Mein Sterben begann vor 33 Wintern oder Sommern oder Jahren oder vor etwa 400 Mondzyklen oder wie auch immer man zählen mag. Zeit ist so etwas Willkürliches, Unnützes und schwer greifbares. Sicherlich tun wir so, als würden wir danach unser Leben ausrichten können, in dem wir Abmachungen treffen oder berechnen, nach unserer willkürlichen Gestaltung, ob wir 35 oder 40 Jahre leben, ob ein Tag nun 24 oder 28 oder 6655 Stunden hat. Unsere Sternendeuter schauen dann in den Himmel, berechnen die Bewegungen der Körper und behaupten, dass sie dort die Zeit erlernt hätten, in dem es also etwas Relatives ist, was von der Bewegung von Körpern zueinander zu tun hätte. Andere sind da praktischer veranlagt und glauben, dass sie damit besser beurteilen könnten, was in der sogenannten Vergangenheit lag oder sie glauben, daran festmachen zu können, was in ihrer Zukunft liegt. Es gibt eine gewisse Sicherheit, eine Halteleine im Leben, einen illusorischen Garn, der sie an das Leben knüpft, denn das ist doch Zeit letztendlich. Eine Versicherung dessen, dass wir leben und gelebt haben, und Abmachungen in die zeitliche Zukunft zu setzen, gibt uns das Gefühl auch dann noch zu leben. Dieser gedankliche Trick der Humanoiden oder wer auch immer die Zeit erfunden hat - ich schätze mal auf eines der kurzlebigen Völker - hält ihren Geist beinander, denn sie sind alle verbunden durch eine einzige Furcht, solange die Zeit zugleich ihr Feind ist: Ihrem Ende.
Mein Sterben begann in einem verfallenen Tempel des Cayden Cailean. Meine unglückliche Mutter brachte mich in einem von irgendeiner Bande von Räubern gebrandschatzten Tempel des Säufergottes nieder, irgendwo am Rande des Finstermondtales. Es wird kein großer Tempel gewesen sein, und vielleicht war damit irgendeine der Spelunken im Finstermondtal gemeint. Auf jeden Fall kam ich hier gleichwohl mit dem Ende in Berührung das erste Mal in meinem Sterben. Die glücklich-kehligen Sangesstimmen der Trunkenbolde waren in einem Flammenmeer lange verklungen und nur noch die Schreie einer Sterbenden hielten meine unglückliche Mutter im Leben, doch nur noch für wenige Stunden. Sie hielt sich an mir fest und blickte mich durchgehend an, sagte mein Vater mir einst, weil ich mir hier Gesicht für alle Ewigkeit einprägen sollte. Sie wollte lange genug leben, dass ich eine Erinnerung an sie hätte. Sie scheiterte daran, aber dies deckte mir - als ich reif an verstorbenen Jahren war - die erste wichtige Lektion im Sterben auf.
Mein Sterben hängt nicht davon ab, ob ich in Erinnerung bleibe oder denke in Erinnerung bleiben zu können. Viele Wesen sind hierbei äußerst egoistisch, wenn sie in Erinnerung bleiben wollen. Auch hier ist die Handschrift der Angst vor dem Ende zu erkennen. In Erinnerung zu bleiben, das heißt, dass etwas von einem überlebt. Deswegen legen Wesen ihre Toten auf Friedhöfen nieder oder mumifizieren sie, deswegen lassen Herrscher Barden von ihren Taten singen, deswegen erzählen sich Betrunkene ihre mittelmäßigen Geschichten, vom Met aufgehübscht, um irgendwie in Erinnerung zu bleiben, dem Ende ein Schnippchen zu schlagen. Deswegen ziehen Männer und Frauen in sinnlose Kriege für Ruhm und Ehre. Und sie hören sich zu, denn es hält ihren Geist beinander, denn sie sind alle verbunden durch eine einzige Furcht, solange die Zeit zugleich ihr Feind ist: Ihrem Ende.
Mein Sterben war in den ersten Jahren vom Leben unter Banditen geprägt. Mein unglücklicher Vater schloss sich eben jenen Banditen an, die seinen Heimatweiler samt Sufftempel niedergebrannt hatten, nachdem meine Mutter auf dem Kindsbett ihrem Ende nicht ausweichen konnte. Das Banditenleben war nicht halb so abenteuerlich, wie es wirkt. Aber es war dem Ende gefälliger, so war es erträglich. Ich wuchs auf mit einer Schleuder in der Hand oder mit dem Schwerte, eine der körperlichen Dienerinnen des Banditenfürsten - Ulfrey Himmelsspötter war dessen Name - zog mich auf und sicherte mein Sterben. Ich lernte das Banditenhandwerk wie andere das Singen oder Beischlafen, das Zimmern oder das Holzfällen. Und doch nutzte ich es selten, denn Banditen sterben in der Regel so: Sie warten an einem finsteren, kalten Ort auf ihre Beute, und wenn sich mal eine verirrt, überfallen sie sie und manches Mal bereiten sie ihrer Beute das Ende. Doch auch hier lässt sich in Bezug auf das Ende eine Lektion finden. Sie sterben nicht gut, es ist oft kalt und dreckig, weil sie in keinem Ort lange weilen können, und das Warten macht einen Großteil des Sterbens aus, doch wer nachdenkt während des Wartens, der denkt an die Gefahren dieses Sterbens: Krankheiten, Fäule, wütende Wachmänner und andere Halunken; er denkt an sein Ende und um diesem Nachdenken zu entgehen, fröhnen sie Cayden Cailean oder anderen Göttern, die ihnen die Hoffnung geben, dass sie in der Ablenkung vom Tod jenes finden, welches sie Leben statt Sterben nennen. Sie erlernen das Spielen der Mandoline oder einer Flöte, um sich bei Tanz und Gesang bei Laune zu halten. Sie kriechen in Wolllüstigkeit über gefangene und freie Frauen hinweg, ob sie das wollen oder nicht. Sie schlachten Humanoide ab, als würde deren Ende ihrem Sterben etwas geben. Häufig tun sie es für eine Sache. Sie wollen Helden sein, jeder auf seine Weise. Auch das wird sie in Erinnerung halten, selbst wenn sie das scheußlichste Tier sind. Und sie wollen gut leben, sie wollen viel Freude erleben und Spaß am Sterben haben. Sie denken, dass dieser Spaß das Sterben ausmacht. Und sie tun es gemeinsam und widereinander, denn es hält ihren Geist beinander, denn sie sind alle verbunden durch eine einzige Furcht, solange die Zeit zugleich ihr Feind ist: Ihrem Ende.
Mein Sterben veränderte sich, als mein Vater sein Ende am Ende meiner Klinge fand. Es war eine Tempelruine irgendwo in den Bergen Drumas. Shelyn war dieser Tempel einst gewidmet und in ihm kampierte eine Gruppe reisender Spielleute. Die Banditen um den Himmelsspötter waren nach Druma geflohen, weil sie zu schwach waren, ihre Wege weiter zu belagern. Ich war inzwischen ein erwachsener Mann und mein Vater die rechte Hand des Himmelsspötters. Wir saßen in der Nacht zusammen mit den Gauklern und Spielleuten. Es roch nach Streit und so kam es, dass die Himmelsspötter - so hießen die Banditen inzwischen - des Nächtens die Spielleute ausrauben und umbringen wollten.
Irgendwas leitete meine Klinge, sagte mir, dass mein Vater sein Ende zu finden hatte. Wir waren vier Leute, die als kleine Vortruppe die Wachen der Spielleute umbringen sollten. Mein Vater Vivor, der Zwerg Holberg und der o-beinige Dankulh. Wir schlichen um den Tempel und schließlich in den Tempel. Ich öffnete eine alte, versperrte Tür, in der wir uns sammeln, die Sache beobachten und ein Vorgehen beraten wollten.
Eine Gestalt war in diesem Raum, den ich wenige Minuten vor meinen Waffenbrüdern betrat. Ich weiß nicht, wie sie hineingekommen war. Sie hatten diesen durchdringenden Blick, sie war augenscheinlich verrückt. Sie trug Gewänder, wenn auch zerrissen, von Motten und Feuchtigkeit muffig und faulig, die einst einem Gecken oder einer Priesterin Shelyns gehört haben mochten. Er war aber eindeutig männlicher Gestalt mit schlohweißen Haar, das in gebrochenen Locken bis auf den Rücken fiel, und blutunterlaufenen Augen. Er lachte mich an und sagte mir:
«Und sie stehen zusammen, die Himmelsspötter, denn es hält ihren Geist beinander, denn sie sind alle verbunden durch eine einzige Furcht, solange die Zeit zugleich ihr Feind ist: Ihrem Ende.
Sie wollen diese Spielleute niederkeulen, um ihr Sterben zu verzögern. Doch der Herr ist ihrer überdrüssig. Doch deiner nicht. Du bist jemand, der das Ende bringt. Dein Leben lang hast du Dinge zuende gebracht und bis der Herr dich zuende bringt, wirst du Dinge zuende bringen. Der Herr sieht, dass du die Dinge, die Sache der Banditen zuendebringst, zumindest jener drei, die mit dir reisen. Dann wirst du die Sache der Spielleute eines Tages zuendebringen.
Und sie fallen zusammen, denn es hält ihren Geist beinander, denn sie sind alle verbunden durch ein einziges Schicksal: Ihrem Ende.»Mein Sterben zieht sich seitdem hin und ich bringe Dinge zuende. Was ich auch anfasse, ich habe kaum die Gabe, Dinge zu erwecken, zu beginnen oder am Laufen zu halten. Ich beende sie immer in der einen oder anderen Form. Seit mein Vater am Ende meiner Klinge starb, bin ich bei den Spielleuten gewesen. Sie tun wieder das, was so viele Humanoide tun. Sie denken, dass in der Unterhaltung ein Lebenswert stecke, der das Sterben angenehmer mache. Doch ihre Art von Fröhlichkeit ist nicht echt, sie ist gespielt. Sie sind mehr von meinem Schlage. Sie wissen, dass die denkenden und sterblichen Wesen sich diesen illusorischen Garn spinnen, der sie an das Leben knüpft. Sie gewinnen andere Schlüsse daraus, denn sie verdienen ihr Gold damit.
Gold spielt für die denkenden Wesen eine ebenso große Rolle, denn sie gehen soweit, dass sie denken, sie können ihr Ende bestechen, in dem sie bessere Ärzte und Heilkundler bezahlen, in dem sie Banditen ein Schutzgeld zahlen und in dem sie sich die angenehmen Dinge kaufen können. Und das funktioniert bei ganz vielen Menschen. Und sie geben und nehmen einander Reichtümer, denn es hält ihren Geist beinander, denn sie sind alle verbunden durch eine einzige Furcht, solange die Zeit ihr Feind ist: Ihrem Ende.
Mein Sterben dieser Tage ist geprägt durch das Sein als Jongleur, der mit Messern und schmerzhaften Steinkugeln wirft und die Gäste daran erfreut, dass ich die Wesen an der drehenden Holzwand damit nicht töte. Sie verstehen nicht, dass mir nicht gefällt, wenn sie lachen, sondern wenn sie aufhören zu lachen. Ich habe nur einen Moment der Bestätigung, wenn etwas endet, sei es die Jongleursvorstellung, sei es eine Aufgabe, sei es ein Sterben. Sie sehen den Moment, ich sein Ende.
Sie sehen Hoffnung, ich sehe Groetus. Und nun sendet er mich zurück in die Gegend, in der ich mein Sterben begann, entweder um mein Sein zu beenden oder etwas anderes beenden.
Wir sind wieder hier, in Falkengrund, dem Ort, in dessen Nähe ich einst mein Ende begann. Groetus hat mich hierher gebracht, um etwas über das Ende zu erfahren. Das weiß ich. Eine neue Lektion zu lernen, ist der Grund meines Aufenthaltes.
Denn ich gebe mein Sterben Groetus, denn es hält meinen Geist beinander, denn ich bin mit allem verbunden durch eine einzige Furcht, solange die Zeit mein Feind ist: Meinem Ende.
- eine Gebetsniederschrift Jaak Marvas an Groetus, die er bei sich trägt, mit unbekannten Datum.