Worten offener gegenüberstand als möglicherweise unter anderen Umständen. Immerhin war dieser Mann ein Industrieller und stand damit eigentlich nicht auf seiner Seite – der der Arbeiter. Doch schien er in dieser Angelegenheit nur helfen zu wollen. Sébastien wollte sich Nobels Geschichte gern anhören… Doch war er, mit einem neuen Ziel vor Augen, nun in Eile. Blanc hatte ihm in Erinnerung gerufen, dass er für den Lebensunterhalt seiner Familie sorgen musste. Und dies würde schwer fallen, wenn er seine Anstellung verlor.

„Es dürfte zu spät dafür sein, die Lavalles von unseren Angelegenheiten fernzuhalten“, antwortete Sébastien dem Industriellen. „Doch ich kann die Warnungen vor ihnen nicht ignorieren. Ich habe nun keine Zeit; ich sollte zur Arbeit eilen, bevor man langfristig Ersatz für mich findet. Aber wenn Ihnen die Sache wichtig ist, treffen Sie mich hier, vor dem Café, um viertel vor sechs heute Abend. Was Sie zu erzählen haben, sollten auch meine Freunde hören.“
Um sechs Uhr war Sébastien mit François und Nicodème beim Haus seines besten Freundes verabredet. Eine Viertelstunde war genug Zeit, um rechtzeitig dort zu sein. Vielleicht würden die beiden nicht davon begeistert sein, wenn Sébastien einen vierten mitbrachte, aber er gedachte auch nicht, Alfred Nobel zu einem Teilnehmer ihres Vorhabens zu machen. Die Einladung hatte einen bestimmten Grund: Der Pfaffe in ihrer Runde hatte bereits vor den Lavalles gewarnt, Achille ebenfalls und nun auch Alfred Nobel. Es konnte gewiss nicht schaden, die Zusammenarbeit mit den Lavalles gemeinsam noch einmal zu überdenken. Monsieur Nobels Zeugenbericht hierzu könnte nützlich sein. Sébastien schätzte, dass von Nobel selbst keine Gefahr ausging, aber auch aus einem zweiten Grund nahm er an, dass es in keiner Katastrophe enden würde, wenn er ihn zu François mitbringen würde. Sie wollten sich dort nicht noch einmal mit Madame Lavalle oder ihrem mysteriösen Mann treffen, bevor es losging. Ein unschönes Wiedersehen, sollte Nobel die Wahrheit sagen und die Lavalles kennen, sollte es also nicht geben.
avatar Menthir 08.Jan.2015 04:01
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Abend - 17:40 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)

Die Sonne, die sich nur spärlich und kühl zeigte zwischen einer ungewöhnlichen Diesigkeit, an diesem kühlen und oftmals auch nassen Tage, kletterte langsam zwischen die Häuserschluchten von Paris und würde in der nächsten Stunde beginnen, langsam, den Himmel und die Wolken und violett-gräulichen Pastelltönen zu zeichnen[1]. Jene Zeit des Tages, welche die Guinguette mit besonders vielen Künstlern füllen würde, welche ihren staubigen, muffigen oder dunklen Ateliers entflohen und sich zum abendlichen Wein an diesem Ort trafen. Es ging dann um Farbkompositionen nach dem Vorbild himmlischer Farbtöne, um Schärfegrade und Realismus einer Zeichung, um naturgemäße Darstellungen. Und dieser Debatte schlossen sich dann auch der Literaten an, denn was war nun Realismus[2], was war noch als Naturalismus[3] zu verschärfen, wann driftete es ab in den Idealismus. Oftmals waren diese Unterredungen theoretischer Natur, dann hin und wieder auf direkt auf Ergebnisse erzielend, wenn sich nicht jemand hinter diese Debatte versteckte, um in Wirklichkeit für das eigene Werk zu werben. Das Frankreich dieser Tage ließ nur bei den ignorantesten oder weltenthobensten Künstlern diese Debatte zu, und so saß Alfred Nobel bereits wieder auf den Korbgeflechtstühlen dieses Hauses, im kühler werdenden Garten unter den hölzernen Rosenbögen, an denen nur das sorgsam beschnittene Gestrüpp verblieb, welches sich ab dem Sommer wieder als Wein entpuppen würde.

Die Gespräche gingen um ihn herum weniger um die Kunst, so wie man es von diesen Orten kannte, sondern um die Wahl. Um die Schlägerei zwischen Republikanern liberaler Lesart und Sozialisten und wenigen Kommunisten auf dem Place Blanche am frühen Morgen kümmerten sich die Kommentare und Sorgen. Ob die Füssilierung der beiden Generale und die Geschichte um die Thiers und die Kanonen von Montmarte nur der Auftakt dazu war, Paris wieder unter das Joch des Krieges zu führen? "Aber...es wäre noch viel schlimmer, meine Liebe.", hörte Alfred ein undeutliche Stimme, deren Zunge des vielen Weißweins Schwere annahm. "Wenn so mancher Historiker schon meinte, dass der Kampf gegen die Preußen und Deutschen bereits ein Bruderkampf war, sind wir doch weitestgehend fränkische Reiche und als Brüder erz- und erbverfeindet[4], wie bezeichnen wir dann, wenn wir uns wieder die Köpfe einschlagen." Eine weitere Stimme schaltete sich ein, sie gehörte einer Frau, wahrscheinlich eine junge Frau. "Clément, bitte. Ich bin mir sicher, dass wir alle des Kämpfens müde...", eine dritte Stimme mischte sich ein und fuhr vehement dazwischen, und gehörte einer älteren Dame. Vielleicht saß eine Familie zusammen. "Schluss ihr beiden! Müsst ihr denn immer über Blut reden..."

Sich wieder selbst die Köpfe einschlagen. Eine Feststellung, die Alfred in seiner kurzen Zeit, die er in Paris war, in allen Formen und Varianten gehört hatte, mal kunstfertig, mal ungeschlacht. Viele französische Bürger waren wirklich der Kämpfe müde, aus den unterschiedlichsten Gründen. Viele hatten gehungert, auch wenn die Regierung von Adolphe Thiers die Grundversorgung wieder herstellen konnte. Viele hatten Verwandte verloren oder waren in der Belagerung entweder vom Beschuss Preußens verstört wurden, hatten Haus oder Verwandschaft verloren, oder in viel schlimmeren Schicksalen waren sie von ihren eigenen Landsleuten beim Kampf um Überleben geplündert, geschlagen und manche auch getötet wurden. Viele Tage hatte die Stadt nach der alten Kanalisation gerochen, der Müll war nicht mehr entsorgt wurden. Paris hatte sich nur schwerlich wieder hergerichtet, und die vielen Narben wurden noch mit billiger Schminke übertüncht. Besonders beliebt in der retrospektiven Geschichtserzählungen waren die schwimmenden Friedhöfe und die hygienischen Probleme dieser. Viele Katakomben lagen an den in den 1850er Jahren neu geschaffenen Kanalisationswegen[5] und waren mehrfach überschwemmt wurden, sodass die Friedhöfe tatsächlich in Kanalisation und Trinkwasser übergingen. An diese grausamen Zeiten wollten sich die wenigsten erinnern, und doch alle taten sie es, weil sie mit Sorge auf das Scharmützel zwischen den Nationalgardisten und den republikanischen Soldaten blickten und was die Zukunft aufgrund dieses Kampfes für sie bereithielt. Alfred erlebte also jegliche Regung, welche die Bevölkerung Paris betraf in dieser typischen Pariser Art; im Versuch das Unbill der Realität als bon vivant zu entgehen. Und er sah, dass dieser umkämpften Tage dieser Versuch vielen misslang.

Sébastien hatte derweil auf der Arbeit erstaunlich wenig Probleme und treue Mitarbeiter, die wussten, wofür der junge Moreau stand. Nämlich, dass er für ihre Sache kämpfte und so war es nicht verwunderlich gewesen, dass so einige von seiner Einmischung auf dem Place Blanche gehört hatten und ihn mit freundlichen bis freundschaftlichen Klapsen auf den Rücken begrüßten, sie lachend über die kleine Prellung am Kopf Sébastiens lachten, die sich schon blau gefärbt hatte, und er schließlich von ihnen Rückendeckung bekommen hat. Keinen der Vorarbeitern war augenscheinlich aufgefallen, dass Sébastien einige Stunden geschwänzt hatte. Seine Arbeitsgefährten hatten ihren Rücken für ihn gerade gemacht. Und auch auf der Arbeit konnte Sébastien dann dieser zum einen nachgehen, und zum anderen genügend Ruhe finden, um seine leichten Wunden der Schlägerei etwas zu pflegen[6].

Er hatte nicht viel Zeit bei seiner Familie verbracht, oder viel mehr gar keine. Es wäre wohl besser erst nach Hause zurückzukehren, wenn man diese Sache hinter sich hatte. Würde man sich aufraffen können, wenn man erst einmal seine Familie umschloss und wusste, dass man sich wieder der Gefahr hingeben würde? Es könnte immerhin einiges schief gehen und nicht nur ein Revolutionär, nicht nur ein Mann mit Ideen und Esprit war in der Ausführung seiner Pläne gefallen. Und so trieb es Sébastien zurück zur Guinguette, in der er sich mit Louis und Achille getroffen hatte. Der Ort war deutlich gefüllter als zur Mittagszeit, aber auch Sèbastien entging nicht, dass die Stimmung angespannt war und nicht so ausgelassen wie nach der Verkündung der Wahl.

Was seine Freunde wohl für Material gesammelt hatten, um die Entführung durchzuführen?

Alfred Nobel saß an einem der Tische, immer noch mit der aktuellen Tageszeitung, die er augenscheinlich Louis Blanc wieder abluchsen konnte, ehe Louis und Achille gemeinsam gegangen waren. Auf diversen Tischen lagen die Überreste einer abendlichen Mahlzeit, die oftmals nicht über ein Salat an diesem Ort hinausging. Viele Menschen warteten hier oder unterhielten sich angespannt. Es waren die typischen Bürger Montmatres, und viele hatte Sébastien an diesem Ort schon einmal gesehen. Guinguettes waren für viele Pariser das, was für den Berliner seine Eckkneipe war. Doch ein Mann fiel Sébastien gleich auf, an seinem unverwechselbaren Hut. Unweit von Alfred Nobel, aber in dessen Rücken und deswegen von diesem unbemerkt, saß ein Mann, der einen schwarzen, schweren Mantel trug. An seinem Tisch, den er mit einer schweigsamen und nicht zu ihm gehörenden jungen Frau in Arbeiterkleidung teilte, die ihn unentwegt missbilligend anstarrte, lehnte ein ebenso schwarzer Regenschirm. Seine Kleidung war monochrom, und komplette schwarz. Vom schweren Wollmantel über die Anzughose, die schwarzen Lederschuhe und sogar der Hut war in dieser Farbe. Nur von einer weißen, künstlichen Feder, deren Außenfahne in ein dunkelgrün überging. Jene Hutform, die der mitteleuropäische Revolutionär als Kalabreser wiederkannte. Ein blonder Schnauzer füllte sein Gesicht, welches ansonsten glatt rasiert war. Er war ein Sitzriese, aber wahrscheinlich war er auch stehend von kräftigen und stattlichen Wuchs, der preußisches Gardemaß hätte haben können. Vor diesem Mann lag ein Notizblock und Graphitstift, den er unentwegt über das Papier fahren ließ, Worte und Skizzen wild mengend. Wahrscheinlich ein weiterer, exzentrischer Künstler, doch eben einer, der sich von den sonstigen Pariser Künstlern deutlich unterschied. Autoritärer Bart, monochrome Kleidung, eine Aura des Ernstes um sich tragend. Das war sehr untypisch und ließ ihn schnell als Fremden erkennen.

Dann aber war Sébastien bereits am Tisch von Alfred Nobel angekommen, der ihn ebenso in seiner Annäherung bemerkt hatte[7].
 1. Falls es von Relevanz ist, um 18:24 Uhr ist Sonnenuntergang.
 2. Realismus (http://de.wikipedia.org/wiki/Realismus_%28Kunst%29)
 3. Naturalismus (http://de.wikipedia.org/wiki/Naturalismus_%28Bildende_Kunst%29)
 4. Verweis auf den propagandistischen Begriff der Erbfeindschaft (http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-franz%C3%B6sische_Erbfeindschaft)
 5. Pariser Kanalisation (http://en.wikipedia.org/wiki/Paris_sewers) - Die Ursprünge der Kanalisation liegen im 14. Jahrhundert.
 6. Sébastiens Konsequenzen werden zurückgesetzt.
 7. Ab hier überlasse ich euch die Gestaltung des Gespräches.
avatar Paul Zeidler 12.Jan.2015 09:01
Paul Zeidler hatte sich wieder auf das Sofa gesetzt und die abgegriffene Bibel des Bischofs in die Hand genommen, doch noch nicht geöffnet. Paul hatte irgendwie erwartet... - wartete darauf, dass ihn Gottes Wort beruhigen und zuversichtlich machen würde, doch nichts geschah. Das Buch der Bücher wog schwer in seiner Hand und mit einem Mal wurde er sich gewahr, dass das Wort Gottes auch eine schwere Last sein konnte. "Es ist schwer, an das Gute zu glauben.", stellte Paul müde fest. "Es gibt so viele Dinge einzuwenden. Man wird sagen können, dass das menschliche Herz von Kindheit an voller Bosheit ist. Dummheit und Faulheit halten den Verstand der Menschen gefangen. Stolz und Eigennutz trüben den Blick der Menschen. Und wilde Emotionen lenken die Hände. Oh ja, es ist alles wahr, es ist alles wahr - und ich, der ich von Deinem Wort angesprochen bin, was rechne ich mir für Chancen aus? Wie soll ich Geringer unter den Geringen meine Stimme erheben und Deinen Willen verkündigen? Ach, wenn Du es doch nur selber tätest! Wenn Du vom Himmel in Deiner Herrlichkeit herabkämst und selbst Deinen Willen unter den Menschen fügtest! Was kann ich schon tun? Ich bin so ungeschickt mit Worten und meine Lippen sind unrein. Wie kann ich glauben, dass Du mit mir bist? Wie kann ich Vertrauen in meine Aufgabe haben?"

Paul sprach vor sich hin, gab seinen Gedanken Raum. An Darboy und von Lütjenburg dachte er schon lange nicht mehr. Der Zweifel hatte ihn übermannt und ein tiefes Gefühl der Trauer ließ seine Worte zur Klage werden. "Du stellst mich vor eine unmögliche Aufgabe, lässt mich vor die Hunde gehen und zur Schande werden. Ist das die Art, in der Du mit Deinen Propheten umgehst? Bin auch ich ein Jeremia, ein Petrus, ein Paulus? Soll es mir eine Zuversicht sein, wie es heißt: 'Sie gingen aber fröhlich von dem Hohen Rat fort, weil sie würdig gewesen waren, um Seines Namens willen Schmach zu leiden'[1]? Soll ich mich gar freuen, 'als Opfergabe im Gottesdienst meiner Gemeinde hingegeben zu werden'[2]? Ich... weiß nicht... ob ich die Kraft habe."

Paul blickte auf und unverwandt den Bischof an. "Euer Eminenz, Christus ist in den Schwachen mächtig, ist es nicht so? Wir haben keine Aussicht auf Erfolg und unsere Sicherheit ist in Gefahr. Tod und Teufel warten auf dem Platz da draußen. Ich... habe... Angst, das kann ich nicht verhehlen. Haben Sie auch Angst?

Aber, ich frage Sie, wo wir schon jetzt so arm und schändlich sind mit unserem Glauben, um wie viel ärmer und schändlicher wären wir ohne ihn? Wir müssen predigen. Wir müssen in einer kranken Welt an dem festhalten, das uns heil machen kann. Und dann? Wenn wir in dieser verwirrten Generation selbst zum Licht der Welt werden können, wie Paulus im Philipperbrief meint, vielleicht ernten wir nicht nur Hiebe und Schläge. Tod und Teufel stehen uns gegenüber, Gott stehe uns bei! Wir müssen die Bergpredigt predigen!
"[3]
 1. Apg 5,41: Vorangegangen ist die Verurteilung von Petrus und der Apostel in Jerusalem. Sie erhielten Redeverbot und wurden ausgepeitscht - predigten aber sofort wieder.
 2. Phil 2,17: Paulus spricht darüber, dass er das Marytirium gerne für seine Verkündigungstätigkeit in Kauf nähme, Christus zum Ruhme und der Gemeinde zur Stärkung.
 3. Bergpredigt (http://de.wikipedia.org/wiki/Bergpredigt)
avatar Menthir 16.Jan.2015 09:01
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 11:15 Uhr - Place du Châtelet (Quartier Saint-Germain-l’Auxerrois)

Georges Darboy zeigte sich in diesen Momenten, in denen Paul Zeidler von seinen Zweifeln und seinen inneren Wirren und Kämpfen sprach, als der Mensch, der er war. In seinem Blicke waren dieselben Zweifel, dieselben Ängste verborgen, die auch an dem Deutschen nagten. Er ließ also einen Moment Stille walten, auch wenn Pauls Stimme zum Ende wieder zu einem gewissen und auch ansteckenden Enthusiasmus fand, der in den Herausforderungen nicht nur Müh-, sondern auch Labsal fand oder zumindest zu finden hoffte.
"Ich habe große Angst, Monsieur Zeidler. Ich habe riesige Angst und sie wird mit jedem Atemzug größer. In all den Jahren habe ich eine Sicherheit in den Armen den HERRN gesucht, in alle den Jahren habe ich immer wieder erfahren müssen, die Erfahrung wieder und wieder erlernen müssen, warum das Weltbild des mittelalterlichen Christentums so sehr in der Leidenserfahrung liegt und welche Stärke in dieser Ungewissheit steckt. Angst, solange sie einen nicht lähmt, ist stärkend, so wie Leid, welches nicht das Leben nimmt, stärkend ist. Aber diese Worte trösten uns nie über jene Momente, in denen wir Leid und Angst erfahren, uns wie Tiere getrieben sehen und überall unser Vorstellungskraft freien Lauf lassen. Die Welt hat sich in seinem Inneren nicht verändert, nur ihr Aussehen hat Wandel erlebt.

Meine Furcht ist dabei sehr konkret, aufgrund der Warnungen, aufgrund dessen, dass es seit Jahren immer wieder Attentate gibt, aufgrund der Tatsache, dass zwei meiner Vorgänger in den letzten 23 Jahren gewaltsam ums Leben gekommen sind. Ich sorge mich insofern, weil ich von der antiklerikalen Seite der Revolutionäre weiß. Ich sorge mich, da sie den Kirchenstaat mit Gewalt aufgelöst haben, und weitestgehend kampflos, nachdem Napoleon III. lieber einen Kampf gegen Deutschland wollte, als den Kirchenstaat zu schützen, und die Italiener Rom zu ihrer Hauptstadt machen wollten. Ich sorge mich insofern, dass ich nicht auf das Land der Kirche bestehe, doch weiß, dass die ungezügelte Inbesitznahme immer mit Schändungen von Kulturgut und den dazugehörigen Menschen einhergeht. Ich fürchte mich also um mich selbst, doch noch viel mehr um alles, was mit dem verbunden ist, wofür ich stehe. Und deswegen bin ich ganz bei Ihnen, wenn Sie sagen, dass wir predigen müssen, Herr Zeidler. Nicht um meiner Erlösung willen, sondern um aller Willen, die in den Wogen des Konfliktes auf ihrem eigenen Land bluten, weil es ein Spielball von Nationen, Gedankenkonstrukten, politischen Richtungen und Dogmata geworden ist. Es ist nicht mehr das Land der Menschen, egal welche Farbe es trägt, es ist immer mehr ein Land der konfliktträchtigen Ideen."


Jetzt legte der Erzbischof wieder die Beine übereinander und etwas Schmerz fiel von seiner Pose. Es schien jetzt wieder angenehmer sein zu sitzen. "Hier finde ich die Brücke zwischen dem, was sie sagen, Monsieur Zeidler, dem, was Monsieur von Lütjenburg gesagt hat und dem, was ich von mir gegeben habe. Diese festen Ideen sind Gewänder, die wir uns anziehen und über jene Gewänder geraten wir zu gerne in Streit. Der nationale Streit, der konfessionelle Streit, der politische Streit, wenn in Gewänder gehüllt, wird passend zur Tracht oftmals ein Streit der Eitelkeiten. Für diese Eitelkeiten sollte kein Platz sein, und wir die Menschen wieder an die wirklichen Grundsätze erinnern, und uns dabei über diese Eitelkeiten zwischen katholischer Auslegung und protestantischer Auslegung hinwegsetzen - zumindest in den Moment, in denen es nicht um theologische Auslegungen, sondern um den Menschen geht. Und deswegen halte ich es für richtig, wenn wir schon nicht alle Konflikte und Spannungen auflösen können, doch zumindest von der Liebe zum Feinde zu predigen; und insofern teile ich Ihren Vorschlag zur Bergpredigt unbedingt. Wir halten die Bergpredigt."

Auch wenn die Stimme des Erzbischofs monoton war und nachdenklich blieb, kam niemand in dem Raum umhin, dass Zeidlers durch Zweifel induzierter und doch so ehrlicher Eifer auch auf den ansonsten ruhigen Darboy abfärbte, ihn sogar etwas ansteckte. Gleichzeitig war zu erkennen, wie der Geist des Erzbischofs jetzt angestrengt arbeitete, ihn nachsinnen ließ: über die Bergpredigt an sich, wie sie das am heutigen Abend formulieren würde, er suchte nach schlagkräftigen Worten und Phrasen, nach Gesten und nach seiner Mimik, nach Erzählung und Emphase, nach Stil und Haltung. Und für einen Moment schien es, als würde er auf einmal nicht mehr so schwach und von Krankheit gebeutelt in sich zusammensacken und in der Nachdenklichkeit ertränken und er jenen Schmerz, den er in den Beinen haben mochte, schlichtweg vergessen.

"Was benötigen Sie von mir, Herr Zeidler. Soll ich Ihnen noch für die Messe etwas zur Verfügung stellen? Ansonsten können wir uns gerne an die Feinheiten machen.[1]"

Georges Darboys Augen ruhten jetzt aufgeregter als ehedem auf Paul, ohne aufdringlich zu werden. Wahrscheinlich war es sinnvoll gewesen, den Deutschen nicht zu drängen. Und doch, bei allem blieb die Anspannung der Gefahr greifbar. Sie alle wussten, dass es nicht nur irgendeine Messe sein würde...
 1. Sobald wir zu der Szene kommen, halte ich eine geteilte Messe für umständlich, weshalb ich dich gerne in Teilen die Messe beschreiben lassen würde, in der du den Erzbischof gerne steuern darfst. Wäre das in einem Interesse? Und so ist die Frage des Bischofs auch meine Frage? Brauchst du dazu Informationen von mir? Möchtest du das übernehmen? Deine sprachliche Gestaltungskraft und dein Wissen stechen meines aus, sodass ich inbrünstig darum bitte.
avatar Carl von Lütjenburg 17.Jan.2015 01:01
Da war es! Carl fühlte sich beinahe auf eine kleinbürgliche Weise beruhigt, als er zum ersten Mal feststellen konnte, dass der Erzbischof sich ernstliche Sorgen machte, wenn auch nur einen kurzen Augenblick.

"Exzellenz, ich bin Protestant und genau genommen bin ich nicht einmal das. Ich sehe Kirchen nur von innen, wenn man in ihnen ein Lazarett errichtet hat und mich wieder zusammenflickt oder in Friedenszeiten, wenn meine Frau mich jeden Sonntag gegen meinen Willen dorthin schleift. Darüber hinaus haben wir schon festgestellt, dass ich preußischer Offizier bin. Es muss also ein gewichtiger Grund sein, wenn ich mich um einen französischen Erzbischof so sehr sorge, dass ich ihn persönlich besuche und verzweifelt versuche ihn davon abzuhalten in eine Falle zu laufen." Carl seufzte, diese alten Männer machten ihn noch verrückt und wirklich böse konnte er ihnen noch nicht einmal sein. "Sie können sicher verstehen, wie ich mich fühle, wo ich nun erkennen muss, dass ich dabei nicht nur versagt habe sondern auch noch Herrn Zeidler zum Märtyrertum getrieben habe.

Um es vielleicht noch ein letztes Mal deutlich zu machen, und sei es nur, dass ich mir später vielleicht weniger Vorwürfe machen muss: Diese Lavalles, glauben Sie mir, dass sie noch kein niederträchtigeres Wesen getroffen haben werden als diese beiden."
Carl knöpfte rasch den Kragen auf und zeigte den beiden eine schlechtverheilte Narbe an seinem Hals, die nur knapp die Carotis[1] aussparte[2]. "Zugezogen als ich einen hohen holsteinischen Adligen vor den beiden beschützte. Im Zuge dieser Tage hatte ich es unter anderem mit einer erpressten schwedischen Industriellenfamilie, einem gestohlenem Kriegsschiff, schottischen Söldnern und gefälschten Geheimdokumenten zu tun. Ich nenne schon zu viele Details, jedoch gehen all diese Taten auf dieses Pärchen zurück! Ich kenne sie also gut genug um zu wissen, dass wir es nicht einfach nur mit den beiden zu tun haben werden. Ob sie wieder Söldner dabei haben werden oder ob sie die besonders gewaltbereiten Arbeiter manipulieren kann ich nicht sagen.

Lecomte - zumindest glaube ich, dass er es heute morgen auf dem Place blanche war[3] -  und seine Männer wären zumindest eine schlagkräftige Verstärkung. Ob ich es als klug erachte sie mit einzubeziehen? Das kann ich erst sagen, wenn ich mit ihnen gesprochen habe. Es kann auch gut sein, dass sie mich irgendwo aufknüpfen werden, wenn sie herausbekommen, dass ich ein Preuße bin."
Carl zuckte mit den Schultern, als wäre er die Möglichkeit eines solchen Schicksals genauso gewohnt wie Mückenstiche oder Erkältungen.

"Sehen Sie, ich verstehe etwas von genau zwei Dingen: Krieg und Chemie. Für den Krieg brauche ich Truppen und für die Chemie Reagenzien. Welche Truppeteile und welche Reagenz ich wann und wofür einsetzen werde ist die eine Sache, nur ohne Armee braucht man nicht zum Kriege anzutreten und ohne Reagenzien ist ebenso keine Chemie möglich. Sie werden mir den Galgenhumor verzeihen, doch im Augenblick besteht meine "Armee" aus zwei Feldpredigern und mir selbst. Wir sollten uns mit Kriegserklärungen momentan also noch zurückhalten, meine Herren.

Was meine Absichten angeht: Selbstverständlich steht für mich an erster Stelle meine Befehle zu erfüllen, ob ich Ihnen danach noch zur Verfügung stehen kann, das ist nicht allein meine Entscheidung. Im Endeffekt zielen meine Befehle ja daraufhin, den Krieg so rasch wie möglich zu beenden... das käme mir sicherlich nicht ungelegen, ich habe eine Frau in Berlin, sie wissen... Doch was sollte ich für mich hieraus machen? Ich kann damit nichts beweisen, was ich nicht schon bewiesen hätte. Ich kann es bloß richtig machen, und genau das hatte ich auch eigentlich vor. Wenn Sie einen Vorschlag haben, wie ich diesem Ziel näher kommen kann, höre ich ihn mir gerne an."


Carl sah, wie der Erzbischof endlich eine Sitzposition fand, die ihm weniger Schmerzen bereitete und räusperte sich vernehmlich: "Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich komme nicht umhin Ihr Leiden zu bemerken. Die Niere, wenn ich mich nicht täusche? Gibt es etwas, was die preußische Armee  für Sie tun kann? Medikamente oder einen Arzt? Ich bin mir sicher, dass ich dafür sorgen kann, Exzellenz."
 1. Carotis (http://de.wikipedia.org/wiki/Arteria_carotis_communis)
 2. Hier nachzulesen (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=6643.msg739335#msg739335)
 3. Carl beschreibt ggf. nochmal das Aussehen des jungen Mannes mit dem Tischbein
avatar Menthir 19.Jan.2015 07:01
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 11:16 Uhr - Place du Châtelet (Quartier Saint-Germain-l’Auxerrois)

Des preußischen Majors Worte rissen den Erzbischof von Paris jedoch schnell wieder aus seinem beginnenden Enthusiasmus, weil er immer wieder auf eine Sache zurückkam. Zu diesem mysteriösen Söldnerehepaar, welches scheinbar überall eine Rolle spielte, wo es Schwierigkeiten gab oder welches zumindest ein nicht erkennbares Händchen dafür hatten, in bestehende Konflikte einzugreifen, um an Francs oder andere, gängige Währungen heranzukommen. Und dass Carl ihn auch noch auf sein augenscheinliches Leiden ansprach, schien die Freude auf den Abend wieder einzudämmen. Mit der Erwähnung möglicher Schmerzen kam auch wieder die Erinnerung an jene und Georges Darboy war wieder deutlich unruhiger, saß verkrampfter und der wieder akute Schmerz ließ sein linkes Augenlid kurz flattern. Er bemühte sich um ein verständnisvolles Nicken, als Carl davon sprach, den Herrn Zeidler in eine unangenehme Lage gebracht zu haben. Doch völlige Überzeugung war nicht zu sehen.
"Es ist nicht so, dass ich Ihnen nicht dankbar wäre für Ihre Sorge, und dass ich Ihre Sorgen nicht ernst nehmen würde. Verstehen Sie mich da bitte nicht falsch. Aber verstehen Sie bitte auch, dass Sie selbst für sich ausgedrückt haben, dass Sie ein Preuße vollster Überzeugung sind, und ich demnach davon ausgehen muss, dass nicht Ihre Sorge Sie hierhin getrieben hat, sondern aller Voraussicht nach ein Befehl und eine Hoffnung auf weitere Hinweise. Ich bin dennoch dankbar, wenn sich eine gewisse Sorge im Laufe des Gespräches entwickelt hat. Ihr gewichtiger Grund ist demnach also erst nicht mit mir verbunden gewesen, hat sich aber verfangen, nicht wahr?"

Georges Darboy legte die Beine um, sodass sie nun umgekehrt aufeinander ruhten und es schien ihm kurzzeitige Erleichterung zu verschaffen. "Es ehrt sie natürlich, dass Ihr Pflichtgefühl Ihnen vorschreibt, dass Sie Verantwortung für des Monsieurs Zeidler und meiner Person Handeln übernehmen wollen. Und ich sehe ein, dass diese beiden Lavalles, deren Namen sie jetzt mehrfach erwähnten, problematische Personen sein könnten." Er betrachtete die Narbe an Carls Hals und nickte bedächtig. "Jedoch ist ihre Kurzfassung kaum ausreichend, um einen Bild von diesen beiden Personen zu geben. Sie reden ein wenig so, als müsste ich Sie kennen. Leider kann ich das nicht behaupten, könnten Sie mir vielleicht mehr über Sie erzählen?"
Carl von Lütjenburg war immerhin soweit zu dem Erzbischof durchgedrungen, dass dieser nun anfing, sich mehr um die Thematik der Söldner zu scheren und sein sorgenvoller Blick ließ durchaus erkennen, dass es ihm Sorge machte. Allerdings war dahinter auch noch eine andere Sorge zu erkennen. Wahrscheinlich eine, die trotz aller Beteuerungen mit Carl und seinem Preußentum selbst zu tun hatte.

Besonders gut lesbar war des Darboyen Gesicht als Carl von der Gefahr durch Lecomtes Männer sprach, als wäre es eine Laissez-faire-Geschichte, sein Leben für den Zweck zu opfern. Und des Erzbischofs Blick verriet deutlich, dass er hier eine Form von bigotter Doppelmoral witterte. Anderen das Selbstopfer gerade abraten zu wollen, und es selbst zu suchen. Carl als griechischer Heros der Tragik, der aufgrund dessen an seiner Hybris sterben müsste. Aber obwohl seinem Blick Unbehagen anzusehen war, beließ es der Erzbischof dabei und lächelte diese Passage einfach weg, schob sie vorüber, und überließ diese Entscheidung der völligen Willkür des preußischen Majors.

Doch die Begeisterung des Erzbischofs für den preußischen Major verlor noch weiter an Kraft, als dieser Paul und ihn als Feldprediger bezeichnete und sie in einem Wort mit dem Kriege nannte. Carl und Paul konnten durchaus erkennen, wie eine gewisse, angedeutete Zornesröte in das alternde und krankheitsschwache Gesicht des Erzbischofs stieg.
"Wir werden keinen Krieg erklären, Monsieur von Lütjenburg. Wir werden Frieden künden. Und ich schlage vor, dass Sie sich Ihren Krieg aus dem Kopfe schlagen, Preuße hin oder her. Denken Sie daran, dass seit einigen Tagen der Vorfrieden[1] unterzeichnet ist. Wenn ich also einen Vorschlag machen kann und Sie den gerne hören: das, was uns bevorsteht ist ein Bürgerkrieg, wenn alle Ihren Willen nicht bekommen und den Frieden vergessen. Wenn Sie also Befehle haben, hoffe ich doch sehr, dass Sie so lesbar sind, dass Sie den Frieden sichern und sich nicht damit beschäftigen, wie man einen solchen Bürgerkrieg in Paris führen könnte. Und wenn Preußen sich einmischen wollte, bitte machen Sie es zu keinem Krieg.

Wir können Ihnen aber nur anbieten, über den Frieden zu verhandeln und zu lehren, was Menschlichkeit und Frieden bedeutet. Den Frieden bringen, das obliegt uns jedoch nicht alleine. Da werden Sie sich sicher eher mit Rädelsführern und politischen Größen auseinandersetzen müssen. Die Personen, die ich Ihnen raten kann, habe ich Ihnen gesagt."


Der Erzbischof stand schlussendlich wieder auf und trat hinter seinen Sessel sich darauf abstützend. Er schwieg eine Weile und blickte Carl eine Weile an, seine Züge, die sich zwischendrin erhärtet hatte, wurden wieder weicher.
"Man sieht es deutlich, nicht wahr? Wahrscheinlich ist es ein Nierenleiden, ja. Vielleicht Nierenkrebs, ein Tumor in der Niere. Aber nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssten. Ich danken Ihnen jedoch für das Angebot."
Es war deutlich, dass es nicht das Thema war, über das er gerne sprechen mochte.
 1. Vorfrieden von Versailles (http://de.wikipedia.org/wiki/Vorfrieden_von_Versailles)
avatar Sébastien Moreau 25.Jan.2015 08:01
Sébastien machte sich nach seiner Schicht durchaus beschwingten Schrittes auf den Weg zu seiner Verabredung mit Alfred Nobel, unterdessen er eine Zigarette rauchte, die einer seiner Kollegen ihm zugesteckt hatte. Der bereits zur Neige gehende Tag war ein anstrengender gewesen, aber die Vorfreude auf den kommenden Kirchgang, der noch vor ihm lag, gab dem jungen Tischler neue Kraft. Der Gedanke daran, Erzbischof Darboy mitten aus der Messe zu entführen, versetzte ihn immerhin in kribbelnde Aufregung. Er gedachte durchaus, den Austausch gegen Louis Blanqui durchzuführen, sofern seine Freunde und er sich darüber auch noch  einig waren, nachdem sie sich über die Lavalles ausgesprochen hatten.
Blanc hatte versucht, Sébastien davon abzubringen, Blanqui befreien zu wollen. Zweifel hatten besonders Achille und Nobel säen können, aber das betraf hauptsächlich die Beweggründe, die das mysteriöse Ehepaar Lavalle haben mochte. Blanqui traute er immer noch zu, die Wahl für sich entscheiden und die Arbeiter einen zu können. Das war der Plan. Ein Massaker hatte der junge Arbeiter dabei gewiss nicht im Sinn.
Die Frage war momentan, was genau François mit den Lavalles ausgehandelt hatte. Was versprachen die Lavalles sich von der Entführung des Pfaffen, wenn zumindest der alte, (sofern Archilles Beschreibung zutraf) hässliche Gatte der rothaarigen Schönheit Blanqui schon einmal verraten hatte? Dies war ein Punkt, den Sébastien auf jeden Fall noch einmal anzusprechen gedachte, wenn sie sich gleich unterhielten.

Sébastien erkannte, dass Alfred Nobel schon auf ihn wartete. Eigentlich war es ein wenig kurios, dass gerade sie sich trafen. Nobel war kein Arbeiter. Er war noch nicht einmal Franzose. Im Grunde konnten er und Sébastien, was ihren Hintergrund betraf, kaum verschiedener sein. Dennoch hatte er beschlossen, diesen Mann erst einmal nicht den ausbeutenden Aasgeiern zuzuordnen, die er in den Industriellen, auch seinen eigenen Vorarbeitern und seinem Arbeitgeber sah. Er versuchte, möglichst unvoreingenommen zu sein. Das fiel ihm nicht unbedingt leicht. Wie François und Nicodème wohl auf Sébastiens überraschenden Gast reagieren würden? Er war gespannt.

Als Sébastien sich einen Weg zu Alfreds Tisch bahnte, blieb sein Blick an einem auffälligen Hut hängen, der ihm ins Auge fiel. Er wusste, dass dieses Café wohl ein Treffpunkt für allerhand Künstler des Viertels, wie auch Archille einer war, sein mochte. Dieser Hutträger gehörte anscheinend zu der exzentrischeren Sorte. Komplett in Schwarz gehüllt, groß gewachsen, wie er war, und mit diesem Kalabreser auf dem Kopf, fiel er auf jeden Fall unter den anderen Gästen auf. Auch seine weibliche Tischgesellschaft schien der Meinung zu sein, dass der Mann nicht wirklich hierhingehörte. Sébastien glaubte sofort, diesen Kerl wiederzuerkennen. Dieser Hut und dieses Gesicht… War dieser Mann nicht auf in der Suppenküche dieses Deutschen Zeidler gewesen und hatte sich in die Diskussion eingemischt? Es schien ein interessanter Zufall zu sein, ihn wiederzutreffen. Sébastien maß dem im Moment keine höhere Bedeutung bei. Auch wenn es ihn aus reiner Neugier wohl interessieren würde, was dieser Kerl da so fleißig auf’s Papier bringen mochte, wandte Sébastien seinen Blick von ihm ab und befasste sich nun mit seinen eigenen Angelegenheiten.

Sébastien bot Nobel zur Begrüßung seine Hand an, die von den letzten Kämpfen und von der Arbeit der vergangenen Jahre und auch dieses Tages noch ihre Spuren trug.
„Guten Abend, Monsieur“, wünschte er lächelnd. „Freut mich, dass Sie gekommen sind. Wollen wir uns sofort auf den Weg machen?“
avatar Menthir 02.Mar.2015 11:03
An dieser Stelle setze der grauhaarige Mann den Stift ab, rieb sich die Augen und setzte seinen Zwicker wieder auf, jenen Zwicker, der zu seinem Markenzeichen geworden war und der für ihn und für andere seine eigene Bildung, seinen historischen Forschungsdrang und seine politischen Leitlinien symbolisierte. Jenen Zwicker, den er in all den Wirren der Zeit getragen hatte, durch die er Leid und Freude, Sieg und Niederlage gesehen hatte, und durch die er sie zu beschreiben gedachte. Er blickte auf die knittrigen Schmierzettel vor sich, die Gedächtniskrücken waren und die wahren Geschehnisse beinhalteten, die kalten und nackten Fakten. Talleyrand[1], sein Förderer, hatte ihm zwei Dinge gelehrt. Dass Geschichten immer besser im Menschen wirkten als Fakten, und dass Verrat nur eine Frage der Zeit sei. Der Gedanke an den zweiten Satz ließ den grauhaarigen Mann zu dem Geschriebenen greifen und es erweckte Unmut in ihm. Am liebsten hätte er es zerrissen und in den kleinen, gegossenen Werkstattofen geworfen, der ihm an diesen regnerischen Tagen den Pelz wärmte.

Aber er tat es nicht, da er wusste, dass er beobachtet wurde. "Wieso schreibst du an dieser Geschichte? Solltest du nicht deine Korrespondenzen für Monsieur Lévys[2] Occupation et libération du territoire, 1871–1873 fertigstellen?" Wie immer wirkte die Stimme der Vernunft im Hintergrund, und sie hatte wie so häufig einen weiblichen, oder wenn er wütend war, weibischen Klang. Seine Frau war jedoch eine treue Seele, und sie hatte recht, an diesem Tag wirkte ihre Stimme weiblich. Er nahm den Zwicker kurz ab, um sich die Hand müde durch das Gesicht zu führen. "Adolphe, kräme dich nicht, diese Geschichte heute nicht zuende zu schreiben.", sagte die sanfte Stimme, deren Gestalt er nicht wahrnahm, weil sie am Türrahmen stand und Adolphe sich zu müde fühlte, sich überhaupt umzudrehen. "Ich weiß, der Stachel sitzt tief. Ich weiß, du willst verstehen, warum deine Feinde dazu kamen, so eine Sicht auf dich entwickelt zu haben, und dass du ihre Lebenslinien verschwimmen und in spannende Prosa setzen willst. Aber du bist ein Mann der Fakten und deine Partei braucht dich. Sie warten auf dich seit Patrice[3] gescheitert ist." Adolphe seufzte laut genug, dass seine Ehegattin das hören konnte, als wäre er dieser Diskussion müde. Diese setzte jedoch ungerührt fort. "Was willst du ihnen beweisen? Den Arbeitern? Den Adligen? Den Liberalen? Den Sozialisten? Den Monarchisten? Du brauchst nichts beweisen. Kein anderer Mann Frankreichs kann von sich sagen, als Sohn eines Schlossers angefangen zu haben und alle Geschichte Frankreichs seit den großen Revolutionen über die kleinen Revolutionen erlebt zu haben, fast alles davon mitgeprägt zu haben, als Historiker und als Mensch in der Zeit. Du bist es schon, und eines Tages wird man deinen Rang in der Geschichte als Ikone des 19. Jahrhunderts anerkennen, als jemand, der die großen Ideen der großen Revolution endlich umsetzte und Frankreich endgültig in die Republik führte! Aber dieses Mannes wird man sich wegen seiner Taten und seiner historischen Werke erinnern, und nicht aufgrund pseudo-realer Geschichtchen in der Zeit der Pariser Kommune, in der mein Mann versucht auf spielerische Weise mit seinen Feinden abzurechnen...Komm, Adolphe. Deine Freunde warten unten. Sie wollen reden. Noch ein Wahlkampf, Adolphe. Zeig Frankreich noch einmal, dass du seine prägende Figur bist!"

Adolphe seufzte abermals, und setzte dann seinen Zwicker auf. Er war irgendwie müde. Müder als sonst und irgendwas in seinen Knochen sagte ihm, dass wenn er jetzt nicht die Geschichte um Carl von Lütjenburg, Alfred Nobel, Paul Zeidler und Sébastien Moreau fortsetzte, dass er sie möglicherweise nie wieder anrühren würde, weil das Leben anderes plante. Er war immerhin 80 Jahre alt. Wie lange würde ihm sein Körper nach lassen. War es da nicht besser, doch den Worten seiner Frau zu folgen? Ja, Patrice war gescheitert. Auf den Straßen riefen sie seinen Namen. Jeder erinnerte sich seiner Opfer. Jeder erinnerte sich der vielen Toten in Paris im Jahre 1871. Jeder wusste, dass er es nicht gern getan hatte. Und doch...
Seine Hand griff zum Stift. Er musste es sich von der Seele schreiben, wie viele Menschen aufgrund seiner Entscheidungen drangsaliert, brutal getötet und gequält worden sind, und alles im Namen der Republik.

Der Stift tauchte in das Tintenfässchen, er löschte die übermäßige Tinte, zog die Stirn in Gedanken kraus und überlegte die erste Formulierung. Doch gerade als der Tintenstift auf das Papier traf und den ersten königsblauen Klecks hinterließ, fuhr er zusammen und stieß das Tintenfass um, als die alte, faltige Hand seiner Frau ihn am Arme berührte und sie sich beide ihres Alters bewusst wurden. "Adolphe...", sagte sie, ihn gleichsam erinnernd und ermahnend. Adolphe Thiers beobachtete, wie die Tinte auf dem Stück Papier entlanglief und ein Teil seines Geschriebenen verdeckte und ertränkte.

Man würde sich alles an ihn erinnern, aber njcht dafür, dass er diese Geschichte zuende schrieb. Enttäuscht und sich in sein Schicksal fügend stand Adolphe auf. Wehmütig blickte er auf den königsblauen Tintensee zurück, während seine Frau ihn zu seinen Gästen führte. Jene Politiker, die sich erhofften, dass in diesem schicksalshaften Jahr Adolphe Thiers noch einmal die Kohlen für sie aus dem Feuer holte. Da konnte noch niemand ahnen, dass Adolphe Thiers nicht einmal mehr das Ende des Wahlkampfes erreichen würde.

Und so blieb die Geschichte der Pariser Kommune, um Alfred, Carl, Paul und Sébastien unvollendet, weil andere Pflichten riefen...
 1. Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (http://de.wikipedia.org/wiki/Charles-Maurice_de_Talleyrand-P%C3%A9rigord) - Der wahrlich berühmteste Diplomat Frankreichs, der für eine Vielzahl politischer Bonmots gesorgt hat.
 2. Gemeint ist hier wahrscheinlich weniger einer der beiden Levybrüder selbst, sondern der von diesen gegründete Verlag Calmann-Lévy (http://en.wikipedia.org/wiki/Calmann-L%C3%A9vy), einer der renommiertesten zu der Zeit.
 3. Gemeint ist der zweite Präsident der Dritten Republik Marie Edme Patrice Maurice, Graf von Mac-Mahon (http://de.wikipedia.org/wiki/Patrice_de_Mac-Mahon)