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Razzy versuchte sich dem Reh so lautlos wie möglich zu nähern, damit er es erlegen und endlich zu den andern zurückkehren konnte. Der Langzahnwandler war 20 Jahre alt, und vor einigen Monaten hatte er sich entschlossen, seiner immerwährenden Sehnsucht nachzugeben und das Eldeenreich zu verlassen, um endlich die Welt erobern zu können. Sein Rudel war von diesem Vorhaben ganz und gar nicht begeistert, aber jetzt schien es ihm der perfekte Zeitpunkt zu sein. Razzy, der eigentlich Raszpard Scharfklang hieß, wuchs Nahe der Siedlung Grünklinge auf, und war folglich stets enger mit der Zivilisation verbunden als viele andere Wandler, die tiefer in den Reichen beheimatet waren. Wie er mitbekommen hatte, war der große Krieg, der jenseits der Reiche tobte, vorbei, und so entschloss er sich, endlich den Kontinent unsicher zu machen, jetzt, wo vielerlei Gefahren gebannt schienen. Razzy glaubte fest an das Schicksal und war sich sicher, zu etwas besonderem ausgewählt zu sein. Etwas Besonderes aber konnte er hier in dieser abgeschiedenen Umgebung nicht erreichen. So sehr er seine Heimat liebte, er spürte, dass seine Zeit gekommen war, sie zu verlassen.
Heute Abend war sein Abschiedsfest, und während die anderen seines Rudels, darunter auch seine Eltern, die Feier vorbereiteten, wurde er fortgeschickt, um das heutige Festmahl zu erlegen. Hierbei handelte es sich um eine alte Familientradition und Razzy war stolz, dieses junge und doch wohlgenährte Reh ausgemacht zu haben. Er war nur noch einige Meter von ihm entfernt und seine messerscharfen Fangzähne waren bereit, sich durch die Kehle des Tieres zu graben.
Das Reh hob plötzlich erschrocken seinen Kopf und schaute dem Wandler in die Augen. Razzy sprang auf das Reh zu, doch das Reh war zu schnell…oder er zu langsam. Es verschwand panisch im Gebüsch. Razzy spuckte verärgert eine Ladung Erde aus, stand mürrisch auf und klopfte sich den Dreck von den Schultern. Verärgert drehte er sich um und wollte weiter ziehen, als…(sssssst)…etwas piekste Razzy in den Hals. Er wollte sich an seinen Hals schlagen, jedoch schaffte er es nicht, seinen Arm zu heben. Plötzlich fühlte er sich so schwach und es wurde ihm schwarz vor Augen. Er begann zu stolpern, und ging ruckartig in die Knie. Aus dem Stück Wald, in dem er eben noch auf das Reh gelauert hat, schritt ihm langsam eine große Silhouette entgegen. Das letzte was er wahrgenommen hatte, war der grelle Glanz der Sonne, der sich in der silbernen Rüstung der Figur spiegelte. Dann wurde es schwarz…
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Wie viel Zeit seit seinem letzten Tag in Freiheit vergangen war, konnte Razzy nicht abschätzen. Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war das Reh, das er so gerne zum Abschied für sein Rudel erlegt hätte, und dieses grelle, schon fast scheinheilige Blenden der silbernen Rüstung.
Razzy war einige Zeit später in einem Erdloch erwacht, er hatte kaum Platz, sich richtig aufzurichten, was ob seiner nicht gerade immensen Größe beachtlich war. Von Zeit zu Zeit wurde ihm etwas zu fressen vorgeworfen, wobei es sich meist um madiges Fleisch handelte und ab und zu ein paar vergammelte Rüben. Es war so still an diesem Ort, dass sich Razzy oftmals fragte, ob er überhaupt noch am leben war oder ob er vorzeitig in Dolurrh gelandet war. Viel unangenehmer als seine Gefangenschaft an sich waren jedoch die merkwürdigen Experimente, die mit ihm durchgeführt wurden. Hierbei gelang es ihm jedoch, ein genaues Bild seiner Peiniger zu erlangen. Es handelte sich hierbei um drei Menschen, zumindest bekam er nicht mehr zu Gesicht. Der eine, von dem er am häufigsten abgeholt wurde, stank Ekel erregend nach Weihrauch und ranziger Kokosnuss. Razzy vermutete, dass er sich seine kinnlangen, pechschwarzen Haare, die stets streng nach hinten geglättet waren, mit Kokosfett zuschmierte. Wie oft er diesen Geruch ertragen musste, bevor die schrecklichen Qualen und Peinigungen auf ihn warteten…er konnte es nicht sagen. Von dem Kokosnussmann, wie Razzy ihn in Gedanken immer nannte, hatte er zwei Tätowierungen erhalten. Eine, die Ziffer 5, auf seiner linken Hand, und eine an seinem Hals, von der er noch nicht wusste, wie sie aussah. Während der Mann die Tätowierungen anfertigte, fiel dem Wandler auf, dass ihm zwei Finger der rechten Hand fehlten. Die zweite Person, die er regelmäßig sah, war ein altes, hysterisches Weib, das den Kokosnussmann ab und an begleitete und geradezu anzubeten schien. Der Mann scheuchte sie oftmals durch die Gänge, um andere Werkzeuge für die Untersuchungen oder sonstigen Kram zu suchen. Die Gänge waren sehr düster und es sah aus wie in einer Katakombe. Der dritte Mensch schließlich schien eine Art Professor zu sein oder hielt sich zumindest für einen. Er hatte eine merkwürdige Tätowierung am Hals, die, wenn er sich aufregte oder nervös war, seltsam pulsierte. Er war sehr untersetzt, lispelte und nicht selten bekam Razzy während des Verhörs, das er mit ihm durchführte, die eine oder andere Ladung Spucke ab. Er war sich nicht sicher, ob dies Absicht war oder nicht. Belustigend fand er es trotzdem. Der Wandler bekam im Laufe seines Aufenthalts regelmäßig verschiedene Hautpartien abgetragen, die anschließend in Reagenzgläser eingelegt wurden. Außerdem wurden ihm einige seiner Krallen gezogen und einige Kubikzentimeter Fleisch amputiert. Natürlich schrie Razzy vor Schmerzen und Wut, fauchte seine Peiniger an, die oft wie zu Tode erschrocken einige Meter zurücksprangen, jedoch half alles nichts. Er musste die qualvollen Prozeduren über sich ergehen lassen, um anschließend wieder in sein Lock zurückgeworfen zu werden.
Man könnte meinen, Razzy sei in dieser fürchterlichen Lage verzweifelt oder wahnsinnig geworden, und mit Sicherheit wäre es bei vielen anderen so gewesen. Nicht aber bei Razzy. Er verlor nie seinen Glauben an sein Schicksal, dass er etwas Besonderes sei, dass er optimistisch sein würde, und dass er den Kontinent bereisen würde. An diese Hoffnungen klammerte er sich, zeichnete mit seinen Krallen Wälder und Schlösser an die Wand seines Loches, und malte sich aus, wie es nun wäre, in die Sonne zu blinzeln und tief durchzu…Rauch! Es brannte! Razzy roch es zunächst nur, doch kurze Zeit später erkannte er flackernte Lichteinfälle, die in sein Erdloch schienen und von Qualm getrübt wurden. Er schrie um Hilfe, versuchte wieder und wieder die Luke aufzustoßen, schlug mit seinen Krallen gegen die Wände und versuchte sich durch den Boden zu beißen…Alles zwecklos, wie schon so oft zuvor. Nicht lange hielt er diesem Tobsuchtsanfall stand, bevor er in die Besinnungslosigkeit überschritt.
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Als Razzy erwachte, fühlte er sich sofort wohlig erholt und so gut wie schon Jahrzehnte nicht mehr…so kam es ihm zumindest vor. Noch bevor er die Augen öffnete, hörte er ein plötzliches geschäftiges Treiben um ihn herum. „Er erwacht! Er erwacht! Ruft sofort den Kardinal!“
Er öffnete langsam die Augen und blickte an sich herunter. Er lag in einem breiten Bett, zugedeckt mit feinsten Federdecken, und der Raum in dem er lag, war wunderbar hergerichtet mit vielen Blumen. Um ihn herum rasten drei Halblinge umher, die aufgeregt durcheinander redeten. Er blickte auf die andere Seite des Zimmers, und sah drei weitere Betten mit drei weiteren Wandlern darinnen. Zwei von ihnen sahen ihn neugierig an, der andere schlief. Er versuchte sich aufzurichten, erkannte jedoch recht schnell, dass er noch viel zu schwach dafür war, verdrehte die Augen, fiel zurück in die federweichen Kissen und schlief wieder ein…Blumen, Luft und glitzernde Sonne…
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Razzy kam wieder langsam zu sich. Diesmal war es still um ihn herum, und er konnte sich allmählich an den Gedanken gewöhnen, wieder bei Bewusstsein zu sein. Er öffnete langsam seine Augen, die vom Schlaf verklebt waren. Er rieb sich einige Krümel aus den Augenfalten und betrachtete seine verkrüppelten Krallen. Fast hatte er geglaubt, alles sei nur ein Traum gewesen. Falsch gedacht.
Er erkannte plötzlich, dass jemand neben seinem Bett saß, und drehte sich langsam um. Es war ein menschlicher Priester, der Razzy mit einer gespannten Mine betrachtete. Er trug einen fein silbrig glänzenden Umhang, und sein blondes Haar ließ ihn aussehen wie ein Engel, der gekommen war, um ihn in den Himmel zu holen…Razzy schüttelte seinen Kopf, als wollte er seine dummen Gedanken abwerfen. „Ähm…Falls ihr Priester seid, könntet ihr etwas wegen meiner Krallen unternehmen?“, fragte er gespielt besorgt.
Der Priester lächelte. „Nun, wenigstens scheint ihr euren Humor nicht verloren zu haben“, sagte er gütig. „Aber Spaß beiseite…ich denke, ich bin euch eine Erklärung schuldig, Raszpard.“
Razzy, der gerade nach den anderen Wandlern gesucht hatte, die nun nicht mehr im Zimmer waren, drehte sich wieder zu dem Priester und blickte ihn finster an. „Und ich denke, dass dies eine wahrhaft wundervolle Idee wäre“, sagte er spitz.
„Mein Name ist Kardinal David von Aruldusk, ich bin ein Kleriker der Silbernen Flamme. Ich will nicht lange an dem Geschehenen umherreden, auch wenn die Ärzte empfohlen haben, euch die Wahrheit schonend beizubringen“, erklärte der Priester langsam und ruhig.
„Ich bin ganz Ohr. Schießt los. Lasst euch nicht aufhalten!“, forderte Razzy.
„Nun…wir befinden uns in der Enklave von Haus Jorasco. Ihr kennt das Königreich Thrane?“, fragte er behutsam.
„Thrane…“, seufzte Razzy nachdenklich und atmete tief ein. Die sein Volk und die Silberne Flamme betreffende Vergangenheit war ihm wohl gegenwärtig, auch wenn dies schon lange Zeit zurück liegt. Die Wandler hatten dennoch stets eine gehörige Portion Misstrauen dem Königreich Thrane gegenüber. „Ja. Es ist mir durchaus ein Begriff. Auch wenn ich ein Wandler bin, habe ich die letzten…“. Razzy wollte eigentlich an dieser Stelle sein Alter nennen, welches ihm jedoch gar nicht bekannt war. Er schaute verlegen auf die Bettdecke, welche er mit seinen haarigen Händen zu recht zupfte. Dabei entdeckte er wieder die Nummer. 5.
David entging dieser Gefühlsumschwung nicht und er erklärte nach einer kurzen Pause weiter. „Wir befinden und in Aruldusk, im Osten des Reiches. Herr Raszpard, wir schreiben das Jahr 998.“
Razzy schaute ihn verstört an. Er wusste, dass er lange Zeit gefangen war. Aber so lange? „998? Ich war zwei Jahre gefangen?“, stotterte er. „W…Wie la…“
„Wir haben euch vor 20 tagen gefunden. Es stand nicht gut um euch, aber die Heiler von Haus Jorasco haben ihr bestes gegeben, und ihr und die anderen seid auf dem besten Weg der Besserung!“, machte er ihm Mut.
„Welche anderen? Ich war allein unterwegs, als ich gefangen wurde!“, sagte Razzy neugierig.
„Ihr wart jedoch nicht allein gefangen. Insgesamt haben wir acht Wandler gefunden. Drei davon waren schon tot, als wir sie aus ihrem Gefängnis holten. Ein weiterer ist hier in der Enklave gestorben…“ David gab dem Wandler Zeit, um diese Nachricht zu verdauen. Auch wenn Razzy stets nur das Gute am Schicksal sehen wollte, in diesem Moment konnte er sich den Tränen in seinen Augen nicht verwehren.
„Wer?“, fragte er fassungslos.
„Bevor ich es euch sage, möchte ich, dass ihr wisst, dass die Verantwortlichen tot sind“, sagte David, und Razzy konnte Schuld und Stress in seiner Stimme ausmachen. „Es war ein kardinal der Silbernen Flamme, der dem Wahn des Flüsterns erlegen war. Ich schwöre euch, weder ich, noch irgendein anderes Mitglied unserer…“
„Schweigt!“, unterbrach ihn der Wandler ebenso scharf wie unausweichlich. „Ein Kardinal also…der zufälligerweise acht…ACHT Wandler festhält, grausame Experimente an ihnen durchführt, sie erniedrigt, in Löchern verrotten lässt, jahrelang…und niemandem soll dies aufgefallen sein? Welche Missstände habt ihr in eurer Kirche?“, fragte Razzy mit zunächst gebrochener Stimme, wobei der Priester erschrocken war über die Lautstärke, die er am Ende des Satzes zeigte.
„Das Dorf in dem er lebte war so gut wie verlassen, die Kirche war verfallen und nicht benutzt. Ich verstehe euren Zorn, und ich garantiere euch, das Verbrechen wird umfassend aufgeklärt werden, und sollten sich noch andere Verantwortliche finden, werden diese natürlich zur Rechenschaft gezogen. Der Kardinal war wahnsinnig, oder besessen, oder beides, vom Bösen verführt. Solche Missstände sind in unseren Reihen beispiellos. Ich weiß was ihr denkt, dass die Kirche die Kreuzzüge gegen die Lykantrophen…“
„Ich möchte darüber nichts mehr hören…zumindest nicht jetzt“, winkte Razzy ab. „Eines noch. Wie ist es geschehen? Wie ist er gestorben? Und die andern?“
„Nun ja, wie gesagt…Sie alle lebten in einer kleinen Siedlung, deren Bewohner alle weggegangen waren, bis auf zehn alte Menschen, die ihr Heimatweiler nicht verlassen wollten“, erklärte David nervös. „Es gab einen überfall. Vampire haben das komplette Dorf ausgerottet und abgebrannt, auch die Kirche, unter deren Katakomben ihr gefangen wart. Wir haben die Leichen von einem Träger eines abnormalen Drachenmals sowie einer alten Greisin in der Nähe der Kirche gefunden. Von den anderen Wandlern wissen wir, dass es sich dabei um die Komplizen des Kardinals handelt. Von ihm haben wir nur noch…die Hand gefunden…“, sprach David zu Ende, gefolgt von einem langen Schweigen. „Ich verspreche euch, dass die Kirche der Silbernen Flamme euch eine Entschädigung geben wird, auch wenn ihr für das euch Geschehene nicht entschädigt werden könnt. Betrachtet es als Start in ein neues Leben“, fügte er nach einigen Minuten hinzu. „Wenn ihr aufstehen wollt, nehme ich euch gerne mit hinaus. Es weht ein herrlich frischer Wind und die Sonne scheint!“
„Ich danke euch“, sagte Razzy, und schon konnte man wieder etwas Optimismus und Neugierde in seinen Augen sehen. Er richtete sich langsam auf und folgte David nach draußen. Vor der Enklave von Haus Jorasco entfaltete sich eine herrlich grüne Wiese. Er verabschiedete sich von David und ging einige Schritte, wobei er mit seiner Nase die frische Brise aufsog und in die Sonne blinzelte. Als er seinen Blick wieder senkte, sah er am anderen Ende der Wiese die drei anderen Wandler aus einem Stückchen Wald kommen. Razzy fasste Mut und ging lächelnd auf sie zu…
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Einige Monate waren vergangen, seit Razzy und die die anderen Wandler von Haus Jorasco entlassen wurde. Sie erhielten von der Silbernen Flamme eine nicht geringe Geldsumme, um in ihr neues Leben zu starten. Die anderen Wandler kamen auch aus den Eldeenreichen, und wie sich herausgestellt hatte, waren ihre Heimatdörfer nicht allzu weit entfernt. Alle vier waren sich einig, nicht direkt nach Hause zu reisen. Alle waren sie wie besessen darauf, Abenteuer zu erleben und die Welt zu sehen. Sie entschlossen sich, ihren Familien nur eine Nachricht zu schicken, dass es ihnen gut ginge, und machten sich dann auf, um quer durch Breland nach Sharn zu reisen. Sie hatten gehört, dass diese Stadt der Nabel der Welt war, und wer weiß, wohin sie es von dort aus verschlagen würde. Im Laufe von kürzester Zeit wurden sie zu den besten Freunden, sie ließen keine Gelegenheit aus, Schabernack zu treiben und in den Tavernen der Dörfer zu feiern. Razzys Begleiter hießen Hadriel, eine Druidin, Tristag, der ein wahrer Meister des Bogens war, und Zugo, der Bär, der zweifelsohne der mächtigste der Gruppe war und über Furcht erregende Kräfte verfügte. Auch sie hatten die Tätowierungen erhalten. Hadriel war Nummer 1, Tristag Nummer 4 und Zugo Nummer 7.
Über das, was sie im Innersten zusammenhielt, wurde jedoch nie ein Wort verloren, wenn auch keiner der vier wusste, warum eigentlich nicht. Sie schienen es einfach als nicht mehr wichtig zu erachten. Razzys wurde durch ihre gemeinsame Zeit nur in seinem Glaube an das Schicksal bestärkt, und wenn er die Qualen und die Enge seiner Gefangenschaft ausblendete, so war die ganze Sache im Nachhinein das Beste was ihm passieren konnte. Zumindest dachte er dies wenn er Hadriel, Tristag und Zugo anschaute.
Niemand weiß, wo es die vier hin verschlagen hätte, wäre nicht jener Abend in der Sharner Unterstadt gewesen, die ihr Schicksal aufs Neue verändern sollte. Sie waren schon seit einigen Wochen in Sharn unterwegs, und alle waren fasziniert von der Stadt, auch wenn sich nur die wenigsten vorstellen konnten, dauerhaft hier zu wohnen. In der Tat war es Razzy, der sofort der Stadt verfallen war. Sie trieben sich oftmals in dunklen Spelunken umher und machten sich einen Spaß daraus, ihr Geld bei Glücksspielen zu verspielen oder bei einer Ladenrunde auf den Kopf zu hauen. In den Eldeenreichen, wenn sie erst einmal wieder in der freien Natur wären, bräuchten sie diesen überschwänglichen Reichtum eh nicht mehr.
An jenem Abend feierten sie wieder in einer Absteige, um sie herum waren viele merkwürdige Gestalten und viele, denen der Zutritt zu den höheren Regionen Sharns verwehrt blieb. Wie immer tanzten sie, bis sie nicht mehr konnten, lachten und waren ihres Lebens froh. Zu viert fühlten sie sich immer zu Hause und unbesiegbar. Sie gesellten sich zur Theke, wo sie sich noch vier Bier genehmigen wollten, bevor sie sich auf den Heimweg machten. Razzy stand außen und bestellte beim Kellner, während die anderen scherzten und Witze rissen…Plötzlich sackten Razzy die Beine weg, und er musste sich an Zugo festklammern. Irgendwas war in diesem Raum, was ihm unweigerlich Übelkeit verschaffte.
„Hey Razzy, was ist los“, fragte Tristag.
„Ich…ich weiß es nicht…“, schnappte Razzy panisch. „Ich…ich muss hier raus…brauche nur frische Luft!“
Zugo half ihm, sich umzudrehen, und wollte ihm gerade Richtung Tür helfen, da fielen ihrer beider Augen auf den Arm des Kerls neben ihnen, den sie zuvor für einen Penner gehalten hatten. Der Arm war ab dem Handgelenk abgetrennt und lag regungslos auf dem Tresen. Der Kopf des Kerls war in seinem anderen Arm vergraben, er schien zu schlafen, oder aber komatös zu sein…Seine schwarzen Haare glänzten fettig…und rochen nach Kokos, seine Klamotten nach Weihrauch.
Zugo schaffte es noch bis vor die Tür, bevor er sich übergeben musste…Razzy erwischte es noch vor der Theke.
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Nachdem sich alle wieder erholt hatten, und erholt war das richtige Wort, denn jeder der Wandler machte eine Phase von Wutausbrüchen, Schreianfällen und noch manch anderem emotionalen Zusammenbruch durch, sammelten sich die vier vor der Absteige, in dem der Kardinal vor sich hin schlummerte. Ohne darüber zu sprechen, schienen die vier sich einig zu sein, was zu tun war. Sie versteckten sich in den Schatten der Türme der Stadt und warteten, bis man ihren ehemaligen Peiniger hinauswerfen würde.
„Schicksal“, dachte Razzy. „Schicksal!“
Einige Stunden später war es schließlich so weit, und sie folgten dem Betrunkenen bis zu seinem Zimmer, was nicht weiter schwer gewesen war, so benebelt waren seine Sinne. Sein Zimmer war viel mehr ein Loch in einem der untersten Türme der Stadt, und fast war man gewillt, Mitleid mit dem Gefallenen zu haben. Aber in dieser Nacht war kein Platz für Mitleid. Sie harrten noch eine gute halbe Stunde vor dem Eingang zu dem Turm, bevor sie sich ein letztes Mal ansahen, und ihnen allen stand der Durst nach Rache im Gesicht geschrieben. Sie schlichen sich in die Gänge des Turms, bis zu jener Tür, hinter der sich der Kardinal aufhalten musste. Zugo trat entschlossen nach vorne, und in Bruchteilen einer Sekunde gewann der Bär in dem Wandler die Überhand. Mit einem einzigen Schlag zertrümmerte er die Tür, die in hunderte von Splittern zerberste. Der Kardinal schrie auf und kauerte sich in Todesangst zusammen, das heilige Symbol der Silbernen Flamme vor sich haltend, das in seinen Händen zu einer einzigen Farce verkommen war. „Bei der Macht der Silbernen Flamme! Ich befehle euch Kreaturen des Bösen, verschwindet!“, schrie er panisch. Und warf ihnen sein Symbol entgegen. Razzy konnte sehen, wie sich seine Hose langsam dunkel verfärbte, bis einige Tropfen aus seinem Hosenbein liefen. „Bei Balinor. Mach schnell Zugo, bitte!“
Zugo schritt auf den ehemaligen Kardinal zu, der einen letzten Schrei von sich gab. Ihre vier Brüder und Schwestern, die seinetwegen sterben mussten, konnten sie nicht ungerächt lassen.
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Den Rest der Nacht verbrachten sie in einer der oberen Regionen Sharns, den Sonnenaufgang betrachtend. Keiner der vier war in der Lage, etwas zu sagen, und so saßen sie stundenlang schweigend da, Richtung Osten schauend.
Irgendwann, es schien Razzy eine Ewigkeit gewesen zu sein, stand Hadriel auf. „Kommt. Es ist vorbei. Lasst uns nach Hause gehen!“ Die anderen nickten und murmelten zustimmend, standen auf, und folgten ihr. Razzy war der letzte, der sich erhob. Er betrachtete noch das Glitzern der Sonne in der See und schnupperte die Morgenluft. Konnte das schon sein großes Abenteuer gewesen sein?
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Razzy bummelte fröhlich durch die Straßen von Obersharn. Es war erst zwei Wochen her, dass er sich von seinen Freunden verabschiedet hatte, und obwohl er sie natürlich unglaublich vermisste, freute er sich auf die nahe Zukunft. Endlich war er vollkommen frei und konnte tun was er wollte.
Er war mit den anderen Wandlern noch bis an den Rand des nächsten Waldes von Sharn aus gereist, doch dann kam seine Erkenntnis. Er konnte sie nicht zurück in die Eldeenreiche begleiten. Er war noch nicht fertig mit der Khorvaire. Besonders Hadriel weinte bitter, als Razzy es ihnen sagte. Er beteuerte, dass sie sich bald wieder sehen würden, doch der Abschiedsschmerz ließ sie alle nicht los. Sie beschlossen, dass sie wenigstens diesmal ein schönes Abschiedsfest veranstalten wollten, und gingen zusammen auf die Jagd. Tristag verschaffte ihnen ein reichliches Abendessen, ein schönes, junges, aber wohlgenährtes Reh, und Hadriel zauberte ihnen Beeren herbei. Am nächsten Morgen ging Razzy zurück in die Stadt der Türme, während sich seine Freunde aufmachten, um in ihre Heimat, die fernen Eldeenreiche, zurückzukehren.
Die kleinste Sorge, die Razzy im Moment plagte, war finanzieller Art. Sie waren wirklich nicht sehr weise mit ihrem Kapital von der Silbernen Flamme umgegangen, und den größten Teil des restlichen Geldes hatte er Hadriel, Tristag und Zugo mitgegeben, damit sie sicher und bequem ihr Zusause erreichen konnten. Bald würde er seine Ausrüstung verkaufen müssen, wenn er nicht einen Job finden würde.
Was ihn jedoch mehr bedrückte, war diese sengende Hitze. So etwas war er von dem frühlingshaften Wetter in den Reichen nicht gewohnt. Die Sonne strahlte unbarmherzig wie eine Göttin auf die Stadt der Türme herab, und sogar Razzys abgehärtete Haut wurde von den Strahlen gereizt.
Etwas Ablenkung von seinen Sorgen erhielt er stets in seiner neuen Lieblingsbar, einer Kneipe für Wandler, in der er sich nunmehr oft aufhielt und auf der Suche nach Anschluss in der Sharner Gesellschaft der Wandler war. Er mochte noch nicht von Freundschaften sprechen, die entstanden waren, wohl aber Bekanntschaften, und Razzys Gemüt blieb allen Widrigkeiten seinem Glaube an Optimismus und Schicksal treu.
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Einige Wochen waren ins Land gestrichen, und Razzys Laune war tiefer als Untersharn gesunken. Es ergaben sich keine Zeichen für ihn, keine schicksalhaften Begegnungen, und er grübelte nöchtelang, ob er nicht hätte doch sollen seinen Freunden in die Eldeenreiche folgen.
Die unsegliche Hitzewelle war nun einer klirrenden Kälte gewichen. Die Wolken verdunkelten wie Balken aus Adamantit den Himmel, und seine geliebte Sonne hatte er seit Tagen nicht mehr gesehen. Hinzu kamen die apokalyptischen Feuer in Untersharn, die die Stadt mit einem Film aus Ruß vernebelten. Grau und Schwarz waren die einzigen Farben, die Sharn in diesen Tagen kannte.
Es trieb Razzy wieder einmal in seine Lieblingskneipe. Es war nicht viel los, viele Wandler hatten Sharn verlassen, wie auch viele andere Bewohner der Stadt. Zu groß war die Furcht und die Angst vor einer Katastrophe, die in der Luft lag. Doch da...
"...er wurde ermordet!"
"Was? Wie ist es geschehen? Wer...?"
Das Gespräch zweier Wandler an der Bar fing seine Aufmerksamkeit.
"Man hat ihm flüssiges Silber eingeträufelt, bis er tot war! Vom Mörder jedoch fehlt jede Spur!"
"Unfassbar!"
"Entschuldigt", unterbrach Razzy dazu. "Von wem spricht ihr?"
"Der Wandler hieß Mange. Wieso? Kanntet ihr ihn?"
Razzy tat es. Sie hatten ein paar Mal miteinander gesprochen, während sie sich beide in der Wandlerkneipe aufhielten. Die Stadtwache schien keine Zeit zu haben, sich um die Angelegenheit zu kümmern, was Razzy unweigerlich die Minderstellung seiner Rasse ins Gedächtnis rief. Viel erschreckender war jedoch die Art und Weise, wie der Mord geschah. Er verknüpfte es unbewusst mit seinem eigenen Schicksal, mit verrückt gewordenen Priestern der Silbernen Flamme.
Was, wenn doch noch einer dieser Perverslinge überlebt hat? Was, wenn es einer meiner Peiniger war? Oder er zumindest zu dieser abscheulichen Gruppierung gehört?
Razzy dachte nicht lange nach. Das musste der Wink des Schicksals sein, auf den er verzweifelt gewartet hatte. Ich werde mich der Sache annehmen!