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Archiv => Archiv - Online-RPGs Pathfinder => Forgotten Realms - Eiseskälte => Thema gestartet von: List am 27.07.2014, 14:19:27

Titel: [1. Akt] Die Wende
Beitrag von: List am 27.07.2014, 14:19:27
Aus Alarics Sicht hätte das Leben so weiter gehen können, wenn bei seinem letzten Auftrag nicht etwas furchtbar schief gelaufen wäre: er hatte den Falschen getötet. Anders konnte er es sich zunächst nicht erklären. Unvorhergesehene Komplikationen hatten ihn dazu gezwungen, leicht von den Vorgaben des Auftraggebers abzuweichen und das Ziel in dessen eigenen vier Wänden zu erledigen—wobei er durchaus vorhatte, die Leiche danach noch woanders hinzuschaffen. Dazu kam es nicht mehr, denn nach begangener Tat konnte Alaric nicht umhin festzustellen, dass absolut nichts an der Person selbst oder im gesamten Haus darauf hindeutete, dass sie jemals ein Verbrechen begangen oder geplant hatte; eher schien das Gegenteil der Fall zu sein!

Wie hatte Alaric sich so täuschen können? War er im falschen Haus? Hatte er die Anweisungen falsch interpretiert? Er floh vom Tatort, blieb aber in Niewinter. Er musste sich erst einmal wieder beruhigen. Einen klaren Gedanken fassen. Ihm grauste vor der Beichte beim Meister. Auch gingen ihm verstörende Gedanken durch den Kopf.

"Auch ein Richter erwischt einmal den Falschen!" sagte eine Stimme in seinem Kopf.
"Aber niemals der Henker!" höhnte eine andere.
"In der Summe hast du mehr Verbrechen verhindert als selbst begangen!" rief wieder die erste.
"Was kümmert die Familie des Toten die Summe? Zwei Kinder hast du zu Halbwaisen gemacht!" die zweite.

Und so ging es in einem fort.  Wo vorher Klarheit herrschte, war nun der Zweifel eingekehrt. Weder mit Meditation noch mit Fasten noch mit rigerosestem Kampftraining ließ sich sein Gewissen zum Schweigen bringen.

Dazwischen mischten sich Fragen, die er zunächst gar nicht klar formulieren konnte, deren Antworten aber nur in Niewinter würden auffindbar sein: Fragen, wie es denn nun zu dem Missverständnis kommen konnte. Ohne Antworten darauf wollte er nicht vor seinen Meister treten.

Nach knapp einer Woche erst hatte Alaric sich einigermaßen beruhigt und sah eine Sache plötzlich mit aller Deutlichkeit: Nein, er hatte sich nicht im Haus getäuscht. Er hatte den richtigen getötet. Der Fehler musste beim Auftraggeber gelegen haben.

Hatte also Lord Nasher sich geirrt? Oder hatte er einen unliebsamen Gegner auf diese Weise ausschalten wollen? Oder war der komplette Auftrag fingiert gewesen und es steckte ein ganz anderer dahinter?

Je ruhiger Alaric wurde, desto offensichtlicher schien ihm letzteres. Nach allem, was man hörte, war Lord Nasher ein ehrenwerter Mann. Das Kloster hatte schon oft Missionen für ihn erledigt, aber noch nie zuvor hatte Nasher ein Attentat in Auftrag gegeben! Doch wer konnte hinter einer solch dreisten Fälschung stecken? Das Siegel war echt gewesen, das Briefpapier auch und sogar der Bote, Flynn, war derselbe wie immer gewesen! Wer hatte sich Zugang zu all dem beschaffen können, ohne Nashers Aufmerksamkeit zu erregen? Oder war Alaric doch auf einer ganz falschen Fährte?

Er musste es wissen. Und so tat er etwas, das so streng gegen alle Regeln war, dass er selbst kaum glauben konnte, diesen Schritt zu wagen: statt zum Kloster zurückzukehren und dort zu berichten und Rat zu suchen, kontaktierte er auf eigene Faust den Auftraggeber. In anderen Worten: er bat Lord Nasher um eine Audienz in dringender Angelegenheit, und vor so wenigen Zeugen wie nur irgend möglich.

Und so stand er eines Tages mit gesenktem Haupt vor Lord Nasher (welcher von nur zwei seiner Getreuen flankiert wurde) und berichtete wahrheitsmäßig, ohne Auslassung oder Schnörkel, was passiert war. Das Schreiben war leider verbrannt worden, noch vor Augen des Boten, der es gebracht hatte, wie nun einmal üblich war. Und so hatte Alaric eigentlich wenig Hoffnung, dass der Fürst ihm glauben würde. Aber die Wahrheit musste gesagt werden!

Es war eine Beichte, erkannte Alaric. Er hatte sich selbst belogen. Er suchte nicht Antwort auf seine Fragen (oder zumindest war dies nicht sein Hauptanliegen), sondern er wollte die begangene Fehltat beichten und Lord Nashers Richtspruch entgegennehmen.

"Mord, es war Mord, keine 'Fehltat'—belüg dich nicht schon wieder selbst!" schimpfte er sich. "Deinen Tod verlangt das Gesetz dafür!"

Nachdem er das erkannt hatte, ging er vor Nasher auf die Knie und endete seinen Bericht mit den Worten: "Kaum vermag ich das Entsetzen über meinen Fehler in Worte fassen und bitte hiermit demütig um die Strafe, die Eure Lordschaft im Namen von Recht und Gerechtigkeit und mit der ganzen Härte des Gesetzes über mich verhängen möget. Noch demütiger bitte ich Euch darum, mir vor Vollstreckung des Urteils die Gelegenheit zu geben, meine Tat zu sühnen, vielleicht gar aufzuklären, wie es dazu kam, wer mich dazu benutzt hat. Ich gebe Euch vor Kelemvor mein Wort, dass ich nicht fliehen werde."

Dann wartete er mit starrem Blick auf Nashers Reaktion.
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 27.07.2014, 14:26:08
Alaric erwartete, dass Fürst Nasher etwas sagen würde, doch stattdessen entstand eine langgezogene Stille. Stille war Alaric gewohnt, doch diese war von einer anderen Art. Ihm war bewusst, dass er sich ganz in die Hand des Fürsten gegeben hatte. Wenn er wollte, konnte er sofort das Todesurteil vollstrecken oder ihn begnadiigen. Verstohlen blickte Alaric auf, um zu sehen, was sich in Nashers Gesicht regen mochte. Doch da war nichts, keine Abscheu und keine Güte. Der Fürst schien sehr nachdenklich - ganz im Gegenteil zu seinen beiden Vertrauten, welche offensichtlich schon längst das Urteil gefällt haben mochten. Verächtlich starrten sie den Mönch an.

Nach einer Weile - Alaric kam es wie eine halbe Ewigkeit vor - sagte Nasher: "Ich werde über Deinen Fall befinden. In dieser Zeit wird man Dich in Gewahrsam nehmen." Dann wurde Alaric von zwei Wachen im schwarzen Wappenrock abgeführt.



Man brachte Alaric in ein Turmverlies. "Es ist schon ewig her, dass wir jemanden hier eingesperrt haben.", sagte die Wache, kurz bevor sie die schwere, eisenbeschlagene Eichentür hinter Alaric schloss. "Wenn Du mich fragst, hast Du Glück gehabt. Ich kenne die Zellen der Stadtwache und ich sage Dir, das ist kein Zuckerschlecken dort. Das Essen ist schlecht und wenig und der Ton ist rauh. Hier oben wird Dich niemand herunterputzen. Nebenbei, was hast Du eigentlich verbrochen?", fragte er schließlich. Doch Alaric antwortete nicht. Es war seine Sache.

Alaric sah sich in der Zelle um. Sie war für ein Gefängnis sehr gut eingerichtet. Ein Stuhl und ein Tisch, ein Bett, ein Teppich, ein Wasserkübel und in der Ecke ein Eimer. Doch es war zugig hier oben. Der Wind pfiff durch die Spalten der Steine. Davon abgesehen war es totenstill.



Es dauerte eine ganze Woche, bis etwas geschah. In der Zwischenzeit hatte Alaric keinen Kontakt zur Außenwelt. Nur einmal am Tag reichte die Wache ein kleines Brot und ein Stück Käse in die Zelle und tauschte den Eimer aus. Währenddessen sprach er kein Wort, vermied sogar den Blick Alarics. Am siebten Tage holten sie ihn dann aber aus der Zelle und brachten ihn in den fürstlichen Saal. Alaric hatte erwartet, dass Fürst Nasher ihn dort schon erwartete. Doch nur er und zwei Wachen waren dort. Alaric wartete, vielleicht eine, vielleicht zwei Stunden.

Schließlich öffnete sich eine Tür und Fürst Nasher betrat den Saal. "Ich habe nachgedacht.", sagte er ohne Umschweifen. "Du weißt, dass Deine Taten die Todesstrafe rechtfertigen. Dazu haben mir meine Vertrauten geraten. Sie sagen, Du seist gewissenlos und ohne guten Willen. Also denn, ich mache Dir einen Vorschlag. Du musst jemanden für mich töten, so wie Du es schon immer getan hast. Du darfst keine Fragen stellen, Du musst es nur tun. Wenn Du es getan hast, dann komm wieder und Du bist frei. Was sagst Du?". Alaric fiel auf, dass Nasher ihn sehr aufmerksam musterte.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 27.07.2014, 15:30:22
Alaric schluckte. Damit hatte er nicht gerechnet. Jemanden töten sollte er? Gut, dann war sein Schicksal  entschieden, denn das würde er nicht tun.

Alaric hatte nämlich auch nachgedacht. Sieben Tage waren eine lange Zeit. Und auch wenn die zugige Turmspitze nicht der Singende Stein[1] war, so war sie dem doch sehr ähnlich, komplett mit Meditation und Fasten, mit Lebenskrise und pfeifendem Wind, weshalb Alaric zu folgendem Schluss gelangte: Hairons Weg war nicht seiner. Er würde nur noch töten, um sich zu verteidigen oder um Wehrlose zu verteidigen, und zwar bei direkter, bei eindeutiger Bedrohung. Aber nie wieder von hinten, aus dem Schatten heraus. Nie wieder als Henker.

Außerdem hatte die lange Zeit im Turmverlies Alaric hoffen lassen, der Fürst würde ihn vielleicht doch begnadigen oder wenigstens seiner Bitte Gehör schenken. Gestern hatte er deshalb etwas getan, was er sich schon bei Erhalt seines Namens vorgenommen hatte, nämlich vor Kelemvor und sich selbst zwei Gelübde abgelegt: zum einen stets die Wahrheit zu sagen oder zu schweigen; zum anderen in strengster Askese zu leben. Er hatte dies bis jetzt hinausgezögert, weil es ihm die Erfüllung seiner Aufträge erschwert hätte, vor allem das Wahrheitsgelübde, aber auch ein Asket würde unter Umständen auffallen, wenn er lieber unauffällig bliebe.

Nun, seine Hoffnung war verfrüht gewesen. Dennoch bereute er nicht, vor den Fürsten getreten zu sein. Recht musste Recht bleiben. Er sah auf und Nasher in die Augen.

"Dass ich in diesem Fall das Henkersbeil wähle, Euer Lordschaft, denn ich kann Euren Auftrag nicht annehmen. Abgeschworen habe ich diesem Tun. Zu schrecklich sind die Folgen eines Fehlers. Überheblich war ich zu glauben, es würde ein solcher mir nicht früher oder später unterlaufen; verblendet zu meinen, ich erwiese den Unschuldigen damit einen Dienst und schützte sie vor Verbrechern!

Also tut, was Ihr tun müsst, was ich verdient habe, auf dass Kelemvor selbst mich richte."


Damit senkte er den Blick wieder und wartete schweigend auf die Hände, die ihn gleich packen und wieder in den Kerker zerren würden, wo ihm dann nichts mehr zu tun bliebe, als seine Hinrichtung zu erwarten.
 1. s. Charakter (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8016.msg923027#msg923027), noch unter Hintergrund
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 27.07.2014, 17:14:17
Lord Nasher zog überrascht die Augenbrauen hoch. "So ist das also? Du hast nachgedacht und Dich entschieden, nie wieder einen Auftragsmord auszuführen? Aber Dein erster Gedanke dabei ist lediglich, dass es einen Unschuldigen erwischen könnte? Und die Aufgabe, die mir dabei zufällt, ist, dass ich ein Leben für ein Leben nehme?" Nasher seufzte und ließ sich schwer in den fürstlichen Stuhl sinken, der am Ende des Raumes stand.

"Weißt Du, ich hatte gehofft, dass Du den Auftrag ablehnen würdest. Mit anderen Worten, es hat nie einen Auftrag gegeben und ich wollte nur Deine Reaktion wissen. Zwar hast Du abgelehnt, aber ich sehe nur Reue darüber, dass Du einen Fehler gemacht hast und vielleicht einen falschen Weg eingeschlagen hast. Meine Berater hatten vielleicht Recht. Du hast tatsächlich keinen guten Willen - aber Du hast auch keinen bösen Willen. Für Dich gibt es nur Recht und Ordnung. Ist es nicht so?"

"Hol' mir Ragefast!", rief Fürst Nasher einem der Wachen zu und diese verlies daraufhin den Raum.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 27.07.2014, 17:37:22
Alaric überlegte. Hieß das, sein Leben war noch nicht vorbei? Jedenfalls zerrte ihn niemand davon und Lord Nasher setzte sich gar, das schien darauf hinzuweisen, dass er noch nicht mit Alaric fertig war. Aber wie hatte der Fürst seine Frage gemeint: rhetorisch oder erwartete er eine Antwort? Dass er gleich darauf seinen Wachen einen Befehl zurief, schien auf ersteres zu deuten, und dennoch... Die Frage—eigentlich waren es ja zwei—beschäftigten Alaric selbst. Die zweite schien, oberflächlich gesehen, einfach zu beantworten. Ja, was für ihn zählte waren Recht und Disziplin, was wohl auf das gleiche wie Ordnung hinauslief. Und doch, hatte er nicht früher aufbegehrt, weil er nicht glauben wollte, dass es auf der Welt nicht noch mehr gab? Hatte er nicht gerade am eigenen Leib erfahren, dass Disziplin allein nicht ausreichte zum Leben, schon gar nicht als Lebenszweck?

Und dann die Sache mit dem Willen... Sah Lord Nasher das richtig? Hatte Alaric weder bösen noch guten Willen? Darüber hatte er selbst noch nie nachgedacht. Eigentlich besaß er keinen Willen. Jedenfalls keinen der Art, wie Lord Nasher das Wort zu verstehen schien. In anderer Hinsicht dürfte Alarics Wille weit über dem menschlichen Durchschnitt liegen: jede einzelne Handlung seines Tagewerks bedurfte einer Willensanstrengung, an der die meisten scheitern würden. Aber es war nicht die Art von Wille, die nach dem Sinn seines Tuns fragte, nach seinem Platz in der Weltenordnung, nach dem Zweck seines Lebens oder nach der Richtung, die er diesem—aus eigenem Willen!—geben wollte.

Also antwortete er Lord Nasher auf eine Frage, auf die dieser wahrscheinlich keine Antwort erwartet hatte: "Im Kloster gibt es nur Recht und Ordnung und den Willen zur Disziplin. Alles andere ist verboten oder wird bestraft. Als Junge wusste ich, dass es mehr gibt, aber ich habe es vergessen."
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 27.07.2014, 22:10:17
Fürst Nasher nickte langsam. "So schien es mir., sagte er und rieb sich die Stirn. "Ich will Dir etwas erzählen. Wie Du vielleicht weißt, bin ich viele Jahre lang auf Abenteuer ausgezogen und ich habe mir durchaus einen Namen als Held gemacht. Was aber heißt es, auf Abenteuer auszusein? In vielen Fällen läuft es darauf heraus, dass man in ein Verlies oder in eine Höhle geht und Monster tötet und sich ihre Schätze nimmt. Es ist eine sozial anerkannte Variante von Plünderungen und Raubzügen. Und ein Held zu sein, bedeutet in den meisten Fällen, dass man ein Henker ist - nur dass die Leute daran nichts Verruchtes sehen."

Fürst Nasher schwieg für einen Moment und schien die nächsten Worte sorgsam zu bedenken. "Am Anfang denkt man, dass man den Mut aufbringen muss, zu kämpfen - und das ist auch richtig. Man zieht aus, um die Welt von denjenigen Wesen zu befreien, die die Ordnung und das Wohl der Gemeinschaft bedrohen. Im Falle von Untoten, Gedankenschindern und Dämonen wird man sich schnell darauf verständigen können, dass diese keinen Platz haben in dieser Welt. Doch man lernt sehr schnell, dass noch ein anderer Mut dazugehört, nämlich Mut zur Verantwortung. Denn eine Gemeinschaft wird auch durch Rebellen, Wildvölker und fremde Gemeinschaften bedroht. Haben diese nicht ebenfalls eine gewisse Ordnung und sind diese nicht ebenfalls an einem Wohl ihrer Leute interessiert? Ohne einen moralischen Kompass und die Fähigkeit, die eigene Ordnung gewissen Prinzipien unterzuordnen, ginge es nur darum, auf welcher Seite man zufällig steht und wer mehr Macht hat, seine Ordnung durchzusetzen. Ginge es nur um Ordnung und Disziplin, so würde die Welt im Chaos versinken und ein Verteidigungskrieg würde dem nächsten folgen."

Nasher vergewisserte sich, dass Alaric ihm folgen konnte. "Darum muss ich das, was ich vorhin sagte, revidieren. Wer für das Wohlergehen einer Gemeinschaft eintreten will, der muss mehr sein als ein Plünderer und ein Henker. Ich blicke nicht immer mit Stolz auf meine Zeit der Abenteuer zurück, aber ich bin für jede Erfahrung dankbar. Ohne diese Erfahrungen würde es mir schwer fallen, die Verantwortung für das Volk von Niewinter zu tragen. Nicht immer treffe ich die richtigen Entscheidungen, Tyr steh mir bei!, aber nun bin ich mir sicher, dass Gerechtigkeit ohne Moral, Güte und Gnade zu nichts anderem führen kann als Chaos und Tyrannei. Wenn Du ein freier Mann sein willst, dann wirst Du das lernen müssen."

Nasher schüttelte leicht den Kopf und sah dann Alaric direkt in die Augen. "Du sagtest, dass Du Buße tun wolltest, für Deinen Fehler. Sage mir, was Du vorhast.", verlangte er zu wissen.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 28.07.2014, 00:12:44
Alaric gab sich alle Mühe, den Worten Lord Nashers zu folgen. Zunächst verstand er auch noch einigermaßen, worum es diesem ging. Bei den Worten 'Am Anfang denkt man, dass man den Mut aufbringen muss, zu kämpfen' nickte Alaric. Ja, das kannte er. Das erste Attentat... fast hätte er es nicht durchgezogen. Jeder einzelne Schritt, von der Planung bis zu dem Augenblick, als er dem Badenden von hinten mit dem Messer über die Kehle fuhr, hatte Alaric unendlich viel Mut abverlangt. Und Mut zur Verantwortung, hatte er den nicht bewiesen, indem er sich Lord Nasher aus freien Stücken gestellt hat?

Doch dann verlor Alaric den Faden der fürstlichen Gedanken, nämlich an der Stelle: 'Ginge es nur um Ordnung und Disziplin, so würde die Welt im Chaos versinken.' Wieso das? Wenn überall Ordnung und Disziplin herrschte und jeder an der Verbesserung seiner Selbst arbeitete statt sich um die vermeintlichen Charakterschwächen der anderen zu kümmern, wie sollte da Chaos entstehen? Und worauf bezog Lord Nasher sich, als er meinte revidieren zu müssen, was er vorhin sagte?

Die Verwirrung stand Alaric kurzzeitig ins Gesicht geschrieben, bis er den Faden wiederfand. Mehr sein wollen als ein Henker, ja, zu diesem Schluss war er im Turmverlies doch auch gekommen. Aber er hatte Sorge, dass es dazu zu spät sein könnte. Die Worte Moral, Güte und Gnade sagten ihm nämlich gar nichts, das hieß, er wusste natürlich, was sie bedeuteten und dass sie allgemein als erstrebenswert erachtet wurden, aber er spürte nicht den Widerhall, den sie eigentlich im Herzen eines guten Wesens erzeugen müssten—und dass, obwohl er sich in die Hand Lord Nashers begeben hatte, auf Sühne und Vergebung hoffend: also auf dessen Güte und Gnade!

Alaric presste die Hand auf sein Herz, doch auch jetzt spürte er nur Leere. Er konnte sich noch gut erinnern—und während einer besonders gelungenen Meditation sogar für einige Augenblicke fühlen!—wie heiß das Feuer einst in seinem Herzen gebrannt hatte. Die Geschwister, was hatte er sie innig geliebt! Den Vater, wie hatte er ihn gehasst, bis Hals und Herz im Leib ihm brannten!

Ein freier Mann war er eigentlich nie gewesen. Um Freiheit zu verstehen, musste man sie fühlen können.

Als Lord Nasher geendet hatte, dachte Alaric lange über seine Frage nach. Was er vorhatte? Schwierig. Er, der sonst für jede Eventualität im Voraus plante, der für jeden Plan einen Plan B schmiedete, hatte diesmal nicht weiter vorausgedacht als bis zu seiner Audienz beim Fürsten.

"Ich möchte herausfinden, wer hinter dem... Auftragsmord steckt", wiederholte er unsicher sein ursprüngliches Gesuch, wobei seine Zunge gehörig über das Wort 'Auftragsmord' stolperte. "Es wird der Familie nicht viel Trost sein, die Wahrheit zu erfahren, aber vielleicht doch ein wenig. Und dann... wenn es danach noch ein 'dann' gibt... dann... dann weiß ich nicht, ob ich allein weiterkomme", gestand er kleinlaut. "Zwar habe ich meinem Gott schon Besserung gelobt und auch zwei Gelübde abgelegt, um meine Reue und Demut zu bezeugen, aber ist das genug?

Zum einen glaube ich, dass nicht alles Mitgefühl tot in mir ist, denn auch wenn Ihr mich gewissenlos nennt, so weiß ich genau, dass es mein Gewissen war, das mich zur Beichte hierher getrieben hat. Zum anderen aber höre ich Eure Worte und verstehe sie auch, doch spüre ich sie nicht. Wenn Ihr von Moral, Güte und Gnade redet, reagiert nur mein Verstand, nicht mein Herz."


Er klopfte mit der Faust auf das nutzlose Organ, das offenbar zu nichts anderem taugte, als Blut durch seinen Körper zu pumpen.

"Vielleicht..." Er hielt erschrocken inne ob der wagemutigen Idee, die ihm gerade kam. "Ihr sagt, Ihr hättet das alles auch über die Jahre und auf die harte Tour lernen müssen. Vielleicht könnte ich es von Euch lernen, wenn Ihr mich in Eure Dienste nähmet. Wenn Ihr es mich lehren würdet..."

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da schoss ihm heiß die Schamesröte ins Gesicht. Wie lächerlich musste dieser Gedanke in Lord Nashers Ohren klingen. Was, um einen Gefallen bittet der dreiste Mordbube mich auch noch? Zeit und Mühe soll ich in den Kerl investieren?

"Ihr werdet mich wohl kaum der Mühe werthalten", korrigierte er sich schnell. "Vergesst, dass ich es vorschlug!"
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 28.07.2014, 00:56:57
Schwerfällig stand Fürst Nasher aus seinem Stuhl auf und ging langsam zum Fenster. Er sah einige Momente in die Weite. "Du sagst, in Dir bliebe es stille, wenn ich von Moral, Güte und Gnade spreche. Welche Besserung hast Du Deinem Gott dann gelobt, frage ich mich?", sagte er, mehr zu sich, als zu Alaric. "Dennoch, eine andere Lektion, die ich gelernt habe, ist, dass man seinen Intuitionen trauen sollte."

Damit drehte sich Nasher wieder zu dem Mönch. "Du hast Dein Leben im Kloster verbracht. Dorthin wirst Du nicht zurückkehren, das weißt Du. Du wirst lernen, wie ein freier Mann zu leben. Doch nicht von mir. Ich habe eine bessere Idee. Das heißt, wenn es Dir ernst ist."

In diesem Moment klopfte es an der Tür und ein schwarzhaariger Mann in roter Robe trat mit eiligem Schritt herein. "Mein Fürst, welches Anliegen beansprucht meine Aufmerksamkeit für Euch über meine Forschung?", fragte er, leicht gereizt.

"Es ist gut, dass Ihr so schnell kamt, verehrter Ragefast. Ich will Euch nicht lange mit den Details aufhalten, so dass Ihr Euch sogleich wieder Eurer Arbeit widmen könnt. Ich brauche einen Geas-Zauber von Euch."

Der Magier blieb mit einem Mal stehen; das Gesicht zeigte große Verblüffung. "Mein Fürst, das ist ein recht... garstiger Zauber, den Ihr da verlangt. Ich wende ihn nicht gerne an."

"Danke für Eure Einschätzung, Ragefast. Ich habe einen solchen Zauber schon am eigenen Leib zu spüren bekommen und kenne seine Auswirkungen. Glaubt mir, ich habe es mir gut überlegt. Also, habt Ihr zufällig einen Zauber vorbereitet?", quittierte Nasher Ragefasts Einwand mit saurem Lächeln.

"Nein, das nicht.", antworte Ragefast zögerlich. "Aber ich habe bestimmt noch eine Schriftrolle. Bei mir im Turm. In einer Stunde könnte sie hier sein."

"Dann, bitte, holt sie.", wies Nasher den Magier mit ruhiger Stimme an.

Der Magier grüßte zum Abschied und verließ den Raum. "Alaric, meine Entscheidung lautet also wie folgt: Du wirst Buße tun und darüber hinaus die Bedeutung der Worte Moral, Güte und Gnade lernen. Dazu wirst Du wieder Novize werden und zwar im Orden des Noblen Herzens des Ilmaters. Natürlich werde ich mich mittels eines Geas-Zaubers[1] absichern. Das wirst Du in Kauf nehmen. Denk darüber nach bis der Magier wieder zurück ist." Nasher gab ein Handzeichen und die Wachen brachten Alaric wieder in seine Zelle.
 1. Geas-Zauber (http://www.d20pfsrd.com/magic/all-spells/g/geas-quest)
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 28.07.2014, 03:00:13
Allein in seiner Zelle, fand Alaric keine Ruhe. Wie ein Raubtier im Käfig irrte er ziellos, rastlos im Kreis. Einen Geas! Da musste man nichts von Zauberei verstehen, um davon schon gehört zu haben. Es gab genügend Geschichten, die man sich am Herdfeuer über jene arme Seelen erzählte, die von einem solchen verflucht wurden. Zuhause hatte die Mutter davon erzählt; in den Tavernen und Herbergen der Barde oder redegewandte Gast; aber auch im Kloster, als Alaric noch Novize war, hatten die älteren den jüngeren mit solcherlei Geschichten das Schaudern gelehrt—die wenigsten davon gingen nämlich gut aus.

Seinen Willen sollte er aufgeben. Das hatte man natürlich im Kloster auch verlangt... langsam, über die Monate und Jahre hinweg hatte man ihm den Willen ausgetrieben. Dennoch war ihm ein Rest geblieben; ein Rest von Entscheidungsgewalt, den auch die Angst vor weiteren Strafen ihm nicht nehmen konnte; und wenn es nur die Möglichkeit eines vierten Fluchtversuches gewesen wäre, egal wie unwahrscheinlich, es wäre möglich gewesen. Doch Nasher wollte ihm auch diesen letzten Rest seiner selbst noch nehmen!

Seinen Willen aufgeben. Sich völlig unterwerfen in blindem Vertrauen. Damit er lernte, wie ein freier Mann zu leben? Wie passte das zusammen? Irrsinn! Lüge! Ein Teil seiner Strafe nur. Demut wollte der Fürst ihn lehren, indem er ihn nicht nur auf den Boden zwang, sondern mit dem Gesicht in den Staub. Wie sollte Alaric Moral, Güte und Gnade lernen, wenn er nicht Herr seiner selbst war?

Seinen Willen aufgeben. Es musste ein mächtiger Zauber sein, der einen Menschen dazu zwingen konnte. Einen Menschen zumal, dessen Willensstärke seit seinem neunten Lebensjahr dem härtesten Training, das man sich denken konnte, unterworfen war. Was mochte eine solche Schriftrolle kosten? Tausend Gold? Zweitausend? Mehr? Warum ließ der Fürst sich Alarics Strafe soviel kosten? Der Henker verlangte nur einen Bruchteil. Warum sollte der Fürst einen solchen Aufwand treiben, wenn er sich nicht etwas davon erhoffte? Und es versicherte einem wirklich jeder, den man fragte: Lord Nasher ist ein ehrenwerter Mann! Vielleicht meinte er alles ernst, was er sagte, vielleicht wollte er wirklich einen besseren Menschen aus Alaric machen.

Seinen Willen aufgeben. Nicht einmal dem Magier Ragefast schien wohl bei dem Gedanken und er stand auf der Geberseite, nicht der Nehmerseite des Spruches. Und wieder zum Novizen werden sollte Alaric, wo er endlich dieser schrecklichen Zeit entwachsen war. Im Orden des Noblen Herzens Ilmaters noch dazu! Diese traurigen Gestalten hatte er noch nie verstanden. Ja, es gab viel Leid auf der Welt, aber was nutzte es den Leidenden, wenn ein anderer für sie mitlitt? Welchen Trost sollten jene daraus ziehen, und wenn sie daraus einen Trost zögen, hätten sie diesen verdient, wo sie sich dafür doch am Leid eines anderen erbauten? Diese Logik war so verquer, dass Alaric zu schielen begann, wenn er nur darüber nachdachte.

Doch das hatte Lord Nasher bestimmt nicht im Sinn, als er sagte, Alaric solle inzwischen darüber nachdenken. Was gab es da nachzudenken? Die Alternative schien nach wie vor das Henkersbeil. Und doch, war das Henkersbeil nicht besser als ein Geas? Alaric wusste, dass er es gleichmütig würde ertragen können (sofern der Henker nicht allzu oft daneben hieb...), aber seinen Willen aufzugeben... freiwillig! Denn das schien Lord Nasher von Alaric zu verlangen: dass er freiwillig vortrat und sagte: "Ja, ich will es so. Tut es."

Alaric sank in der hintersten Ecke seiner Zelle auf den Boden, umschlang seinen Körper mit beiden Armen und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. Statt nachzudenken machte er seinen Kopf ganz frei, leerte ihn von jeglichen Gedanken.

Solchermaßen kauernd fanden ihn die Wachen vor, als sie ihn pünktlich eine Stunde später holen kamen. Er hatte sich noch nicht entschieden. Was war schlimmer: der Tod oder der Verlust des freien Willens, der einen Menschen erst zum Menschen machte? Der Tod wäre einfacher. Aber durften Alarics Abwägungen mit dem Tod enden? Was wäre danach? Was würde passieren, wenn er so wie er war vor Kelemvor trat und dieser ihn richtete nach allem, was er in seinem Herzen vorfand—oder eben nicht vorfand?

Eigentlich wusste Alaric, was er zu tun hatte. Es gab nur eine Möglichkeit. Lächerlich, wie schwer ihm die Entscheidung dennoch fiel.

Die Türen zum Audienzsaal öffneten sich und die beiden Wachen stießen Alaric, der immer langsamer geworden war, mit solcher Wucht hindurch, dass er auf den Knien landete. Kreidebleich und mit schreckensweiten Augen sah er auf.
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 28.07.2014, 09:25:26
Überrascht blickten Nasher und der Magier Ragefast auf, als Alaric so unsanft in den Raum gestoßen wurde. "Das wäre jetzt nicht nötig gewesen.", sagte Nasher und wandte sich wieder dem Magier zu. Beide standen dicht bei einander und studierten gemeinsam eine Schriftrolle. Alaric sah, dass der Magier den Zauber schon vorbereitet hatte. In der Mitte des Raumes war mit einem fein glitzernden Pulver ein Kreis gezogen worden. Kerzen standen an den Rändern.

"Ist dann alles bereit?", fragte Nasher.

"Es ist alles bereit, mein Fürst.", sagte der Magier ergeben. War er vorher so ungestüm gewesen, so war davon jetzt nichts mehr zu merken.

"Dann wollen wir beginnen.", entschied Nasher und beide traten nahe an den Kreis heran. Nasher gab Alaric ebenfalls ein Zeichen, dass er näherkomme sollte. "Alaric, Du hast eine Stunde Zeit gehabt, über unser Gespräch nachzudenken. Deine Aufgabe liegt darin, Buße zu tun und die Bedeutung von Moral, Güte und Gnade kennenzulernen. Wenn Du bereit bist, dann tritt nun in den Kreis und formuliere Deine Buße.", sagte Nasher. Der Magier Ragefast runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Offensichtlich war er nicht von Nasher eingeweiht worden und wunderte sich jetzt.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 28.07.2014, 10:51:27
Alaric sah den Fürsten mit ungläubigen Entsetzen an. Was, er sollte den Geas auch noch selbst formulieren? Aus dem Stehgreif gar? War der Mann bei Trost? Die Geas-Geschichten endeten aus gutem Grund—um nicht zu sagen: aus genau einem Grund—allesamt tragisch: stets war eine unbedachte Formulierung schuld daran! Hätte Lord Nasher ihm nicht vor einer Stunde deutlich sagen können, was genau er von ihm erwartete? Darüber hätte Alaric sich also Gedanken machen sollen!

Er stand erst einmal auf. Noch konnte er sich umentscheiden. Besser ein schneller Tod als ein Leben voller Qual, die ein einziges falsch plaziertes Wort ihm einbringen würde. Er blickte zu Nasher hinüber und sah, dass dieser sein Zögern bemerkte. Alaric trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Enttäuschung begann sich auf Nashers Zügen auszubreiten, doch noch stand er erwartungsvoll da.

Alaric schloss die Augen und tat fünf tiefe, lange Atemzüge bis weit in den Bauch hinein, wobei er die Luft mit Kraft durch den Mund wieder ausstieß und damit auch jedes Mal ein wenig Spannung aus seinem Körper entweichen ließ. Dann öffnete er die Augen, durchquerte den Raum mit raschen, aber ruhigen Schritten und trat in den Kreis. Ein letztes Mal holte er tief Atem und sandte ein Stoßgebet an Kelemvor.

"Ich trete vor Euch, mein Fürst, weil ich Buße tun möchte. Vier Auftragsmorde habe ich begangen. Drei Verbrecher habe ich gerichtet und einen Unschuldigen getötet. Ihr sagt mir, dass es keinen Unterschied macht, ob Verbrecher oder Unschuldiger, dass die Abscheulichkeit meiner Tat die gleiche bleibt. So will ich denn für alle vier Buße tun. Statt die Schuldigen zu richten möchte ich so lange den Unschuldigen helfen, bis Ihr oder ein verantwortlicher Priester des Ilmater mir sagen könnt, dass meine Sühne meine Schuld aufwiegt.

Außerdem möchte ich mich auf die Suche nach jenen Gefühlen begeben, die man im Herzen spürt und die sich mit dem Begriff der Menschlichkeit umschreiben lassen: Moral, Güte und Gnade mögen dabei das Mindestmaß sein; die Reue, die ich bereits verspüre, aber Tor und Wegweiser, durch welche sich mir diese verlorene Welt erschließen möge. Ich will nicht rasten, bis ich wieder ein Mensch unter Menschen bin.[1]

Dies Gelübde lege ich vor Kelemvor, vor meinem Lord Nasher und vor mir selbst ab."


Dann leerte Alaric seinen Kopf von allen Gedanken—er öffnete seinen Geist, er vertraute blind! Als Beweis dafür schloss er wieder die Augen und lauschte auf nichts als seinen laut pochenden Herzschlag, während er der Dinge harrte, die da kamen.
 1. Ich channel gerade Tlacatl!  :wink:
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 28.07.2014, 12:14:36
Ohne weitere Aufforderung trat der Magier direkt an Kreis heran und entzündete die Kerzen. Er rollte die Schriftrolle aus und begann mit achtsamer Betonung, die magischen Silben zu verlesen. Alaric hatte eine Ahnung, dass bei einem solch komplizierten Zauber auch nur die kleinste Unachtsamkeit unvorhersehbare Folgen haben konnte.

Zu Alarics Überraschung dauerte das eigentliche Ritual nur sehr kurz. Der Magier hatte nicht mehr als vier magische Formeln gesprochen. Da waren auch keine Rauchschwaden, magischen Funken oder gewaltsamen Gedankenfesseln in seinem Kopf. Was Alaric auch erwartet haben mochte, die Beschwörung des Geas verlief unscheinbar. Die Beschwörung war in der Tat so unscheinbar, dass sich Alaric schon fragte, ob der Zauber überhaupt funktioniert hatte.

Ragefast atmete hörbar aus. Er schien etwas angestrengt zu sein oder vielleicht war es auch nur die Anspannung. "Nun, mein Fürst, das ist dann alles. Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet?", sagte er und verlies den Saal.

"Ja, das ist dann alles...", sagte Nasher, doch mehr an Alaric gerichtet. "Ich habe ein Schreiben für den Tempel von Ilmater im Westen der Stadt vorbereitet. Man wird sich Euch dort annehmen. Ich wünsche Euch viel Erfolg. Auf Wiedersehen." Damit entließ Nasher den jungen Mönch.

Kurze Zeit später fand sich Alaric vor dem Schloss von Niewinter wieder, mit nichts als einem Auftrag und einem fürstlichen Sendschreiben in der Hand. Die noch kühle Frühlingssonne schien ihm ins Gesicht, die Bäume des kleinen Parks entfalteten ihre ersten Blattknospen. Die Welt schien nicht mitbekommen zu haben, was geschehen war.

Ungläubig sah Alaric auf die Rolle in seiner Hand. Und mit einem Mal traf es ihn wie ein Blitz. Für einen Moment war er wie paralysiert. Er konnte es erst glauben, als er es auch mit seinen Fingern spürte. Es war das fürstliche Siegel - es zeigte einen Raubvogel, welcher mit ausgebreiteten Flügeln in seinem Horst saß. Alarics erster Gedanke war, dass dies nicht das Siegel von Nasher sein konnte. Sein zweiter Gedanke war, dass er sich fragte, wer ihm all die Jahre über Glauben gemacht hatte, dass das Siegel Nashers einen Löwen zeigte.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 28.07.2014, 12:59:26
Alaric schüttelte den Kopf. Löwe, Adler... Sollte es wirklich so einfach gewesen sein, ihn zu täuschen? Nun gut, ihn vielleicht, er war so unwissend, wie man ihn im Kloster erzogen hatte, und davor war er ein kleiner Junge gewesen, der sich nur vage bewusst war, dass Fürsten und sonstige Herrscher eben sehr gern Löwen, Adler, Drachen und vielleicht noch Einhörner im Wappen führten. Aber Meister Hairon konnte so dumm doch nicht gewesen sein!

Ihn überlief es eiskalt. Nein, Meister Hairon musste gewusst haben, dass der Löwe nicht Nashers Siegel war. Und wie stand es mit dem Abt? Normalerweise ging jeder Auftrag über den Abt des Klosters, Rufus Steinsänger, doch wenn Alaric es nun recht bedachte, so war der Abt niemals zugegen gewesen, wenn ein Bote mit einem Auftrag für Alaric kam, hatte niemals die Briefe oder deren Siegel gesehen, denn sie wurden ja stets vor Augen des Boten verbrannt.

Alaric keuchte, als er die Wahrheit erkannte. Benutzt hatte der Meister ihn all die Jahre! Seine ganze Ausbildung war Lüge gewesen. Die letzten seiner Aufträge—alle vier!—sie stammten nicht von Fürsten mit richterlicher Gewalt, sie dienten nicht dem Ausschalten von gesetzesflüchtigen Verbrechern, es waren alles Mordaufträge gewesen! Zwielichtige Gestalten steckten dahinter, die Ermordeten: alles Unschuldige!

Und Meister Hairon... unter den Augen des Abtes trieb er sein böses Spiel! Womöglich nahm er Geld für diese Aufträge. Viermal war Alaric sein williger Assassine gewesen!

Am liebsten wäre Alaric gleich wieder zum Fürsten hineinmarschiert und hätte ihm von seiner Erkenntnis berichtet. Der Mann musste aufgehalten werden! Doch glaubte Alaric nicht, dass Lord Nasher ihn so rasch wieder empfangen würde. Er hatte ihn zum Ilmater-Tempel geschickt. Dort wollte Alaric seine Erkenntnis offenbaren; die Priester würden schon dafür sorgen, dass Lord Nasher dies zu Ohren kam.

Und so machte Alaric sich—mit tauben Sinnen und wirren Gedanken im Kopf—auf den Weg in den Westen der Stadt. Als er den Tempel endlich erreichte, betrat er ihn ohne Zögern und wandte sich an den erstbesten Priester, der ihm begegnete.

"Ich habe hier ein Schreiben von Lord Nasher", sagte er, indem er es hochhielt. "Darin ersucht der Fürst Eure Gemeinschaft, mich als Novizen aufzunehmen, und zwar als Novizen mit besonderen Auflagen. An wen muss ich mich da wenden?"
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 29.07.2014, 00:32:29
Alaric fand den Tempel des Ilmater ziemlich schnell. Es war ein kleinerer Tempel, zumindest dann, wenn man ihn mit dem gewaltigen Tempel des Tyr oder dem des Ogmah in dieser Stadt verglich. Er war auch bei Weitem nicht so imposant, wie die anderen Tempel der Stadt. Der Tempel war aus einfachem Stein gehauen und glich äußerlich mehr einem Kloster, mit einem großen Turm an der Nordseite. "Was soll ich mit der Menge Eurer Ehrerbietungen? Ich bin müde Eurer Lobgesänge und habe kein Gefallen an Gold und Silber. Die Schwachen und die Kranken, diese sind meine Stolz und mein Zierde, so spricht Ilmater", stand am Torbogen. Vielleicht war es der Sinnspruch der Gemeinschaft, doch vielleicht auch ein Vers aus der heiligen Schrift. Alaric war sich nicht sicher.

Er wollte sich auch keine Zeit nehmen, lange darüber nachzudenken. Er trat in den Innenhof des Tempels. Dort waren große Kräuterbeete angelegt, in denen Männer mit braunen Kutten Unkraut zupften. Zur Linken war eine Kampffläche abgesteckt, doch niemand trainierte dort. Ein Schotterweg, der zwischen Kniehohen Hecken eingefasst war, führte auf die Kirche zu. Diese betrat Alaric auch sogleich. Dort war wenig Betrieb und es waren fast nur Mönche und Priester zu sehen. Die meisten von ihnen beteten, manche unterhielten sich. Nahe Alaric hatte gerade ein Mönch in tiefblauen Gewand sein Gebet beschlossen und erhob sich. Diesen sprach Alaric an.

(http://games.dnd-gate.de/index.php?action=dlattach;topic=8014.0;attach=11360;image)
Pater Johannes
Der Mann reagierte nicht unmittelbar auf Alaric, sondern verpackte zunächst achtsam seinen Perlenkranz in ein kleines Samtsäckchen und steckte es unter sein Gewand. "Willkommen", sagte er schlicht aber sehr freundlich. "Ilmater heißt jeden in seinem Haus willkommen und ganz besonders diejenigen, welchen es an Körper und Seele gebricht. Mit Eurem Anliegen seid Ihr bei mir richtig. Ich bin der Lesemeister und verantwortlich für die Anleitung der Novizen. Mein Name ist Pater Johannes. Ich fürchte, ich habe noch nicht ganz verstanden, wie ich Euch helfen kann.", sagte er noch immer sehr freundlich.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 29.07.2014, 01:36:15
Bei den Worten 'Lesemeister' und 'an Körper und Seele gebricht'—auch zuvor schon, beim Anblick des leeren Kampfplatzes—rutschte Alaric das Herz in die Hose. Würde er die nächsten Monate oder gar Jahre hier mit Lesen verbringen oder mit der Pflege von Gebrechlichen? Noch beunruhigender war die Entdeckung, dass es hier nicht nur Ordensbrüder, sondern auch Ordensschwestern[1] gab. Würde er als Mann viel Umgang mit ihnen haben oder waren die Wohn- und Aufgabenbereiche nach Geschlechtern getrennt? Wie stand es mit Patienten? Musste er als Mann nur Männer und Jungen versorgen oder auch den weiblichen Kranken helfen? Das wäre ein großes Problem, hatte er doch gestern erst geschworen, niemals eine Frau zu berühren oder sich von einer berühren zu lassen. Würde er diesen Schwur gleich wieder brechen müssen, um den Wortlaut seines Geas zu erfüllen?

Er versuchte sich seine Sorgen nicht anmerken zu lassen.

"Habt Dank für Eure freundlichen Worte, Pater", sagte er höflich. "Ich weiß nicht, wie genau Lord Nasher in seinem Schreiben meine Lage erklärt, aber ich bin hier, um Buße zu tun für meine Verbrechen, welche ich sehr bereue." Er hielt dem Pater das Schreiben erneut hin. "Bitte lest dies, Pater Johannes. Wenn Ihr danach noch Fragen habt, so werde ich sie gern beantworten."

Seine Stimme war immer leiser geworden. Auch äugte er nach links und rechts, ob ja niemand in der Nähe sei und das Gespräch belauschte. Wenn alle gleich am ersten Tag erführen, was für ein Verbrecher da in ihrer Mitte Zuflucht suchte, würde ihm das seine Aufgabe noch schwerer machen, als sie ohnehin war. Allzu deutlich spürte er noch die verächtlichen Blicke von Lord Nashers schweigsamen Vertrauten auf sich ruhen und stellte sich vor, wie sich die Mienen der hier Anwesenden auf dieselbe Art verziehen würden jedes Mal, wenn sie Alaric begegneten. Die Kehle wurde ihm eng.

"Es ist mir ernst damit", sagte er, als hätte der Pater dies schon angezweifelt. "Es ist mir ganz schrecklich ernst damit."

Dann beobachtete er schweigend, wie Pater Johannes Lord Nashers Schreiben in Augenschein nahm.
 1. Du hast jetzt zwar keine Ordenschwestern direkt erwähnt, aber ich nehme an, dass der Tempel des Ilmater beiden Geschlechtern offensteht, oder sehe ich das falsch?
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 29.07.2014, 09:40:30
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Pater Johannes
Statt einer Antwort nickte Pater Johannes langsam, wobei er die Augen geschlossen hatte. "Dann bitte komm.", sagte er und wies mit einer Hand aus der Kirche. Sie gingen auf den Hof und weiter in das westliche Gebäude. Dort suchten sie Bruder Remigius, welcher Cellerar[1] hier im Tempel war. Von ihm erhielt Alaric eine schmucklosen, ockerfarbenen Habit. Der Cellerar wies Alaric auch eine Kammer zu, welche sich Alaric, zu seiner Erleichterung, mit niemandem teilen musste. Dann gingen sie zum großen Schreibsaal des Tempels. Unterwegs stellte Pater Johannes Alaric verschiedene Leute vor, darunter den Kantor, den Infirmar[2], aber auch verschiedene Novizen.

Im Schreibsaal angekommen, trat Pater Johannes an einen Wandschrank und entnahm ihm ein kleines Buch von einem Stapel gleicher Bücher. "Du kannst Doch Schreiben und Lesen, nicht wahr? Wunderbar. Dann nimm dieses hier. Es wird Deine heilige Schrift werden. Nun lass uns das Formelle klären.", sagte er[3]. Er ging zum Lehrerpult, stellte einen weiteren Stuhl hinzu und setzte sich selbst. Er brach das fürstliche Siegel und begann das Schreiben zu lesen. Alaric beobachtete aufmerksam seine Züge. Zunächst war dem Gesicht des Paters nichts abzulesen und dann - begann er schallend zu lachen, dass es von den Wänden des hohen Baus wiederhallte.

"Alaric, hier steht, dass Du von mir die Bedeutung von Moral, Güte und Gnade lernen sollst. Wenn es weiter nichts ist, als die Bedeutung von Moral, Güte und Gnade. Ich sage Dir, wenn Ilmater meinem Leben gnädigerweise noch eintausend Jahre hinzufügen wollte, dann würde ich seine Moral, seine Güte und seine Gnade nicht erklären können. Der Fürst schätzt meine Kompetenz ein bischen zu hoch ein.", sagte er, noch sehr amüsiert. "Hier steht außerdem, dass Du schon in einem Kloster gelebt hast. Das ist gut, es wird Dir helfen, Dich hier zurecht zu finden. Obschon ich meinen will, dass wir hier einige Dinge anders pflegen zu tun. Du musst wissen, dass dies nicht der erste Tempel von Ilmater hier in Niewinter ist. Damals lag der Tempel, es war noch viel mehr ein Kloste, außerhalb der Stadtmauern. Als die Stadt immer mehr anwuchs, fanden sich die Brüder bald in direkter Nachbarschaft zu den Stadtmenschen. Sie reagierten darauf, indem sie strenge Klausur hielten und nur den Kranken und Gebrechlichen Zutritt gestatteten. Dann geschah es vor... hm... etwa 200 Jahren, dass es in Niewinter ein Erdbeben gab, welches vom Berg Hotenow ausging. Das Erdbeben richtete keine größeren Schäden an, nur der Tempel fiel in sich zusammen. Wie Theologen so sind, fragten sie sich, warum Ilmater die Zerstörung des Tempels zugelassen hatte. Und wie Theologen so sind, entbrannte bald ein großer Streit unter ihnen, welcher dafür sorgte, dass sich die Bruderschaft teilte. Die einen meinten, es wäre Ilmaters Willen, dass man sich mehr für die Notleidenden öffnete. Diese Brüder gründeten den Orden des Noblen Herzens hier in Niewinter. Die anderen meinten, dass Ilmater sie gestraft hatte, weil sie sich zu sehr der Welt geöffnet hatten und die weltlichen Begierden in ihr Herz gelassen hatten. Sie waren der Meinung, dass man zuerst die Krankheiten und das Leiden im eigenen Herzen kurieren müsste. Diese Brüder gründeten den Orden des inneren Auges und bauten Ilmater ein neues Kloster in den Felsklüften. Zurück zu unserem Orden, Du wirst sicher bemerkt haben, dass das Volk hier ein- und ausgehen kann, wie sie es wünschen. Wir Mönche sind uns bewusst, dass wir größere Gefahr laufen, dass das Treiben des Volkes unsere Kontemplation stören und unsere Sinne verführen können. Andererseits sehen wir uns in diese Welt gesendet und unseren Auftrag in ihr. Geistliches Wachstum geschieht nicht, indem man sich von der Welt abwendet, sondern dass man gerade in ihr immer das Höhere anstrebt. Verstehst Du, was ich sagen will? Und hast Du noch weitere Fragen, was Dein Noviziat angeht?"
 1. Cellerar (http://de.wikipedia.org/wiki/Cellerar): Sozusagen der Verwaltungs- und Schatzmeister eines Klosters
 2. Infirmar: (http://de.wikipedia.org/wiki/Infirmar): Bruder, der in einem Kloster für die Versorgung von Kranken verantwortlich ist.
 3. Wenn Alaric das Buch aufschlagen wird, wird er es komplett leer finden. Keine einzige Seite ist beschriftet.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 29.07.2014, 12:32:15
Alarics erste Reaktion war Empörung. Der Pater lachte! Wie konnte er lachen über das, was dort geschrieben stand? Über das, was Alaric getan hatte. Oder verschwieg Lord Nasher dies? Unwahrscheinlich. Der Fürst würde wohl kaum einen Wolf unter Lämmer schicken, ohne diese vorzuwarnen, mit oder ohne Geas. Aber darüber lachen, nachdem Alaric ihm gerade erst gesagt hatte, dass es ihm bitterernst war? Was für ein seltsamer Mensch dieser Pater war. Und gar nicht so, wie Alaric es von einem Anhänger des Leidenden Gottes erwartet hätte; in seiner Vorstellung liefen sie alle mit, nun, mit leidvollen Mienen durch die Gegend. Im Kloster vom Singenden Stein wurde zudem kaum gelacht, und schon gar nicht über ernste Sachen oder derart schallend. Am ganzen Körper bebte der Pater! Alaric konnte sich nicht erinnern, wann er selbst das letzte Mal gelacht hatte. Als Junge jedenfalls, mit den Geschwistern. Vielleicht sollte er sich vornehmen, dies auch wieder zu erlernen. Vielleicht würde es ihm auf seiner Suche helfen.

Über diesen Gedanken vergaß Alaric seine Empörung. Er beschloss, den Pater zu mögen. Damit vergab er sich noch nicht allzu viel. Mögen hieß noch lange nicht vertrauen. Vertrauen würde er nach der Sache mit Meister Hairon so schnell niemandem mehr.

"Keine Frage, was mein Noviziat angeht", antwortete Alaric dem Pater. "Gehorsam habe ich bereits gelernt und die korrekten Anreden werde ich schnell genug durch Zuhören aufschnappen. Es ist wegen meiner Habe, sie liegt noch im Gasthaus zur Glänzenden Schlange und das Zimmer ist nur noch bis morgen bezahlt. Ich müsste sie heute noch holen. Hätte ich einen klareren Kopf gehabt, wäre ich zuerst dort vorbei gegangen. Darf ich sie holen?

Außerdem müsste ich Lord Nasher eine vertrauliche, vielleicht gefährliche Information zukommen lassen, bezweifel aber, dass er mich so schnell wiedersehen möchte. Es wäre jedoch dringend und könnte womöglich Menschenleben retten. Ich weiß, dass es einem Novizen nicht zukommt, eine solche Bitte zu äußern, aber könntet Ihr wohl einen Boten schicken, und zwar einen, dem Ihr vollkommen vertraut?"


"Nach deiner Habe werde ich schicken lassen. Wie lautet die Botschaft?" fragte Pater Johannes aufmerksam.

Alaric zögerte. Eigentlich hatte er an ein Schreiben gedacht. Andererseits konnte ein Schreiben in alle möglichen Hände fallen. Vielleicht wurde diese Botschaft doch besser vom Mund des Boten direkt an Nashers Ohr getragen. Nicht, dass ihm eine Wahl blieb. Entweder, er vertraute dem Pater soweit—immerhin ging es um Menschenleben, nicht nur um Alaric—oder er ließ die Sache erst einmal auf sich beruhen.

Niemals.

"Erwähnt Lord Nasher in seinem Schreiben, dass ich vier Morde begangen habe? Vier... Auftragsmorde? Ich glaube, ich weiß jetzt, wer dahinter steckt. Mein Mentor im Kloster vom Singenden Stein. Meister Hairon Bergstille. Er hat mich benutzt. Vom ersten Tag an. Warum ich das auf einmal weiß? Wegen Nashers Siegel auf dem Schreiben. Die Aufträge, die ich angeblich in seinem Namen erhielt, trugen allesamt einen Löwen als Siegel. Meister Hairon aber erklärte mir, dass die Befehle von Lord Nasher kämen. Ich habe es geglaubt. Es war eine Lüge. Mein ganzes Leben, von Anfang an, alles Lüge."

Alaric runzelte die Stirn. Der letzte Satz gehörte nicht zur Sache. Er fügte noch hinzu: "Abt Rufus Steinsänger und die anderen, ich glaube, sie wissen nichts davon. Aber der zweite Schüler von Meister Hairon, Pendagast Tiefensee, der führt ebenfalls diese Mordaufträge aus. Ob er klüger ist, als ich es war, und die Wahrheit kennt, weiß ich nicht. Nur, dass es ihm gefällt."

Alaric sagte letzteres ohne den geringsten Gedanken an Rache; es war einfach die Wahrheit.

Erst jetzt blickte er den Pater an. Während seiner Rede hatte er auf dessen Brust gestarrt aus Angst vor dem Ausdruck, den er auf des Paters Gesicht finden würde.
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 29.07.2014, 21:51:02
(http://games.dnd-gate.de/index.php?action=dlattach;topic=8014.0;attach=11360;image)
Pater Johannes
In Pater Johannes Gesicht flossen verschiedene Empfindungen in einander über. Zuerst war da Unglaube über das Erzählte. Offensichtlich war der Pater zunächst davon im Zweifel, ob Alaric sich nicht einen Scherz erlaubte, oder ob er ihn auf die Probe stellte. Doch der Pater schien zu der Überzeugung zu gelangen, dass Alaric die Wahrheit sprach, denn sein Gesicht zeigte dann Erschrecken und Trauer. Und zuletzt - lachte er. Nicht jenes schallende Lachen, sondern jenes Lachen, das man lacht, wenn eine Situation absurd-komisch ist. "Oh Ilmater! Welche Aufgabe hat Deine Vorhersehung da in meine Hände gelegt? Gab es denn niemanden, der fester im Glauben gründete oder glühender Deinen heiligen Namen verkündigte, als Dein geringer Knecht? Aber ich danke Dir für Dein Vertrauen und ich gelobe daran zu wachsen." rief er aus.

Damit wandte sich der Pater wieder seinem Novizen zu. "Alaric, was ziehst Du die Stirn kraus? Ist es nicht recht, dass ich lache? Ich sage Dir, dass es gut ist, zu lachen, so lange das Lachen nicht töricht oder unanständig ist. Es kommen Momente im Leben, in denen schwere Anfechtungen und Verfehlungen einem die Sprache rauben. Man kann nicht einmal beten. Das Herz wird einem schwer und eng, so dass es den Zweifel in sich gefangen nimmt. Gerade dann ist das Lachen die einzige Antwort, die möglich ist. Und heilsam ist es auch, weil es das Herz weitet."

"Aber nun gut, zu dem, was Du sagtest. Der Fürst erwähnte die Morde nicht und ich halte es auch für das Beste, wenn Du ihm selber schreibst. Deine Vergangenheit interessiert mich nur insofern, als dass sie Dich betrifft. Wir werden uns dafür Zeit nehmen, aber nicht heute und auch nicht morgen. Deine Aufgabe wird heute sein, dass Du Dich in den Tempelhof setzt, bis dass die Nacht einbricht. Wenn es dunkel ist, gehst Du schlafen. Du wirst um 5.30 Uhr geweckt, um 6.00 Uhr ist die Mette, danach Frühstück und um 8.30 Uhr beginnt der Unterricht. Und nun, komm!"

Pater Johannes stand hinter seinem Pult auf und ging durch den Schreibsal auf den Ausgang zu. Dabei rezitierte er:

Komm, wer du auch seiest!
Wanderer, Anbeter, Liebhaber des Loslassens, komm.
Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.
Auch wenn Du deinen Eid tausendmal gebrochen hast,
komm nur!
Und noch einmal: Komm!


Als sie auf den Tempelhof getreten waren, verlies der Pater ohne weiteres Wort Alaric. Alaric war etwas ratlos, beschloss dann, sich auf eine Bank zu setzen und zu tun, wie der Pater ihn geheißen hatte.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 30.07.2014, 02:33:14
Doch schon nach kurzer Zeit wurde Alaric unruhig. Sitzen. Das fängt ja gut an. Ist das meine erste Lektion? Wenn ja, was soll ich dabei lernen? Und warum fällt es mir so schwer? Geduld haben mir die Brüder vom Singenden Stein[1] doch wahrlich genauso gründlich eingehämmert wie den Gehorsam. Oder nicht? War meine Geduld niemals Geduld, sondern nur Gleichgültigkeit? Und weil mir nicht mehr alles gleichgültig ist, da ist's auch gleich mit meiner Geduld vorbei?

Er versuchte zu meditieren, doch es wollte ihm nicht gelingen. Normalerweise tat er es nämlich in Bewegung, bis seine Gedanken sich im Einklang mit seinen Gesten drehten und wendeten, bis Geist und Körper vereint waren durch den langsamen Tanz, das Spiel mit dem Schatten, bis er sich in der Schwebe befand, im perfekten Gleichgewicht.

Er war einfach zu aufgewühlt. Und von allen Dingen, die heute passiert waren und von denen er die Hälfte nicht so recht kapiert hatte, geschweige denn sich eine Meinung dazu gebildet, plagte ihn ein Gedanke am meisten: der Pater hatte sein Stirnrunzeln missverstanden. Der Mann glaubte tatsächlich, Alaric hätte Anstoß an seinem Lachen genommen. Nun, ehrlicherweise hatte Alaric das auch—beim ersten Mal, als der Mann ihm schallend ins Gesicht lachte, wo Alaric doch mit gar so klammem Herzen daherkam, obwohl auch dies im Nachhinein erklärbar war, wenn Lord Nasher in seinem Schreiben versäumt hatte, Alarics Verbrechen zu erwähnen...

Verflixt! So unordentlich wie heute waren Alarics Gedanken noch niemals gewesen, verirren musste man sich darin! Es schien, als würden seine Gedanken die ihm zur wahren Balance fehlende Bewegung ausgleichen wollen, indem sie selbst wild durcheinander rasten. Wo war ihm der Faden verloren gegangen? Hatte er den Satz überhaupt richtig beendet?

Also, das Stirnrunzeln jedenfalls, das stört mich, dass der Pater dies auf sein Lachen bezogen hat, wenn es doch nur mir selbst galt. Das Lachen gefällt mir doch eigentlich ganz gut an ihm. Vor allem die zweite Art; die, mit der er die ihm auf den ersten Blick vielleicht absurd erscheinende Aufgabe akzeptiert hat, einem vierfachen Mörder die Bedeutung von Moral, Güte und Gnade beizubringen; mit der er dem Schicksal ins Gesicht lachte, aber nicht mir; mit der er zu sagen scheinen wollte: Ha, dann packen wir's an! Und die folgende Erklärung, die gefällt mir auch. Lachen, wenn einem die Worte im Halse stecken bleiben, wenn einem die Kehle zum Atmen zu eng wird, die Brust zum Heben zu schwer. Lachen soll man dann!

Alaric versuchte es, doch es wurde nur ein spöttisches Schnaufen daraus. Also gut, auf Anhieb schaffte man so etwas natürlich nicht. Da würde er lange üben müssen.

Und noch immer saß er da. Gerade einmal später Nachmittag war es. Immer wieder kamen Leute vorbei.[2] Einige grüßten ihn mit einem Nicken oder knappen Worten, andere sahen sich neugierig nach ihm um, wieder andere—die jüngeren zumeist, welche dieselben schlammgelben Roben trugen wie er selbst—blieben bei ihm stehen und versuchten, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Einen davon bat Alaric um einen Stift, damit er etwas in seiner "heiligen Schrift" notieren könne (welche sich als leeres Heft herausgestellt hatte); man half ihm bereitwillig aus. Und so notierte er, während drei Novizen ihm dabei zusahen, die Worte des Paters zum Lachen, so gut er es aus der Erinnerung vermochte, und dachte auch noch eine Weile darüber nach.

Die Sonne zog langsam ihre Bahn. Je länger die Schatten wurden, desto schwerer fiel Alaric das Sitzen. Eigentlich wäre jetzt Zeit für sein Abendtraining. Er war es gewohnt, dreimal am Tag zwei Stunden lang zu trainieren, obwohl er das Mittagstraining auf Reisen meist ausfallen ließ. Aber der Pater hatte ihm eine klare Anweisung gegeben, die einen Sinn haben musste, auch wenn dieser sich Alarics Verständnis entzog.

Die Zeit verging einfach nicht. Seine Muskeln begannen zu zittern und zu verkrampfen. Er versuchte die verschiedensten Sitzpositionen aus, sowohl auf der Bank als auch auf dem Boden, es half alles nichts. Da, endlich! Ein rötlicher Schimmer am Horizont. Bald wäre die Qual vorbei.

Was ihn wohl morgen beim Unterricht erwartete? Unterricht worin? Bei wem? Wer würde noch dabei sein? Würde er Pater Johannes morgen wiedersehen? Dann wollte er die Sache mit dem Stirnrunzeln und dem Lachen aufklären. Obwohl... wahrscheinlich würde der gute Mann die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und ein Dutzend Mal seinen Gott anrufen: "Was, ich soll diesem Menschen auch noch das Lachen beibringen? Grundgütiger Ilmater! So fest ist mein Glaube nicht, da such dir lieber einen anderen Knecht, das schaff ich nicht!"

Endlich verschwand die Sonne hinter den Hausdächern. Alaric wartete noch etwas, bis er ganz gewiss war, dass man dies nun mit bestem Gewissen "Einbruch der Nacht" nennen durfte, und machte sich auf den Weg in seine Schlafkammer. Dort angekommen, stellte er fest, dass jemand inzwischen seine Sachen aus der Herberge geholt hatte. Die Waffen fehlten—das hatte er nicht anders erwartet—aber sonst schien alles da. Also zog Alaric sich aus, vollführte die kürzeste Form seiner Bewegungsmeditation und davon auch nur einen Durchgang—schwierig genug in der Enge seiner Kammer—bevor er sich wusch und zu Bett begab. Trotz dieser Vorbereitungen verfolgten ihn die Gedanken auch hinter geschlossenen Lidern.

Warum hatte der Pater ihm mit der Nachricht an Lord Nasher nicht helfen wollen? Für ihn wäre es ein einfaches gewesen! Wie sollte Alaric es nur bewerkstelligen? Einen Brief schreiben und dann? Wem konnte er einen solchen anvertrauen? Niemandem. Er würde doch selbst gehen müssen. Aber man würde ihn nicht vorlassen, dessen war er sich sicher. Für den Fürsten war die Sache erst einmal abgehakt. Es lebten noch achttausend weitere Bürger in seiner Stadt, um die er sich kümmern musste, allesamt ehrenwerter und beschützenswerter als Alaric.

Überhaupt, Lord Nashers Schreiben! Wie seltsam, dass er nichts von Alarics Verbrechen erwähnt hatte. Um einen Kranken zu kurieren, musste man doch erst einmal wissen, an was er litt! Daher bedauerte Alaric nicht, es dem Pater gesagt zu haben. Irgendwie schien er dessen Ehrgeiz dadurch ja sogar beflügelt zu haben. Und vielleicht erhöhte es Alarics Chance, hier tatsächlich etwas zu erreichen.

Und der Pater hatte ihn nicht so angesehen, wie er befürchtet hatte.

Irgendwann, von ihm selbst unbemerkt, glitt er in den Schlaf hinab. Es war noch dunkel, als man ihn weckte. Er fühlte sich seltsam frisch und erholt. Noch seltsamer aber war das fremde Gefühl, das er erst nach einigem Herumrätseln erkannte und benennen konnte: Neugier! Kaum konnte Alaric es fassen. Zum ersten Mal seit... er erinnerte sich beim besten Willen nicht seit wann... war er neugierig auf den Tag, der vor ihm lag. Was mochte dieser ihm bringen?
 1. Apropos, wenn der Orden des Inneren Auges sein Kloster auch in den Felsklüften gebaut hat, dann hat Pater Johannes vielleicht doch schon vom Orden des Singenden Steins gehört, zumal sich ja nun herausstellt, dass diese bis auf Hairon und Schüler doch ein halbwegs ehrenwerter Haufen sind.
 2. Diesen und die weiteren Sätze des Absatzes habe ich angepasst, damit alles zum folgenden Post des SL passt (ich hatte wohl den Betrieb hier unterschätzt.)
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 30.07.2014, 10:35:21
Alaric verbrachte den ganzen Tag im Tempelhof, so wie es der Pater ihm befohlen hatte. Seine Gedanken waren durcheinander und sprangen ihm wild durchs Bewusstsein, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Auch das Meditieren gelang ihm nicht, was mitunter auch daran lag, dass er ständig von irgendwelchen Menschen gestört wurde.

Zunächst waren da die anderen Novizen, die zu ihm kamen. Es waren alles noch sehr junge Burschen, die das Klosterleben noch nicht verinnerlicht hatten. Einer von ihnen war ein rechter Springinsfeld, ein anderer eher nervös (er stotterte). Der dritte Novize war besonders nett. Er stellte sich als Novize Benno vor, hieß Alaric fröhlich willkommen und schwatzte dann über die Klosterküche, dass das Essen in Ordnung wäre, aber es zu wenig abwechslung gäbe und man selten einen Nachschlag bekäme. Verschwörerisch flüsterte er Alaric dann zu, dass er meistens einen kleinen Vorrat an Pfefferkuchen und Nüssen hätte, den er auch gerne teile. "Es sind die alten Witwen, die viel Pflege benötigen, aber den jungen Novizen auch etwas Gutes tun wollen. Du weißt, Alaric, dass wir keine Geschenke für unseren Dienst am Nächsten annehmen dürfen. Aber ich sage Dir, es gibt auch so etwas wie eine 'verletzende Bescheidenheit'. Ich bringe es nicht übers Herz, die Pfefferkuchen abzulehnen, die sie extra für mich gebacken haben." Novize Benno zwinkerte Alaric zu.

Dann lernte Alaric auch viele von den Brüdern kennen. Die Brüder stellten sich vor und fragten nach Alarics Namen, zu seiner Überraschung aber nicht nach seinem früheren Leben. Offensichtlich waren die Brüder der Meinung, dass dieses jetzt nicht mehr von Bedeutung war. Die Gespräche waren ansonsten sehr nett, aber kurz.

Nicht zuletzt lernte Alaric auch einige Hilfesuchende kennen. Sie betraten den Tempelhof und sprachen einfach den Nächstbesten an, der so aussah, als könnte er helfen. Meistens bekam Alaric auch gleich die Geschichte zu hören: Kinder, die giftige Beeren gegessen hatten, Männer, denen beim Handwerk der Hammer abgerutscht war, Frauen, die in den Geburtswehen lagen usw. usf. Alaric musste dann immer sagen, dass dies sein erster Tag war und er nur raten konnte, in den Tempel zu gehen und dort die Priester anzusprechen.

Am Ende des Tages, als die Sonne schon untergegangen war und sich Alaric zu Bett begeben hatte, dachte er noch einmal über Pater Johannes' Aufgabe nach. Innerhalb eines einzelnen Tages hatte er fast die gesamte Bruderschaft und einige der alltäglichen Geschäfte des Tempels kennengelernt. Pater Johannes hatte ihm eine peinliche Vorstellung vor der Bruderschaft erspart und den Brüdern stattdessen selbst die Möglichkeit gegeben, den neuen Novizen kennenzulernen. Ganz ungezwungen.

Zwei Dinge waren Alaric auf dem Klosterhof jedoch vorerst fremd geblieben und über eines war er froh. Das erste war, dass er den ganzen Tag über niemanden auf der Trainingsfläche gesehen hatte. Das andere war, dass die Tempelschwestern ihn den ganzen Tag über ignoriert hatten.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 30.07.2014, 11:31:05
Viel zu schnell war Alaric mit der Morgenwäsche fertig, sodass ihm noch einige Zeit des Wartens blieb, bis er sich auf den Weg zur Mette würde machen müssen. Dabei fiel sein Blick auf seine Zeichenmappe (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8016.msg923027#msg923027)[1], die er gestern nur vom Bett, wo man seine gesamte Habe einfach abgelegt hatte, auf den Tisch geräumt hatte. Nachdenklich strich Alaric darüber. Sein ganzes Leben war darin, zusammengefasst in einem Dutzend Kohlezeichnungen. Hier drin wenigstens gab es keine Lüge.

Verunsichert hielt er inne. Mit einer Schleife war die Mappe zugebunden—war das seine? Er machte doch normalerweise keine Schleife, sondern legte die Schnüren so, dass die Schlinge auf der einen Seite beide Male oben lag, auf der anderen Seite unten[2]. Hatte da jemand hineingeschaut? Durchgeblättert bis zum Schluss? Man musste schon ganz nach hinten blättern, um die vier kleineren Bilder zu finden, die Alaric aus Gründen, die rational nicht erklärbar waren, immer noch nicht verbrannt hatte, obwohl er sich des öfteren eingestand, dass es eigentlich Wahnsinn sei, so etwas mit sich herumzuschleppen. Vielleicht hielt er daran fest, weil sie die Wahrheit zeigten. Wie verlogen auch die Machenschaften dahinter aussahen—der jeweilige Augenblick, den sie festhielten, zeigte die Wahrheit.

Musste er sich also Sorgen machen, dass wer auch immer seine Sachen geholt hatte, diese Wahrheit gesehen und als solche erkannt hatte? Oder vielleicht war Pater Johannes hier in Alarics Zimmer gewesen, während dieser auf dem Hof saß, und hatte seine Sachen durchwühlt? Alaric wusste nicht, was ihm weniger lieb wäre; er tendierte zu letzterem, auch wenn dies eigentlich für ihn das geringere Problem darstellen sollte, denn schließlich wusste der Pater ja bereits von den Morden.

Dabei war beides Unfug. Ein Bruder des Ilmaters würde doch keine private Zeichenmappe öffnen und durchwühlen, oder? Verflixt, Alaric war sich nicht einmal sicher, ob er sie nicht offen auf dem Tisch in der Herberge hatte liegen lassen, am Tag, als er sich zur Audienz bei Lord Nasher aufmachte. An den Tagen davor hatte er nämlich viel gezeichnet, auch wenn er alles bis auf das eine Bild wieder zerknüllt und in der Gaststube ins Feuer geworfen hatte. Gut, aber hatte er die Zeichnungen an jenem Morgen denn auch wieder in der Mappe verstaut und diese verschnürt und in den Schrank zurückgeräumt? Das wollte ihm nicht einfallen.

Das Glockenläuten schreckte ihn aus den Gedanken und er eilte aus dem Zimmer, der Kapelle entgegen.
 1. Ich wusste nicht so recht, was ich schreiben sollte - da ja keine Zeit vergangen ist zu meinem letzten Post - oder ob ich überhaupt etwas schreiben sollte oder von Dir noch ein weiterer Post kommt, daher die Idee mit der Mappe, Interpretation offen! (Entweder Alaric ist bloß paranoid oder es hat tatsächlich jemand hineingeschaut; dabei entweder nur das oberste Bild - freie Auswahl! - oder alle gesehen... :))
 2. so (http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5c/Knoten_Kreuzknoten.jpg)
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 30.07.2014, 15:23:15
Die Mette

Alaric kam gerade noch rechtzeitig und nahm in einer der Reihen Platz. Verstohlen sah er sich um. Nicht nur die Brüder und die Novizen waren hier versammelt, sondern auch Männer und Frauen aus dem Volk. In der kommenden Stunde wurde gebetet, gesungen und aus der heiligen Schrift verlesen. Die Mette erschien Alaric nicht so anders, so ähnlich war er es auch von seiner alten Bruderschaft gewohnt, natürlich wenn man davon absah, dass hier nicht Helm, Torm oder Kelemvor sondern Ilmater angerufen wurde. Überrascht war er lediglich von den Fürbitten, die eine beträchtliche Zeit einnahmen, und dem hohen Anteil an Gesängen. Pater Johannes sollte später sagen, dass die Gesänge in der Bruderschaft als besonders wichtig gelten: "Jeder Septimanar[1] hält seine Predigt nur ein einziges Mal. Aber die Gesänge wiederholen sich immer und immer wieder. Viele Menschen erinnern sich nicht an eine Predigt, sondern an einen Gesang, wenn das Leben eine Frage an sie stellt. Wenn Du so willst, dann sind die Gesänge das Predigen des einfachen Mannes."
 1. Hier Bezeichnung für den Bruder, der jeweils die Metten der Woche leitet. (http://de.wikipedia.org/wiki/Hebdomadar)
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 30.07.2014, 15:31:36
Der Unterricht

Von allen Elementen des Klosterlebens empfand Alaric den Unterricht bei Pater Johannes am außergewöhnlichsten. Auch im Kloster zum singenden Stein hatte er Unterricht gehabt. Der Unterricht bestand im Wesentlichen daraus, dass der dortige Lesemeister seinen Schülern die heiligen Schriften diktierte und diese mussten den Text nicht nur korrekt übertragen, sondern auch noch zur nächsten Stunde auswendiglernen. Wenn ein Schüler sich verschrieben hatte oder beim Rezitieren ins Stocken kam, dann erntete er Stockhiebe auf die Handflächen[1]. Wenn der Lesemeister eine Frage stellte, dann erwartete er, dass die Schüler das passende Schriftzitat kannten und im Sinne dieses antworteten[2]. Fragen der Schüler hingegen wurden nicht beantwortet, außer vielleicht mit weiteren Stockhieben.

Der Lesemeister des Ilmater Tempels war Pater Johannes. Zunächst empfand Alaric diesen Titel jedoch als verfehlt, denn gelesen wurde im Unterricht tatsächlich sehr wenig. Es schien ihm zunächst so, als dass der Pater und die Schüler völlig undiszipliniert über die Götter und die Welt plauderten. Es brauchte seine Zeit, bis Alaric das System dahinter verstand[3]. Pater Johannes begann stets damit, dass er eine möglichst allgemeine Frage aufwarf und die Schüler nacheinander aufforderte, auf diese zu antworten. War der Pater mit der Anzahl der Fragen zufrieden, so bündelte er die Aussagen und konkretisierte sein Frage oder nahm Rückbezug auf eine Aussage, die ihm besonders interessant erschien. Wieder waren die Schüler aufgefordert, darauf zu antworten und der Pater stellte weitere Nachfragen. Im Übrigen achtete der Pater darauf, dass die Antworten nicht ausschweiften oder die Frage verfehlten. Oft stellte sich ziemlich schnell ein erster Konsens oder ein Problem heraus. Pater Johannes antwortete darauf, indem er eine kleine Anekdote aus den Biografien der Heiligen zitierte oder eine Parabel erzählte. Jeder Schüler musste dann die Lektion oder die Moral formulieren. Das Ende der Lehrstunde war immer gleich: Pater Johannes formulierte das Ergebnis des Diskurses und sagte daraufhin: "Dieses und noch viel mehr meinte Ilmater als er uns jenes Wort gab, welches lautet:", dann rezitierte er einen Vers oder einen Absatz aus der heiligen Schrift und endete mit den Worten "Lasst uns diesen Wortes den Tag über gedenken. Aber wisset, dass ein ganzes Menschenleben nicht ausreicht, um seine göttliche Weisheit zu begreifen."
Der Rohrstock kam übrigens niemals in Gebrauch. Wenn einer der Schüler etwas sagte, das Pater Johannes nicht gefiel, dann sagte er "Das ist sicherlich nicht Ilmaters Wille. Das weißt Du besser."

Obwohl diese Art des Unterrichts jeder Art von Disziplin entbehrte, merkte Alaric, dass die Schüler ganz bei der Sache waren und sich auf jede Unterrichtsstunde freuten. Wenn einer krank war, dann ließ er sich von den anderen Novizen berichten. Als Gedächtnisstütze und zur Erinnerung schrieben alle eifrig mit in jene Büchlein mit den weißen Seiten, von denen Alaric auch eines besaß. Außerhalb des Unterrichts fügten sie weitere Gedanken hinzu, zitierten die Schrift oder Heiligenbiografien oder zeichneten Bilder in das Buch. Pater Johannes machte es sich zur Aufgabe, am Ende jedes Zehntags die Büchlein einzusammeln. Er trug dann seinerseits Gedanken und Kommentare ein, stellte Fragen oder schrieb "Das ist sicherlich nicht Ilmaters Wille. Das weißt Du besser." an den Rand. Alaric verstand, dass der Pater auf diesem Weg mit seinen Schülern auch über den Unterricht hinaus kommunizierte, so dass die Auslegung der Schrift die Schüler manchmal den ganzen Tag über begleitete. Keiner der Novizen wollte seinen Lesemeister enttäuschen, im Gegenteil, sie alle wünschten sich seine Anerkennung.

Eine für Alaric besonders denkwürdige Stunde begann mit folgender Frage: "Was ist Recht und Ordnung?" Dabei sah er Alaric an und Alaric wusste, dass er antworten musste[4].
 1. Sogenannte Tatzen (http://de.wikipedia.org/wiki/Tatze_%28Strafe%29)
 2. Deduktives (http://de.wikipedia.org/wiki/Deduktiv) Schlussfolgern
 3. Eine Art induktiven (http://de.wikipedia.org/wiki/Induktion_%28Philosophie%29) Denkens
 4. Der Autor hofft, dass er in Sachen Lehrbefähigung seiner Figur nicht allzu deutlich hinterhersteht :P
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 31.07.2014, 01:59:49
Alaric, welcher in der letzten Reihe saß—er fühlte sich nicht wohl, wenn ihm jemand im Rücken saß—erstarrte. In den vergangenen Wochen hatte der Pater ihn im Unterricht noch kein einziges Mal angesprochen und Alaric hatte auch nie von sich aus das Wort ergriffen. Nun drehten sich alle nach ihm um und er wandt sich innerlich unter dem erwartungsvollen Blick von acht Burschen, die allesamt jünger waren als er. Äußerlich blieb er dagegen ruhig und gelassen.

Recht und Ordnung, das war im Kloster vom Singenden Stein natürlich oft genug Thema gewesen, und er hatte viele nette Sprüchlein dazu auswendig lernen müssen, doch Alaric spürte, dass Pater Johannes keins von diesen hören wollte. Obwohl er die Frage absolut gestellt hatte, wollte er eigentlich wissen, was Alaric unter Recht und Ordnung verstand. Es ging um Meinung, allenfalls Verständnis oder Missverständnis, nicht um Lehrbuchdefinition.

Es hatte noch nie jemand Alaric nach seiner Meinung gefragt.

Alaric überlegte kurz. Er hätte gerne länger überlegt, aber das fiel ihm schwer unter den drängenden Blicken. Er ignorierte die anderen Novizen so gut er konnte und sah nur den Pater an.

"Ordnung ist, wenn jeder seinen Platz hat und immer weiß, was er tun muss, und auch jedes Ding seinen Platz hat und man weiß, wo man es finden kann", begann er mit dem, was er für den leichteren Begriff hielt. "Und Recht, das sind die Regeln einer Gemeinschaft. Die können entweder von oben auferlegt sein, wie Gesetze es meistens sind, oder sie können von einer Gruppe selbst definiert werden, ungeschrieben sein, wenn die Gruppe nämlich Fehlverhalten einheitlich auf eine bestimmte Weise ahndet oder richtiges Verhalten belohnt."

Das war alles, was ihm so auf die Schnelle einfiel. Pater Johannes sah ihn aber immer noch aufmerksam an, als wolle er sagen, dass Alaric da sicherlich noch etwas mehr herausholen könne.

"Mit einem Bild könnte ich besser beschreiben, was ich meine. Wenn Ihr wollt, zeichne ich heute abend eins. Oder jetzt. Ich zeichne schnell, ich könnte vor Ende der Lektion fertig sein. Mit Worten bin ich einfach nicht so gut wie mit dem Zeichenstift."

Pater Johannes nickte. Alaric meinte gar, Neugier in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Rasch bat er sich noch ein besseres Papier aus—sein heiliges Buch war einfach zu klein—dann machte er sich ans Werk.

Er hätte erwartet, dass Pater Johannes und die anderen Novizen derweil seine Aussage auseinanderrupfen und ihre eigenen Vorschläge diskutieren würden; statt dessen sahen sie ihm beim Zeichnen zu: der Pater schweigend, die Novizen von gelegentlichem Tuscheln abgelenkt.

Und Alaric hatte nicht gelogen. Seine Zeichnungen beschrieben besser als seine Worte—viel besser—was er unter Recht und unter Ordnung verstand.

Das erste Bild zeigte, dass für Alaric Ordnung im wesentlichen mit Disziplin zusammenfiel. In klaren Linien und kühlem Detail bot sich dem Betrachter eine Szene aus dem Klosterleben dar, ähnlich wie Alaric es erlebt hatte, nur dass hier mehrere Reihen von Novizen—vier Dutzend bestimmt—auf ihren Schulbänken saßen, so ordentlich aufgereiht wie Soldaten bei einer Parade, alle in die gleiche Richtung, nämlich zum Lehrer blickend.[1]

Das Bild zu Alarics Verständnis von Recht aber zeigte Lord Nasher, wie er über einem vor ihm knieenden Gefangenen Recht sprach. Das Gesicht des Gefangenen war nicht zu sehen. Zwar war er von der Seite gezeichnet, doch drehte er den gesenkten Kopf zur anderen weg, als ertrüge er den Blick des Betrachters nicht in seiner Scham. Das Gesicht Lord Nashers dagegen war so lebensecht, so lebendig, dass man kaum glauben konnte, jemand könne es gezeichnet haben, ohne dass Nasher ihm tatsächlich Porträt saß.

Es war das beste Bild, das Alaric in seinem ganzen Leben gezeichnet hatte. Es war... Perfektion. Der Hofmaler Lord Nashers hätte es nicht besser hinbekommen. Nein, nicht annähernd so gut hätte er es hinbekommen, weil er niemals auf diese Art Recht von Nashers Hand erfahren hatte, so wie Alaric es am eigenen Leib erleben durfte; er, der Hofmaler, hatte niemals diesen Ausdruck auf dem Gesicht seines Fürsten gesehen, den Alaric hier eingefangen hatte, den er auf sich selbst hatte ruhen sehen an jenem Tag, als er vor ihm kniete, als dieser Gesichtsausdruck sich in seine Erinnerung eingebrannt hatte: Strenge, Gnade, Güte, Hoffnung, aber auch die Angst vor Enttäuschung, die Bitte, nicht zu enttäuschen...[2]

Als Alaric fertig war, hielt er die beiden Zeichnungen hoch.
 1. Wurf auf Zeichnen = 25
 2. Wurf auf Zeichnen = 30 (natürliche 20!)
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 31.07.2014, 08:59:23
(http://games.dnd-gate.de/index.php?action=dlattach;topic=8014.0;attach=11360;image)
Pater Johannes
"Das ist sehr, sehr gut geworden, Zeuge Alaric.", sagte Pater Johannes voller Anerkennung. Alaric fiel derweil wieder auf, dass der Pater ihn 'Zeuge' genannt hatte. Er nannte die Novizen immer Zeugen, aber nur während des Unterrichts. Ansonsten sprach er sie, wie allgemein üblich im Kloster, als 'Novizen' an. "Die Figuren wirken sehr lebensecht. Der Betrachter fragt sich unwillkürlich, ob er selbst an der Gemeinschaft schuldig geworden ist, und hofft, dass unser Fürst nicht aus dem Bild springen möge, um Gericht zu sprechen." Der Pater lachte. "Aber sag, Zeuge Alaric, Du sagtest so selbstverständlich, dass Ordnung und Recht von einer Person oder einer Gruppe hergestellt werden. Ich finde das bemerkenswert. Bedeutet das nicht, dass Recht und Ordnung zwei relative Dinge sind? Heute so und morgen so? Verlieren Recht und Ordnung nicht ihre Verbindlichkeit, wenn sie jederzeit geändert werden können?"
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 31.07.2014, 11:16:10
Alaric wäre dem forschenden Blick des Paters gern ausgewichen, aber er zwang sich standzuhalten, während er sich darüber wunderte, wie seine kurze und eigentlich klare Aussage so viele Fragen aufwerfen konnte. Ihm fiel eine Gemeinsamkeit zwischen Pater Johannes und Lord Nasher auf: jedes Wort drehten sie einem im Mund herum oder hinterfragten es, wodurch alles, was zuvor einfach schien, plötzlich kompliziert wurde.

"Nicht, wenn die Person, die Recht spricht, sich stets nach seinem Gewissen richtet und nach den Maßstäben, die er bei sich selbst anlegen würde", antwortete er. "Das ändert sich nicht so schnell. Und in der Gruppe, nun, da gilt meiner Erfahrung nach, dass die Dinge so gemacht werden, wie die Vorväter sie schon gemacht haben, weil es eben immer schon so gemacht wurde.

Aber vielleicht habe ich Eure Frage enger aufgefasst, als Ihr sie verstanden haben wolltet. Ich dachte nur an unsere Gesellschaft, dabei gibt es natürlich noch die kosmische Ordnung und die göttliche Rechtsprechung. Über beides habe ich, wenn ich ehrlich bin, noch nicht viel nachgedacht. Die Welt ist, wie sie ist, und die Götter... nun, ihr Wille bleibt unergründlich. Dem Menschen steht zudem darüber keine Meinung zu, während über die kosmische Ordnung nachzudenken mir recht sinnlos erscheint, da man ja doch nichts daran ändern kann. Was nutzt es, sich zu fragen, warum alles, was geboren wird, sterben muss, oder warum die Natur so eingerichtet ist, dass des einen Tod dem anderen Leben bringt? Jedes Aufbegehren dagegen ist zwecklos, und jedes Fragen nach dem Warum kann nur in Verzweiflung enden."


Alaric runzelte die Stirn, dann fügte er noch hinzu: "Wobei es fast genauso zwecklos ist, gegen die gesellschaftliche Ordnung aufzubegehren; auch das kann nicht gutgehen. Die Gruppe ist immer stärker als der einzelne."

Aber nun war sein Mund schon ganz trocken vom vielen Reden, also klappte er ihn zu.

Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 02.08.2014, 16:08:17
(http://games.dnd-gate.de/index.php?action=dlattach;topic=8014.0;attach=11360;image)
Pater Johannes
Pater Johannes lächelte zufrieden. "Sehr gut, Zeuge Alaric. Sehr gut, denn Du hast erkannt, dass eine Ordnung sich nicht aus sich selbst heraus begründen kann. Ohne eine Begründung sind Recht und Ordnung stets freischwebend, sozusagen, und stets anfechtbar. Es bedürfte einer Menge Gewalt, um sie aufrecht zu erhalten. Einer Menge an Gewalt, wie sie nur ein Tyrann aufbrächte. So etwas läge unserer Stadt aber ferne. Nun aber die Frage, was kann Recht und Ordnung begründen? Erstaunlicherweise hast Du gleich vier Begründungen angedeutet - und jede dieser Begründungen wurde von mindestens einem großen Theoretiker herangezogen. Diese sind: das Gewissen, die Vernunft, die Tradition und die göttliche Ordnung. Welches ist die 'richtige' Begründung?", fragte der Pater und blickte unter seinen Schülern umher.

"Die Zeit ist schon vorangeschritten und daher will ich von der Routine abweichen und selber eine Antwort wagen. Wie es sich mir darstellt, können die letzten drei Möglichkeiten nicht überzeugen. Man hat viel über die Vernunft geschrieben und auch beachtliche Gedankengebäude auf ihr aufgebaut. Dabei hat man aber vergessen, dass Vernunft keine Eigenschaft ist, die jeder Mensch in gleicher Weise hat. Was wir als vernünftig ansehen, ist nicht unwesentlich eine Sache der Erziehung. Was unseren Vorväter vernünftig erschien, kann uns heute zum Teil nicht mehr überzeugen. Was Menschen anderer Kulturen vernünftig erscheint, erscheint uns zum Teil unkultuviert. Was Menschen anderer Familien vernünftig erscheint, erscheint Menschen einer anderen Familie zum Teil als Marotte oder Idiotie. Mit anderen Worten, Vernunft ist nicht unwesentlich eine Sache der Kultur.

Mit der Tradition lässt sich vieles Begründen. Große Meister alter Tage haben ihre Ansichten niedergeschrieben und die Hohen haben über langwieriges Ausprobieren herausgefunden, wie man ein Volk zu seiner Zufriedenheit regieren kann. Mir als Lesemeister nötigt das großen Respekt ab. Es ist meiner Meinung aber nicht weise, der Tradition blind zu vertrauen. Man wiederholte nämlich nicht nur das Gute vergangener Generationen, sondern auch ihre Fehler. Von einem großen Meister aus Kara-Tur wird berichtet, er habe seinen Schülern einmal gesagt: 'Sucht nicht in meine Fußstapfen zu treten, sondern sucht was ich gesucht habe'. Das ist ein sehr umsichtiger Satz, den jeder Lehrer seinen Schülern sagen sollte.

Was ist mit der kosmischen und göttlichen Ordnung? Ohne Frage erscheint es uns gut oder zumindest unumgänglich, was die Götter wollen. Aber es wäre ein heikles Geschäft, aus der göttlichen Ordnung eine menschliche Ordnung abzuleiten. Wie Du schon sagtest, Zeuge Alaric, wir sind nur Menschen und können den göttlichen Ratschluss kaum erkennen. Wiederum, ein Suchender sagte nach einem langen Leben: 'Sei nicht schnell mit deinem Munde und lass dein Herz nicht eilen, etwas zu reden vor Gott; denn Gott ist im Himmel und du auf Erden; darum lass deiner Worte wenig sein'.

Zuletzt bleibt also das Gewissen. Welch wundervolle Einrichtung der Götter. Das Gewissen ist eine Art innerer Kompass. Subtil gibt es die Richtung des Lebens vor, ohne jedoch das Wesen zu determinieren. Das Gewissen zeigt das Gute, nimmt dem Geschöpf aber nicht seine Freiheit. Es ist der Grund, warum jedes Lebewesen zu Liebe und Barmherzigkeit fähig ist, selbst die Orks und die Drow. Die Existenz des Gewissens ist für mich Grund genug, zu glauben, dass die kosmische Waagschale immer ein wenig in Richtung des Guten ausschlägt. Freilich, es gibt genug Menschen, die dem Gewissen nicht trauen. Sie sagen, dass das Gewissen durch die Erziehung ausgeschaltet werden kann. Das ist richtig - und es ist auch der Grund, warum ich niemandem raten kann, die ersten drei Begründungen ganz zu vernachlässigen. Aber das wichtigste ist das Gewissen. Ohne Liebe und Barmherzigkeit kann keine Gesellschaft bestehen, es sei denn, sie sei eine Tyrannei.

Dieses und noch viel mehr meinte Ilmater als er uns jenes Wort gab, welches lautet: 'Seid barmherzig, wie auch ich barmherzig bin. Und liebt einander, wie ich Euch liebe. Mein Gesetz und meine Propheten haben niemals etwas anderes von Euch verlangt.' Lasst uns diesen Wortes den Tag über gedenken. Aber wisset, dass ein ganzes Menschenleben nicht ausreicht, um seine göttliche Weisheit zu begreifen."

Damit war der Schlusssatz gefallen. Die Schüler schlugen ihre Bücher zusammen und sammelten ihre Schreibutensilien zusammen. Bald würde das Mittagsgebet beginnen.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 02.08.2014, 19:14:17
Das Gewissen sollte von allem das wichtigste sein? Das gab Alaric zum einen Hoffnung, denn er war sich sicher, dass er ein Gewissen durchaus besaß. Doch Pater Johannes schien Gewissen mit Liebe und Barmherzigkeit gleichzusetzen, was Alaric äußerst beunruhigte und verwirrte. Auch die Bestätigung, dass Gewissen durch Erziehung verdorben oder gar ausgeschaltet werden konnte, war ernüchternd—in seinem heiligen Buch hatte Alaric diesen Satz doppelt unterstrichen. Wo war sein Gewissen gewesen, damals in Tiefwasser? Die Antwort war leicht: es war die ganze Zeit dabei gewesen und hatte ohnmächtig zugeschaut. Er hatte es sogar gehört, diese verzweifelte Stimme in seinem Kopf, viel zu leise und verzagt, um etwas zu erreichen. Mit Angst hatte er sie verwechselt und daher mit der ganzen Kraft seiner Überzeugung—Indoktrination!—zum Verstummen gebracht.

Alaric fand es sehr erstaunlich, was Pater Johannes aus seinen, des Schülers, unbeholfenen Ausführungen gemacht hatte. Gewissen, Vernunft, Tradition und die göttliche Ordnung... hatte Alaric wirklich von all dem gesprochen? Wenn ja, dann wirr durcheinander. Der Pater hatte die vier Prinzipien irgendwie aus dem Wirrwarr herausgehört, benannt und geordnet und dann einleuchtend dargestellt.

Und statt den Schüler für seine mangelnde Redegewandtheit zu tadeln, hatte er ihn gelobt—übrigens schon zum zweiten Mal. (Das war doppelt so oft wie in seinen sechzehn Jahren im Kloster vom Singenden Stein.) Alaric hatte eigentlich erwartet, dass der Pater seine Aussage auseinander nehmen würde, dass er die Fehler darin aufdecken und vielleicht gar der Lächerlichkeit preisgeben würde, wie es Alaric oft genug in seinem alten Kloster widerfahren war.

Am meisten gefreut aber hatte er sich ja über das Lob des Paters für seine Zeichnungen. Das kannte er ganz anders von früher. "Pack endlich deine Kritzeleien weg", hatte Bruder Alban, Lesemeister des Klosters vom Singenden Stein, ihn ständig angeschrien, "sonst fliegen sie ins Feuer!" Da waren sie dann auch oft genug gelandet. Einmal hatte der Bruder gar Alarics gesamte Mappe den Flammen übergeben, und Alaric hatte sich gehörig die Hände verbrannt bei dem Versuch, sie daraus zu erretten—weswegen er zum Überdruss auch noch eine Tracht Prügel verabreicht bekam. Das einzige Lob, das er in der ganzen Zeit je erhalten hatte—von Meister Hairon—galt der erfolgreichen Durchführung seines ersten Mordauftrages.

Alaric schob diesen Gedanken mit Gewalt beiseite, klappte sein heiliges Buch zu, in dem er so gut er konnte mitgeschrieben hatte, auch wenn er heute abend noch einiges würde ergänzen müssen[1], und erhob sich.

Er wartete noch, bis die anderen acht Novizen den Raum verlassen hatten, dann trat er auf Pater Johannes zu.

"Bitte entschuldigt, Pater Johannes, ich hätte noch eine Frage", begann er zögernd. "Eigentlich könnt Ihr Euch denken, worum es geht. Es ist nun mehrere Wochen her und ich... also, ich habe noch keine Lösung gefunden und es lässt mich nicht los..." Er vergewisserte sich durch einen Blick in den Korridor, dass niemand sich mehr in Hörweite befand.

"Also, ich habe noch keinen Weg gefunden, Lord Nasher eine Nachricht zukommen zu lassen. Einen Boten kann ich nicht schicken, weil ich niemanden kenne, dem ich diese Sache anvertrauen kann—außer Euch, aber Ihr sagtet bereits, dass Ihr es nicht tun wollt. Daher kam ich zu dem Schluss, dass ich doch selbst zu ihm muss, oder vielleicht treffe ich einen seiner Vertrauten, die bei meiner... Anhörung oder bei dem Geas dabei waren. Daher meine Frage: werdet Ihr mir Ausgang gewähren? Heute nachmittag vielleicht oder morgen?"
 1. siehe Charakterfaden, ganz unten, Stichwort: Alarics "Heilige Schrift", Eintrag: Über das Gewissen.
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 02.08.2014, 19:44:13
(http://games.dnd-gate.de/index.php?action=dlattach;topic=8014.0;attach=11360;image)
Pater Johannes
Der Pater nickte, wobei er die Augen schloss. "Das Mittagsgebet darfst Du nicht auslassen und auch nicht die Mette am Abend. Gehe also nach dem Mittagessen - oder schon vor dem Mittagessen, falls Du davon ausgehst, die Zeit zu benötigen. Und nimm einen der Novizen mit, vielleicht am besten Novize Benno. Ich gebe den Brüdern Bescheid, dass Ihr nicht zur Arbeit kommt."

Alaric wolte sich schon zum Gehen wenden, da hielt ihn der Pater noch einmal zurück. "Novize Alaric, ich wollte Dir noch zwei Dinge sagen. Das erste ist, dass Du eine außergewöhnliche Gabe hast, die Dinge aufmerksam zu betrachten. Es ist mir an Deinen Bildern aufgefallen. Ich will Dich ermutigen, wende diese Fähigkeit auch nach innen an. 'Erkenne Dich selbst', das ist für einen Mönch sehr wichtig.

Und zweitens will ich Dir sagen, dass ich mir dessen bewusst bin, Dir eine Antwort schuldig geblieben zu sein. Du sagtest, die Gruppe sei immer stärker als der Einzelne, und dass es deshalb ohne Aussicht sei, gegen die Gruppe aufzubegehren. Ich komme auf Deine Aussage zurück. Morgen sprechen wir darüber, warum es diesen Tempel gibt."
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 02.08.2014, 20:01:02
Alaric nickte Zustimmung, obwohl ihm gar nicht aufgefallen war, dass Pater Johannes ihm eine Antwort schuldig geblieben war, vermutlich weil er die Aussage, auf die der Pater sich bezog, nicht im mindesten als Frage gemeint hatte. Für ihn war es ein Fakt. Einleuchtend und selbsterklärend. Wie konnte ihm da eine Antwort fehlen?

Etwas anderes kam ihm an den Worten des Paters seltsam vor. Was hat er da gerade gesagt? Das ist mir an Deinen Bildern aufgefallen. Wie wollte der gute Mann nach dem Betrachten von nur zwei von Alarics Bildern, egal wie gut diese geworden waren, schon zu diesem Urteil gelangt sein? War es doch Pater Johannes gewesen, der seine Mappe durchgeblättert hatte?

Alaric klappte den Mund, der sich schon zu dieser Frage geöffnet hatte, wieder zu. Er wollte es gar nicht wissen.

"Wenn ich Benno mitnehmen soll, dann kann ich erst nach dem Mittagessen gehen", sagte er. "Aber ich muss den Brief ja noch verfassen, das erledige ich dann während dessen. Benno wird sich freuen, wenn er heute mal meine ganze Portion haben darf." Nicht nur ein Drittel davon, wie sonst.

Er rang kurz mit sich, dann sagte er: "Danke." Und damit meinte er viel mehr als nur die Ausgangserlaubnis. Er hoffte, Pater Johannes würde das verstehen.

Alaric fing Benno also nach dem Mittagsgebet ab, zog ihn in eine möglichst stille Ecke und teilte ihm den Plan mit.

"Ich muss gleich nach dem Mittagessen ein Schreiben zum Schloss Niewinter bringen. Pater Johannes hat gesagt, du sollst mich begleiten. Ich kümmer mich schnell noch um alles. Wenn du magst, kann du derweil meine Portion mitessen. Und pack dir ein paar Pfeffernüsse ein, falls wir länger warten müssen. Bis zur Abendmette sollen wir zurück sein."
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 02.08.2014, 22:21:34
Novize Benno stimmte Alarics Vorschlag sofort freudig zu. Für ihn war es eine seltene Gelegenheit der manchmal mühsamen, manchmal ekligen Arbeit der Krankenpflege zu entkommen. Noch viel  mehr aber freute er sich über die zusätzliche Portion. Alaric war schon aufgefallen, dass der Novize langsam ein wenig Fett ansetzte. Und irgendetwas sagte ihm, dass der Pater auch nicht zufällig Benno vorgeschlagen hatte. Ein angedeutetes Lächeln, als Alaric vom Mittagessen sprach, war für diese Ahnung verantwortlich.

Die beiden Novizen machten sich nach dem Mittagessen also auf, um zum fürstlichen Schloss zu gehen. Benno lief neben Alaric her und als sie außer Sichtweite des Klosters waren, da hörte Alaric ein Rascheln neben sich. "Weißt Du, ich find das ja ziemlich klasse von Dir, dass Du mir immer von Deinem Essen abgibst. Aber von meinen Pfefferkuchen willst Du keinen haben. Hm... ich habe so langsam ein wenig ein schlechtes Gewissen deswegen, weißt Du?", sagte der Novize schmatzend und steckte sich noch einen Kuchen in den Mund.

"Du, sag mal, was ist das eigentlich für ein Schreiben? Für gewöhnlich werden Novizen nicht damit betraut, wichtige Schreiben zum Schloss zu bringen. Das macht eigentlich immer der Cellerar oder der Prior. Was steht da denn eigentlich drinn, hm? Ah, ich verstehe, ein Geheimnis. Hey Alaric, mir kannst Du's verraten. Du kennst mein kleines Geheimnis, da kannst Du mir auch Dein kleines Geheimnis verraten. Komm schon."

Bald kamen die beiden am Schloss an und Alaric wünschte, den Fürsten zu sprechen. Die Wache jedoch, ein Mann im blauen Wappenrock, bedeutete ihm, dass der Fürst heute niemanden empfange, da er auf Jagd sei mit dem Adel.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 02.08.2014, 23:26:13
Was mag Pater Johannes sich dabei gedacht haben? Soll ich Benno vielleicht die Freuden des Fastens beibringen? Ihn darüber belehren, wie es den Geist und den Körper reinigt und befreit und dabei in einer Weise stärkt, die man anders nicht erleben kann? Wie man dadurch Momente der Klarheit erfährt, die durch noch so vieles Nachdenken und Diskutieren nicht erfahrbar sind? Wie stellt der gute Mann sich das vor? Geduldig habe ich wieder und wieder, bestimmt zwanzig Mal, dem Jungen gesagt, wann immer er sehnsüchtig die Reste auf meinem Teller beäugt hat: "Das kann nicht sein, dass du noch Hunger hast! Geh in dich, warte noch... gleich wirst du merken, dass du eigentlich schon platzt!" Es hat nichts genutzt. Geschnappt hat Benno sich den Teller und gesagt: "Dann haben's die leichter, die heut' spülen müssen! Siehst du nämlich, ich tu's nur für sie! Nur an das Wohl meiner Mitmenschen denke ich!" Und zum Schluss hat er gar den Teller noch abgeschleckt.

Alaric schüttelte den Kopf. Benno das Fasten beibringen. Also abgesehen davon, dass die Aufgabe hoffnungslos erschien—wohl in etwa so hoffnungslos, so absurd-komisch, wie Pater Johannes die ihm auferlegte Aufgabe vorgekommen sein musste, einem vierfachen Mörder die Bedeutung von Moral, Güte und Gnade beizubringen?—wusste Alaric auch nicht, ob er sich das aufhalsen wollte. Er hatte wahrlich genug am Hals! Sollte Benno sich doch kugelrund futtern. Solche Menschen gab es überall, und sie waren doch auch glücklich. Was hatte ein anderer sich da einzumischen?

Mit Güte würde das nichts zu tun haben, mit Gnade auch nicht. Aber vielleicht mit Moral? Wäre es seine moralische Pflicht, diesen Jungen—der seine Freundschaft so bereitwillig, so freizügig herschenkte—ihn also vor dem doch eher schädlichen Kurs zu bewahren, den dieser eingeschlagen hatte aus vielleicht ebenso guten Gründen wie Alaric den seinen... nun ja, das ließ sich nicht wirklich vergleichen... Also, sollte Alaric es sich zu seiner Aufgabe machen? Er zögerte und zauderte.

Dann lachte er plötzlich laut, und zwar ein richtiges Lachen—Pater Johannes' schallendes Lachen!—und es war so heftig und kam so überraschend, dass er sich verschluckte, worauf das ganze in einen Hustenanfall umschlug. Benno, der ununterbrochen geplappert hatte, hielt besorgt inne, um Alaric auf den Rücken zu klopfen.

"Das...", keuchte Alaric. "Das... das reicht bei dir für ein schlechtes Gewissen aus? Grundgütiger Ilmater, wie sieht bei dir dann erst die Beichte aus? 'Vergib mir, Herr, ich habe gestern sieben Pfeffernüsse gegessen. Erspar mir die Höll', ich will's auch nie wieder tun!'" Alaric schnappte nach Luft. "Wollt', ich könnt' mit dir tauschen!"

Zum Glück nahm Benno ihm die Stichelei nicht krumm sondern stimmte in sein Lachen ein, und so gingen die beiden weiter. Benno plapperte noch immer in einem fort. Dann fing er an zu fragen, wobei er unbekümmert eine Frage an die nächste reihte, ohne zwischendurch Luft zu holen, als erwarte er gar keine Antwort. Und so schwieg Alaric zumeist oder sagte nur: "Ja was? Hast du schon einmal von einem Boten gehört, der weiß, was in der Botschaft steht?"

Dann waren sie am Schloss und ihm verging sein erstes echtes Lachen so gründlich, dass es wie ein göttlicher Plan erschien.

Nasher war nicht da. Und Alaric kannte die Namen jener Vertrauten, die damals anwesend waren und also Bescheid wussten, nicht. Da blieb ihm nur, hier am Tor zu warten in der Hoffnung, es käme jemand vorbei, den er wiedererkennen würde. Aber so eine Jagd, die dauerte zumeist mehrere Tage. Oder...

Er trat auf die Wache zu und versuchte es erst einmal auf die bescheidene Art: "Verzeiht, es wäre eine dringende Botschaft. Wann wird Seine Lordschaft denn zurückerwartet? Ist vielleicht einer seiner Vertrauten da, einer der Neun?" Alaric hatte nicht erst heute darüber nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass, wenn der Fürst ihn nicht empfangen wollte, die Neun noch seine sicherste Karte wären.

Die Wache allerdings sah ihn ungläubig an, nahm dabei mit spöttischer Miene seinen Novizenhabit in Augenschein sowie den Jungen neben ihm mit den (schon wieder mahlenden) Hamsterbacken.

Alaric fügte in deutlich kühlerem Ton hinzu: "Es mag vielleicht nicht den Anschein haben, aber glaubt mir, Lord Nasher wird diese Nachricht schnellstmöglich sehen wollen. Ich kann sie daher nur jemandem übergeben, von dem ich sicher sein darf, dass er sie dem Fürst zügig und in eigener Person überreicht und sie also nicht bei irgendwelchen Sekretären landet und vergessen wird. Das würde ihm gar nicht gefallen.[1]"

Und weil die Wache noch immer mit einer Antwort zögerte, setzte Alaric einen letzten drauf, obwohl ihm schauderte bei der Vorstellung, was Benno mit dieser Information anfangen würde. "Es geht um Leben und Tod. Ilmater erschlage mich auf der Stelle, wenn das nicht die Wahrheit ist."
 1. Intimidate = 20
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 02.08.2014, 23:58:07
"Schon gut, schon gut! Ich glaube Dir ja. Warte hier einen Moment, ich seh' nach, ob der Fürst vom Silberwald anwesend ist.", sagte er und verschwand im Tor. Die andere Wache sah die beiden Novizen gleichgültig an, Benno kaute noch an seinem Pfefferkuchen. Alaric kam sich veralbert vor. Niemand verstand den Ernst der Lage.

Dann erschien die Wache wieder und sie hatte einen Mann in roter Robe bei sich. Ragefast! Der Mann, der Alaric den Geas auferlegt hatte. Ein leichtes Schaudern durchlief Alaric.

(http://games.dnd-gate.de/index.php?action=dlattach;topic=8014.0;attach=11315;image)
Ragefast
"Die Wache sagte mir, dass hier ein junger Mann sei mit einer dringlichen Botschaft für den Fürsten. Du bist das! Hm..., also bist Du tatsächlich zu den gebrochenen Brüdern gegangen? Hätte eher erwartet, dass Du Dich aus dem Staub machst - oder auch nicht. Der Geas hätte Dich bald zur Umkehr gezwungen. Nun ja, sag' wie ist es Dir ergangen?", fragte er, durchaus interessiert. Seine wachen Augen musterten erst Alaric, dann Benno. Ragefast rollte mit den Augen. Alaric erriet, dass der Magier seinen Mitbruder für einen Einfaltspinsel hielt.

Ragefast nahm die Schriftrolle von Alaric entgegen und versprach, diese dem Fürsten persönlich zu übergeben, sobald er wieder auf dem Schloss wäre. Also wahrscheinlich morgen. Ragefast wollte schon gehen, drehte sich dann aber doch noch einmal um. "Ach, übrigens, ein Geas ist sehr mächtig und kann sehr unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen. Glücklicherweise hebt sich seine Wirkung innerhalb einer oder zwei Wochen auf. Ich dachte, Du solltest das wissen..." Dann war Ragefast gegangen.

Alaric und Benno kehrten wieder um, zum Tempel. "Du, sag mal, Alaric, was ist eigentlich ein Geas? Ist das eine Krankheit, so etwas wie Blähungen, oder so?", fragte er und Krümmel fielen ihm aus dem Mund. Er griff in sein kleines Säckchen, kehrte es dann um und als partout kein Pfefferkuchen mehr herauskommen wollte, sagte er schlichtweg "Schade...".

Nicht mehr lange und die Sonne würde untergehen. Es war bald Zeit für die Abendmette.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 03.08.2014, 00:52:27
"Gut", erwiderte Alaric auf die Frage des Magiers. "Ich habe schon viel gelernt."

Der Magier schnaubte verächtlich und warf dabei einen Blick auf Benno, als wollte er sagen: bei der Gesellschaft, das kann nicht sein. Fast wäre Alaric einen Schritt vor Benno hingetreten, um klar zu machen, dass der Magier besser nichts Abfälliges über seinen Begleiter sagen solle, doch beherrschte er sich.

Als Ragefast die behelfsmäßig versiegelte Schriftrolle entgegengenommen hatte[1] und verschwunden war, stand Alaric einen Augenblick wie vom Donner gerührt da. Nicht nur hatte der Kerl so einfach ausgeplaudert, vor Benno und den beiden Wachen, dass Alaric mit einem Geas belegt worden war, jetzt behauptete er plötzlich, das ganze Spektakel sei nichts anderes gewesen als, nun, ein Spektakel eben! Konnte das sein, dass der Zauber längst verflogen war? Erst wollte Alaric es für eine Lüge halten, doch in Ragefasts Tonfall hatte eine derart glaubwürdige Mischung aus Herablassung, Hohn, Giftigkeit und Schadenfreude gelegen (als wolle er sagen: und du dummer Junge hast gezittert vor Angst!), dass Alaric sich sicher war: das war bare Münze, die der Magier da austeilte.

Und so schwieg Alaric auf dem Rückweg noch ausdauernder als auf dem Hinweg. Nicht, dass er darüber nachdachte, abzuhauen. Er war zu Lord Nasher gegangen, damit dieser einen Richtspruch und eine Sühne über ihn verhänge. Dies hatte der Fürst getan, und Alaric hatte ein Gelübde vor Kelemvor, dem Fürst und sich selbst abgelegt. Es hätte niemals eines Geas bedurft, um Alaric gefügig zu machen.

Nein, was ihn beschäftigte war die Tatsache, dass der Magier ihm das verriet. Das konnte nicht Teil des fürstlichen Plans gewesen sein. Der Magier untergrub mal einfach so ganz nebenbei Lord Nashers Autorität und Glaubwürdigkeit! Wusste Nasher das? Ahnte er es wenigstens? Da hatte Alaric ihm gerade mit Müh und Not eine Nachricht zukommen lassen, da drängte sich die nächste auf!

Ach was. Der Fürst würde viel besser über diesen Ragefast Bescheid wissen als Alaric, dem die Hintergründe gänzlich verborgen blieben. Er wusste ja nicht einmal, was für eine Stellung bei Hof dieser Mann einnahm.

"Nein, der Geas ist keine Krankheit", antwortete er auf Bennos Fragen, denn der Junge wollte einfach nicht damit aufhören, und besser Alaric sagte es ihm, als dass Benno im Tempel bei allen Leuten nachfragte. "Es ist ein Versprechen. Wie genau es funktioniert, weiß ich auch nicht. Ähnlich wie ein Gelübde, denke ich. Ich habe vor Lord Nasher also ein Gelübde abgelegt, und Magie war dabei im Spiel. So. Du wolltest doch, dass ich dir ein Geheimnis über mich verrate: da ist es. Ich habe einen Fehler gemacht und bin darauf zu Lord Nasher gegangen, um zu beichten. Und ich habe ihm versprochen, nicht zu ruhen, bis dass ich den Fehler wiedergutgemacht habe. Aber das sage ich dir: du weißt, was ein Geheimnis ist, ja? Das sagt man keinem weiter. Nicht ein Sterbenswörtchen zu niemandem, ja? Wenn du's doch weitersagst, ist's aus mit unserer Freundschaft. Das sag ich nicht bloß so, das ist mir bitterernst."

Darauf verschlug es dem armen Benno zum ersten Mal die Sprache, oder vielleicht lag es auch daran, dass er inzwischen völlig außer Atem war, denn die beiden mussten sich nun doch sehr abhetzen, um noch rechtzeitig zur Abendmette im Kloster zu sein. Als sie über den Tempelhof eilten, dachte Alaric plötzlich: "Ich muss gar nicht hier sein. Niemand zwingt mich dazu, wenn ich wollt', könnt' ich gehen. Der Geas wirkt nicht mehr! Von jetzt an bin ich aus freien Stücken hier."

Und als sie sich gerade noch rechtzeitig in der gut gefüllten Kapelle auf ihre Bänke quetschten und er Pater Johannes' fragenden Blick auffing, da huschte ein Lächeln über Alarics Gesicht. Ein ganz leichtes Lächeln war es nur, doch er spürte es bis in die Augenwinkel.
 1. Text so ziemlich der, wie Alaric es Pater Johannes hier (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8176.msg925105#msg925105) erklärt hat; das Löwensiegel hat Alaric so gut es geht aus der Erinnerung abgebildet; unterzeichnet mit vollem Namen; und versiegelt ist das ganze mit Kerzenwachs, in das Alaric eine Münze aus Tiefwasser gedrückt hat
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 03.08.2014, 01:16:12
Einweisung in den Kampf

Alaric war schon einen Monat im Tempel und er hatte noch immer niemanden auf dem Trainingsfeld gesehen. Die Novizen schienen über den Umstand nicht besonders verdrießlich zu sein, Alaric aber wurde unruhig. Er wusste, dass mit der Zeit Körperkraft und Reflexe nachließen und die wenigen Formen, die er in der Beengtheit seiner Zelle ausführen konnte, würden dem wenig entgegenwirken können. Umso mehr war er erleichtert, als der Prior den Novizen verkündete, dass Bruder Manus wieder im Tempel war und die Einweisung in den Kampf fortgesetzt würden. Sie fanden sich also alle am Nachmittag am Kampffeld ein. Dort lernte Alaric Bruder Manus kennen.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Manus am 04.08.2014, 14:16:14
Manus wartete geduldig auf die Ankunft der Novizen am Kampfplatz auf dem vier Strohpuppen verteilt standen, aber weit und breit keine Waffe zu sehen war. Der Kleriker des Gebrochenen Gottes trug das einfache braune Habit der Brüder und wirkte in seiner großen, schmalen Gestalt keineswegs wie ein Kampftrainer. Viel Zeit verbrachte er in den vergangenen Wochen ausserhalb des klösterlich angelegten Tempels. Er schätzte die Näge zu den Hilfesuchenden mehr und mehr als der Charakter des Klosters. Doch der Bitte Bruder Johannes entsprechend war er wieder in den Innenhof gekommen und blickte nun in die Augen der Novizen.

”Im Leid erfahren wir den Segen. Wir empfangen zum Schutz anderer und öffnen unsere Herzen und Sinne für die, die in ihrer Not nicht tun können, was uns empfohlen ist.”

Die Worte verklangen im Innenhof des Tempels. Doch Manus schien sich für den Moment nicht zu rühren oder gar Anweisungen zu erteilen.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 04.08.2014, 15:06:55
Geduld. Sie wurde für Alaric immer mehr ein Problem. Früher hätte es ihm nichts ausgemacht, hier geduldig und gottergeben zu stehen und zu warten, dass es losging. Jetzt fuhr er sich mit der Zunge mehrmals über die trockenen Lippen, während sein Blick auf dem ganzen Hof umherhuschte und dabei über die versammelten Novizen und den fremden Bruder glitt, den er hier noch nicht gesehen und der sich nicht einmal vorgestellt hatte. Wer Alaric kannte, hatte ihn noch nie so nervös, so voll rastloser Energie erlebt.

Die meisten anderen Leute würden dagegen denken, dass hier ein vollkommen ruhiger, ja, unbeteiligter junger Mann steht, den nichts würde erschüttern können.

Bis Alaric etwas sah, das seinen Geduldsfaden reißen ließ. Benno! Was drückte der Junge sich so an ihn, nein, hinter ihn, mit derart schuldbewusster Miene, als hätte er Angst, der Kampftrainer könne auf ihn aufmerksam werden? Ja, tatsächlich, Hamsterbacken! Und die Hand mit den kurzen Wurstfingern griff unter die Robe, wo nur ein Beutel mit Pfeffernüssen versteckt sein konnte. Erst gestern hatte der Junge ihm versprochen, die Pfeffernüsse endlich mal sein zu lassen.

Alaric packte Benno am Kragen, griff nach dem Beutel und zog ihn hervor. Benno entfuhr ein Schreckenslaut—es klang wie das Quietschen einer Maus, die man am Schwanz festhielt—als Alaric seine Pfeffernüsse auf den Boden ausleerte und sie—in aller Seelenruhe—zu Krümeln zertrat.

Dann wandte er sich wieder dem Trainer zu und drehte Benno, immer noch am Kragen, ebenfalls in diese Richtung.

Hoffentlich ging es bald los. Alaric brauchte das Training dringend. Er war schon ganz steif in den Gelenken und auch die Muskelkraft war ihm im vergangenen Monat spürbar geschwunden. In freudiger Erwartung eines anständigen Trainings hatte er nach dem Mittagessen das gelbe Novizenhabit, das einen viel zu arg in der Bewegung einschränkte, gegen seine eigene Trainingskluft eingetauscht. Zu seiner Überraschung war er damit der einzige, der kampftaugliche Kleidung trug.

Er warf einen misstrauischen Blick auf den Trainer. Was stand ihm nur da bevor?
Titel: Die Wende
Beitrag von: Manus am 04.08.2014, 16:19:30
Ob Manus die kurze Auseinandersetzung zwischen den beiden Novizen wahrgenommen hatte? Ersichtlich war eine etwaige Reaktion nicht. Doch etwas anderes passierte dafür. Der Kleriker grief unter seine Tunika und zog einen Morgenstern hervor. Eine Gebrauchswaffe, nach ihrem Aussehen zu urteilen. Das Metall war ungepflegt und einzelne Zacken fehlten auch.

"Mit blossen Händen wehren sich manche gegen Missetaten, die ihnen zu gefügt sind. Sie beißen, treten, keifen, zwicken und versuchen alles sich ihrer Haut zu erwehren. Messer schneiden schnell ins Fleisch. Blut gischt hervor, Finger werden getrennt. Hämmer zertrümmern Knochen, spalten Sehnen, durchdringen Gedärme." Es lag wenig Emphatie in der Stimme des Klerikers. Nüchtern zählte er Waffen und Wunden auf. Kurze Pausen gliederten seinen Vortrag: "Sehnsen reißen Oberschenkel auf, schlitzen Muskeln entzwei. Morgensterne durchlöchern Haut und Knochern. Blut spritzt."

"Seelenqualen plagen manche, wenn sie nicht wissen, wie sie ihre Familie ernähren sollen. Wenn die Hoffnung auf ein Leben ihnen wie ein dünner Faden erscheint. Doch Waffen reißen die Wänder der Seele stärker ein, als es Worte können."

Manus steckte den Morgenstern wieder unter sein Habitat.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 04.08.2014, 17:02:48
Besorgt sah Alaric zu Benno hinüber, welcher bei den Ausführungen des Paters immer grünlicher im Gesicht wurde. "Luft holen", raunte er ihm zu. "Ganz tief, bis in den Bauch hinein. Glaub mir, alles ist leichter zu ertragen, wenn man nur richtig Luft holt." Benno bemühte sich redlich, den Ratschlag umzusetzen, und schaffte es dabei irgendwie, dass ihm die Luft so gründlich verging wie Alaric auf einem 20-Meilen-Lauf. "Oder vielleicht doch besser nicht", korrigierte Alaric sich leicht verzweifelt.

Dann lauschte er wieder dem seltsamen—noch immer namenlosen—Pater. Nüchtern schien dieser, gelassen, gleichgültig fast, doch Alaric spürte, dass unter dieser Oberfläche dieselbe rastlose Energie brodelte wie auch in ihm selbst. So ruhig dieser Mann aussah: einem Vulkan glich er, der jeden Augenblick ausbrechen konnte. Oder las Alaric da zuviel hinein? Schloss er von sich auf den Pater? Oder stimmte es, was man sagte: dass man ein Raubtier sein musste, um ein anderes zu erkennen?[1]

Doch kaum war Alaric zu diesem Urteil gelangt, da fing der Pater plötzlich genauso an zu reden, wie man es von einem Pater (mit Ausnahme von Pater Johannes) normalerweise erwartete, und wie Bruder Alban, der Lesemeister im Kloster vom Singenden Stein, auch stets geredet hatte: in verdrehten Sprüchen, die weise klingen sollten, in Wirklichkeit aber nur wirr und unverständlich waren.

'Waffen reißen die Wände der Seele ein', was sollte das schon heißen? Alles oder nichts konnte es heißen. Was immer der Zuhörer sich dabei denken wollte. Und wie kann Hoffnung ein dünner Faden sein? Und das mit den Seelenqualen, das war auch so eine Sache, vor allem, wenn die Familienväter vor lauter Seelenqual, dass sie ihre Familie nicht recht ernähren können, den Wochenlohn mal wieder an einem Abend in der Taverne verprassen. So manch Seelenqual konnte sich ersparen, wer nur ein klein wenig Disziplin besaß. Zugegeben, nicht jede.[2]

Dennoch lauschte Alaric aufmerksam, den stillen Blick ganz auf den Pater gerichtet. Für eine Überraschung war der Mann ja schon gut gewesen, als er den Morgenstern unter dem Habit hervorgezogen hatte wie Benno seine Pfeffernüsse. Mal schauen, was er sonst noch so auf Lager hatte.
 1. Übertreib ich, Manus? Oder passt das?
 2. Ah, bitte mir nicht übelnehmen, dass Alaric Deine Worte erstmal so gar nicht versteht und dabei gar so arg auseinanderrupft, OK? Es soll ja eine Herausforderung sein.  :wink:
Titel: Die Wende
Beitrag von: Manus am 05.08.2014, 12:27:45
Novize Benno war nicht der einzige unter den Zuhörenden gewesen, der bei den Beschreibungen von Wunden das Gesicht verzog. Manus hatte viele der Wunden und Verletzungen, die er beschrieb selber gesehen und auch manche erlitten. Einen Moment des Innehaltens gab den Zuhörenden Zeit, ihre Fassung zu finden. Dann trat Manus zur Seite und sandte mit einer weiten Handbewegung vier der Novizen zu je einer der Strohpuppe, darunter auch Benno und Alaric.

"Geist und Körper spüren beim waffenlosen Kampf Schlag und Einschlag." Wieder verklangen die Worte bevor Manus ein weiteres Wort äußerte: "Beginnt."

Manus beobachte die Körperhaltung der vier Novizen. Er sah Zögern und Unsicherheit, ebenso wie beginnende Konzentration. Eine einzelne Faust eröffnete den Reigen und schlug mit einem dumpfen Aufschlag auf den stilisierten Oberkörper der Puppe.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 05.08.2014, 13:57:44
Die anderen drei der aufgerufenen Novizen begannen sofort, wild auf die Puppe einzuhauen. Bei zweien sah das eher unbeholfen aus, beim dritten dagegen von der Technik und Körperbeherrschung her durchaus vielversprechend, bei allen drei wirkte es jedoch planlos-hektisch.

Alaric dagegen ließ sich Zeit und die Puppe erst einmal links liegen. Zu lange hatte er nur mit Sitzen, Knieen, und "mit andächtigem Blick durch diese heiligen Hallen Wandeln" verbracht. Was er erst einmal brauchte war... Konzentration. Für ihn lag diese in der Bewegung. Und so führte er zunächst die komplette Form des "Schattentänzers" durch, eine Mischung aus Tanz und Schattenboxen, in der aus langsamen, tanzähnlichen Bewegungen heraus blitzschnell, aber immer kontrolliert, getreten oder geschlagen wurde. Diese Form wurde, soweit Alaric wusste, nur im Kloster vom Singenden Stein praktiziert, das aber seit Nerims Tagen. Sie galt als Grunddisziplin, wurde allen Novizen als erstes beigebracht, und auch die Mönche begrüßten so ihren Tag.

Erleichtert stellte Alaric fest, dass seine Bewegungen noch so flüssig waren wie eh und je, die Sprünge noch so leichtfüßig, die Drehungen so präzise, dass die Gedanken ihm dabei immer leichter und freier wurden, bis sein Geist in vollkommener Stille schwebte.[1]

Dann erst wandte Alaric sich der Strohpuppe zu und setzte ihr mit einer raschen, konzentrierten Folge aus Schlägen und Tritten zu, die, wäre die Puppe ein Mensch, stets auf dessen verwundbarsten Körperteile zielten. Dies hielt Alaric schier ohne Atempause solange durch, bis ein markerschütternder Schmerzensschrei neben ihm—Benno natürlich!—ihn aus der Konzentration riss.[2]

War ich das? dachte Alaric besorgt. Hab ich nicht aufgepasst und ihn aus Versehen getroffen? Oder ist er mir in meine Bewegung hineingestolpert?

Aber nein. Benno[3] hatte seine Puppe nur so unglücklich getroffen, dass seine Faust mit voller Wucht den Stützpfosten traf. Alaric unterdrückte die erste Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag. (Bevor er Benno kennengelernt hatte, wusste er gar nicht, dass Bemerkungen einem auf der Zunge liegen können. Alles, was gesagt werden konnte, so hatte er vorher geglaubt, war genauso einfach zu verschweigen.)

Er wartete, bis der Junge nicht mehr winselte, dann sagte er:

"Hier, nimm die Hand auf den Rücken. Nein, nicht die verletzte, die andere. Mit der verletzten kämpfst du jetzt, aber pass auf, was du tust. Nicht einfach nur wild um dich schlagen! Gezielt, siehst du? So. Und so. Das war schon gut, aber du darfst keine Angst vor Schmerz haben. Warte, ich zeig es dir noch einmal."

Und er zeigte Benno die einfachsten Bewegungen, in denen man zuhause die Novizen des ersten Jahres unterwies. Zu seiner Überraschung stellte Benno sich gar nicht mal so dumm an.

"Ach, so geht das!" rief der Junge erstaunt. "Jetzt begreif ich das. So hat mir das noch keiner gezeigt!"

Und Benno machte noch ein paar Schläge, die immer besser wurden. Alaric sah ihm dabei zu und verspürte plötzlich etwas, er konnte gar nicht sagen, ob in der Brust oder in der Kehle oder wo auch immer, jedenfalls gefiel es ihm. War es Stolz? Genugtuung? Hoffnung? Egal, es fühlte sich gut an.

Und da es so aussah, als käme Benno jetzt erst einmal allein zurecht, wandte Alaric sich wieder seiner eigenen Strohpuppe zu, worauf er erstaunt feststellen musste, dass von dieser nicht mehr allzu viel übrig war.

Natürlich war ihm  in den vergangenen Wochen immer mehr bewusst geworden, dass sich da einiges an ungenutzter ki-netischer Energie in ihm anstaute, aber dass es so viel war...

Nun gut. Dieser Gegner ist jedenfalls tot. Was kommt jetzt?

Er wandte sich erwartungsvoll dem Ausbilder zu.
 1. Akrobatik = 26
 2. 1. Flurry: 15, 19, 6; 2. Flurry: 13, 11, 17 => 4 Treffer (?) mit Schaden gesamt: 34 lethal
 3. List, ich hoffe, es ist OK, dass ich Benno so eigenmächtig hier benutze; mit "volljährigen" NPCs würde ich mich das niemals trauen! Ich will ja eigentlich nur zeigen, dass Alaric tatsächlich anfängt, sich des Jungen anzunehmen, tatsächlich ein wenig Anteil nimmt... Wenn was nicht passt, bitte korrigieren!
Titel: Die Wende
Beitrag von: Manus am 06.08.2014, 14:32:50
Manus beobachte das Kampfverhalten der Novizen. Besonders Alarics Bewegungen erzählten die Geschichte eines Kämpfers, der aus irgendeinem Grund in einen Tempel des Ilmater aufgenommen werde möchte. Doch die Art und Weise der Vorbereitung und die Schläge verieten, dass dieser Novize über Fähigkeiten verfügte, die bei Anhängern des Gebrochenen Gottes seltener zu finden waren. Die Strohpuppe war teils in Fetzen gerissen, die Holzgrundkonstruktion in Teilen aufgesplittert und die gesamte Puppe in eine Schieflage gebracht.

Doch noch etwas bemerkte der Kleriker: Der Novize schien sich selber einen Schüler gesucht zu haben, um sein eigenes Wissen weiterzugeben.

"Folgt mir." Kurz waren die Worte Manus und schon wandte er sich um und ging mit geraden Schritten in den Innenbereich des Tempels. Sein Ziel und damit auch das der vier Novizen war der Krankensaal beziehungsweise ein durch ein graues Tuch abgetrennter Bereich. Auf vier einfachen Lagerstätten lagen Männer mit teils noch offenen Wunden und vielen blauen Flecken. Schemeln standen an ihren Seiten auf denen Heilsalben und Tücher lagen. Mit kurzen Handbewegungen verteilte Manus die Novizen auf die Hilfesuchenden.

"Hier seht ihr was Schläge anrichten können, wenn sie nicht auf Stroh treffen. Seid bei denen, die Hilfe suchen, lehrt uns Ilmater. Jeder ist es wert versorgt zu werden. Mann und Frau. Kind und Greis. Freund und Feind."

Schließlich trat Manus noch zu jedem einzelnen Novizen fragte nach dem Namen und zeigte, wie die Bandagen zu wechseln waren. Dabei beschrieb er die Verletzungen der Männer, die gebrochenen Gesichtsknochen ebenso wie Rippenfrakturen und Blutergüsse. Bis zum Einbruch der Nacht sollten die vier Novizen ihrer Aufgabe nachkommen nur unterbrochen vom Abendgebet.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 06.08.2014, 15:13:19
Was, das sollte es gewesen sein? Das war ja nicht einmal ein Viertel einer normalen Trainingseinheit—ein Zwölftel nur von Alarics gewohntem Tagesplan.

Trotzdem folgte er dem Bruder wortlos und lauschte auch seinen Ausführungen zur Krankenpflege mit vollkommener Ruhe und Aufmerksamkeit. Als es dann aber daran ging, dass er selbst bei einem der Versehrten die Bandagen wechseln sollte, da offenbarte sich sein Ärger und seine Ungeduld dann doch. Lustlos riss er daran herum, machte sie einmal zu fest, dann zu locker, dann wieder zu fest, sodass der Ausbilder mehrmals einschreiten musste.[1] Auch verzog Alaric jedes Mal das Gesicht, wenn der Verletzte bei jeder noch so leichten Berührung gleich herumstöhnte oder gar schluchzte. Ein bisschen Selbstbeherrschung, bitte, ein bisschen Disziplin! Das Leben ist nun einmal schmerzhaft.

"Jetzt halt doch mal still", sagte er zu seinem Schutzbefohlenen, und kurz darauf: "Stell dich nicht so an. Was soll da erst dein Nachbar sagen? Den hat's viel schlimmer erwischt und hörst du ihn vielleicht jammern?" Wirklich unerträglich, wie weinerlich der Kerl war, trotzdem er von allen hier am wenigsten verletzt war. Zum Schluss riet Alaric ihm gar: "Bist du Mann oder Memme? Jetzt reiß dich halt zusammen."

Nach dem Abendgebet dann, als der wortkarge Bruder seine neun Schützlinge[2] abermals in die Krankenstube führte—sehr zu Bennos Entsetzen, denn alle außer den Novizen saßen derweil beim Abendmahl!—fragte Alaric ihn: "Habt Ihr denn auch einen Namen, Bruder?"
 1. Heal(untrained) = 13
 2. Es sind eigentlich neun Novizen. Sind auch mehr als vier Kranke da? Ich bin jetzt mal davon ausgegangen: ein Kranker pro Novize. Oder müssen wieder nur die vier N. ran, die Manus zuvor beim Kampftraining aufgerufen hat?
Titel: Die Wende
Beitrag von: Manus am 06.08.2014, 15:36:49
"Bruder Manus ist mein Name. Aber warum fragt ihr mich nach meinem Namen, wenn Ihr Euren Schutzbefohlenen nicht nach seinem gefragt habt?", antwortete der Kleriker ruhig, während sich die Novizen auf die ihnen zu gewiesenen Hilfsbedürftigen verteilten.

"Ihr scheint so sehr mit euch und euren Bedürfnissen beschäftigt, dass es euch schwerfällt, euer Herz für den Menschen neben euch zu öffnen. Verteilt ihr die Wunden auf die Menschen? Seid ihr Richter über das Jammern des Hilfesuchenden? Was habt ihr in all den Stunden erfahren von einem, der direkt neben euch war? Viel Energie habt ihr auf eine Trainingspuppe gerichtet und dem Novizen Benno dabei zur Seite gestanden. Doch ihr habt ihn hier zum Abendmahl ebenso zurückgelassen wie den Mann, der euch anbefohlen war."
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 06.08.2014, 15:52:23
"Verzeiht, Bruder Manus", sagte Alaric ohne Zögern. "Es soll nicht wieder vorkommen."

Er hätte zum einen ja gern erklärt, was es mit Benno und dem Essen auf sich hatte, zum anderen seine Einstellung unterbreitet, dass es für den Kranken nun ganz und gar nicht heilsam sein könne—ja, seiner Genesung im Wege stehen musste—wenn man ihn in seinem Jammern und Wehklagen auch noch bestärkte.

Doch er war es gewohnt, dass jegliche Widerworte oder Erklärungsversuche bestraft wurden, also schwieg er.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Manus am 07.08.2014, 15:00:56
Dass seine Worte den Novizen Alaric nicht erreicht hatten, nahm Manus gelassen entgegen. Es stand ihm nicht zu, Ilmaters Wahl oder die Wahl Pater Johannes in Frage zu stellen. Ein Weg zur Erkenntnis könnte lang oder kurz sein, aber so wie der Gebrochene Gott niemanden verloren gab, so wollte auch der Kleriker niemanden verloren geben.

Einen Moment blickte er Alaric noch ruhig ins Gesicht, dann drehte er eine Runde durch den Krankensaal. Ab und an beugte er sich zu einer Hilfesuchenden Person und wechselte einige ruhige Worte.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 07.08.2014, 15:31:55
Etwas unschlüssig, was er jetzt tun solle—war er entlassen? Oder ging das 'Training' noch weiter?—näherte Alaric sich wieder dem ihm zugeteilten Kranken. Dessen Augen weiteten sich jedoch vor Schrecken, als er Alaric auf sich zukommen sah; stöhnend wandt er sich und blickte sich gar schutzsuchend nach Bruder Manus um.

Alaric trat wieder einen Schritt zurück, damit der Mann sich beruhigte. Vielleicht hatte Bruder Manus recht gehabt. In Sachen Krankenpflege hätte Alaric noch viel zu lernen, oder es fehlte ihm grundsätzlich die Einstellung dazu. Nicht jeder konnte jedes Metier erlernen.

Er beobachtete Bruder Manus, wie dieser durch die Reihen der Kranken ging und für jeden die richtigen Worte fand. Irgendwie bewundernswert. Das würde er selbst nie hinbekommen, dazu fehlte ihm... etwas, das er nicht benennen konnte. In der anderen Sache aber, deren der Bruder ihn beschuldigt hatte, in der durfte Alaric sich verteidigen. Auch wenn man ihn wieder 'Novize' nannte, er war es längst nicht mehr. Überhaupt schien man es hier im Orden des Noblen Herzens ja sogar zu schätzen, wenn Novizen ihre eigene Meinung darboten.

Und deshalb trat Alaric ganz zum Schluss, als nur noch er, der Bruder und die Kranken sich in der Stube befanden, auf Bruder Manus zu.

"Ihr hattet recht mit dem Kranken, meine Worte haben geschadet, nicht genutzt," gab er zu. "Aber in der Sache mit Benno, da tut Ihr mir unrecht, Bruder Manus. Den Jungen plagt etwas. Was, das hat er mir noch nicht anvertraut. Ständig spielt er es herunter, nennt es verschämt lächelnd sein 'kleines Geheimnis' und lenkt rasch wieder davon ab. Und doch folgt er mir vom ersten Tag an wie eine verlorene Welpe, obwohl ich zunächst mein Bestes tat, ihn abzuschütteln. Irgendwas erhofft er sich von mir. Irgendwie sieht er etwas in mir, von dem er denkt, dass es ihm helfen könne. Leute, die ihn verhätscheln und gewähren lassen hat er genug, die ihn gleichzeitig aber auch belächeln und nicht für voll nehmen. Ich nehm ihn für voll. Ich belächel ihn nicht. Und deshalb wird er mir eines Tages, wenn er soweit ist, sein 'kleines Geheimnis' anvertrauen— also das echte, nicht das, von dem er zurzeit noch verschmitzt behauptet, dass es ein Geheimnis sei—und dann werde ich versuchen, ihm zu helfen, so gut ich kann."

Titel: Die Wende
Beitrag von: Manus am 07.08.2014, 18:49:17
"Novize Benno sieht etwas in Euch. Warum glaubt Ihr, dass Ihr in abschütteln wolltet und was ließ euch umkehren?" Manus unterbrach seine Worte nicht sondern fuhr fort: " Jeder hat es verdient ernst genommen zu werden, Benno genauso wie Ihr. Wir brauchen viele Dinge, sei es Wasser, eine frische Bandage oder einfach nur ein Ohr."

Mit diesen Worten trat er zu dem Alaric zugeteilten Kranken und ging in die Knie. "Ich bin mir sicher, ihr seid bei unsere Novizen Alaric in guten, wenn auch manchmal ruppigen Händen", begann der Kleriker an den Hilfesuchenden gewandt. "Ihr habt beide einen Pfad zu gehen." Damit stand Manus wieder auf, deutete eine Verbeugung an und verließ den Krankensaal.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 07.08.2014, 19:42:49
Alaric sah Bruder Manus nachdenklich nach. Eine gute Frage. Oder auch nicht. Es ging dabei doch wieder nur um den Grund. Waren Gründe wirklich so furchtbar wichtig? Wenn jemand in einer Situation das richtige tat, was spielten seine Gründe da für eine Rolle? Kannte ein jeder überhaupt die Gründe seines Tuns? Alle Gründe? Es gab ja stets mehr als nur einen.

Vielleicht hatte Alaric nur Pater Johannes' unausgesprochener Anweisung folgend sich des Jungen angenommen, vielleicht wollte er ihm aber auch einfach deshalb helfen, weil Benno sich auf seine Art an Alaric gewandt und offenbar—aus welchem Grund auch immer!—entschieden hatte, dass, wenn er bei irgend einem Menschen schon Hilfe suchen wollte, dies ausgerechnet bei ihm sei. So oder so, die Gründe konnten Benno genauso egal sein wie Alaric. Es war, wie es war. Da brauchte auch nicht schon wieder einer daherkommen und nach den Gründen fragen und, indem er diese womöglich als falsch verurteilte, die eigentliche Tat herabwürdigen.

Und oft gab es auch gar keinen Grund für das eigene Handeln, nur ein Gefühl. Einen Instinkt.

Vielleicht war es ein solcher, der Alaric auf leisen Sohlen die Krankenstube durchqueren und am Bett des Verletzten niederknien ließ, so wie Bruder Manus es getan hatte. Dort kam er seinen Versäumnissen nach. Er fragte den Mann nach seinem Namen, seiner Familie, seinem Beruf, und erkundigte sich auch, wie es denn zu den Verletzungen gekommen sei. Zum Schluss holte er dem Kranken noch etwas zu Trinken und fragte, ob er jetzt denn alles hätte, was er für die Nacht bräuchte, dann verließ Alaric als letzter die Krankenstube.

Doch er begab sich nicht gleich in seine Kammer, sondern auf den Kampfplatz hinaus, welcher still und verlassen im Mondlicht dalag.[1] Dort vollführte er alle sechs Formen seines Abendtrainings: Schattentänzer, Schattenhatz und Schattenkrieg; und dann die drei, die dazu gedacht waren, den Trainierenden Schritt für Schritt wieder zur Ruhe kommen zu lassen: Weide im Sturm, Feder im Wind, Blatt im Fluss.

Er wusste nicht genau, wie lange es bereits nach Mitternacht war, als er endlich in seinem Bett lag. Es mochten noch drei Stunden bis zur Frühmette sein.
 1. vorausgesetzt, er wird nicht daran gehindert und von einem Bruder in seine Kammer geschickt.
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 25.09.2014, 21:12:20
Es vergingen weitere Wochen, in denen Alaric am Tempelleben teilnahm. Was am Anfang irritierte oder herausforderte, wurde zur Gewohnheit und mit der Zeit wurde Alaric mit den Novizen besser bekannt, jedenfalls so sehr, wie es Alaric zulies. Die Novizen waren ungewöhnlich gesellig und manche nannten sich Freunde. Alaric hatte keinen Freund hier, vielleicht abgesehen von Benno. Doch war dieser wirklich ein Freund? Was macht jemanden zum Freund?

Auch der Unterricht bei Pater Johannes ging weiter. Alaric kannte mittlerweile das Schema, nac dem der Unterricht ablief, sehr genau. Er konnte mittlerweile intuitiv sagen, wann die Wendung kam und manchmal konnte er sogar die Richtung vorhersagen. Trotzdem wurde der Unterricht selten richtig langweilig. Alaric konnte die Begeisterung seiner Mitschüler für diesen Lehrer mindestens nachvollziehen. Alaric meldete sich trotzdem eher selten zu Wort und begnügte sich, die Erkenntnisse mitzuschreiben oder Bilder vom Unterricht zu malen.

Pater Johannes sammelte noch immer regelmässig die 'Heiligen Schriften' der Novizen ein. Alaric bemerkte, dass sich der Pater in letzter Zeit mit Kommentierungen zurückgehalten hatte. Die Diskurse, die seine Mitschüler mit dem Pater in ihren Heften zuweilen austrugen, fehlten bei Alaric. Stattdessen fand er solche Anmerkungen an den Rand geschrieben, wie: "Was sagt Dir Dein Gefühl?", "Wo findest Du ein Beispiel? Und wo ein Gegenbeispiel?" und einmal sogar - und das fand Alaric befremdlich - "Erkläre Du es mir!".

Am Ende der Woche fand Alaric nur drei Sätze unter seinen Aufzeichnungen: "Wie siehst Du Dich? Wie sehe ich Dich? Was ist Dir lieber?"
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 26.09.2014, 00:46:42
Als Pater Johannes Alarics Heilige Schrift das nächste Mal öffnete, sah er unter seinen drei Fragen folgende Antwort:

"Ich sehe einen Mann, der gerne mit den anderen lachen würde, aber er hat das Lachen verlernt.
Ich sehe einen Mann, der gerne fühlen würde, aber er hat das Fühlen verlernt.
Ich sehe einen Mann, der gerne etwas sagen würde, aber er weiß nur zu schweigen.
Vor allem aber sehe ich einen Mann, der einen schrecklichen Fehler begangen hat.
Vier Menschen hat er ermordet, vier Unschuldige gerichtet, als wären sie schuldig, als wäre er ihr Richter und Henker zugleich. Im Namen Kelemvors noch dazu, dem diese Taten doppelt ein Greuel sein müssen.

Ich sehe einen Mann, der sich gerne dahinter verstecken würde, dass er in jugendlichem Alter dazu verführt wurde, dass er mit seinen elf, zwölf Jahren sich nicht gegen die Lehren des Meisters hat wehren können, dass es nur ein böser Zufall gewesen ist, dass der Meister ihn aus den zehn oder mehr Kandidaten ausgewählt hat, aber damit würde ich mich selbst belügen. Meister Hairon hat schon mir schon als Zehnjährigem angesehen, dass ich des Mordens fähig bin.

Wie Ihr mich seht? Ich weiß es nicht. Wie jemand, dem vergeben werden kann? Dann hoffe ich, dass Ihr recht habt. Wenn ich es selbst nicht auch ein wenig glauben würde, wäre ich nicht hier. Aber habt Ihr auch wirklich genau hingeschaut?
"

Als der Pater umblätterte, fand er die folgenden vier Zeichnungen lose in das Büchlein hineingelegt.[1]

Die vier Opfer am Tatort (Anzeigen)

Auf der nächsten Seite stand:

"Und wenn Ihr jetzt genau hingeschaut habt, dann könnt Ihr mir vielleicht eine Frage beantworten: Warum sollte Kelemvor mir das vergeben? Warum solltet Ihr oder Lord Nasher oder auch Ilmater mir das vergeben? Warum sollte ich mir das vergeben?"

~~~

Am nächsten Morgen während der Frühmette dachte Alaric über Freundschaft nach. Wie konnte man sie definieren? Dabei meinte er die Freundschaft zwischen Erwachsenen, nicht die Geschwisterliebe oder das sorglose Spiel der Kinder; beides hatte er erfahren, das kannte er. War Benno ein Freund? War Alaric ihm ein Freund? Was machte zwei erwachsene Menschen zu Freunden?

Eine grundlegende Voraussetzung schien ihm, dass man die Gesellschaft des anderen schätzte und sich nicht die ganze Zeit wünschte, bei seinem Tun lieber allein zu sein. Und daran haperte es ja schon, denn er würde Benno bisweilen wirklich zu gern sagen: Jetzt lass mich endlich in Ruh! Zwar tat er dies am Ende nie, aber war gedacht nicht fast dasselbe wie gesagt? Nun gut. Was also weiter? Dass man sich in einer Gefahrensituation aufeinander verlassen konnte—nein, halt, das war die Definition von Kampfkamerad.

Neuer Versuch: dass man miteinander lachen und reden konnte, aber auch von seinen Sorgen erzählen (er hatte Benno noch von nie von seiner Sorge erzählt, genausowenig wie dieser ihm offenbart hatte, was ihn denn nun wirklich plagte); dass man Ratschläge erwarten und geben durfte, die der andere dann auch, wenn nicht jedesmal beherzigte, so doch ernsthaft bedachte (er hatte von Benno noch nie einen Rat erbeten oder erhalten und dieser aß Tag für Tag die Reste von Alarics Teller und auch immer noch zu viel Naschwerk zwischendurch); dass man dem anderen nicht über das Maul fuhr und ihm sagte: "Jetzt schweig endlich still, du Dummkopf!", auch wenn derjenige etwas dummes gesagt hatte...

Nun gut, wenigstens das hatte Alaric bisher weder gesagt noch gedacht, aber nur, weil er stattdessen einfach weghörte, und das war dasselbe wie Abwenden, vielleicht noch schlimmer, denn es war eine Art von Täuschung. Überhaupt, die eigenen Sorgen für 'wichtiger' erachten als die des anderen war... selbstsüchtig.

Das sah nicht gut aus, da blieb nichts übrig, das ihn mit Benno verband, außer den (nicht gänzlich unerwünschten) Gesprächen über dies und jenes—die von Alarics Seite her zumeist aus geduldigem Zuhören bestanden, mit dem ein oder anderen Einwurf—und der gelegentlichen Erheiterung, ob still lächelnd oder als Lachen geäußert. Und trotzdem, wenn er sich vorstellte, der Junge würde morgen vielleicht den Tempel verlassen, woanders hinziehen oder gar krank werden...

Vielleicht war Alarics Definition von Freundschaft ja zu hoch gegriffen; vielleicht war dies alles das hehre Ziel, Freundschaft aber einfach nur der gemeinsame Weg darauf zu.

Ein tröstlicher Gedanke, der eine Welt von Möglichkeiten zu öffnen schien—bis Alaric auffiel, dass er einen wichtigen Punkt bei seiner Definition vergessen hatte: Freundschaft ist, wenn man einander vergibt.

Und das Tor zu seinen Mitmenschen, das sich für einen Augenblick geöffnet hatte, schlug wieder zu.
 1. Zeichenwürfe in dieser Reihenfolge: 15, 17, 12, 22
 2. Details kennt der SL besser als ich; vielleicht erkennt der Pater den Mann gar.
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 02.10.2014, 19:27:08
Einige Tage später klopfte es an der Tür von Alarics Zelle. Es war bereits spät abends, das Komplet wurde schon gesprochen, und die Novizen hatten sich zur Ruhe zurückgezogen. Als Alaric die Tür öffnete, fand er den Pater davor, welcher darum bat, auf ein paar Worte eintreten zu dürfen. Alaric gab den Weg frei und der Pater setzte sich auf den Stuhl neben dem kleinen Pult, welche neben dem Bett die einzigen Möbel in der Zelle waren. Er kramte aus einer Mappe einige Blätter Papier hervor und legte sie mit der freien Seite nach oben auf das Pult. Alaric erkannte die Blätter als seine Zeichnungen.

(http://games.dnd-gate.de/index.php?action=dlattach;topic=8014.0;attach=11360;image)
Pater Johannes
Pater Johannes lies einige Momente Zeit, bis er das Gespräch eröffnete. "Ich habe lange nachgedacht, Alaric, über das, was Du in Dein Buch geschrieben hast. Um offen zu sein, es hat mich sehr beschäftigt.", begann er langsam. "Du fragst mich, warum Dir Kelemvor, warum Fürst Nasher, selbst warum ich Dir vergeben sollte. Und um diese Frage zu untermauern hast Du mir diese Zeichnungen beigelegt." Der Pater lächelte schief. "Sie sind künstlerisch sehr gut. Aber das ist bestimmt nicht die Reaktion, die Du von mir erwartest, nicht wahr? Du möchtest, dass ich die Zeichnungen betrachte und denke: 'Wie schrecklich! Nein, für einen Menschen, der so etwas getan hat, gibt es keine Hoffnung!' Du möchtest, dass ich Dir Dein Urteil über Dich selbst bestätige, nicht wahr? Oder wartest Du darauf, dass ich Dir Deine Schuld mindere, indem ich sage, dass Du wenig Schuld an diesen Morden trägst, weil man Dich von Kindheit an dazu bestimmt hat, zu morden? Nein, sag jetzt nichts, denn diese Fragen sind es nicht wert, diskutiert zu werden. Lass mich nur dazu sagen, dass Deine Taten weder vergolten noch relativiert, nicht vergessen und nicht anderen angelastet werden können. Aber Du sollst Vergebung erfahren und darum geht es bei der Gnade. Nur dass Du es, wie mir scheint, noch nicht verstanden hast, was diese Wörter bedeuten. Vergebung ist etwas, was gegeben wird und an dem Du nichts hinzutun kannst."

Der Pater drehte die Zeichnungen um, so dass Alaric einen kurzen Blick werfen konnte auf sein letztes Opfer, bevor der Pater seine Hand darauf legte. "Was Du hier vor Dir hast sind Deine Sünden und wir sprechen von Vergebung. Alaric, es ist sehr wichtig, dass Du das folgende verstehst: Wenn Du an diesen Sünden festhälst, dann begehst Du eine weitere Sünde. Wenn Du sagst, dass Du nichts tun kannst, um diese Schuld auszugleichen, dann schmähst Du die göttliche Gnade, welche Dir unverdient zu Teil wird. Und wenn Du daraufhin sagst, dass Du diese Gnade nicht verdienst, dann ist das eine noch größere Sünde, denn im Hochmut stellst Du Dein Urteil über das Deiner Gottheit. Du musst aber demütig sein, um die Gnade zu empfangen. Ist Dir das verständlich?"
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 02.10.2014, 20:18:11
Die längste Zeit, da Pater Johannes redete, lauschte Alaric mit niedergeschlagenem Blick. Erst bei den Worten "es ist sehr wichtig, dass du das folgende verstehst" sah er auf und schaute ihm in die Augen, doch seine Miene verwirrte sich während der weiteren Ausführungen des Paters zusehends. Zum Schluss lachte er verzweifelt.

"Dann ist es wahrlich hoffnungslos! Denn alles, was ich anstelle, um meiner Vergangenheit zu entgehen, um meine Sünden zu büßen, ist offenbar eine noch größere Sünde! Jeder Zweifel in meinem Kopf: Sünde! Jeder Gedanke: Frevel! Nicht einmal die wahre Bedeutung der Wörter kenne ich! Demütig? Kniee ich denn nicht voller Demut, voll unaussprechlicher Reue vor meinem Gott? Und wenn Ihr sagt, meine Sünde kann niemals vergessen werden, aber daran festzuhalten sei eine weitere Sünde—das widerspricht sich doch!"

Schwer atmend wandte er sich ab und starrte die Wand an.

"Es ist nicht die 'Sünde', an der ich festhalte, es sind jene Momente, in denen ich noch hätte innehalten können. Der junge Luskaner in der Gasse, er hat um sein Leben gefleht. Er bot kein Geld, hat nicht versucht zu handeln, drohte nicht mit der Rache seiner Familie, nichts. Er hat mich nur in einem fort angefleht: 'Hör auf, ich bitt dich, nein, nicht, hab Mitleid, ich kann nicht mehr, bei allen guten Göttern, hör doch auf!' Und ich wollte aufhören, aber ich habe nicht aufgehört. Warum nur habe ich nicht aufgehört? In meinen Träumen sehe ich diesen Augenblick wieder und wieder vor mir—zum Greifen nahe—und bilde mir ein, es diesmal anders machen zu können, wenigstens im Traum! Aber es geschieht immer wieder so, wie es geschehen ist."

Er sah wieder zum Pater auf. Seine Unterlippe zitterte und er musste schlucken und trotzdem war seine Stimme belegt, als er fragte: "Wie kann man etwas loslassen, das man so sehr bereut?" Und noch leiser: "Wie kann ich um Erbarmen bitten, wenn ich selbst es einem anderen ausgeschlagen habe?"
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 21.10.2014, 02:04:15
(http://games.dnd-gate.de/index.php?action=dlattach;topic=8014.0;attach=11360;image)
Pater Johannes
Der Pater erwiederte den Blick von Alaric und ließ sich dann ein zustimmendes "Hmm..." vernehmen. Seine Finger suchten die Zeichnungen und der Pater sah sich die Bilder noch einmal an. Besonders lange blieb er bei dem Bild des letzten Opfers. "Hm..., ja, Alaric. Ich verstehe, dass Deine Erinnerung noch sehr lebhaft ist. Ich dachte, Du hättest vielleicht einen Teil in dieses Bild gelegt. Aber vielleicht dient es Dir auch als Gedankenstütze, um keines der grausigen Details zu vergessen. Du durchlebst diesselben Szenen immer wieder. Ein Alptraum, den Du immer wieder durchlebst. Gibt es keine Möglichkeit, dass es in dieser Nacht, vielleicht in dieser Nacht, ein gutes Ende gibt? Nein?"

"Du sprichst die ganze Zeit nur von Dir. Kann man sich selbst am Schopf aus einem Sumpf herusziehen? Nein? Natürlich nicht. Darum wiederhole ich mich noch einmal: Vergebung ist etwas, was gegeben wird und an dem Du nichts hinzutun kannst. Es geht nicht darum, ob Du Dich selbst für würdig hälst, dass Dir vergeben wird, oder ob Du Dir selbst vergeben kannst. Du musst es nicht einmal mit Deinem Intellekt durchdringen können, was es bedeutet, dass Dir vergeben ist. Was ich Dir sage, beansprucht nicht weniger zu sein, als göttliches Wort aus Menschen Mund: Dir ist vergeben!"
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 21.10.2014, 11:52:47
Eine ganze Weile lang sagte Alaric nichts, stand nur da wie erstarrt, die Augen schreckensweit. Er versuchte die Rede des Paters zu begreifen, doch seine Gedanken verstrickten sich sofort in den vielen Widersprüchen, die offenbar nur er in allem sah; was dem Pater ein geradliniger Weg zu sein schien, war ihm ein unentwirrbares Dornengestrüpp. Es blieb der letzte Satz: Dir ist vergeben.

Alaric wusste nicht, ob er es glauben sollte, und so wiederholte er die Worte ein paarmal still für sich. "Dir ist vergeben. Dir ist vergeben. Dir ist vergeben." Unbemerkt von ihm selbst, aber deutlich sichtbar für den Pater, der das Mienenspiel beobachtete, wandelte sich Unglaube in Erstaunen. Vielleicht war es so! Vielleicht hatten Kelemvor und Ilmater ihm längst verziehen! Vielleicht klingelten ihnen aber auch einfach nur die Ohren von seinen ständigen Reueschwüren, mit denen er jedes Morgen- und jedes Abendgebet füllte und jede einzelne Mette verbrachte. Vielleicht war es tatsächlich an der Zeit, die Palette seiner Gefühle um ein zweites zu erweitern. Dank, würde sich anbieten. Dank dafür, dass Lord Nasher ihn hierher geschickt hatte, dass Pater Johannes die Aufgabe so ernst nahm, dass er Alaric ins Gesicht sehen konnte und etwas anderes erblickte als ein Monster...

Dir ist vergeben. Seit Wochen bat er um nichts anderes. Er hatte geglaubt, es würde der letzte Schritt sein, wenn alles andere, das er zu tun geschworen hatte, erreicht war. Doch was, wenn er sich geirrt hatte, wenn es der erste Schritt war? Überhaupt, am Anfang stand Lord Nashers Vergebung, oder teilweise Vergebung, ohne die Alaric niemals einen zweiten hätte tun können. Was wäre also nun der nächste Schritt? Dank fühlen, ja, aber die eigentliche Herausforderung schien ihm: diesen Dank auch zeigen.

"Ich...", sagte er. "Also..." Ihm fielen keine Worte ein, die auch nur annähernd ausdrückten, wie dankbar er dem Pater für seine Hilfe war. War er überhaupt in seinem Leben schon einmal dankbar gewesen für irgendwas? "Ich... werde darüber nachdenken, was das für mich bedeutet."

Er nahm die Zeichnungen und steckte sie, nach kurzem Überlegen, wieder in seine Mappe, ganz zuunterst, in das kleine Fach, das in der Rückseite eingelassen war.

"Ihr hattet schon recht. Ich habe meine Zeichnungen für mich fühlen lassen. Sie sollten sich erinnern, damit ich es nicht müsste. Aber dann sagte mir ein weiser Mann, ich müsse meine Gabe zur Betrachtung der Dinge nach innen anwenden und mich selbst erkennen. Das hat die Sache ziemlich aufgerüttelt. Jedenfalls habe ich eines heute erkannt: in Reue zu ertrinken macht einen taub für jedes andere Gefühl oder auch Mitgefühl. Es hält davon ab, sich anderen Menschen zuzuwenden. Von 'öffnen' will ich gar nicht erst reden. Das mag also meine nächste Herausforderung sein: Mitgefühl zeigen. Und Dank. Für die göttliche Gnade, so unbegreiflich sie auch ist. Und für die menschliche..."

Doch auch dieser zweite Versuch, dem Pater zu danken, scheiterte, weil Alaric die Worte dazu fehlten. Mit einem frustrierten Kopfschütteln brach er ab.
Titel: Die Wende
Beitrag von: List am 10.11.2014, 22:37:22
(http://games.dnd-gate.de/index.php?action=dlattach;topic=8014.0;attach=11360;image)
Pater Johannes
"Sehr gut, Alaric.", sagte Pater Johannes anerkennend. "Als Du damals ins Kloster kamst, hat derselbe Mann ein paar Verse rezitiert, deren Tragweite Du nun erkennen wirst. Diese Verse lauteten:

Komm, wer du auch seiest!
Wanderer, Anbeter, Liebhaber des Loslassens, komm.
Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.
Auch wenn Du deinen Eid tausendmal gebrochen hast,
komm nur!
Und noch einmal: Komm!

Du musst wissen, Novize, dass diese Verse für mich immer eine ganz besondere Bedeutung hatten. Sie sind so wirkmächtig, dass sie nicht nur den Geist, sondern auch das Herz ansprechen. Sie sind so einfach, dass sie ein einfacher Mann verstehen kann, und so gewaltig, dass ein Leben nicht ausreicht, um sie zu ergründen.

Das Bild ist vortrefflich. Die Wüste versinnbildlicht unser Leben, mit seiner ganzen Kargheit und seiner Unvollkommenheit. Gefühlsmässig ist die Wüste die erfahrene Gottesferne, wie es heißt: 'Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir. Nach dir schmachtet mein Leib wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser.' Und es ist klar, dass wir gewisslich sterben müssen, wenn wir in dieser Wüste bleiben werden.

Dann ist da die Karawane. Sie versinnbildlicht die heilige Kirche. Die Karawane ist zwar ebenfalls in der Wüste, aber sie hat einen Startpunkt ihrer Sendung und auch ein Ziel. Ihr Startpunkt ist der Ekel über die Welt, wie sie ist, und die Einsicht in unser gottloses Treiben in ihr. Aus Reue setzt sie sich in Bewegung und noch ist sie in der Wüste. Doch sie behält ihr Ziel im Blick, welches sie zu erreichen sucht. Es ist das Verlassen der Wüste und das vollkommene Sein bei Gott. Aus dieser Zuversicht, ihr Ziel erreichen zu können, kann sie jeden ansprechen, welchen sie durch Fügung in der Wüste begegnet.

Das bist Du. Ich sage Dir: 'Komm!' und noch einmal: 'komm!'. Es dürfte Dir nicht schwer fallen, nun zu verstehen, warum ich sage, dass Deine Taten nicht vergessen werden können.Es hieße, den Startpunkt Deiner Reise mit uns zu vergessen. Und ohne Startpunkt wissen wir auch nicht, warum wir auf der Reise zu unserem Ziel sind.

Es gäbe noch viel zu sagen, aber ich glaube, Du hast verstanden. Danke, dass Du mir zugehört hast. Gute Nacht.
"

Damit verließ der Pater Alarics Zelle. Er ging noch einige Schritte, bis er sich unbeobachtet fühlte. Dann lächelte er. "Allmächtiger, ich danke Dir für diese Verse. Ich muss sie aufschreiben, so dass sie der Welt erhalten bleiben.", murmelte er.
Titel: Die Wende
Beitrag von: Alaric Schattenfels am 12.11.2014, 11:18:41
Als der Pater gegangen war, lief Alaric noch einige Zeit in seiner Kammer auf und ab, bis er bemerkte, dass er dies nicht aus Bewegungsdrang, sondern aus reiner Gewohnheit tat. Innerlich war er vollkommen ruhig. Wie war das möglich? Müsste er nicht aufgewühlt sein? Vor wenigen Augenblicken war er aufgewühlt gewesen.

Er setzte sich probehalber auf sein Bett und verspürte zu seinem Erstaunen nicht das geringste Bedürfnis, wieder aufzuspringen. Er legte sich hin. Hellwach starrte er die Decke an und glaubte dennoch, bis zur Frühmette hier liegen bleiben zu können, ohne einen Muskel zu bewegen. Auch seine Gedanken, die normalerweise tobten, sobald sein Körper zur Ruhe kam, glichen einem sachten Wogen. Er schloss die Augen und stellte sich vor, er läge auf einem Floß, das einen breiten, trägen Strom hinabglitt. Diese Form der Meditation—die stille Form, bei der die Bewegung einzig im Geist stattfand—war ihm nie leicht gefallen. Mehrere Lehrmeister waren daran verzweifelt und hatten es aufgegeben.[1] Je länger er so dalag, desto entrückter fühlte er sich, bis er schließlich seinen Körper nicht mehr spürte und nur noch aus Gedanken zu bestehen schien.

Er wusste, was er sagen wollte, aber dennoch kamen die Worte ihm nicht leicht. Wenn er nur einen Bruchteil von Pater Johannes' Redegewandtheit besäße! Wenn er die Worte nur so zusammenfügen könnte, dass sie warm und ehrlich klängen!

"Ich danke Dir, Kelemvor, für Deine Gnade. Was Du mir geschenkt hast, ist so groß, dass ich es noch kaum begreife, aber ich werde von nun an alles daran setzen, mich der zweiten Chance, die Du mir gegeben hast, als würdig zu erweisen. Nie wieder sollst Du mitansehen müssen, dass ich in Deinem Namen ein Leben nehme oder mir anmaße, über meine Mitgeschöpfe zu richten. Deine Gebote aber will ich ehren und danach leben, so gut ein Mensch es nur vermag.

Ich danke Dir, mildtätigster Ilmater, für Deine Barmherzigkeit, die so groß ist, dass Du sogar das Leid eines Mörders teilen willst. Du hast mich unter den Deinen aufgenommen, damit ich durch sie Liebe und Vergebung erführe und wieder lernte, was Hoffnung sei. Und auch wenn mein Herz niemals so groß sein wird wie das von Pater Johannes, niemals so unschuldig wie das von Benno, so will ich doch versuchen, es so weit zu öffnen, wie ich es nur vermag, auf dass andere durch mich Anteil an Deiner Güte und Barmherzigkeit nehmen mögen, die ich selbst so reichlich erfahren durfte."


Ein lautes Klopfen an seiner Tür brachte Alaric wieder zu sich. Er wusste nicht, wie lange er so gelegen war und ob er zwischenzeitlich eingeschlafen war oder die ganze Nacht im Gebet verbracht hatte. Die Morgensonne, die durch das kleine Fenster über seinem Bett schien, sagte ihm jedenfalls, dass er die Frühmette verpasst hatte. Das war ihm in seinem Leben zum ersten Mal passiert.



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 1. Nur zur Erinnerung: Alaric hat KEIN still mind, wegen der vows.