"Na die Gazette!" antwortete der Junge, als würde das irgendetwas beantworten. Als er die verständnislosen Blicke Jelenas und der anderen bemerkte, fügte er langsam und laut hinzu: "Die ZEITUNG! Das Neueste vom Tage. Nur 10 Kreuzer."
Jelena, nun neugierig geworden, drückte dem Jungen die Münzen in die Hand und nahm sich eins der Exemplare. Direkt sprangen ihr die Worte:
"Das Turnier! Kunst oder Obszönität?"
in überdimensionalen Lettern ins Auge, untertitelt in kleineren Buchstaben mit:
"Handel und Gastronomie freuen sich über das Geld der Reisenden, doch es gibt auch kritische Stimmen: Zieht ein solches Waffenspektakel die Opfer des Krieges in den Schmutz?"
Offenbar enthielt das Blatt Bekanntmachungen aktueller Ereignisse - so etwas kannte die eine oder der andere in Form von Flugblättern. Dies hier schien jedoch etwas anderes zu sein: Eine Mischung aus Bekanntmachung und Kommentar. Außerdem enthielt das Blatt noch deutlich mehr Artikel als nur diesen einen, es füllte einige Seiten.
Plötzlich jedoch fiel Jelenas Blick auf etwas, was ihr unglaublich erschien:
"Träger Träge: Warum die Zeit reif ist für einen neuen Eisenfürsten."
Unter dieser Überschrift folgte ein langer Kommentar, in dem der Autor ausführlich darlegte, weshalb Niklas Träge einen miserablen Job bei der Administration Freiburgs machte und warum jeder Tag, an dem Träge im Amt verblieb, das Scheitern Freiburgs wahrscheinlicher machte. Sofort blickte Jelena sich um und erwartete, dass jeden Moment eine Einheit der Stadtwache das Gebäude umstellen würde, doch nichts dergleichen deutete sich an. Viele Bürger lasen hie und da in der Zeitung, doch niemand wirkte, als hätte er ein Problem mit einem solch verräterischen Pamphlet. Und dort: Da standen zwei Gardisten; einer der beiden deutete grinsend auf die Zeitung!
In fast jeder anderen Stadt Théahs, da war Jelena sich sicher, würde ein solches Machwerk mit Hochverrat gleichgesetzt und längst hätte die Armee das Gebäude besetzt und jeden, der dort arbeitete, in den Kerker geworfen. Wusste der Eisenfürst etwa überhaupt nichts davon?
Nachdem sie den Schock einigermaßen überwunden hatte, überflog Jelena kurz die anderen Überschriften. Vieles davon waren kurze Abschnitte, die ein bestimmtes Produkt oder einen Laden über alle Maßen lobten. Auch das erschien Jelena merkwürdig, doch sie vermutete, dass jemand dafür bezahlte, dass ein solcher Artikel erschien. Andere waren eher von lokalem Interesse und berichteten beispielsweise von einem entlaufenen Hund, der glücklicherweise und durch die "heldenhafte" Mithilfe eines Mitbürgers wieder seinen Weg nach Hause gefunden hatte, oder vom sechzigsten Geburtstag, den ein respektiertes Mitglied der Gesellschaft feierte.
Ein paar der Artikel fielen der Ussurerin ins Auge: Im Wirtschaftsteil war von heftigen Kontroversen die Rede, da die atabische Handelskompanie Sklaven in die Stadt importieren wollte. Im Wissenschaftsteil wurde von Drohungen gegen die Universität gesprochen, die in den Wahrheitspapieren einen allzu häretischen Artikel veröffentlicht haben solle. Und der Kulturteil berichtete außer über das Turnier auch über das neue Stück Jean Lemaires, das im Sylvester Schauspielhaus seine Premiere hatte.
Da weder Allegra noch die andere Gruppe sich so aufdringlich zeigten, sich in die jeweils anderen Angelegenheiten einzumischen, verging der Rest der Anprobe ohne Zwischenfälle. Die Garderobe für Katharina, Louis und Friedrich saß bereits bei der ersten Anprobe beinahe perfekt und es waren nur minimale Anpassungen seitens des Meisters fällig. Auch Valdas konnte schnell bedient werden, denn tatsächlich befand sich ein Anzug im Fundus Camp-Champs, der dem Samarter nicht nur passte, sondern auch hervorragend stand und für den anstehenden Empfang keineswegs unstandesgemäß sein würde.
Nachdem die vier das Geschäft verlassen hatten, widmete sich Camp-Champ den Rest des Abends über dem Kleid für Allegra, die es tatsächlich vorgezogen hatte, das Ergebnis abzuwarten (da sie ohnehin nichts anderes zu tun hatte). Der Vorteil davon war, dass sie immer wieder zur Stelle war, um dem Meister als Modell zu dienen, während er die Stoffe perfekt an ihre Figur anpasste. Das Ergebnis, das sich nach mehreren Stunden kreativer Explosivität einstellte, war, wie selbst Allegra selbst zugeben musste, famos. Selbst sie, die der Auftakelei zu gesellschaftlichen Ereignissen gewöhnlich nicht viel abgewinnen konnte, war beinahe sprachlos, als sie ihr Spiegelbild betrachtete.
Nun, Signora de la Castell würde zufrieden sein, daran hatte sie keine Zweifel.
Nach einem Schwall an Komplimenten seitens des Meisters und mindestens genau so vieler Aufforderungen, Madame de Castell zu grüßen (und daran zu erinnern, welch großartigen Dienst er ihr wieder einmal geleistet hatte), trat Allegra schließlich aus dem Geschäft und machte sich auf den Weg zu ihrem neuen Zuhause (selbstverständlich begleitet vom Meister selbst, der sie nun, da die Dämmerung bereits angebrochen war, natürlich nicht alleine gehen ließ).
~~~
Auf Seiten der Vierergruppe stand nach ihrer Rückkehr ins Gasthaus noch ein weiterer nächtlicher Termin an, denn wenn sie die Signale nicht missverstanden hatten, wollte sich in dieser Nacht womöglich Valerija mit ihnen treffen, die Assistentin Fahrenbachs. Es war zwar alles andere als klar, ob hier tatsächlich etwas mit unlauteren Dingen vorging, doch Louis ließ sich nicht davon abbringen, einer Dame, die womöglich in Not sein könnte, zu helfen.
Des Nachts bezogen sie also in der Nähe von Fahrenbachs Anwesen Stellung und hielten Ausschau nach irgendwelchen Anzeichen, die auf Valerija hindeuten konnten. Lange warteten sie dort, eine Stunde, zwei, und mehr und mehr stellte sich die Überzeugung ein, dass sie (und besonders Louis) zu viel in Valerijas Worte hineininterpretiert hatten.
Doch plötzlich, als sie beinahe schon aufgeben wollten und nur dank Louis' Zurede noch weiter ausharrten, landete plötzlich etwas nur wenige Meter von ihnen entfernt in den Büschen. Es war Katharina, die Louis noch zuvorkam und den Gegenstand aufhob, der sich als Stein entpuppte - jedoch umwickelt mit einer Nachricht!
Ich kann heute nicht sprechen. Trefft mich morgen des Nachts um drei Uhr auf dem alten Nachtblutfriedhof.
- Valerija
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Nicht viel passierte am nächsten Tag, als beide Parteien sich nervös auf den Empfang vorbereiteten, von dem sie nicht wirklich wussten, was sie dort erwarten würde. Friedrich, Louis, Valdas und Katharina hatten einiges an Schlaf nachzuholen und trafen erst spät zum Frühstück im Schankraum zusammen, doch es waren immer noch etliche Stunden, bis sie aufbrechen mussten. Allegra hingegen versuchte sich noch einmal zu vergegenwärtigen, wie die eisenländischen Sitten bei einem solchem Empfang aussahen. Von ihrer Herrin sah sie den gesamten Tag nichts.
So wurde es Abend und die Stunde des Empfangs schlug. Pünktlich (also deutlich vor dem Termin) erschienen die vier Gäste und wurden bereits von der beleibten Figur Achim zu Castells erwartet, der ebenfalls einen nervösen Eindruck machte. Achim war allein erschienen, was in Anbetracht dessen, was sie von seiner Mutter bisher gehört hatten, vermutlich die richtige Entscheidung war. Dennoch waren sie gespannt darauf, wie sie von ihr empfangen werden würden.
Der erste Schock erwartete sie, als sie den Salon betraten, in dem der Empfang offensichtlich stattfinden würde - denn es versprach, eine sehr private Veranstaltung zu werden. Zwar wurden von Dienern Häppchen und Getränke gereicht, doch der einzige andere Gast außer ihnen schien eine junge Frau zu sein - die Louis mehrfach mustern musste, bevor er erkannte, dass er sie am vorherigen Tag bei Mr. Camp-Champ bereits schon einmal gesehen hatte (kaum wiederzuerkennen in dem Meisterwerk, dass dieser ihr auf den Leib geschneidert hatte).
"Achim!" ertönte die schneidende Stimme der Hausherrin. Ohne eine Spur von Lächeln, weder im Gesicht noch in der Stimme, fuhr Gitta zu Castell fort: "Ich sehe, du bist ohne deinen speziellen Freund gekommen, wie schön. Ich vermute, das heißt, du willst etwas von mir haben. Und ich nehme es, es hat etwas mit diesen Leuten zu tun, die du mich hast einladen lassen. Du hast es zumindest geschafft, dass ich neugierig bin. Also, was willst du und was wollen diese Leute von mir?"
Überrascht, nein vor den Kopf gestoßen taumelte Louis einen Schritt zurück. Er hatte viel, oder eher wenig, vom eisenländischen Adel erwartet. Aber ein solches Fehlen jeglicher Diplomatie? Es würde ein schwieriger Abend werden, soviel stand für ihn fest.
Währenddessen bemühte sich ihr Fürsprecher, es zumindest nicht schlimmer zu machen: "Mutter, mir ist bewusst, dass du mich und vor allem meinen Lebenswandel kaum ertragen kannst. Doch ich bitte dich, hör diesen Leuten zu. Hier geht es um etwas Größeres als um mich und Walter. Mach sie nicht für etwas verantwortlich, was mir zuzuschreiben ist."
Leicht zuckte er zusammen, als er merkte, dass die Nennung des Namens Walter ihm wohl keine Pluspunkte bringen würde. Doch dann sprach er seine vier Gäste an: "Ich bitte euch, sprecht selbst für euch und eure Sache."