Der unterschwellige Spott in Miguels Worten scheint Drakosa zu entgehen, tatsächlich scheint er dies als Unterwürfigkeit zu deuten und so nimmt er den Kelch ohne große Worte zurück. "Hör schon auf zu reden du Aufschneider und tu was dir aufgetragen wurde." daraufhin nimmt er Platz an der steinernen Tafel und bedient sich an den dort aufgetischten Köstlichkeiten, während seine wichtigsten Offiziere sich zu ihm gesellen. Drakosa scheint es ganz recht zu sein sich nun seinem neuen Amt als Herrscher zu widmen, während er den ihm verhassten Miguel wie einen Laufburschen umherschickt.
Alvaro und Felliped, zwei junge Unteroffiziere, schließen sich Miguel bei seiner Suche bereitwillig an. Der von ihm auserwählte Höfling zuckt angesichts dreier schwer gerüsteteter und bewaffneter Legionäre sogleich zusammen und senkt furchtvoll den Blick. Miguel kann aber noch sein Erstaunen bemerken, als er diesen auf Nexalan anspricht. Es ist ein noch relativ junger Mann, in eine bunte Tunika gekleidet, der Kopf von einem güldenen Kopfschmuck mit Federn bedeckt.
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"Meztli ist mein Name, ein einfacher Pipiltin am Hofe des verehrten Sprechers Tonauac." er blickt weiter starr auf Miguels Füße "Gerne gebe ich euch meine Schlafkammer, Herr. Bitte folgt mir einfach." durch einen länglichen Gang geht es tiefer in den Palast, wobei Miguel staunend auf die farbenprächtigen Wandmalereien blickt welche ihn umgeben und offenbar die früheren Herrscher der Stadt zeigen.[1]
Durch eine einfache, nicht abschließbare Holztür geht es in einen einfach eingerichteten Raum. Betten sucht man vergebens, Decken und Kissen auf dicken Teppichen dienen als Schlafstätten. Einfache Holzkisten erlauben es Hab und Gut unterzubringen, doch bis auf eine Sitzgruppe ist der Raum weitesgehend leer. Einzig ein Tukan sitzt auf einer Holzstange und entschwindet eilig durch ein Fenster als Miguel eintritt. "Ich hoffe dies genügt euren Ansprüchen." sagt der Pipiltin "Wie genau kann ich euch mit eurem Auftrag helfen, Herr?"
Miguel sieht Fellíped und Álvaro betroffen an. Das hat er gar nicht so bedacht, dass er die beiden da so arg mit hineinzieht, obwohl es im Nachhinein völlig offensichtlich ist. Warum denkt er bloß nie richtig nach, bevor er etwas tut?
"Tut mir leid", sagt er geknickt. "Ich konnt nicht anders. Ihr habt was gut bei mir! Und wenn Drakosa euch tatsächlich je 'peinlich' befragen lässt, dann sagt ihm alles, dann schiebt alles auf mich! Ich war's, ich bin an allem schuld. Mit etwas Glück lässt er dann nur an mir ein Exempel statuieren! Euch kann er eher brauchen als mich, euch hat er nicht so gefressen."
Mit einem letzten Schulterklopfen verabschiedet er sich von den beiden und begibt sich in Meztlis Kammer, wo er sich die noch immer klamme Kleidung auszieht und zum Trocknen ausbreitet, bevor er sich wäscht und sein Bettzeug auf einem der Teppiche ausbreitet. Ans Essen denkt er dabei gar nicht, obwohl es mittags auch schon nichts gab.
Doch kaum hat Miguel sich hingelegt, da springt er wieder auf, um rastlos in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. Einen besinnlichen Augenblick lang verweilt er am Fenster, blickt hinaus auf die nächtlich stille Stadt, den noch stilleren See, genießt den balsamisch kühlen Hauch auf seiner fiebrig heißen Stirn, aber ach, es nutzt nichts! Das sieht man schon an der Zahl der Adjektive, die er braucht, um sich selbst in diesem Augenblick zu beschreiben: besinnlich, nächtlich still, balsamisch kühl und fiebrig heiß! Und wie einsam und traurig der Mond ist, wie silbrig-zart sein Leuchten!
Miguel, hör schon auf, was bist du, ein Romanzenschreiber? Schäm dich!
Er setzt sich hin. Dann springt er auf. Er legt sich hin. Dann steht er auf. Ach, alle Gegenwehr, sie ist vergebens! Es hilft nichts, ein Gedicht muss her!
Und so kramt er Feder, Tinte und Notizblock hervor, entzündet eine Kerze, setzt sich an den Tisch und beginnt zu schreiben. Eigentlich ist er kein Dichter. Tanz und Flötenspiel und lustige Weisen sind sein Metier. Gedichte kann er wohl fein aufsagen, das ist sehr nützlich, das mögen die Frauen. Aber selber dichten! Ein Liebesgedicht! Schlimmer noch: ein Liebesgedicht, das man tatsächlich so meint, das man in sich spürt, bei dem das Antlitz der Verehrten einem nicht aus dem Sinn geht!
Seine früheren Dichtversuche endeten jedesmal gleich: mit einem riesigen Haufen zerknüllten Papiers und keiner einzigen Zeile, die es wert war, laut aufgesagt zu werden. Heute nacht aber fließen ihm die Worte aus der Feder, kaum dass er hier und da mal eines durchstreichen und ersetzen muss.
Er hebt nur kurz nickend den Kopf, als irgendwann gegen später Álvaro und Fellíped hereinkommen, die offensichtlich auf ihrer Wache abgelöst worden sind. Wortkarg und erschöpft sinken sie auf ihre Betten; bald darauf schnarchen sie auch schon im Duett. Miguel streicht noch einmal zwei Worte durch. Ejemplos tristes, jawoll, das trifft's besser! Rasch überfliegt er ein letztes Mal, was nun auf dem Papier steht.
Soneto: A Cihuacóatl"Estoy contino en lágrimas bañado,
rompiendo siempre el aire con sospiros,
y más me duele el no osar deciros
que he llegado por vos al tal estado;
que viéndome do estoy y en lo que he andado
por el camino estrecho de seguiros,
si me quiero tornar para hüiros,
desmayo, viendo atrás lo que he dejado;
y si quiero subir a la alta cumbre,
a cada paso espántanme en la vía
ejemplos tristes de los que han caído;
sobre todo, me falta ya la lumbre
de la esperanza, con que andar solía
por la oscura región de vuestro olvido."
[1]
Dann versucht er—leise, um seine Kameraden nicht zu wecken—es aufzusagen. Er schliesst dazu die Augen und tritt vor sie hin, sie lächelt erwartungsvoll... er öffnet den Mund, holt tief Luft... und dann... flucht er. Bitte, was ist das? Oh Miguel, du liebestrunkener Reimverdreher! Das soll ein Gedicht sein? Ich fass es nicht!
Also rasch ein zweiter Versuch. Ne, ach, Miguel, komm' mir nicht so, du! Du Witzfigur, du trunkener Schenkendichter!
Auf ein drittes! Ja, sehr schön, Miguel—für einen Achtjährigen nicht schlecht! Üb' noch ein bisschen, ja, sei ein Schatz!
Frisch gewagt und auf ein letztes: Zu Hilfe! Miguel, oh du bedauernswerter Tropf, es ist hoffnungslos mit Dir!
Doch wie er so—haareraufend!—auf und ab geht, erkennt er das Problem und lacht laut heraus. Ja, wie soll das denn auch gehen? Er kann doch nicht vor sie hintreten und ein Sonett auf Chondathan aufsagen, der Zunge eines weißen Teufels! In ihrer Sprache muss er ihr all dies gestehen!
Also wieder ans Werk. Auch diesmal küsst ihn die Muse—auf Mund, Augen, Ohren, Nase, und einmal auch hauchzart von hinten auf den Hals. Doch leicht fällt's ihm dennoch nicht. Doppelt so lange braucht er dafür, und immer wieder muss er seine Notizen zur Grammatik und zum Wortschatz heranziehen. Das mit dem er und du, dem ich und mir, und auch mit den Adjektiven, das macht er beim Sprechen immer wieder falsch, das weiß er ja, doch jetzt, wenn er ganz genau darauf achtet, wenn er es wieder durchstreichen und korrigieren kann, jetzt, wo Oghma seine Hand und Gedanken zu lenken scheint, jetzt klappt es! So hofft er. So bittet er innig. Und so klingt das ganze nun, als er aufsteht und rezitiert:
An Cihuacóatl"Ich bade in Tränen tag und nacht,
Mein Seufzen zerreißt die Stille,
Und je grausamer er mich plagt, desto weniger wag ich dir offenbaren,
dass dir allein diesen Zustand ich verdank;
Schau, wie eifrig ich dir folge
auf diesem schmalen Pfad;
Umkehr'n will ich, vor dir flieh'n,
Verzagt blick ich zurück, was hinter mir ich ließ;
Doch vor mir lockt der höchste Gipfel,
Auch wenn bei Schritt und Tritt mich schreckt der Anblick
all jener traurigen Gestalten, die hier bereits gescheitert sind;
Überhaupt, mir fehlt der Schein der Hoffnung,
Der den Weg mir weist in diesem dunklen Land,
wo du mich längst vergessen hast."
[2]
Ja! Jetzt passt es. Jetzt lächelt sie. Balsam für seine geschundene Seele! Auch wenn es ihn lockt, ihr Lächeln, ihn neckt, ihn auf Distanz hält und dabei doch alles verspricht... so magisch, so unendlich geheimnisvoll! Gleich noch einmal, damit er es wiedersieht, ihr Lächeln, denn schon schwindet das Bild...
Noch besser, noch feuriger klingt's beim zweiten Mal. Natürlich ist's so kein Sonett mehr, aber klingen tut's fast besser! Warum? Erst weiß er's nicht. Dann meint er zu sehen: weil mein Herz, meine Liebe so wild, so ungestüm brennt, da passt kein Sonett dazu, kein enges Versmaß, kein vorgeschriebener Reim! Das muss wild, das muss stürmisch klingen, und dabei hoffnungslos!
Und um wie viel ergreifender die letzte Zeile klingt in ihrer Sprache, wo das Vergessen eine Tat, nicht ein Abstraktum ist![3] Auch duzt er sie hier, weil's sonst nicht passt. Was für ein Unsinn, die Angebetete mit Ihr und Euch anzureden, doch so will's die Form! Doch wenn man sich geküsst hat, ist's dann nicht Zeit, auf das Formelle zu verzichten? Sicher, wer nur aus der Ferne schmachtet, dem mag ein Euch genügen!
Ein drittes Mal sagt Miguel es noch auf, dann trifft ihn plötzlich etwas hartes in den Rücken. Álvaro hat einen Stiefel nach ihm geworfen.
"Jetzt gib endlich Ruh, du irrer Hund!" ruft Álvaro verzweifelt. "Da kriegt man ja kein Auge zu. Da wird's selbst mir zu bunt!"
Oh weh, selbst meine Kameraden reimen schon! Oder hab ich ihm die Worte im Mund umgedreht in meinem Taumel? Hat er es eigentlich ganz anders formuliert?
Ein letztes Mal sagt Miguel die Zeilen auf, ganz leise... doch vergebens: der Augenblick ist vorbei, sein Zauber entschwunden, und mit ihm das Bild ihres Lächelns. Schal und flach klingen die Worte, und schmecken tun sie wie Asche in seinem Mund.
Er legt sich schlafen. Über Tukan graut bereits der Morgen.