(sowohl Feind als auch Freund, obwohl beide die Feindschaft leichter zugeben würden als die Freundschaft), war vor der Apokalypse Wills Erzrivale: ebenfalls Schauspieler und Schreiber, etwas älter, etwas erfolgreicher/populärer... und sehr harsch in seiner Kritik von Wills Stücken. Bei aller Rivalität hatten die beiden aber auch einige freundschaftliche Momente und hegten großen, wenn auch grollenden, Respekt vor einander. An Ben Heywood misst Will oft das eigene Können.
Ben ist Verfasser von drei der Stücke aus Wills oben beschriebenem aktiven Repertoire.
Ben Heywoods "Gegenrede" (Anzeigen)
bestehend aus einer (wie ein Buch) in der Mitte zusammengefalteten, eng bedruckten Doppelseite, mit dem vollen Titel:
Gegenrede gegen all jene, die behaupten, es sei unmöglich ein großer Poet zu werden, ohne zuvor ein guter Mensch zu sein: am Beispiel William Marlowes.
Nichts hat in jüngster Zeit die Theaterfreunde unserer Stadt in derartige Aufregung versetzt wie vor zwei Monaten die Verhaftung—vor zwei Wochen dann die Verurteilung—William Marlowes wegen Vergewaltigung, begangen an einer ehrbaren Bürgerstochter. Es hat die grundsätzliche Frage aufgeworfen, die seitdem heiß diskutiert wird: Kann ein schlechter Mensch trotzdem ein guter Dichter sein? Diejenigen, die dies verneinen (gemäß der vor einem Jahrtausend von Patrizius von Samaris begründeten philosophischen Tradition), fordern, dass jegliche Aufführung von Marlowes Stücken verboten wird. Die fanatischsten dieser Stimmen verlangen gar, alle gedruckten und handkopierten Fassungen seiner Texte zu verbrennen. Ich will im folgenden zeigen, dass es wichtig und in unserem eigenen Interesse ist, in diesem Fall aber auch in zukünftigen streng zwischen dem Dichter und seinem Werk zu trennen. Marlowes Charakter und seine Laster als Maßstab erheben zu wollen, an dem seine Stücke gemessen werden, ist so falsch und so kurzsichtig, dass mein Blut in Wallung gerät und ich mich zusammenreißen muss, um kühl und sachlich zu bleiben.
Was wird William Marlowe nun eigentlich zur Last gelegt, das ein solch vernichtendes Urteil—das schlimmste, was über einen Dichter verhängt werden kann, schlimmer als Tod und Folter—rechtfertigen würde? Dies ist zum einen das Verbrechen, für das er verurteilt wurde, zum anderen aber sein Charakter, der allgemein als lasterhaft angesehen wird, und zum letzten seine niedere Geburt. Ich werde die drei Punkte nacheinander durchgehen.
Die Details des Gerichtsprozesses sind hinreichend bekannt, ich darf aber trotzdem meine Sicht der Dinge kurz zusammenfassen. Nachdem Marlowe während der ersten Verhandlungstage vehement leugnete, der sechzehnjährigen, im sechsten Monat vom ihm schwangeren Viola Alberti gegen ihren Willen beigewohnt zu haben (worauf das Verfahren, ohne öffentliche Begründung, für eine Woche unterbrochen wurde, in welcher niemand den Angeklagten zu Gesicht bekam), gestand er vor zwei Wochen überraschend, dass er sich, betrunken und daher ihre Abwehr als Leidenschaft missverstehend, tatsächlich in der ihm zur Last gelegten Weise an dem unschuldigen jungen Ding vergangen habe. Das Urteil fiel recht milde aus: drei Jahre Zwangsarbeit in einem Steinbruch—gefordert hatte die Anklage ursprünglich zehn Jahre in den Minen; verlangt hätte das Gesetz, ohne Einberechnung mildernder Umstände, acht. Soweit die Fakten, welche seitdem ebenfalls heiß diskutiert werden, die ich aber unkommentiert lassen will, weil sie mir zum einen für sich selbst zu sprechen scheinen, zum anderen für meine weitere Argumentation ohne Bedeutung sind.
Ob ich ihn denn für schuldig halte, wurde ich oft gefragt und werde es noch. Auch das tut nichts zur Sache. Ich habe genug von Marlowes Charakter gesehen um zu wissen, dass er, selbst wenn unschuldig in dieser einen Angelegenheit, aus Sicht des Bürgers oder gar des Klerus niemals als ein guter Mensch gelten kann. Das folgende sei nur ein Auszug aus dem Sündenregister des Mannes, wovon ich alles mit eigenen Augen bezeugen durfte: er war ein Blasphemist, ein Aufrührer und Unruhestifter, ein Spieler und Hurenbock, er verkehrte in den billigsten Kaschemmen, wo er gern Streit suchte, welcher oft genug mit den Fäusten 'beigelegt' wurde. Er verkehrte mit dem niedersten Pöbel, trank, lachte, erzählte die derbesten Späße, und gab sich in seinem ganzen Wesen so, wie ihm nun lauthals und von allen Seiten vorgeworfen wird: zügellos, lasterhaft, überheblich, ohne jegliche Schamgrenze oder sittliches Empfinden. Er selbst erzählte mir folgendes: dass er ein Bastard sei, ausgesetzt von der wohl unverheirateten Mutter, die ihn während einer Theatervorstellung gebar, unter den Rängen, wohl damit der Lärm ihre Schmerzensschreie überdecke, und ihn hinterher wie Abfall dort liegen ließ. Bei den Aufräumarbeiten sei er dann gefunden worden, worauf die Theatertruppe, nachdem die notwendige Umfrage und Ermittlung kein Ergebnis brachte, ihn liebend aufgenommen habe. Marlowe lachte, während er mir dies schilderte: ein ehrliches, glückliches Lachen. Ich bin mir sicher, dass er ohne Zögern den Worten Bruder Geoffreys zugestimmt hätte, die dieser anlässlich der Verhaftung schrieb: "Was für ein Mensch ist nun dieser Marlowe? Geboren aus der Gosse, besitzt er die Hybris, sich emporschwingen zu wollen in den Kreis unserer erhabensten Geister: Poeten vom Schlage Valdesas, Bartons oder Schellings. Poesie aber gehört in die Hände von solch edlen Menschen wie diese es waren; niederer Pöbel wie Marlowe soll gefälligst die Finger von ihr lassen, auf dass diese aristokratische Kunst nicht besudelt werde. So wie Marlowe, als bloßer Mensch, nach den Sternen greift, die den Göttern vorbehalten sind: das allein ist schon Blasphemie."
Dies ist die Seite Marlowes, die seine Richter und Ankläger kennen. Ich aber kenne auch die Kehrseite davon—oder vielmehr würde ich das, was ich oben schrieb, als die Kehrseite bezeichnen, und das folgende als seine eigentliche. Ich darf dies mit einiger Glaubwürdigkeit behaupten, denn mich verbindet zwar eine langjährige Bekanntschaft mit dem Mann, aber keine Freundschaft, sondern vielmehr ein auf beiden Seiten gnadenlos geführter Konkurrenzkampf. Wenn ich also jetzt zum ersten Mal meine Stimme als sein Freund und Bewunderer erhebe, so hoffe ich, dass dieser Umstand allein meinen Worten Nachdruck verleiht.
Wie also sieht die andere Seite des Mannes aus? Er liebte die Kunst über alles, war unermüdlich in seiner Arbeit, gewissenhaft in seiner Recherche, großzügig in seiner Unterstützung jüngerer Talente oder auch seiner Dichterkollegen, auf der Bühne wie in der Schreibstube gab er stets alles von sich, hielt nichts zurück, gab alles für die Truppe, stellte niemals—bei aller offensichtlichen Selbstverliebtheit—sich selbst über die Truppe, niemals das eigene Wohl über das Gemeinwohl. Bei seiner Arbeit ersparte er sich nichts, kein Aspekt davon war ihm zu mühsam oder unter seiner Würde. Nach einem Arbeitstag von sechzehn Stunden hatte er noch ein freundliches Wort übrig für die Hilfskräfte, die nach der Vorstellung den Dreck wegräumen mussten, packte selbst da mit an, war einmal Not am Manne. Er ersparte sich absolut nichts, hätte alles der Kunst geopfert. Wenn je ein Mann zum Poeten geboren wurde, dann William Marlowe. Zida lachte vor Freude, als dieser Mann geboren wurde! Vielleicht hat der kindliche Gott die Schritte der Mutter gar in das Theater gelenkt, damit Will dort geboren werde, wo er allein sein Glück und sein Zuhause finden konnte. Man stelle sich vor, er wäre als Sohn eines Schusters oder Bäckers aufgewachsen!
Wenn ich jetzt doch der Worte viele über den Mann verliere, dann weil seine Verse für sich sprechen. Niederknien will man und ausrufen: Welch Wortgewalt! Welch Schönheit, Wahrheit, Leidenschaft, in einem Wort: welch Poesie! So arrogant wir Dichter auch manchmal erscheinen, wir selbst sehen uns im Hintergrund, im Schatten unseres Werkes: es allein zählt! Wenn man aber den Mann hinter Marlowes Werk nun unbedingt betrachten will: muss man ihn nicht umso mehr bewundern, dass er solch göttliche Verse verfassen konnte, trotz einer Schulbildung, die aus fünf Jahren in einer Armenschule bestand? Ist es nicht vielmehr der pure Neid, wenn jemand die niedere Herkunft des Mannes als Anklage gegen sein Werk heranzieht? Neidisch ist man auf ihn! Neider sind all jene, die mit ihrer teuren Bildung, mit Akademie und Universität, nicht einen Bruchteil von dem zustande gebracht haben, was Marlowe allein mit seinem Ehrgeiz, Fleiß und Talent vermochte.
Auch sein Charakter—oder Mangel daran—kann nicht als Argument gegen die Qualität seiner Dichtkunst herangezogen werden. Warum streben seine Figuren so ergreifend, so überzeugend nach Höherem? Weil auch er nach Höherem strebte! Warum lieben und leiden sie so mitreißend, so herzzerreißend? Weil auch ihr Schöpfer stets mit ganzem Herzen liebt und leidet. Warum sind sie so furchterregend in ihrem Zorn, so unerbittlich in ihrem Hass? Weil auch Wills Hass und sein Zorn zum Fürchten sein können. Er ist ein Mann, der seine Leidenschaft wie einen teuren Mantel trägt: zum Schutz, zur Zierde, ungeniert und mit Selbstbewusstsein. Wie sollte es anders sein? Wie könnte ein Poet uns die Abgründe der menschlichen Seele zeigen, der diese Abgründe nicht kennt? Und so endet Wills eigene Geschichte wie die seiner Helden: mit einem Sturz aus schwindelerregender Höhe in die tiefsten Tiefen.
Ich habe geweint, als ich von dem Urteil erfuhr. Ausgerufen auf der Straße, dass die Leute sich irritiert nach mir umdrehten: 'Oh, Zida, steh uns bei, was für ein schwarzer Tag für uns alle!'
Etwas gefasster will ich jetzt beschwörend hinzufügen: Lasst uns nicht das Werk des Mannes für sein Verbrechen, für seinen Fehltritt ebenfalls verdammen! Es allein zählt! Die Schönheit und Wahrheit seiner Verse: allein die Verse geben davon Zeugnis. Was sie in uns erwecken—das Mitgefühl, die Liebe, das Staunen, die Ergriffenheit—das ist echt und ehrlich und, das glaub ich gewiss, Zidas Geschenk an uns.
Wenn wir Marlowes Stücke von unseren Bühnen verbannen—ob per Gesetz oder selbstauferlegter Zensur—schaden wir nur uns selbst. Unsere Theaterkultur würde einer ihrer faszinierendsten, ehrlichsten und mutigsten Stimmen beraubt. Den Mann Marlowe kann man lieben oder hassen—oder, wie ich, lieben und hassen zugleich—sein Werk aber, sein Werk muss man gesehen haben.
Und wer es mir noch immer nicht glaubt, dem sage ich: ein Dichter lebt nur zu einem Teil in der Welt, zum anderen, vielleicht größerem Teil aber in seinen Gedanken. In seinen Gedanken jedoch kann er so edel sein wie er es sich erträumt. In seinen Gedanken kann er ein guter Mensch sein, egal wie er nach außen auftritt oder erscheint. Man möge den Mann nach seinen Taten als Mann beurteilen—mit meinem Segen!—das Werk aber einzig nach den Maßstäben der Kunst.
(Feind), auch genannt "Elf mal F" - Halbelf (eigentlich nur ein "Viertelelf": seine Mutter war Halbelfe) und Verfasser von naiv-frommen Stücken, die meist das Leben irgendeines Heiligen oder berühmten frommen Helden schildern, auf äußerst beschönigende Art. Die Guten sind immer engelsgleich gut, die Bösen abgrundtief böse (und heißen auffallend oft William.) Die Verse sind dabei so holprig, dass die Schauspieler richtig Mühe haben, sie auswendig zu lernen. Will hat einmal, in der Rolle des frommen Bruder Anselm, seine Zeilen geglättet und verbessert, indem er hier und da ein paar Wörter oder Silben verdreht oder verfremdet hat, wodurch die Verse elegant, eloquent, auch melodisch perfekt von der Zunge perlten - und auf mal subtile, mal ganz ungenierte Art doppeldeutig und anzüglich wurden. Eine Woche lang hat Will damit das Publikum zum Lachen gebracht - es gab Ohnmachtsanfälle, wenn einer Dame im Gedränge vor Lachen die Luft wegblieb - bis Fletcher ihm die Zensur auf den Hals hetzte (nebst einer Anzeige wegen Blasphemie). Doch Will bekam rechtzeitig einen Tipp (er hatte einen Bewunderer unter den Zensoren, oder vielmehr Zensorentöchtern) und trug darauf Fletchers Zeilen vor, wie dieser sie geschrieben hat - sehr zum Bedauern des Publikums.
genannt, das steht für: der fanatisch fastende, fehlerfrei frömmelnde, fieberhaft faselnde Versverdreher Francis Philip Fletcher (die Attribute variieren, je nachdem, wen man fragt, oder wieviel dieser an dem Abend schon getrunken hat, und ob er in dieser Verfassung überhaupt noch richtig zählen und buchstabieren kann.) Der ursprüngliche Anlass war, dass Fletcher einmal (und er war sehr stolz darauf) eine Alliteration bestehend aus elf mit F beginnenden Silben in einem Alexandriner (Verszeile aus 12 bis 13 Silben) unterbrachte. Ben (Heywood) und Will traten darauf, an einem weinseligen, vergnüglichen und ungewohnt einträchtigen Abend im Bordell sofort in einen Wettstreit, wer von ihnen als erster elf Silben mit F in einem Endecasillabo (elfsilbiger Vers) unterbringen könnte. Es zählte nicht nur die Geschwindigkeit, die anwesenden Damen bewerteten auch, welcher Vers ihnen am besten gefiel und ob dieser überhaupt noch einen Sinn ergab. Ben machte das Rennen. (Da Ben wesentlich besser betucht war als Will, konnte er bei den Damen auch immer etwas großzügiger sein als dieser - so erklärt Will sich die Niederlage.)