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Archiv => Archiv - Online-RPGs Pathfinder => Die düsteren Begleiter => Thema gestartet von: Harry Webster am 20.08.2014, 03:39:22

Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 20.08.2014, 03:39:22
Harry Webster stapfte verdrossen am Northern Lake Shore entlang. Musste sein VW Käfer ausgerechnet heute den Geist aufgeben? Die ganze Nacht hatte Harry sich auf dem St. Henry Catholic Cemetery[1] um die Ohren geschlagen—mal wieder umsonst!—und jetzt durfte er auch noch auf leeren Magen zu Fuß nach Hause laufen. OK, jeder andere Einwohner von Chicago hätte sich an einem solchen Tag ein Taxi geleistet, aber erstens war Harry mit seiner Miete schon wieder drei Monate im Rückstand und es stapelten sich zuhause außerdem die Rechnungen, zweitens sah er nicht ein, teures Geld zu zahlen, dafür, dass das Taxi dann im morgendlichen Berufsverkehr stand. Da war er zu Fuß schneller.

Es war so um die acht Uhr früh am 17. März 2001. Vom Lake Michigan[2] zu Harrys Linken pfiff ihm ein eisiger Wind ins Gesicht, welcher ihn den Kragen seines Ledermantels hochschlagen ließ. Dabei war es für die Jahreszeit eigentlich recht warm—letztes Jahr hatte es um diese Zeit noch Schnee gegeben. Die Sonne war soeben erst richtig aufgegangen und es versprach ein strahlend-klarer Tag zu werden. Die Iren der Stadt durften sich freuen und alle die, welche Spaß an Paraden hatten. Es war mal wieder St. Patricks Tag.

Für Harry aber war es die achte Nacht in siebzehn Tagen, die er sich sinnlos um die Ohren geschlagen hatte. Angefangen hatte es in der Nacht zum 1. März mit dem St. Boniface Catholic Cemetery, gefolgt vom All Saints National Catholic Church Cemetery und dem St Nicholas mit jeweils zwei Nächten Pause dazwischen; dann der Cavalry, der St. Peter, der Maryhill—je eine Nacht dazwischen, und nun St. Joseph und St. Henry in aufeinanderfolgenden Nächten: etwas braute sich da zusammen! Etwas näherte sich da...

"Es spukt!" hießen die Meldungen jeweils, die bei Harry eingingen, von den wenigen Kundigen, die um die Existenz übernatürlicher Kräfte wussten. "Die Geister sind los!" erzählten die Anwohner am nächsten Tag der Presse. Von wunderlichen Gestalten in altertümlichen Gewändern wussten sie zu berichten. Doch wenn Harry nachts nach dem Rechten sah, war alles totenstill. So wie es auf einem Friedhof nachts ja auch zugehen sollte.

Harry hatte gar nicht gewusst, wie viele Friedhöfe es in Chicago gab, und das allein östlich des Edens Expressway und nördlich des Kennedy. Und nur die katholischen!

Er pfiff gedankenverloren vor sich hin. "Who you gonna call... ghostbusters..." Ob das etwas zu bedeuten hatte? Dass alle Friedhöfe "östlich von Eden"[3] lagen? Dass sie katholisch waren... Nein, das hatte er doch schon. Seine Gedanken drehten sich im Kreis.

Harry sah auf und ließ seinen Blick über den See und dann über die vertraute Skyline schweifen. Das Gehupe des nahen Berufsverkehrs klang tröstlich. Die Menschen gingen wie jeden Tag ihrer Arbeit nach und ahnten von nichts...

Doch plötzlich ertönte ein Missklang in der morgendlichen Symphonie. Egal wie chaotisch die Geräusche der Stadt auch sein mochten—Harry waren sie so vertraut, dass er darin eine Musik erkannte, ein Muster—und dieses Muster wurde plötzlich unterbrochen. Ganz in der Nähe schien das Gehupe panisch zu werden; Menschen kreischten; Bremsen quietschten; Metall schlug auf Metall und irgendwo löste sich auch ein einzelner Schuss.

Harry zögerte nicht lange, sondern nahm seine langen Beine in die Hand und sprintete geradewegs auf den Lärm und den Unruheherd zu. Fliehende Menschen kamen ihm entgegen. Zwei Mütter schoben ihre Kinderwagen in riskanten Manövern eine Treppe hinunter. Harry wich ihnen gerade noch rechtzeitig aus, sprang über eine Parkpank und stand dann am Northern Marine Drive.

Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn an seinen Augen zweifeln. Oder seinem Verstand. Oder beidem.
 1. map (https://www.google.de/maps/search/catholic+cemeteries/@41.9739984,-87.6809681,14z)
 2. Aussprache /'mishigen/, NICHT /'mitschigen/    :piper:
 3. Henry hat recherchiert, was "östlich von Eden" heißen könnte => klick! (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=7636.msg865885#msg865885)
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 20.08.2014, 10:52:35
Henrys Vorgeschichte (Anzeigen)

Zum Ende des 16. Jahrhunderts wurde das irische Land von mehreren Rebellionen erschüttert. Die größte von ihnen war die Rebellion unter James Fitzmaurice Fitzgerald im südwestlichen Munster und Süd-Leinster. Für Henry war dies das Schlimmste, was jemals geschehen konnte, denn in der Rebellion überschnitten sich die beiden Lebensbereiche, die er bisher immer erfolgreich hatte trennen können: sein Glaube und seine Heimatliebe. Als seine Clansleute eines Tages vor seiner Tür standen und Henry aufforderten, morgen nach Munster zu marschieren, da zerriss es Henry innerlich fast. Nicht weniger war dies als eine Entscheidung zwischen seinem Herz und seinem Gewissen, zwischen seinem Clan und seinem Vater und schließlich zwischen seinem Leben und seinem Heil.

Die ganze Nacht über konnte er nicht schlafen, drehte sich hin- und her und betete immer wieder das Vaterunser und die Psalmen:

My God, my God, why hast thou forsaken me? why art thou so far from helping me, and from the words of my roaring?
O my God, I cry in the daytime, but thou hearest not; and in the night season, and am not silent.

Und schließlich die großen Worte Jesu, als er im Garten Gethsemane weilte und des Kreuzes harrte:

O my Father, if it be possible, let this cup pass from me: nevertheless not as I will, but as thou wilt.

Und so verging eine ganze Nacht ohne Schlaf. Am nächsten Morgen war er noch immer zu keiner Entscheidung gekommen, doch er musste sich entscheiden. Er packte seinen Rucksack und legte die Rüstung seines Vaters an. Dann setzte er sich auf einen Hocker und wartete, ließ die Minuten verstreichen. Und schließlich klopfte es an der Tür. "HENRY! We art here to take thou with us. Open the door - or we shall see thou as with in league with our foe!"

O my Father, if it be possible, let this cup pass from me: nevertheless not as I will, but as thou wilt.

Henry seufzte, stand von seinem Hocker auf und war im Begriff die Tür zu öffnen - da umfing in plötzlich tiefe, undurchdringliche Schwärze, die wie dicke, klebrige Maische seinen Körper umfing und seine Bewegungen lähmte. Henry war erst erstaunt, verfiel dann aber in Panik und versuchte frei zu kommen, aber er konnte nicht. Er spürte einen Sog und eine Kälte und er war nicht sicher, wie lange es dauerte.

Dann, ebenso so schnell, wie es begonnen hatte, hörte es auch auf. Um Henry wurde es hell und er fiel zu Boden. Schmerzhaft entwich ihm die Luft und ihm wurde schwindlig. Ein lautes Geräusch bewahrte Henry vor der Ohnmacht. Als er aufschaute, blickte er direkt auf ein rot-silbernes Etwas, das ihn anschrie. Reflexhaft sprang Henry auf und lief davon.

In seiner Panik begriff Henry kaum, wo er war und was passierte. Doch er verstand immerhin, dass es sich um eine Art Stadt handeln musste, nur dass die Häuser groß und hässlich waren, ganz aus einem Stein gehauen. Nur wenige Menschen lebten hier, dafür waren hier viele dieser seltsamen, metallenen Wesen, die in großen Herden durch die Straße zogen und sich gegenseitig an den Hinterteilen rieben und sich anschriehen.

Henry rannte einfach weiter drauf los und versuchte sich einen Weg durch diese Wesen zu bahnen. Dies gefiel ihnen aber nicht und sie schrien noch mehr und kamen von ihrem Weg ab und Henry glaubte, dass sie ihn verfolgten. Plötzlich stolperte Henry und fiel. Instinktiv hob er seinen Schild zum Schutz - und keine Sekunde zu früh, denn sofort war eines dieser Wesen über ihm und schrie. Henry sprang auf, zog seinen Flegel und hieb dem Vieh auf sein großes Maul.

"NUMEROUS THOU ARE, BUT YOU WON'T GET ME EASILY!", schrie Henry und gab dem Wesen ein um den anderen Hieb. Dies schien das Wesen aber nur noch mehr zu verärgern, denn plötzlich schnaubte es dicken, schwarzen Odem aus. "Oh, thou don't like that? I can do it the whole day!" Menschen schrien, mehr von den Wesen kamen in der Nähe zum Stehen, doch Henry hatte seinen Kopf wieder unter Kontrolle. Was auch immer hier passierte, er würde kein leichtes Opfer sein.
 1. Irischer Stockkampf (http://de.wikipedia.org/wiki/Bataireacht)
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 20.08.2014, 13:40:34
Mit dem Morgenstern! In Vollplatte! Und der Morgenstern hatte die Motorhaube des Taxis schon ordentlich zerbeult. Mehr als zerbeult: schwarz-öliger Rauch stieg bereits daraus auf. Die Passagiere und auch der Fahrer sprangen entsetzt aus und flohen in alle Richtungen.

Was war denn das für ein Irrer?

Binnen Sekunden verschaffte Harry sich einen Überblick. Die Polizei war noch nicht da, aber dürfte inzwischen informiert sein. Der Schütze, wohl ein Autofahrer mit Revolver im Handschuhfach, hatte inzwischen sein Magazin verschossen und alles verfehlt außer Fensterscheiben, Mülleimern und einem Hotdog-Stand, dessen Betreiber aber längst das Weite gesucht hatte. Da der Mann nichts mehr an- noch ausrichten konnte, lief auch er davon. In mehreren weiter entfernten Autos stiegen die Leute aus und liefen davon; in den näheren verharrten sie verängstigt in der relativen Sicherheit des Innenraums; nur die Insassen der vier Fahrzeuge in unmittelbarer Nähe zum qualmenden Taxi, das noch immer von dem verrückten—Ritter?—attackiert wurde, zogen die Sautierpfanne dem Feuer vor und eilten ebenfalls davon.

Was schrie der Kerl da? Er klang wie aus einem Theaterstück von Shakespeare. Oh ja. Definitiv einmal zu oft den Renaissance Fair besucht. Eigentlich wäre dies ein Fall für die Herren in den weißen Kitteln nebst ihren Westen mit den extralangen Ärmeln.

Doch etwas passte nicht ins Bild. Die Ausrüstung des Ritters, sie sah einfach zu... echt aus. Und der Mann selbst war sehr klein geraten. Ungefähr so klein, wie die Leute im Mittelalter gewesen sein mochten. Oder wie jemand, der Feenblut in seinen Adern hatte. Jedenfalls war etwas übernatürlich an ihm. Harry brauchte nicht einmal seinen Blick zu öffnen, um dies zu sehen. Hm. Ein Ritter der Sommerkönigin Titania? Das würde das milde Wetter erklären.

Harry näherte sich dem noch immer tobenden Ritter mit erhobenen Händen; eine Geste, die trotz des Kampfstabes, den er in der Linken trug, hoffentlich friedvoll wirkte.

"My good Sir Knight, desist from your attack", rief er laut, den altertümlichen Stil des Mannes nachahmend—sogar seinen faux-British Akzent packte er dafür aus, das heißt, eigentlich imitierte er Sean Connery, also musste es faux-Scottish heißen—"I would parlay with you, please, Sir Knight!"

Und er tat noch ein paar Schritte auf den Ritter zu. Der Verkehr war inzwischen komplett zum Stillstand gekommen. In der Ferne hörte man bereits Sirenen.

Und so sah Harrys Nahen von der anderen Seite des Morgensterns aus:

Ein elendslanger, spindeldürrer Kerl, vielleicht im selben Alter wie Henry, kam da vorsichtig auf ihn zu. Eigentlich könnte man es todesmutig nennen, denn er trug weder Rüstung noch eine ernstzunehmende Waffe noch schien er über die notwendige Muskelkraft zu verfügen. Dafür waren die Gewänder, die der Kerl trug, umso seltsamer: ein schwarzer, glänzend-glatter Ledermantel über dunkelgrauem Hemd, dazu dunkelblaue Beinlinge, und auf dem Kopf eine ovale schwarze Kappe mit rundum vorstehender Krempe. An seinen Stiefeln trug er Sporen, obwohl nirgendwo ein Pferd zu sehen war.

Der Fremde kam immer näher. In der linken Hand hielt er einen Kampfstab, aber nicht wie zum Kampf erhoben. Außerdem fiel Henry das kleine silberne Pentagramm auf, welches der Mann an einer Kette um den Hals trug. Und seinen Akzent... den konnte Henry gar nicht einschätzen. Aus Britannia schien er ihm jedenfalls nicht zu sein.

"Please", bat der Mann abermals. "Lower your weapon. Your Queen would not care to see you arrested, Sir Knight. I can help!"
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 20.08.2014, 16:34:47
Die Stimme des fremden Mannes riss Henry aus seinem Rausch. Noch ein letztes Mal sauste der Flegel auf die metallene Haut des Wesens hinab, dann sah er auf zu dem Mann, der ihn angesprochen hatte. Und tatsächlich musste Henry aufblicken, denn der Mann war mehr als zwei Köpfe größer als er. "What a curious-looking guy! Der ist ja riesig groß und dabei klapperdürr. Ich schätze, er hat alle seine Kraft darauf verwendet, so groß zu werden." Henry schätzte, dass es sich um einen Edelmann oder einen Kaufmann handeln musste, denn einer gemeine Arbeit schien er nicht nachzugehen. Dafür war er zu wenig muskulös.

Ungewöhnlich war auch, dass er sich von den seltsamen Wesen überhaupt nicht aus der Ruhe bringen ließ. Henrys Blick schweifte ab und da fiel ihm ein Detail auf, welches ihn in einen Zustand beschämter Überraschung versetzte. Diese Dinger hatten statt Beinen Räder. Die Räder sahen zwar anders aus, als die Räder, die er kannte, doch unzweifelhaft, es waren waren Räder. War es möglich, dass es sich bei diesen Dingern um... Kutschen... oder so etwas ähnlichem handelte? Doch wenn dies stimmte, wo waren die Zugtiere? Und warum kam Rauch aus dieser Kutsche vor ihm?

Henry wurde bewusst, dass der Mann auf eine Antwort wartete. Henry ließ seine Waffe sinken. "It attacked me first, I swear!", rechtfertigte sich Henry. "At least, I guessed so. Was sind dies für seltsame Dinger? Und überhaupt, was ist das für eine seltsame Stadt? Bin ich im Limbus?[1] Oder ist dies nur ein Traum? Ja eher, ich muss träumen.", sagte er und Harry musste auffallen, dass sich im Laufe der Rede der starke Akzent des Mannes abmilderte.

"But still, though this be madness, yet there is method in 't.[2] Ich habe niemals einen so realen Traum gehabt. Ihr gestattet?", wunderte sich Henry, steckte den Flegel notdürftig in seinen Gürtel und kniff dann fest in Harrys Arm.

Als Henry Harry näher kam, fiel ihm das Pentagramm[3] an seinem Hals auf. "Thou fear the might of evil kin? Alright, but let me explain, that the holy name of our savior, Jesus Christ, is 'nough to keep the satan at bay. Ihr tätet besser daran, dass Abendmahl zu empfangen, als dass ihr auf solche völkischen Wundermittel, wie einem Pentagramm, vertraut. Wie lautet Euer Name, guter Mann? Und wie lautet der Name Eures Lords?" Es war seltsam, wie Henry sprach. Jedesmal, wenn er neu ansetzte, dann fiel er zurück in diesen altertümlichen Dialekt, nur um am Ende wieder in einem normalen Englisch zu sprechen.
 1. Limbus (http://de.wikipedia.org/wiki/Limbus_%28Theologie%29): Die Vorstellung des Limbus ist mittelalterlich und geht auf eine Vermittlung zweier Vorstellungen zurück, nämlich einerseits, dass niemand gerettet werden kann, der nicht an Jesus Christus glaubt, und andererseits dass ein Mensch guten Willens, der niemals die Gelegenheit gehabt hatte, den Glauben anzunehmen, nicht dieselebe Höllenstrafe eines Ungläubigen haben dürfe. Ausgedehnt wurde die Vorstellung dann auf alle Menschen, die ohne eigenes Verschulden das Heil verfehlten.
 2. Shakespeare, Hamlet, II. Akt
 3. Im Mittelalter ist das Pentagramm allgemeinhin als Bannzeichen gegen das Böse bekannt (so z.B. auch noch bei Goethes Faust).
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 20.08.2014, 17:43:29
"Dream? I didn't know fairies could dream, don't you need a soul for that?"[1] wunderte Harry sich.

Dann erinnerte er sich an etwas, das Großvater Mortimer in einer Lehrstunde über die Anderswelt erzählt hatte. Sowohl die Winterkönigin als auch die Sommerkönigin benutzten gern Sterbliche als ihre Ritter. Diese armen Seelen lebten dann bei den Feen in der Anderswelt, wo die Zeit sich völlig anders verhielt als hier. In den meisten Märchen, die er kannte, bedeutete das: viel langsamer als auf Erden. Wenn dies also ein solcher Mensch war, dann kam er am Ende gar tatsächlich aus dem Mittelalter, und für ihn war es womöglich nur wenige gefühlte Jahre her.

"OK, so the city's called Chicago", sagte Harry, und beantwortete dann in rascher Folge die wichtigsten Fragen des Ritters: "And me, I'm Harry Webster. As for my lord, I suppose that would be George W. Bush. But introductions will have to wait, 'cause when I said I wanted to talk, what I really meant was: later. First, we need to get the hell out of here. Unless you want to spend the next few years of your life locked up in a jail cell? Or maybe the rest of your life in a padded cell? Because that's what's going to happen to you if we stand around here much longer. I don't suppose your insurance would cover that, huh?" Grinsend nickte er in Richtung des Taxis. "Guess you really vanquished the beast."

Die Sirene im Norden war zwar nicht lauter geworden—die Polizei stand im Stau—dafür kamen aber im Süden und im Westen weitere hinzu. Außerdem tauchten bereits die ersten Neugierigen vorsichtig aus ihren Versenkungen wieder auf. Zeugen. Das konnte Harry ja gar nicht gebrauchen.

"You hear the sirens? The cops are closing in on us. Sir, I know you have no reason to, but you gotta trust me. My office is nearby, I think I can get us there and keep pursuers off our tail. I don't even know why I would stick out my neck like that for a total stranger, but that's me. Gotto help every lost soul I stumble across in my city, be they human or fairy or something betwixt."

Bei den letzten Worten zeigte er bereits auf eine Seitengasse und setzte sich in Bewegung, darauf hoffend, dass der Ritter ihm folgte.
 1. Ich schreib nur Englisch, weil Du so angefangen hast, gelt?  :wink: Wenn's Dir auf den Keks geht, sagen, dann hör ich wieder auf damit. (Aber Spaß machen tut's... :lol:) OK, ab nächstem Post wohl doch lieber in Deutsch. Das könnte ja immerhin ein längeres Gespräch werden...
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 20.08.2014, 19:33:22
Henry folgte dem fremden Mann durch diese seltsame Stadt, die 'Chigaco' hieß. Das Meiste, was der Mann sagte, verstand Henry nicht. Da waren einfach viele Worte, die er nicht kannte, darunter 'cops', 'insurance' und 'office'. Aber die Bedeutung von 'jail' war ihm nur allzu geläufig und Henry befand, dass es keine Notwendigkeit gab, von Soldaten oder Milizen aufgegriffen und eingesperrt zu werden. Er würde das Missverständnis später klären - oder vielleicht würde Harry das für ihn tun.

"I'm gotto apologize, 'cause I didn't introduced myself. Meine Name lautet Henry und da mir keine Stadt mit Namen 'Chicago' geläufig ist, sollte ich hinzufügen, dass ich Ire bin.", rief er Harry hinterher.Seinen Helm trug er mittlerweile unter dem Arm. Zum Vorschein kam ein nettes Gesicht, welches von rostrotem Haar eingerahmt wurde. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Henry war immer stolz, wenn er von sich als Iren sprach. Leider mochte es Harry wohl nicht bemerken.

Henry holte etwas auf zu Harry. Seine schwere Rüstung schepperte beim schnellen Laufen. "But thou already guessed, hm? Dazu muss ich Euch sagen, dass wir Iren zwar viele Feengeschichten kennen, aber ich kann Euch versichern, dass ich keinen Goldtopf besitze. Nur einige Pfund habe ich noch in meinen Taschen. Vielleicht wird das Geld zumindest für die Schwersten Schäden Kompensation leisten können." Henry streckte Harry seine gepanzerte Hand entgegen, in der sich mehrere alte Münzen befanden. An der unregelmässigen Form, ihrem abgeschlagenen Zustand und dem kruden Emblem war zu erkennen, dass es sich (aus Harrys Sicht) um sehr altes Geld handeln musste. So sah heutzutage nirgendwo mehr Geld aus.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 20.08.2014, 23:13:39
"Heute ist in dieser Stadt jeder ein Ire", schmunzelte Harry. "Auch die, deren Vorfahren Eure[1] schöne grüne Insel nie auch nur zu Gesicht bekamen."

Den Kommentar, der ihm wegen des Vornamens, mit welchem der Ritter sich vorstellte, auf der Zunge lag, verkniff er sich. Henry, also wirklich! Nachdem ich mich gerade als Harry vorgestellt habe... Aber er hatte natürlich von einem Feenwesen nicht erwartet, dass es seinen wahren Namen preisgab.

Er führte Ritter Henry so schnell, wie dieser mithalten konnte, mehrere Seitengassen hinab und über zwei doppelt mannshohe (wenn man Henry als Maßstab nahm) Absperrungen hinweg, die der Ritter mithilfe der in der Nähe stehenden Müllcontainer meisterte. Verfolgt vom viel zu nahen Sirenenklang ging es dann in ein verlassenes, heruntergekommenes Wohngebäude—voll besetzt mit Squattern und Junkies, die kaum lange genug aus ihrem Drogenrausch erwachten, um ein Auge aufzuklappen und zu schauen, ob das Scheppern nur in ihren Köpfen oder auch in echt existierte—und dort in den Keller hinunter, von diesem durch eine wohlversteckte Tür in einen weiteren Keller hinab, dann über eine Leiter, die durch ein Loch im Boden führte, in einen dunklen, klammfeuchten Tunnel.

Erst hier wagte Harry innezuhalten und aufzuatmen.

"So, in Sicherheit. Also, vor den Cops. Hier unten ist es in anderer Hinsicht wesentlich gefährlicher. Let's not linger."

Harry holte eine Taschenlampe aus den Tiefen seiner Manteltaschen und knippste sie an.

Und weiter ging's, durch ein verwirrendes Labyrinth aus kreuz und quer verlaufenden Tunneln, die mal breit, mal eng waren, mal so niedrig, dass sogar Henry den Kopf einziehen musste, dann wieder so hoch, dass er die Decke nicht sah. Die Wände waren an vielen Stellen mit unkenntlichen Zeichnungen bemalt. Längst hatte Henry hoffnungslos die Orientierung verloren, aber Harry zögerte an keinem Abzweig.

Dann ging es endlich aufwärts. Und noch weiter aufwärts. Und noch mehr Treppen. Und noch mehr. Henry geriet allmählich ins Schwitzen.

"Der Aufzug ist mal wieder kaputt", sagte Harry und wies auf ein Schild, das an einer dicken, eckigen Säule hing und genau dies besagte. Dann fügte er hinter vorgehaltener Hand hinzu: "Der Aufzug ist immer kaputt. So, aber jetzt wären wir da. Jetzt kann ich Euch Eure Fragen beantworten, wenn Ihr welche habt. Und vielleicht Ihr die meinen?"

Die beiden ungleichen Männer standen in einem schmuddeligen Korridor, der von einer einzigen, nackten Glühbirne erhellt wurde. Auf der Tür vor ihnen waren drei Schilder beziehungsweise Notizen angebracht. Während Harry umständlich seine Schlüssel hervorkramte, las Henry das folgende:

Harry Webster, Paranormal Investigations

Dies stand auf einem metallenen Türschild. Darunter fand sich ein Papier geheftet, auf welchem gedruckt[2] war:

Lost items found. Missing persons found as long as they want to be found. We deal with haunted houses, fairy infestations, and find the loophole in your contract with any supernatural entity—if there's one to be found. No love potions. No vodoo dolls, hexes, jinxes or curses. No parties or other entertainment. Reasonable Rates.

Darunter klebte eine handschriftliche gelbe Post-it Notiz: No crank calls, please!

Dann schloss Harry die Tür auf und machte eine einladende Geste.

Und noch bevor Henry die Einladung annehmen oder ablehnen konnte, setzte Harry seine erste Frage hinterher: "So, jetzt sagt mir doch einfach, was Euch hierher führt. Vielleicht kann ich Euch helfen."
 1. Ich übersetze "you" einmal mit "Ihr" und "Euch", schließlich kommt's von der alten Pluralform, nicht vom thou=du; und es klingt irgendwie passender.
 2. mit einem alten Nadeldrucker
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 21.08.2014, 12:33:57
Henry trat in das 'Office' des Fremden und sah sich um. Es war erkennbar, dass hier jemand nicht nur arbeitete, sondern auch lebte. Nebe einem Aktenschrank und Stapeln von Papieren, Karten und Büchern fanden sich ebenso benutzte Gläser und schmutziges Geschirr. In der Mitte des Zimmers stand ein großer Tisch, dahinter ein Stuhl vor einem großen Fenster. Das Tageslicht wurde von einer halb zugezogenen Jalousie abgedämpft. Streifen von Licht zerschnitten die Luft. "Comfortable... somehow", murmelte Henry.

Henry hängte seinen Rucksack an den Kleiderständer und lehnte seinen schweren Schild an die Wand. "My reason for being here? Dunno know. Ich erinnere mich, dass ich darauf wartete, dass mein Clan in die Schlacht ziehen würde gegen die englische Krone. Die ganze Situation war ein Dilemma. Es begann damit, dass die englische Krone ihren Anspruch auf Irland geltend machte und die katholischen Kirchen enteigneten. Außerdem suchte sie, den katholischen Ritus durch den der jungen anglikanischen Kirche zu ersetzen. Es kam zu Rebellionen einzelner Clans gegen die englischen Okkupanten, nicht nur aus religiösen Gründen, sondern auch weil die Autonomie der Clans durch das englische Gesetz eingeschränkt wurde. Als Queen Elisabeth dann von Papst Pius V. exkommuniziert wurde, weigerte sich ein bedeutender Clananführer namens Fitzmaurice, der englischen Krone weiterhin Gehorsam zu leisten. Mein Clan stimmte den Plänen Fitzmaurice' zu und war drauf und drann, Männer nach Leinster zu entsenden. Ich... weiß nicht, für welche Seite ich mich entschieden hätte. Henry seufzte. "Da saß ich nun und harrte meines Schicksals, eine der beiden Seiten verraten zu müssen. Und als es an meiner Tür klopfte, da umfing mich Schwärze, ich wurde wie von einem Strom mitgerissen und fand mich plötzlich in Eurer Stadt wieder. Den Rest kennt Ihr."

"That's the story. Besides, what did thy mean, that today all men are Irishmen? Wait! It's... St. Paddy's Day? Really?" Henrys Gesicht hellte sich auf und strahlte. "In diesem Fall, guter Mann, muss ich mich weigern, das Gespräch hier weiterzuführen. Ich muss darauf bestehen, dass wir in die nächste Schenke gehen, 'cause it's my holy duty, to get drunk tonight. Got it?"

Henry sammelte zwei Gläser zusammen und kramte eine Flasche dunklen Inhalts aus seinem Rucksack. Er goß zwei Doppelte ein und hob sein Glas. "This one is from my neighbour. It makes you beat up your brother and love your wife. Or the other way round. Sláinte!"[1]
 1. Verbrauche zwei Cups Dragonpunch Whiskey (http://www.d20pfsrd.com/equipment---final/goods-and-services/hunting-camping-survival-gear#TOC-Whiskey-Dragon-Punch)
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 21.08.2014, 14:24:47
"Seriously? It's nine o'clock in the morning! I haven't even had my coffee yet, let alone breakfast. And I've got neither wife nor brother to love or beat up. Oh, what the hell. Sláinte to you too!" Harry nahm den Whiskey an und kippte ihn runter wie einen Kurzen—und dann blieb ihm erst einmal die Luft weg. Gründlich. Nicht einmal zum Husten hatte er genug übrig.

"Was...", keuchte er, "für... ein... Tropfen!"

Er hieb sich mehrmals mit der Faust auf die Brust. Tränen standen ihm in den Augen.

"OK, my turn. Ich mach uns mal einen Kaffee. Bin sofort wieder da."

Damit verschwand er in einer Ecke des Zimmers, wo er Schränke öffnete und wieder schloss und mit einer seltsamen alchemischen Apparatur zu hantieren begann. Derweil sah Henry sich noch ein wenig um.

An der Wand neben der Tür stand ein bettähnliches Gebilde (nur war die Liegefläche sehr schmal, dafür hatte das ganze eine Rückenlehne) mit Kissen und Decke, welches sehr einladend wirkte. Bei dem Aktenschrank fiel auf, dass von sechs großen Schubladen nur die beiden in der obersten Reihe beschriftet waren. Dort stand: Clients, A-Z und Contacts, A-Z.

Im Bücherregal daneben fielen folgende Titel ins Auge:

(im mittleren Fach, auf Henrys Augenhöhe)
The Holy Bible
Holy Bible, the Graphic Novel
Quran
Talmud
Four Books and Five Classics
Tao Te Ching
Pali Canon, selected texts
Vedas
Bhagavad Gita

(im oberen Fach, auf Harrys Augenhöhe)
An Encyclopedia of Angels and Archangels
An Encyclopedia of Demons, Spirits, and Other Things That Go Bump in the Night
Creatures of the Nevernever
Dragons in History and Mythology
The Fairie Courts: Customs and Politics
Don't Forget the Fine Print - What to do and not to do when you enter a contract with a fairy, demon, archangel or Old Nick himself
A Complete History of Sorcery
Spell Compendium, Vol. 2: Creation
Spell Compendium, Vol. 4: Divination
Spell Compendium, Vol. 6: Evocation
Charms and Circles for Your Protection
Thaumaturgy
Grimms' Fairy Tales


"So", riss Harry Henry aus seinen Betrachtungen und stellte zwei Becher eines dampfenden schwarzen Gebräus auf den Tisch. "Und nun zu dem, was Ihr mir da gerade erzählt habt... Oder war das ernst gemeint mit der Kneipe? Es gibt hier ganz in der Nähe einen netten Irish Pub, MacClelland's, der rund um die Uhr geöffnet hat. Wenn Ihr wollt..."
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 21.08.2014, 16:04:16
Henry nahm wohlweißlich nur einen kleinen Schluck von dem starken Selbstgebrandten. "Oh, yes. My Neigbour always says: 'On' cub, you't dizzy - on' bottle, you't blind'. But don't worry, we tried once. Thy don't get blind - thy just wish to get decapitated next morning." Henry lachte über seine kleine Anekdote. Überhaupt war er nun in einer besseren Stimmung. Was auch immer gerade vor sich ging, ob er träumte oder in eine andere Welt versetzt war, one pal and a drink and the world gets allright.

Während Harry in einer Ecke des Zimmers vor sich hin werkelte, nutzte Henry die Gelegenheit, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Er konnte sich nicht an den Anblick der Stadt gewöhnen. Wer würde freiwillig in dieser Steinwüste leben wollen? "There must be a circus in town. The people are almost running to get there.", bemerkte Henry.

Er wandte sich vom Fenster ab dem Bücherschrank zu. Die meisten Titel verstand er nicht. Mussten wohl irgendwelche ausländischen Romane oder Märchenbücher sein. Dann fand er etwas, was ihm wohl vertraut war: The Holy Bible! Und gleich zwei Exemplare. Henry zögerte und nahm dann diejnige aus dem Schrank, welche den Untertitel 'Graphic Novel' trug. Als er das Buch aufschlug, war Henry allerdings überrascht. Es war nur sehr wenig Geschriebenes in dem Buch und dafür sehr viele und große Bilder. Einige davon waren ziemlich grell. "Hope, the painter didn't make your church windows, as well.", kommentierte Henry das Buch und stellte es dann nach einigen Seiten wieder in das Regal.

"I'm glad, you're a religios man, after all.", sagte Henry, als Harry gerade die beiden Tassen Kaffee auf den Tisch stellte. Probeweise nahm Henry einen Schluck des dampfenden Getränks und verzog dann das Gesicht. "Uh, guess you must get used to it. But I have an idea." Henry nahm das halbe Glass Whiskey und goss es in seinen Kaffee. "Schon besser. Hmhm... noch ein wenig Honig und vielleicht etwas Sahne - and this would be a fine drink."

"McClelland's sound's all right. Nine o' Clock is also a fine time to start with. Aber nun noch zu etwas Ernsterem. habt Ihr eine Idee, was mit mir passiert ist?  Ich bin fast geneigt, zu glauben, dass dies kein Traum ist (denn wenn dies ein Traum wäre, dann wären bereits gewisse Dinge passiert). Ich habe niemals von etwas Vergleichbarem gehört, außer vielleicht in einigen Märchen, die behaupten, man könnte durch eine Baumhöhle klettern oder vom Rand der Welt fallen und dann in einer anderen Welt erwachen. Aber das sind Kindergeschichten. Fast ebenso bedeutsam, wie komme ich wieder von hier weg?"
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 21.08.2014, 18:48:06
"Ja, also mein erster Gedanke war ja—oder mein zweiter, um ehrlich zu sein—dass Ihr die letzten 400 Jahre oder so in der Feenwelt verbracht habt. Dort vergeht die Zeit ja wesentlich langsamer als hier, und je nachdem, wo Ihr da genau wart, könnte aus Eurer Sicht ein Tag vergangen sein, hier bei uns aber ein Jahrhundert. Gehe ich richtig in der Annahme, dass, wenn Ihr von Königin Elizabeth von England sprecht, Ihr die erste Königin dieses Namens meint? Also die Tochter von Henry dem Soundsovielten und der Zauberin Anne Boleyn?"

Henry nickte, doch Harry entging nicht, dass der Ritter ihn sehr verwirrt und einigermaßen erschrocken ansah. Er räusperte sich verlegen.

"Verzeiht, ich bin jetzt diplomatisch nicht sonderlich geschult... Anderseits wüsste ich auch nicht, wie man so etwas einem Menschen schonend beibringen könnte. Also, wir schreiben das Jahr des Herrn 2001."

Er nickte in Richtung Wand, wo ein großformatiger Kalender hing, auf dem unten der Monat März 2001 aufgeschlagen war. Das Bild darüber zeigte eine so gut wie nackte Dame, die ein seltsames Konstrukt in den Händen hielt: vorne sah es wie ein breites, mit einer Kette umwickeltes und dabei rund endendes Schwert aus, hinten war statt eines Griffes ein komischer, orangeschwarzer Kasten befestigt.[1]

Während Henry noch den Kalender besah, wünschte Harry sich nicht zum ersten Mal, dass er ein wenig mehr Takt besäße. Er spülte diesen Gedanken mit einem ordentlichen Schluck Kaffee hinunter, dann stellte er einen Pappkarton auf den Tisch. Henry sah, dass dieser Zuckerwerk enthielt: kleine runde Krapfen mit einem Loch in der Mitte, welche dick mit Zuckerguss überzogen waren. Harry nahm sich einen, verschlang ihn in wenigen Bissen und fuhr mit vollem Mund fort:

"Es herrscht immer noch eine Elizabeth in Großbritannien, allerdings die zweite. Und wir hier, wir sind in Amerika, das inzwischen voll erkundet und besiedelt und auch längst keine englische Kolonie mehr ist. Hier in Chicago, wie auch drüben in New York, gibt es sehr viele Iren, die ihre Heimat so um 1850 verließen wegen der großen Hungersnot und die hierher kamen auf der Suche nach einem besseren Leben—was sie zumeist auch gefunden haben.

In anderen Worten: Ich glaube nicht, dass es für Euch einen Weg zurück gibt—die Zeit lässt sich nun einmal nicht zurückdrehen—aber wo wir jetzt sind, das ist kein schlechter Ort und keine schlechte Zeit."


Doch egal wie vorsichtig Harry das alles zu formulieren versuchte, sein Gegenüber schien immer blasser zu werden.

"OK, ähm, vielleicht war das doch keine schlechte Idee, MacClelland's einen Besuch abzustatten. Ihr seht aus, als könntet Ihr ein paar ordentliche Drinks vertragen, St. Paddy's Day hin oder her. Ich, ähm..." ein skeptischer Blick in die Brieftasche... "ich... tät Euch auch ein paar ausgeben..."

 1. Der Kalender war ein Werbegeschenk einer Firma, die Kettensägen herstellt.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 04.09.2014, 01:22:55
Tatsächlich wurde Henry immer bleicher, bis zu einem Punkt, dass Harry schon vermuten musste, Henry würde gleich mit der Raufassertapete verschmelzen. "Thou mean..., thou mean...", stammelte er, "Ihr meint... ich bin 400 Jahre in der Zukunft gelandet? Nein, also, wenn das ein Scherz... - 400 Jahre? Und dies kann kein Traum sein? 400 Jahre? Also, nein, ich... ich... muss mich betrinken. Helft mir eben mit der Rüstung und dann gehen wir... ja, dann müssen wir..." Mit zitternden Fingern fummelte Henry an den Riemen seiner schweren Rüstung herum. Harry musste ihm helfen, da Henry immer wieder mit den Fingern abrutschte. Achtlos glitt die Rüstung zu Boden. Sie mussten sich beeilen, denn Henry drängte es in den Pub. Und Harry fühlte sich verpflichtet, ihm die Nachricht ein wenig leichter zu machen.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 04.09.2014, 01:57:30
Also nahm Harry seinen Stecken und führte sie abermals durch die Häuserschluchten, aber diesmal über normale Wege. Allerdings boten die Straßen hier auch nicht die einheitliche Fassade wie am Lake Shore, wo die beiden sich getroffen hatten. Es war immer auch mal ein kleineres oder schäbigeres dazwischen, ein Parkplatz, eine Kirche, oder ein Supermarkt. Dann machte Harry auch schon vor einem älteren, vierstöckigem Gebäude, das zwischen zwei dreimal so hohen Nachbarn eingezwängt stand, halt.

Eine Treppe führte zum Eingang ins Souterrain hinab. Erst wer unten stand konnte das Schild "MacClelland's Public House" lesen. Eine Frau und ein Mann kamen ihnen entgegen. Der Mann war elegant in Schwarz mit weißem Hemd, die Frau dagegen trug ein rotes, enganliegendes, bodenlanges Kleid, das nicht verbarg, obwohl es bis zum Hals geschlossen war.

"Why, Harry!" rief sie freudig. "Good to see you! How's life treating you? You're looking good. Say, who's your little friend?"

"None of your business, Auntie Trish", erwiderte Harry gänzlich ungalant. Er versuchte, um die beiden herum zur Tür zu gelangen, doch es war nicht genug Platz.

'Auntie Trish' (die eigentlich nicht alt genug aussah, um Harrys Tante sein zu können) schien keinesfalls brüskiert. Noch immer lächelnd betrachtete sie Henry von Kopf bis Fuß, wobei ihr Blick auch immer wieder zu Harry hinüberwechselte, als amüsierte sie sich köstlich über den Größenunterschied. Ziemlich frech war das eigentlich schon. Henry dagegen konnte nur zu ihr aufblicken und staunen, wie groß diese Frau war; ihren Begleiter überragte sie um einen Kopf, mit Harry aber befand sie sich auf Augenhöhe.

"Or is he a client?" fragte sie Harry, doch gab ihm gar keine Gelegenheit zu antworten. "Client, of course. You don't have any friends. Well, I do hope your business goes well." Und zu Henry sagte sie: "Don't let him overcharge you. And don't fall for his 'I need the money, I'm such a pauper' routine; in truth, he's loaded. Or could be, if he wanted to."

Bevor Henry etwas erwidern konnte, bedachte die Tante ihren Neffen mit einem recht giftigen Blick, dann zupfte sie ihrem Begleiter am Ärmel, worauf die beiden sich zwischen Henry und Harry hindurchschoben und lautlos die Treppe hinaufglitten.

"Das war Eure Tante?"[1] fragte Henry. "Seid Ihr in Eurer Familie alle so groß?"

"Größenwahnsinnig vielleicht", sagte Harry. Gemeinsam traten die beiden ein.

Wenn Henry nicht noch so geschockt gewesen wäre, hätte er sich bei MacClelland's auf Anhieb heimisch gefühlt. Der für diese Stunde überraschend gut besuchte Schankraum hätte fast genau so, wie er war, daheim und in seinem Jahrhundert existieren können. Alles war hier aus dunklem Holz. Die Decke war so niedrig, dass Harry sich immer mal wieder ducken musste, um nicht mit dem Kopf gegen einen Balken zu stoßen. Für Henry dagegen war es genau richtig. In Harrys Officegebäude hatte er sich fast wie in seine Kindheit zurück versetzt gefühlt, hier passte endlich wieder alles.

Es gab einen langen Tresen, die Stühle gut zur Hälfte besetzt, ein Dutzend Tische zumeist in gemütlichen Nischen, und eine blondhaarige, vollbusige Schankmaid, die acht volle Humpen Ale auf einmal ihrer Bestimmung zutrug. Zwar schienen auch hier die Lampen an Decke und den Wänden ohne Feuer zu brennen und drei wagenradgroße, windmühlenähnliche Gebilde, deren Zweck Henry sich nicht erklären konnte, hingen von der Decke und zwangen die beiden, Harrys Kopf zuliebe, zu Umwegen, aber mit dem Rest der Einrichtung war Henry bestens vertraut. Besonders verlockend erschien ihm die Zapfanlage: er zählte sechs verschiedene Hähne!

Harry marschierte denn auch (so gut es ging geradewegs) auf den Tresen zu. Die Klientele in diesem Laden sah irgendwie auch anders aus als die Menschen draußen. Viele trugen, ähnlich wie Harry, eine dunkle, zusammengewürfelte Kleidung, oft verknittert und nicht ganz so sauber; die meisten versteckten, wie Harry, ihre Gesichter ganz oder zum Teil hinter Hutkrempen, Halstüchern oder gar Masken.

An einem Tisch in der Mitte saßen drei Männer und eine Frau—unmaskiert—die jeder einen Gürtel mit Schwert über der Stuhllehne hängen hatten. Mit diesen tauschte Harry ein vorsichtiges—sehr vorsichtiges—Begrüßungsnicken.

"Das sind Wächter", raunte er Henry zu, als sie den Tresen erreicht hatten. "Die passen auf, dass Leute wie Ihr und ich uns an die Gesetze halten. Also, an unsere Gesetze." Das Wort 'unsere' betonte er seltsam. "Wenn man eins von den sieben obersten Gesetzen bricht, fackeln die nicht lang, dann ist der Kopf ab. Ich wünschte wirklich, die würden ihr Feierabendbier woanders trinken. Na, wenigstens sind um diese Uhrzeit keine Touristen da. Morgen, Pete!" begrüßte er den Mann hinter dem Tresen, als dieser sich ihnen zuwandte. Dann zu Henry: "Ist es Euch recht, wenn ich bestelle?" Nach Henrys Nicken wieder zu Pete: "Gut, also zwei cooked breakfast bitte, mit allem, dazu zwei Irish Coffee und zwei Murphy's Stout. Und wenn ich dann noch nicht bei 21 Dollar und 73 Cent bin, schickst du uns noch zwei Whiskey hinterher."

Bei diesen Worten kramte Harry seine Brieftasche hervor und leerte den gesamten Inhalt des Geldfaches auf den Tresen: zwei Zehndollarscheine, ein Einer, zwei klimpernde Quarter, zwei Dime, und... "Korrigiere, 77 cent! Den Rest darfst du behalten."

"Ungh", sagte Pete. Es schien zustimmend gemeint zu sein.

Als Harry daraufhin den letzten freien Nischentisch ansteuerte, fielen Henry drei Dinge auf, die ihm Sorge bereiteten—als hätte er davon nicht schon genügend.

Erstens verfolgten drei der vier Wächter Harrys Weg durch den Raum mit argwöhnischen Blicken, schienen angespannt und fast wie auf dem Sprung, als erwarteten sie, dass Harry gleich etwas täte, das sie zum sofortigen Eingreifen zwänge.

Zweitens fiel ihm auf, dass der Mann am Tresen, und auch keiner der Gäste, ihm oder Harry in die Augen sahen. Und, wenn Henry es recht bedachte, war Harry seinem Blick auch noch nicht länger als einen halben Atemzug lang begegnet.

Drittens war nahezu alles in diesem Raum dreizehn Mal vorhanden. Dreizehn Stühle am Tresen. Dreizehn Tische. Dreizehn Lampen an der Wand. Dreizehn Leuchter an der Decke, diese mit je dreizehn Kerzen. Dreizehn Holzpfeiler stützten die Decke. Fenster gab es zwar nur sieben, aber dazwischen waren sechs an die Wand gemalt.

Harry saß bereits und schien Henrys plötzliche Unruhe nicht bemerkt zu haben. Kaum hatte dieser sich dazu gesetzt, da stellte die Schankmaid auch schon zwei Gläser mit dunklem Ale und zwei Whiskey auf den Tisch.

"Ich hoffe, Ihr mögt Ale", sagte Harry. "Sonst nehm ich die beiden Ales und Ihr könnt die beiden Whiskeys haben. Davon vertrag ich eh nicht soviel... Sláinte!"

Und nach dem ersten Schluck fügte er noch hinzu: "Ich muss mich übrigens für meine Tante entschuldigen. Für ihre freche Anspielung auf Eure Größe. Egal, wie sehr die Benimmregeln sich seit damals geändert haben mögen: solche Bemerkungen sind auch heute nicht die feine Art. Glaubt mir bitte, dass ich so etwas nicht einmal denken würde."[2]
 1. Das ist jetzt übrigens kein Nachruf auf meine Tante; die war nämlich lieb.  :(
 2. Keine Sorge, Du kannst ruhig noch mehr Whiskeys bestellen, Harry hat eine Kreditkarte...  :P
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 04.09.2014, 12:45:08
Henry sah schon ein wenig besser aus, war aber immer noch schwer mitgenommen. Er hatte den Weg über kaum etwas gesagt, was, so sehr kannte Harry den kleinen Mann schon, ungewöhnlich war. Eigentlich war Henry nämlich eine lebensmuntere Person. Doch dies waren eindeutig zu viele Informationen für ihn gewesen. Er musste es erst einmal verdauen - und dabei würde ein starker Digestif gut helfen, riet Harry.

Als sie die Treppe zu der Schenke hochstiegen und ihnen 'Auntie Trish' entgegenkam, da schien Henry zunächst verwirrt. Mit großen Augen sah er die aufreizend gekleidete Frau an und wandte dann wenige Momente später verschämt den Blick ab. Vielleicht mochte auch dies der Grund sein, warum Auntie Trish so amüsiert war über Henry. Die Sache mit dem 'client' verstand Henry wiederum nicht. Aber so langsam hatte er eine Theorie darüber, was Harry eigentlich von Beruf aus sei. Er würde ihn später fragen.

Sie traten in die Schänke ein und Henry stieß einen Seufzer aus. Zum ersten Mal fand er sich in einer Umgebung wieder, die zumindest ein wenig vertraut war. Dennoch, so angenehm ihm diese Lokalität war, so seltsam verhielten sich dann doch die Leute. Der Wirt war noch, wie ein Wirt eben sein musste. Aber die anderen Gäste... die waren seltsam. Es war Henry offensichtlich, dass sie sich kannten. Aber es war auch deutlich, dass sie sehr darauf bedacht waren, sich nicht gegenseitig in die Quere zu kommen. Henry stellte sich vor, dass man hier vor langer Zeit das Territorium abgemessen und mit unsichtbaren Weidezäunen abgesteckt hatte. Harry bestätigte Henrys Vermutung und noch mehr. Diese Männer waren also Wächter und stellten mit drakonischen Strafen sicher, dass die Gesetze eingehalten wurden. Ein düsterer Haufen, stellte Henry fest, mit denen würde er auch nicht zu tun haben wollen.

Henry folgte Harry zu einem der Tische. "The Ale is yours. I'll take te Whiskey.", beantwortete Henry die wichtigste Frage. Und als die Gläser gebracht wurden, sagte er schließlich: "I think, i gotto take it at it's best.", sagte er langsam. "Nunja, wenn in England noch immer die Majestät regiert und auch die Iren noch nicht ausgestorben sind und die Kirche noch immer unseren Heiland ausruft, dann ist vielleicht noch nicht alles verloren. Nur einen anständigen Whiskey können sie nicht mehr machen. Dieser hier hat sicher seinen Gehalt, aber er schmeckt so... rein und so fad. Da ist nichts besonderes drann, Ihr versteht? Oder anders, Ihr habt doch den von meinem Nachbarn probiert? Der ist wie ein Schlag vor'n Kopf. Und dieser? Der ist eher wie ein Schlaflied. Naja, so lange sie beide die Sinne rauben, soll es mir nun recht sein. Wirt, noch einen bitte!"

Harry erlaubte sich, ein wenig auzuatmen. Es war ihm bekannt, das Menschen nach einer schweren Nachricht Sicherheit in Details suchten. Henry klammerte sich an die wenigen Fakten, die Harry ihm hatte geben können. Harry schien nicht alles falsch gemacht zu haben. Allerdings, das würde eine gigantische Rechnung werden, so schwannte es ihm.

Harry lenkte das Gespräch auf Auntie Trish und entschuldigte sich für ihr Verhalten. Henry errötete leicht, als er wieder an die große Frau dachte. "No hard feelings. Anyway, I was rather shocked because of her... gown."

Es dauerte nicht lang und der Wirt brachte das Essen. Henry scherrte sich nicht um das Besteck, dass ihnen der Wirt reichte. Unbeschwert packten seine kleinen Finger Würstchen und Scheiben von white pudding. "Hm... there is something, I didn't understand. Was ist eigentlich Euer Behuf[1]? Ich habe das noch nicht ganz verstanden. Ihr seid kein Wachsoldat, aber auch kein Historiker und wohl auch kein Gaukler, nein, das würde ich nicht andeuten wollen. Nach allem was ich gesehen und gehört habe - die Sache mit den Feen, mit den 'Klienten' und mit den Wächtern -, nun,... erm... seid Ihr vielleicht gar ein Exorzist im Namen unserer heiligen Kirche?" Verunsichert blickte Henry Harry an. Es war ihm offensichtlich nicht ganz wohl bei dem Gedanken, er könne mit einer so wichtigen Person an einem Tisch sitzen.
 1. Altertümlich: Beruf
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 04.09.2014, 13:19:52
"Ja, ich fand auch, grässliche Farbe, dieses Rot", pflichtete Harry ihm bei. "Steht ihr überhaupt nicht."

Er wollte noch etwas zur Verteidigung amerikanischen Whiskeys sagen, doch da brachte Pete ihnen auch schon das Essen herüber—sehr zu Harrys Überraschung, denn normalerweise musste er es sich am Tresen abholen. Vielleicht war das noch die Nachwirkung des Tantenbesuchs; Auntie Trish konnte sehr scary sein. Und sie verlangte vollen Service.

Das cooked breakfast bestand aus weißen Bohnen in einer roten Soße, fünf Streifen knusprig gebratenem Schinken, zwei Spiegeleiern, zwei Sorten Wurst, drei Hälften einer roten, runden, nicht ganz apfelgroßen Frucht, ebenfalls angebraten, und zwei in Butter gerösteten und aus irgendeinem Grund quadratisch geschnittenen Brotscheiben. Dazu gab es noch ein kleines Schüsselchen von etwas, das wie eine gelbe, in Scheiben gehobelte Wurzel aussah, die mit Zwiebelstückchen angebraten worden war. Henry vermutete, dass es sich dabei um diese neumodische Kartoffel handelte, die ja aus Amerika kam. Da man sich in Amerika befand, war diese Vermutung sehr naheliegend.

Die beiden langten hungrig zu, sodass es für eine ganze Weile erst einmal still an ihrem Tisch wurde. Doch dann stellte Henry eine recht unangenehme Frage.

"Ähm", erwiderte Harry. "Ich... also, bin eher... freischaffend. Ich versuche, Leuten zu helfen, die sich mit ihrem Problem an niemanden sonst wenden können. Wisst Ihr, heutzutage glaubt keiner mehr an Dämonen, Geister, Monster oder Feen, ob gut oder böse, und nicht zu vergessen Zauberer, schwarz, weiß, oder grau, und doch gibt es das alles, wie manch einer meiner Klienten auf schmerzhafte Art erfahren musste. Tja, und da bin ich halt der Experte in dieser Stadt, also vor allem der einzige, der sich darum schert. An dem 'Expertentum' arbeite ich noch."
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: List am 04.09.2014, 13:22:01
Harry verfügte über eine Reihe übernatürlicher Fähigkeiten, von denen die machtvollste ohne Frage der „Soulgaze“ war. Wenn Harry eine Person auf eine bestimmte Weise ansah, dann konnte er in dieser gewisse Dinge seiner Persönlichkeit, seiner Wünsche, Ziele und seiner metaphysischen Konstitution sehen. Harry war sich nicht sicher, was er da sah. Es konnte einfach die Persönlichkeit eines Menschen sein oder dessen Aura. Es hatte sicherlich Anteile davon, aber es war gleichzeitig auch mehr und Harry hatte sich angewöhnt, von der Seele eines Menschen zu sprechen.

Wenn es tatsächlich die Seele war, die er betrachtete, dann war sie anders, als man es sich vorstellte. Die Seele eines Menschen ist natürlich sehr individuell, da sie in Beziehung steht zu ihrer Lebensgeschichte und ihrer Umwelt. Aber zwei Menschen die sich in ihren Erlebnissen und ihrer Zielen ähneln, wie zum Beispiel Zwillinge, können innerlich sehr unterschiedlich „aussehen“. Wenn man eine Seele betrachtete, dann kommt es nicht nur darauf an, was sie ausmacht. Harry nahm an, dass sich der Mensch – oder besser: dessen Seele – auch selbst innerlich betrachtete und das, was sie vorfand, in eine gewisse Form goss, um sich zu begreifen. Und je nachdem, was eine Seele für sich selbst als charakteristisch oder als besonders erachtete, waren gewisse Elemente vorder- oder hintergründiger, besonders detailreich gezeichnet oder eher versteckt, hell oder dunkel. Die Seele eines Künstlers sah ganz anders aus als die eines Mathematikers, die einer religiösen Person ganz anders als die einer unreligiösen, die einer magisch-begabten Person schließlich ganz anders als die einer magisch unbegabten, und so weiter. In eine Seele zu schauen, war immer etwas anders. Manche Seelen gaben sich preis wie ein Film, andere glichen einem Aktenschrank mit vielen Ordnern, andere eher einem Mülleimer und wieder andere einem Stillleben (das absonderlichste, was Harry gesehen hatte, war die Seele eines Intellektuellen: Sie glich der Tonbandaufnahme einer Vorlesung und war gespickt mit Zitaten und Bonmots berühmter, amerikanischer Autoren).

Mit anderen Worten: Wie sich eine Seele präsentierte, hing auch davon ab, welche Weltansicht eine Person hatte und welche Begriffe sie verwendete. Manche Dinge blieben einer Seele wohl auch unerkannt, wenn sie sie nicht beschreiben konnte. Harry ahnte auch, dass nicht nur die Sprachfähigkeit der Seele ihre Erscheinung beeinflusste, sondern auch die Sprachfähigkeit des Betrachters. Manche Dinge erkannte Harry wohl auch in seiner Weise oder auch gar nicht, eben weil er auch nicht anders konnte, als in seinen Begrifflichkeiten zu denken.

Es gab wohl einen einfachen Weg, diese letzte Hypothese zu überprüfen. Es war nämlich so, dass der Soulgaze keine metaphysische Einbahnstraße war. Wenn Harry in die Seele einer Person sah, dann konnte wohl auch die Person einen Blick in seine eigene Seele werfen. Aber Harry hatte sich nie getraut, zu fragen, was andere in ihm gesehen hatten. Es gab wohl Dinge, die wollte man selbst nicht über sich wissen...

Harry hatten schon die ganze Zeit überlegt, ob er wohl in Henrys Seele blicken wollte. Die Prozedur trug immer ein gewisses Risiko mit sich, weil man den Anblick einer Seele immer sehr intensiv wahrnahm und nie wieder vergaß. Eigentlich sagten ihm all seine normalmenschlichen Sinne, dass Henry der war, der er vorgab zu sein. Die Ausrüstung schien echt—was einen sehr schlechten Scherz entfernter Bekannter ausschloss—die Verwirrung und Verzweiflung ebenfalls. Der Akzent schwankte zwar, aber vielleicht haben Henrys Eltern verschieden gesprochen oder er versuchte Harrys amerikanischen Akzent nachzuahmen. Der Punkt war: unter normalen Umständen hätte Harry ihm geglaubt.

Wenn seine vorletzte Klientin nicht genauso unschuldig dahergekommen wäre. Harry war ihr zwar gerade noch rechtzeitig auf die Schliche gekommen, doch die Wächter[1] wollten ihm seine Beteuerungen, nicht ihr Komplize gewesen zu sein, nicht abkaufen. Und selbst wenn, hatten sie gehöhnt, selbst wenn er nicht gewusst haben sollte, dass seine Klientin eine Gestaltwandlerin war (welche die Identität ihres letzten Opfers—einer hochkarätigen Staatsanwältin—angenommen hatte, um einen wichtigen Prozess zu boykottieren), dann wäre es trotzdem Harrys Schuld gewesen, wenn Menschen zu Schaden gekommen wären, weil er fahrlässig gehandelt und ihre Identität nicht rechtzeitig überprüft habe. Und deshalb hatten die vier Wächter dort drüben am Tisch, obwohl Harry unter Einsatz seines Lebens das Schlimmste verhindert hatte, ihm seine zweite und offiziell letzte Warnung erteilt—und das waren schon doppelt so viele wie andere je von ihnen bekommen hatten. Beim nächsten Mal wäre der Kopf ab.
 1. das sind die Richter und Henker der magischen Community, wird im Post genau erklärt
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 04.09.2014, 13:31:24
Überhaupt: Henry... dieser Name störte Harry schon die ganze Zeit! Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: St. Henry Catholic Cemetery! Letzter in einer Reihe von acht spukbesuchten Friedhöfen. War Henry der, dessen Ankunft sich da angekündigt hatte? Und wenn ja, was war er: Spuk oder Heiliger, Monster oder Himmelsbote? Oder doch ein Feenwesen. Feen liebten nichts mehr als einen dramatischen Auftritt. (Die meisten Feen, denen er bislang begegnet war, hatten zu viel Grimms Märchen gelesen; vielleicht lag es daran.)

Und deshalb sah er Henry jetzt tief in die Augen.

Henry wusste nicht, wie ihm geschah, als Harry ihm so plötzlich und geradewegs in die Augen sah. Ihm blieb kaum genug Zeit sich zu wundern, dass Harry so gar nicht blinzelte, dann wusste er plötzlich Dinge über ihn, die man allenfalls über einen langjährigen Bekannten wissen konnte und meist nicht einmal dann.

Er will mir tatsächlich helfen. Sein letztes Geld hat er hergegeben, um mir eine warme Mahlzeit, einen Kaffee und Whiskey bis unter den Tisch auszugeben. Umsonst wird er mich bei sich wohnen lassen für egal wie lange. Seinen Freunden vorstellen. Herumfragen, ob jemand Arbeit für mich hätte. Mir helfen, mich in seiner Welt zurecht zu finden. Und nicht eine müde Kupfermünze wird er dafür verlangen, obwohl er dringend Geld braucht, obwohl es normalerweise sogar sein Beruf ist, für Geld Klienten zu helfen, obwohl er kurz davor steht, Haus und Habe zu verlieren, weil er seine Miete und Schulden nicht zahlen kann.

Mein Freund will er sein. Er sehnt sich nach Freundschaft. Als Kind war er allein, hatte keine Kameraden in seinem Alter, weil er anders war als sie, und auch heute besitzt er mehr Feinde als Freunde. Wahre Freundschaft, das ist für ihn Vertrauen und Akzeptiertsein. Er sehnt sich danach, jemandem vertrauen zu können. Sich nicht verstellen zu müssen. Weder verachtet noch gefürchtet, sondern geschätzt zu werden. Für einen solchen Freund würde er alles tun. Durch dick und dünn gehen und ohne Zögern das eigene Leben opfern, um das des Freundes zu retten.

Er findet mich sympathisch. Er würde mir gerne vertrauen, und doch er wagt es nicht. Ein Gedanke plagt ihn: dass ich nicht der bin, der ich behaupte zu sein. Dass ich vielleicht nicht einmal Mensch, sondern ein Monster bin. Da ist er sich nämlich gar nicht sicher! Da hat er bereits einmal zu oft vertraut und fast hat es ihn das Leben gekostet. Eine ganze Kette an Argumenten hat er sich zurecht gelegt, die ihm so logisch erscheinen, dass sie beinah schon beweisen, ich müsse jemand mit finsteren Absichten sein. Dennoch hofft er das Gegenteil.

Und deshalb macht er da gerade etwas mit mir, blickt in meine Seele und öffnet mir die Seine, auf dass ich ihn durchschauen möge genau wie er mich. Und dabei weiß er nicht, was er mehr fürchtet: dass ich ein Mensch bin und er sich durch sein Tun und sein Misstrauen meine Freundschaft bereits verscherzt hat, oder dass ich ein Monster bin, er also recht hatte und das richtige tat und mich nun bekämpfen müsse.

Außerdem glaubt er, keine Wahl zu haben. Wegen der Wächter dort drüben am Tisch. Er hat Angst vor ihnen. Richten würden sie ihn, gnadenlos, sollten sie auf die Idee verfallen, er könne wissentlich—oder auch unwissentlich!—einem Monster geholfen haben. Den Luftzug ihrer Klinge spürt er schon an seinem Hals. Zweimal haben sie ihn bereits gewarnt; als nächstes käme die Hinrichtung.

Und dabei ist er ein Mensch, der Gutes tun will. Er will Gutes tun und dabei aber auch beweisen, den Wächtern wie der ganzen Welt, dass er jemand ist, der Gutes tut. Offenbar wird dies in weiten Kreisen angezweifelt. Sogar von ihm selbst. Geradezu panisch ist seine Angst, er könne das Falsche tun, nein, etwas richtiggehend Böses.

Ausgeschlossen vom christlichen Heil glaubt er sich, seit seiner Geburt und durch keine Schuld seinerseits außer der, geboren worden zu sein. (Nicht einmal getauft ist er!)

Denn größer als seine Angst, dass ich ein Monster sein könnte, ist die, dass er selbst eines ist.

Wie der Rest seiner Familie.

Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 04.09.2014, 21:58:00
Harry hatte Recht, was seine Vermutungen bezüglich des Soulgaze' angingen. Zumindest dahingehend, dass sich eine Seele dem Betrachter auch nach dessen eigenen Verständnis nach offenbarte. Als Henry in Harrys Seele blickte, da offenbarte sich ihm ein schmerzlicher Konflikt zwischen zwei Wesensteilen. Henry verstand, dass Harry sich vor der einen Seite fürchtete, denn sie hatte die Macht, alles zu vernichten, wonach er strebte. Und andererseits konnte er diese Seite auch nicht verleugnen, denn sie war ein Teil von ihm. Henry verstand dies sehr gut, denn es war zum Teil auch seine eigene Geschichte, wenn es bei Harry wohl auch dramatischer war.

Henry versuchte zu verstehen, woraus dieser Konflikt resultierte, was sein Grund war. Er stellte eine wortlose Frage und er bekam eine wortlose Antwort. Henry bekam einen Eindruck von Harrys Eltern und dann waren da zwei Attribute, die Harrys Eltern auszeichneten. Henry verstand Harrys Vater als einen Drachen und Harrys Mutter als eine Fee. Harry hatte Henry zwar bereits ein zwei Dinge über Magie erzählt, doch Henry dachte noch zu sehr in eigenen Kategorien, als dass er verstand, was Drache und Fee bedeuteten. Daher dachte Henry beim Drachen an ein Wappentier[1] und schloss daraus, dass Harrys Vater wohl ein Adliger gewesen sein mochte. Und die Fee? Henry vermutete, dass Harrys Mutter wohl eine Heidin gewesen sein mochte, die an Mythen oder Okkultismen glaubte.

Henry hatte weiterhin den Eindruck, als wäre der Drache der zerstörerischere Anteil in Harry. Das verwunderte Henry nun wiederum gar nicht. Wenn es wirklich um Okkultismus ging, dann könnte dies die Folge haben, dass der Drache die Fee auslöschen würde. Doch damit würde Harry seine Mutter verlieren, vielleicht auch andere nahestehende Menschen und gewisslich einen Teil von sich selbst. 'Fiat Iustitia et pereat mundus', flüsterte Henry erschrocken[2].

Henry hatte nun eine Erklärung gefunden, warum Harry immer nach 'Feen' suchte und was es mit der ganzen Rede von Magie auf sich hatte. Wie gründlich er Harry dabei in manchen Details missverstand, war Henry nicht bewusst, da er nur das erkannte, was er von sich selbst auch kannte.
 1. Drache als Wappentier (http://de.wikipedia.org/wiki/Drache_%28Wappentier%29)
 2. Gerechtigkeit geschehe und die Welt wird untergehen. (http://de.wikipedia.org/wiki/Fiat_iustitia,_et_pereat_mundus)
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 05.09.2014, 02:29:01
Harry dagegen befand sich, kaum dass er Henrys Blick begegnet war, in einer kleinen, gemütlichen Hütte. Die Wände waren aus grauen, grob gehauenen Steinblöcken errichtet worden. Zur rechten war ein Kamin, in welchem ein behagliches Feuer brannte. An einem eisernen Haken hing ein großer Kessel, aus welchem nach Lamm und Minze riechender Dampf kam. Vor dem Kamin standen zwei Stühle mit breiten Armlehnen, die zum Sitzen einluden, auf dem Boden daneben eine Flasche und einige Gläser. An der Wand lehnte ein altertümliches Saiteninstrument. Außerdem waren da noch zwei Regalbretter an der Wand befestigt. Das eine enthielt nur zwei Bücher, die in der niedrigen Stube überdimensioniert wirkten. Harry betrachtete die beiden Bücher. Es waren „The Holy Bible“ und „The Book of Common Prayer“. Beide wiesen massive Gebrauchsspuren auf. Auf dem anderen Regalbrett hatte jemand ordentlich Gegenstände aufgereiht. Harry erkannte einen zerbrochenen Steinguttopf mit Brotkrümmeln, ein blutiges Taschentuch, den Totenschädel eines Schafs und eine kleine Stickerei von einer blauen Kornblume. Diese Dinge waren zwar geordnet, aber von einer dicken Staubschicht überzogen. Darunter las Harry die Inschrift: "And I will give unto thee the keys of the kingdom of heaven: and whatsoever thou shalt bind on earth shall be bound in heaven: and whatsoever thou shalt loose on earth shall be loosed in heaven."[1] Offensichtlich symbolisierten diese Gegenstände die Sünden, welche Henry gelassen—und gebunden—waren.

Harry setzte seine Detektivbrille auf und betrachtete diese Sünden eine nach der anderen und aus der Nähe. Sein erster Gedanke war: Aha. Henry hat also einmal Mutters besten Steinguttopf zerdeppert, dem Nachbarjungen eine blutige Nase verpasst, beim Schafhüten nicht aufgepasst—wahrscheinlich, weil er sich mit dem hübschen Schäfermädel, der die Stickerei gehörte, hinter den Büschen vergnügt hat—und deshalb hat der Wolf sich eins der Schafe geschnappt.

Sein zweiter Gedanke war, dass Henry als erwachsener Mann solch Bubenstreiche wohl kaum noch für Sünden halten würde. Es musste also mehr dahinter stecken.[2]

Harry untersuchte die vier Gegenstände aus der Nähe. Aha, der Steinguttopf war mit Absicht zerdeppert worden, sonst wäre er wohl kaum in so viele kleine Teilchen—Staub teilweise!—zersprungen. Das Blut auf dem Taschentuch stammte aus verschiedenen Zeiten und hatte den Stoff völlig durchtränkt—da hat es mehr als nur eine blutige Nase gegeben. Und das Schaf, nun, das arme und offenbar weibliche Tier war ermordet—genauer: erdolcht—worden. Diese Erkenntnisse schienen Harry nicht sehr hilfreich, da er den Täter ja bereits kannte: Henry. Warum sollte Henry ein Schaf erdolchen? Warum sollte es eine Rolle spielen, ob dieses männlich oder weiblich war? Was war so sündhaft daran, wenn's bei einer Prügelei mal ne blutige Nase gab? Und der Steinguttopf war vielleicht das rätselhafteste. Was sollten die Brotkrümel darin?

Du bist doch der Detektiv, Harry, sag Du's mir!

Als Harry sich genauer umsah, fand er überall im Raum verteilt weitere Inschriften. "I will bless the LORD at all times: his praise shall continually be in my mouth." und "I sought the LORD, and he heard me, and delivered me from all my fears." und dann war da noch "Come, ye children, hearken unto me: I will teach you the fear of the LORD. What man is he that desireth life, and loveth many days, that he may see good? Keep thy tongue from evil, and thy lips from speaking guile. Depart from evil, and do good; seek peace, and pursue it.[3]

Neben den ganzen Bibelzitaten fand Harry aber auch Zitate von Shakespeare. Offensichtlich mochte Henry Shakespeare sehr. "Be just, and fear not: Let all the ends thou aim'st at be thy country's, Thy God's, and truth's", stand über dem Rüstungsständer. "Let me have men about me that are fat, Sleek-headed men, and such as sleep o' nights", stand über dem Kamin. Neben einem Bild, das wohl Henrys Vater darstellte, stand: "That deep torture may be called a hell, When more is felt than one hath power to tell."

Endlich etwas, das Harry verstand und sogar nachvollziehen konnte! Henry liebte also seinen Vater, sonst hätte er sein Bild nicht hier hängen. Von der Mutter gab es im ganzen Zimmer kein Bild und auch nichts, das an Irland erinnerte. Im Gegenteil: die vielen Zitate waren sehr... englisch. Und doch gab es etwas, das Henry seinem Vater gerne gesagt hätte, ihm aber niemals gesagt hatte, weil es einfach zu schwer war, in Worte zu fassen: dass seine Gefühle ihm gegenüber zwiegespalten waren. Dass es da neben der Liebe auch Anklage gab und, als Folge davon, Scham, weil es doch der Vater war, den man lieben und ehren sollte. Darauf wiederum folgte die Wut, dass der Vater ihn dazu gebracht hatte, sich wegen der berechtigten Vorwürfe zu schämen, obwohl es doch dessen Schuld war, dass man anders war als die anderen, dass man niemals und nirgendwo dazugehörte; Wut auch darüber, dass die väterliche Strenge und Unnahbarkeit es unmöglich machten, ihm diese Vorwürfe ins Gesicht zu sagen... Halt, waren das immer noch Henrys Gefühle oder längst Harrys?

Über Henrys Bett fiel Harry eine weitere Inschrift auf, die ihn nachdenklich stimmte: „By night on my bed I sought the one who my soul loveth: I sought her, but I found her not. I will rise now, and go about the city in the streets, and in the broad ways I will seek her who my soul loveth: I sought her, but I found her not.“[4].

Wiederum offensichtlich, zumal das Bett ein Ehebett war, aber nur auf einer Seite jemand zu schlafen schien. Auch die Sehnsucht nach einer Frau, die sein Leben teilte, kannte Harry nur zu gut, auch wenn er sich weniger poetisch ausdrücken würde und noch weniger Hoffnung als Henry hatte, in dieser Hinsicht jemals Erfüllung zu finden.

Harry sah sich weiter um und fand eine kleine Tür. Über der Tür war Psalm 22 komplett niedergeschrieben. Besonders stachen die Verse 13 bis 15 hervor, sie waren viele Male nachgefahren worden, zuletzt in blutrot: „They gaped upon me with their mouths, as a ravening and a roaring lion. I am poured out like water, and all my bones are out of joint: my heart is like wax; it is melted in the midst of my bowels. My strength is dried up like a potsherd; and my tongue cleaveth to my jaws; and thou hast brought me into the dust of death.

Harry trat durch die Tür – und wäre beinahe gestürzt. Vor ihm war der Boden aufgerissen und ein riesiger Abgrund tat sich auf. Der gesamte Raum war vom Abrund verschluckt worden. Doch hinter dem Abgrund, da tat sich eine prachtvolle Landschaft auf. Harry sah eine sattgrüne, hügelige Landschaft und er hatte keinen Zweifel daran, dass dies Irland war, so wie Henry es sah. Überall waren Schafe und dann vereinzelt auch Menschen, die sangen und glücklich aussahen. Niedrig hängende Wolken brachten warmen Regen und es lag der würzige Geruch von frisch gemälzter Gerste in der Luft. Die Sonne legte sich auf das Land und tauchte die Szenerie in ein dunkles rot. Es würde gleich Nacht werden – und irgendwie beunruhigte das Harry. Er wusste nicht warum, aber die aufkommende Dunkelheit machte ihn unruhig, ja, ließ sogar Angst in ihm hochkommen. Waren das die Gedanken von Henry? Oder waren es seine Gedanken?

Harry schwindelte und er trat rasch vom Abgrund zurück. Zerrissen in der Seele! Dort—unerreichbar!—die weite, sonnendurchflutete Welt der Mutter, hier die dunkle, enge Welt des Vaters: bewundernswerte Literatur, aber Strenge; trostspendender Glaube, aber bar jener sorglos lachenden Freude, die er drüben sah; Wissen, Fortschritt, Verstand, Stolz: alles hier, und dennoch sehnte das Herz sich nach dem Drüben, nach den grünen Wiesen mit den glücklichen Menschen.

Aber die Stimmung, die er da gerade gespürt hatte, sagte ihm, dass es mehr als nur Sehnsucht war, das Harry für das Irland seiner Mutter empfand; da war auch etwas dunkleres. Sie hatten ihn ausgegrenzt, die glücklichen Schäfer, als sei er ein Wolf unter ihren Schafen. Nur wegen des englischen Vaters? Oder auch wegen des Temperaments? Harry vermutete letzteres. Eigentlich war er sich dessen sicher. Wie bei ihm selbst war so etwas eben nicht ausschließlich, wie man das selbst gerne sehen würde, nur die Schuld der anderen: des Vaters, wegen dem man anders war; der Mitmenschen, die einen deshalb ausgrenzten... Aber Henry wollte sich das genausowenig eingestehen wie Harry selbst.

Nach dieser Erkenntnis untersuchte Harry abermals die vier Gegenstände auf dem Regal, welche Henrys Sünden darstellten, denn etwas glaubte er inzwischen verstanden zu haben: Henry sieht den Dingen ungern direkt in die Augen, oder vielleicht sind wir in Amerika da heutzutage nur wegen zu vieler Jahre Psychoanalyse geschulter und, nun, vielleicht sollte man sagen: masochistischer veranlagt. Henry jedenfalls denkt ganz anders, weniger analytisch, mehr in Symbolen. Ja, für alles gibt es eine Analogie, ein passendes Bibelzitat, oder wenigstens eine Szene aus Shakespeare. Nicht einmal die eigenen Gefühle drückt Henry gern in eigenen Worten aus, vielleicht weil er Angst hat, diese könnten unzulänglich sein. Oh je, wenn ich jeden meiner Ergüsse an der Weisheit der Bibel oder Wortgewandtheit Shakespeares messen würde, ich verbrächte mein halbes Leben auf der Couch!

Und deshalb erinnerte Henry sich lieber an das blutige Taschentuch als an die vielen Prügeleien, die er mit den Nachbarsjungen und später mit den jungen Männern seines Alters ausgetragen hatte, wann immer sie es wagten, ihn als nicht Irisch genug auszugrenzen. Deshalb erinnerte er sich lieber an den Tonkrug, den er im Zorn zerschlug, als an den Streit mit den Eltern. Deswegen erinnerte er sich lieber an das Schaf, das er getötet hat, weil... Ähm. Ne, an dieser Stelle kam Harry immer noch nicht weiter. Warum ein Schaf abstechen? Beim Nachbarn, aus Rache? Das konnte er sich nicht vorstellen. Nein, das musste ein Geheimnis bleiben. Mit Schafen kannte Harry sich einfach nicht aus.

Als letztes nahm er die Stickerei in die Hand. Jetzt erst sah er, dass diese als einziger der vier Gegenstände nicht verstaubt war. Eine Sünde, die nicht verjährt war, oder wie immer das theologisch korrekt hieß? Was stand da gestickt? "Denie thy Father and refuse thy name." War das Shakespeare oder die Bibel? Daraus ergäben sich zwei sehr unterschiedliche Deutungen. In jedem Fall ging es um eine Frau, doch die Frage war: Hatte Henry wegen dieser Frau, trotz der ganzen Bibelsprüche hier, sich im Herzen bereits von Gott oder zumindest seiner Kirche abgewandt und damit, so würde er sagen, Name, Ehre und Seelenheil verloren? Oder war das Zitat von Shakespeare? Romeo und Julia böte sich da an. Vergiss, dass du Sohn deines Vaters bist, lege deinen Familiennamen ab und komm zu mir?

So oder so, da steckte zuviel Gefühl in diesem Symbol, als dass es sich um eine abstrakte Liebe handeln könnte. Henry war einmal, oder vielleicht immer noch, tragisch verliebt. Entweder seine Religion oder ihre irische Familie hatten ein glückliches Ende verhindert. Ob das Mädchen zu Schaden gekommen war? Gar gestorben, wie Julia? Jedenfalls fühlte Henry sich schuldig. So schuldig, dass er sich selbst nicht vergeben konnte.

Ein letzter Gedanke jagte Harry hinterher, als das Gesehene um ihn herum schon zu verblassen begann und Henrys Gesicht dahinter wie aus dem Nebel auftauchte. Es sprach der Barde selbst: "I could be bounded in a nutshell, and count my selfe a King of infinite space; were it not that I have bad dreames."

Und dann saß Harry da und sah Henry an und wusste nicht, was er sagen sollte. Henry war tatsächlich ein Mensch, und die Geschichte, die er Harry erzählt hatte, schien zu stimmen.

"Ähm", sagte Harry. "Das... ähm... gerade... tut mir leid. Ich wollte nur... also... bin einfach zu oft... reingefallen auf Leute, die Hilfe zu benötigen schienen, und dann aber... na ja... und Eure Geschichte war ja auch ein wenig... schwer zu glauben, das müsst Ihr zugeben, oder? Es war jedenfalls nicht bös gemeint..."

Harry biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. Die Stammelei war ja schrecklich.

"Oh verflixt, Henry, es tut mir leid, OK? Ehrlich, Mann. Das, was gerade passiert ist, passiert von allein, wann immer ich jemandem länger als eine Sekunde in die Augen blicke, also vermeide ich das meist. Aber wenn man den Leuten nicht in die Augen schauen kann, dann entgeht einem viel, dann durchschaut man sie einfach nicht. Und deshalb falle ich auf jeden rein, der mir mit einer netten Geschichte kommt und mich um Hilfe bittet. Deswegen wollte ich einfach wissen, woran ich bei Euch bin. Vergeben und vergessen?" bat er kleinlaut.
 1. Mt 16,19
 2. Profession (P.I.) = 17 => Tipps (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8217.msg933561#msg933561).
 3. Alles aus Ps 34
 4. nach Hoheslied 3,1-2
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 05.09.2014, 13:21:09
"Was ist da gerade geschehen? Ich habe Dich gesehen. Ich meine... ich habe... Dich... gesehen.", stotterte Henry, als er wieder seine lebensweltliche Umgebung gewahr wurde. Unter anderen Umständen wäre er wahrscheinlich verängstigt gewesen, denn was Harry da gerade getan hatte, das musste Magie gewesen sein. Anders war es gar nicht zu erklären, was Henry da gerade erlebt hatte. Aber das was Henry gesehen hatte, hatte ihn einfach nur... - Henry wusste gar nicht genau, wie er sich dabei fühlte. Es war ihm, als hätte er so etwas wie einen Leidensgenossen gefunden, denn Harrys Geschichte war die seine, in gewisser Weise.

Henry schien Harrys Entschuldigung gar nicht gehört zu haben. "Du bist ein Kind zweier Welten, nicht wahr? Es heißt zwar, dass Mann und Frau zu einem Fleisch werden, aber in Deinem Fall ist das anders. Du bist das, was Dein Vater war, und gleichzeitig bist Du das, was Deine Mutter war. Und diese beiden Seiten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Sie kämpfen gegeneinander an und Du weißt nicht, auf welcher Seite Du stehst. Du weißt, wenn eine Seite gewinnen würde, dann würde sie die andere vernichten."

Henry war tief bewegt von dem, was er gesehen hatte. Er konnte gar nicht anders, als das, was er gesehen hatte, in Worte zu fassen. Da waren so viele Gedanken, dass sie ihm geradezu aus dem Mund fielen. "Es ist ein Konfiklt, der Dich umtreibt, schon so lange, wie Du denken kannst. Du hast versucht, Dich irgendwo niederzulassen und einen eigenen Weg zu finden. Du wolltest das unversöhnliche vereinen und einfach nur Deinen Platz in der Welt finden. Aber man kann nicht vor sich selbst fliehen, nicht wahr? Jede Regung ist eine Entscheidung zwischen dem einen und dem anderen. Die Menschen vertrauen Dir nicht, denn sie ahnen, dass Du anders bist, zumindest zum Teil. Darum hast Du niemals Freunde gefunden, niemals... eine Frau kennengelernt." Henry zögerte bedeutungsvoll, als er von Frauen sprach.

"Oh Mann, ich kenne diese Geschichte. Es ist, gewissermaßen, meine eigene, nur in Grün. Mein Vater war ein englischer Edelmann und meine Mutter war eine irische Clansfrau. Ich wurde nach englischer Lebensweise erzogen und wollte immer nur nach meinem Glauben leben. Aber meine Nachbarn waren alles Clansmänner, die entweder katholischen oder heidnischen Glauben angehörten. Sie haben mich nie akzeptiert, höchstens respektiert. Und manchmal nicht einmal das. Ich war ein Sonderling. Nicht Fleisch und nicht Fisch. Ich muss Dir etwas erzählen. Kurz bevor ich aus... meiner Welt gerissen wurde, da klopfte es an meiner Tür. Die Clansbrüder wollten mich mitnehmen, um gegen die Engländer zu kämpfen, die Irland kolonialisiert hatten. Hätte ich mich ihnen angeschlossen, vielleicht wäre ich dann ein Ire geworden. Aber ich hätte meinen Glauben verraten. Ich weiß es nicht, aber ich glaube, ich hätte mich den Engländern angeschlossen. Aber ich hätte gegen meine Landsgenossen kämpfen müssen. Ich hätte... mir das niemals verziehen."
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 05.09.2014, 14:30:46
Harry nickte bei Henrys Worten mehrmals. Als dieser von Frauen sprach, murmelte er dazwischen: "Das ist noch mal etwas komplizierter als die Sache mit den Freunden."

Als Henry geendet hatte, sah Harry sehr nachdenklich aus. "Egal für welche Seite Ihr gekämpft hättet, Ihr hättet es Euch niemals verziehen. Und wenn Eure Familie Euch wirklich als der respektiert hätte, der Ihr seid, hätte sie keine Entscheidung von Euch verlangt. Nun, wenigstens ist Euch das alles ja nun erspart geblieben. Das nenne ich mal Glück im Unglück.

Ich für meinen Teil hätte eigentlich kein Problem, mich für eine Seite zu entscheiden, wenn es eine reine Entscheidungsfrage wäre. Das Erbe meiner Mutter, damit könnte ich gut leben. Aber von dem Teil der Familie lebt niemand mehr, während die Familie meines Vaters schon seit vielen Generationen sehr auf ihren Kinderreichtum achtet - und auf enge Familienbande. Und auch in mir ist das Erbe meines Vaters einfach stärker... Ich bin einfach mehr wie er als wie meine Mutter. Das lässt sich nicht verleugnen."


Harry bemerkte erst jetzt, dass er schon die ganze Zeit nervös mit seinem Irish Coffee herumspielte. Er nahm einen Schluck und stellte das Glas wieder ab.

"Das heißt übrigens Seelenblick, was da gerade geschehen ist. Oder zumindest nenne ich es so. Und bevor Ihr fragt: ich weiß nicht, warum es passiert oder wie es funktioniert. Ich habe Großvater Mortimer genau diese Fragen bestimmt ein Dutzend mal gestellt, bis er geschimpft hat, ich solle endlich damit aufhören, er wisse es nicht. Die ganze Welt und das Leben der Menschen bestünde eben aus ungeklärten Fragen, ich solle mir nur nicht einbilden, ich sei da der einzige oder in irgendeiner Weise ärger vom Leben bestraft als andere. Ich wette, Euch gehen gerade auch eine ganze Menge an Fragen durch den Kopf. Also, ich kann Euch nur versprechen, Euch bei der Suche nach Antworten zu helfen - falls es da Antworten gibt.

Übrigens hat es auch einen Vorteil, dass wir das mit dem Seelenblick nun hinter uns haben"
, versuchte Harry Henry für das Positive der Situation zu erwärmen. "Von nun an können wir uns nämlich in die Augen sehen, ohne Angst zu haben, dass es noch einmal passiert, denn es passiert zwischen denselben Leuten immer nur einmal. Und das ist doch viel netter, oder? Ich kann da nur von mir selbst ausgehen, aber ich finde es ganz schrecklich, niemandem länger als eine Sekunde in die Augen sehen zu dürfen. Da macht man sich auch keine Freunde mit.

Ihr habt meine Frage nicht beantwortet: Könnt Ihr mir verzeihen? Ich weiß, ich hätte Euch vorher um Erlaubnis bitten sollen oder wenigstens vorwarnen, aber... Nein, kein aber. Ich hätte es tun sollen."

Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 05.09.2014, 14:57:03
"Nein, keine Fragen mehr. Ich bin für's Erste bedient.", sagte Henry erschöpft. "Mir raucht der Kopf. Diese ganze Sache ist zu kompliziert geworden und ich kann auch nicht weiter darüber nachdenken. Aber es ist richtig, was da mit mir passiert ist, hat mich um die entgültige Entscheidung gebracht. Vielleicht sollte ich darüber dankbar sein. Aber wenn ich morgen wieder in Irland aufwachen sollte, dann stellen sich diesselben Fragen wieder" Henry ließ geräuschvoll Luft aus seinem Mund entweichen. "Nun gut, wie heißt es? Take therefore no thought for the morrow: for the morrow shall take thought for the things of itself. Sufficient unto the day is the evil thereof.[1]"

Henry schüttelte den Kopf und widmete sich still seinem Essen. Mit seinen fettigen Fingern griff er nach dem hübschen, hohen Becher aus Glas. "Ist das wieder so ein 'Kaffee'-Getränk? Es muss ziemlich beliebt sein. Oh, aber dieser hier schmeckt viel besser, als der, den ich bei Dir bekam. Entschuldige, nichts gegen Dein Getränk, man muss sich vielleicht einfach nur daran gewöhnen. Dieser hier ist einfach mehr nach meinem Geschmack.", sagte Henry und zog den Irish Coffe bis zur Hälfte leer. Sahne bedeckte Henrys Oberlippe. Er wischte den Schaum einfach mit dem Handrücken ab und strich ihn an die Tischdecke.

Henry wurde gewahr, dass Harry ihn noch immer ansah und auf etwas zu warten schien. "Oh, ach ja, das mit dem Seelenblick. Nun, tu es einfach nicht wieder, okay? Das ist einfach ein bischen... zu ungewöhnlich für mich. Bei mir zu Hause... hm... 'zu Hause', meine ich, da werden Zauberer an den Pranger gestellt. Aber ich glaube nicht, dass Du etwas böses im Sinn hattest. For there is nothing either good or bad, but thinking makes it so[2], denke ich mal. Aber bitte, tu es nicht wieder. Und im Übrigen, vergeben und vergessen."

"Der Blutpudding ist gar nicht mal so übel.", kommentierte Henry sein Essen, etwas gezwungen. Er schien das Gespräch wieder auf normale Themen lenken zu wollen.
 1. Mt 6,34
 2. Shakespear: Hamlet
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 05.09.2014, 21:30:30
"An den Pranger nur?" fragte Harry grinsend. "Nicht auf den Scheiterhaufen? Da hab ich ja noch mal Glück gehabt. Aber wenn Ihr so ein Shakespeare Fan seid, ein Zitat kenn ich auch! When shall we three meet again? In thunder, lightning, or in rain?—When the hurly-burly's done, When the battle's lost, and won.—That will be ere the set of sun.—Where the place?—Upon the heath.—There to meet with Macbeth.—I come, Graymalkin.—Paddock calls.—Anon." Für die letzten beiden Zeilen krümmte Harry sich zusammen wie eine alte Frau mit Buckel, hob beide Hände wie über einen Hexenkessel und machte Hexbewegungen mit allen zehn Fingern, während er heiser krächzte: "Fair is foul, and foul is fair, Hover through the fog and filthy air." And then he cackled like a witch.[1]

"Aber im Ernst, das mit dem Blick, das geht wirklich nur einmal zwischen zwei Personen. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich es nicht noch einmal auslösen. Seht Ihr?"

Und Harry sah Henry geradewegs in die Augen. Oder versuchte es. Sein Blick zuckte immer wieder nach oben, unten oder zur Seite, weil er es einfach so gewohnt war. Schließlich hielt er mit einer Hand sein Kinn fest und kniff die Augen fest zusammen; so gelang es ihm dann tatsächlich, Henry länger anzusehen, bevor er halb verzückt, halb verlegen lachte.

"Also, ich finde, wir haben was zu feiern! Ihr braucht Euch nicht mehr zu entscheiden, welche Seite Ihr verraten müsst, und ich kann jemanden gerade in die Augen sehen! Da hol ich uns gleich noch zwei Whiskey. Pete hat übrigens auch einen Selbstgebrannten, der schmeckt Euch vielleicht besser als das Standardzeug."

Er erhob sich und tat zwei schwankende Schritte, bevor er sich an der Tischkante festhalten musste. Er blickte einige Male abschätzend zwischen dem Tresen—der ihm plötzlich sehr weit entfernt vorkam—und ihrem Tisch hin und her, bis er die Lösung gefunden hatte und sich seinen Zauberstaub schnappte. Er grinste. Dann wurde er ernst, als ihm eine zweite Idee kam.

"Wenn wir uns schon den guten Whiskey leisten wollen... Also, bei uns gibt es da so eine Tradition, Henry. Also, um ehrlich zu sein, würden die meisten Leute in heutiger Zeit das als eher als altmodisch ansehen, aber ich bin ein bisschen altmodisch—Ihr seid ja auch nicht gerade postmodern—und wo wir uns ja so ähnlich sind, dass wir fast Brüder sein könnten, und mit unseren Familien beide nicht ganz so viel Glück hatten... Na ja, also, hättet Ihr Lust, Bruderschaft mit mir zu trinken? Auf dass keiner von uns beiden seinen Whiskey je allein trinken muss? Den guten Whiskey hol ich unabhängig von Eurer Antwort", versicherte er rasch.[2]


 1. Wie lacht eine Hexe im Deutschen? Komme ich heute abend nicht drauf. Birne Matsch.
 2. P.S. Was immer du tust, ich muss nur im nächsten Post allein zum Tresen, den Whiskey holen... (um eine Auflage des SL zu erfüllen...)
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 05.09.2014, 22:51:56
"Wirklich? Du kennst Shakespear? Und dann auch noch sein vielleicht bestes Stück: McBeth. Sag, wird es immer noch aufgeführt? Im großen Theater? Und unten steht das Gossenvolk und oben sitzt die Gentry? Ich würde es selbst gerne sehen.", erwiderte Henry erfreut.

"Bruderschaft? Also gut!", sagte Henry noch immer in wohliger Stimmung. "Hol' doch schon einmal die Gläser. Wenn wir ganz altmodisch sein wollen: Bei uns hat man sich immer noch den Respekt des anderen verdient, bevor man sich verbrüderte. Man hat sich gegenseitig auf die Schnauze gehauen. Die Iren sind ein lustiges Völkchen, aber manchmal auch etwas stumpf. Ich schätze, der Seelenblick soll uns beiden genügen, oder?" Harry war sich einen Moment lang nicht sicher, ob ihn Henry auf den Arm nehmen wollte[1]. Er entschied sich, jetzt die beiden Drinks zu holen.

Henry blickte Harry hinterher, wie er zum Tresen torkelte. "Captain, wir haben haben den Hafen verlassen und das offene Meer erreicht.", murmelte Henry amüsiert. Er selbst war mehr gewohnt als Harry und daher fühlte er sich noch einigermaßen gut. Lange würde er aber auch nict mehr brauchen, schätzte er.
 1. Falls Du einen Sense Motive machen möchtest: Nein, tut er nicht.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 06.09.2014, 00:11:44
"Shakespeare? Klar wird der noch aufgeführt. Auf der ganzen Welt! Und es gibt Filme. Das ist so etwas wie eine Aufführung, nur billiger. Oder ich würd' dich[1] auch in eine echte Aufführung ausführen, kein Problem, wenn du mir vorher hilfst, das Geld für die Karten zusammenzukratzen."

Henrys zweite Bemerkung—vonwegen was zu seinen Zeiten als Voraussetzung für eine Verbrüderung galt—brachte Harry zum Lachen. "Ha, der war gut! Ich seh' schon, du bist jemand, der seinen Humor nicht verliert, egal wie verfahren die Situation.[2] Ich zitiere zu einem solchen Zeitpunkt normalerweise uralte Filme, was auch witzig wäre, wenn die Leute nur verstehen würden, wovon ich rede. Aber jetzt hol ich erst mal den Whiskey."

Auf seinen Stecken gestützt schaffte Harry es unbeschadet an den Tresen, wo er in eine längere Verhandlung mit Pete trat, ob dieser ihnen noch ein allerletztes Mal zwei Whiskey anschreiben würde: erstens war St. Patrick's Day; Harry zweitens ein ehrlicher Mann, der seine Rechnungen stets bezahlte, egal wie spät; und drittens—was Pete schließlich überzeugte—musste es, um Bruderschaft zu trinken, tatsächlich der gute Whiskey sein.

Während Pete also mit Whiskeyflasche und Gläsern hantierte, fiel Harrys Blick auf eine schwarze Ausbuchtung im Holz der Theke vor ihm, etwa in Bauchhöhe. Nein, keine Ausbuchtung, da steckte etwas! Er bückte sich, um die Sache genauer zu untersuchen. Es schien sich um eine Münze zu handeln. Seltsam. Es sah fast so aus, als hätte sich diese Münze—wie ein Wurfstern, den jemand mit aller Kraft geworfen hatte—in das harte Eichenholz gebohrt. Sie fühlte sich warm an.

Eine antike Münze. Ob die etwas wert ist? Ist zwar nur aus Silber—komplett schwarz angelaufen—aber je nachdem, wie selten sie ist... bis zu 1000 Dollar wären da mit etwas Glück schon drin. Davon könnte ich, wenn schon nicht die Miete, dann wenigstens die Reparatur an meinem Käfer bezahlen... und die Rechnung hier im Pub! Obwohl, so schlecht, wie meine Aktien allgemein gerade stehen, ist's wohl eher eine Allerweltsmünze, die für schlappe fünfzig oder siebzig über den Auktionstisch geht. Aber wissen kann man's nie. Ich könnte ja auch einmal Glück haben!

Also versuchte Harry—sein Vater hatte ihn einmal einen hoffnungslosen Optimisten genannt—die Münze aus dem Holz zu ziehen. Sie steckte ganz schön fest. Das hatten wahrscheinlich schon ganz andere probiert, die da herauszuziehen, sonst würde sie wohl kaum noch stecken! Aber er ließ nicht locker. Jeder andere hätte längst aufgegeben aus Angst, sich noch lächerlicher als eh schon zu machen. Nicht Harry. Ihm war es egal, was andere von ihm dachten. So sagte er sich zumindest gern. Und er könnte einen kleinen pekunären Zuschuss wirklich gut gebrauchen.

Na, komm schon, du dummes Ding! Warum fühle ich mich gerade wie Klein-Artur aus der Disney Version, wie er sich abmüht, das große Schwert aus dem Stein zu ziehen? Was, bin ich es etwa nicht wert, Herrscher über alle Britonen zu werden? Na warte, wir werden schon sehen, wer hier seinen Willen durchsetzt!

Kaum hatte er dies gedacht, da löste sich die Münze mit einem Ruck, der ihn einen Schritt zurückstolpern ließ. Im gleichen Augenblick knallte Pete die beiden Whiskeys vor Harry auf den Tresen, sodass die Münze erst einmal in die Jackentasche wanderte, einer späteren Untersuchung harrend.

Harry schnappte sich die Whiskeys und schaffte es gerade noch bis an ihren Tisch zurück, bevor ihm plötzlich die Luft wegblieb, als wäre er in einen Tank mit Eiswasser getreten. Als nächstes wurde zuerst sein Kopf, dann sein ganzer Körper von einem unerträglichen Druck erfüllt—so musste es sich anfühlen, ohne Raumanzug durch die falsche Tür eines Airlocks zu spazieren—bevor ihm schließlich schwarz vor Augen wurde und er wie eine Marionette, deren Strippen zerschnitten wurden, zusammensackte. Das Zerbersten der Whiskeygläser hörte er noch; den eigenen Aufschlag spürte er nicht mehr. Davor spukte aber noch ein letzter Gedanke durch seinen Geist: Oh, great. I'm inside a guy who mixes his metaphors.
 1. So, du duzt mich ja schon seit dem Blick, für mich hat's das Vergeben gebraucht und die angenommene Bruderschaft.
 2. Sense Motive um 1 daneben  :P
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 06.09.2014, 20:04:44
Henry war seinen eigenen Gedanken nachgegangen, während Harry die beiden Whiskey besorgte. Er blickte erst wieder auf, als Harry zurückkam zum Tisch. "Du, sag mal, ist alles in Ordnung?", fragte Henry und runzelte die Stirn. Harry sah plötzlich so seltsam aus, so anders. Und plötzlich sackte Harry zusammen und drohte umzufallen. Henry sprang sofort auf, stieß mit dem Knie gegen die Tischplatte und die Whiskey-Gläser fielen herunter und zerbrachen auf dem Fussboden. Rechtzeitig bekam Henry Harry zu fassen, bevor dieser auf dem Boden aufschlug. Doch Harry schien unter Henrys Fingern immer leichter zu werden. Wenige Sekunden später hielt Henry nur noch ein Armband von Harry in den Fingern.

Die Wächter hatten die ganze Szene mitangesehen. Langsam und bedrohlich kamen sie auf den Tisch zu. Sie machten Henry Angst. Nach allem was Harry gesagt hatte, war mit den Männern nicht zu spaßen. Sie bildeten einen Halbkreis um Henry, sagten aber zunächst keinen Ton. Henry ronn der Schweiß herab.

Das war kurz bevor im Pub alle Glühbirnen zerplatzten und der Schankraum von einer undurchdringlichen Schwärze erfüllt wurde. Henry verlor erst seine Sicht, dann seine Orientierung und dann sein Bewusstsein.



Sankturio

Als Henry wieder erwachte, schwitzte er noch immer. Ihm war heiß und Sonnenlicht blendete. Henry realisierte, dass er auf sandigem Boden lag. Zwei behelmte Personen beugten sich über ihn. "... Er trägt nicht die Kleidung der Wüstenvölker. Vielleicht ist er aus Khanduras?", sagte die eine Person. "Keine Ahnung, von hier ist er jedenfalls nicht. Er ist völlig unpassend gekleidet für diese Gegend. Kein Wunder, dass er zusammengebrochen ist.", meinte die andere. "Still jetzt, ich glaube, er kommt zu sich.", unterbrach die erste Stimme die zweite.

"Was ist passiert? Wo bin ich? Wo ist Harry?", fragte Henry. Sein Kopf dröhnte.

"Wo Euer Gefährte ist, können wir nicht sagen. Wir haben Euch alleine gefunden, ein paar Meter weiter östlich. Jedenfalls, Ihr seid in Kehjistan, dem Großreich von Zakarum. Wie heißt Ihr?"

Henry richtete sich halb auf, indem er sich auf seine Arme stützte. Sein Kopf brachte ihn fast um. "Henry. Henry ist mein Name. Eben war ich noch in einer Schänke und dann ging das Licht aus und ich bin hier erwacht."

Die beiden Männer lachten schallend. "Oh ja, das ist mir auch schon oft passiert. Erst einen heben gehen, dann gehen die Lichter aus und plötzlich findet man sich allein und mittellos auf der Straße wieder." Die beiden Männer wechselten amüsierte Blicke. "Mann, Ihr könnt von Glück sagen, dass wir Euch zuerst gefunden haben. Am besten, Ihr kommt erst einmal mit uns. Hm, Ihr seht stark aus. Vielleicht könnt Ihr uns nützlich werden. Wenn ich Euch so ansehe, dann habt Ihr ohnehin keine Wahl. Nicht eine Münze hattet Ihr dabei."

"Zuerst gefunden? Wer hätte mich denn sonst finden können?", fragte Henry und versuchte, auf die Beine zu kommen. Die Männer halfen ihm und stützten ihn.

"Sandwürmer...", sagte der zweite Mann.

Henry wurde in einen nahegelegenen Tempel gebracht. Der Priester dort war sehr an Henry interessiert und nahm sich viel Zeit für ihn. Weil Henry nicht verstand, erklärte der Priester ihm alles, was er für's Erste wissen musste. Henry war in Kehjistan erwacht, in einer Welt, die sich Sankturio nannte[1]. "Dies ist ein Tempel von Zakarum, der großen Kirche des Lichts. Ihr habt sicherlich schon von ihr gehört. Vielleicht seid ihr selbst ein Zakarumnit?", sagte der Priester.

Henry musste zugeben, dass er noch nie von Zakarum oder der Kirche des Lichts gehört hatte.

"Oh, Ihr müsst wirklich von sehr weit herkommen. Das Licht Zakarums hat sich mittlerweile über fast die gesamte mittlere Welt ausgebreitet. Erst vor kurzem ist Fürst Leoric mit einer Heerscharr demütiger Streiter nach Khanduras aufgebrochen. Vielleicht seid Ihr aus Sharval?" Der Priester schien wirklich sehr an Henry interessiert zu sein. Seine Augen musterten ihn unentwegt. Auch die beiden gepanzerten Wächter am Ende des Raums beobachteten Henry aufmerksam.

"Ich weiß mittlerweile gar nichts mehr. Ist Zakarum Euer Gott?", sagte Henry müde.

"Nicht direkt. Unser Gott hat keinen Namen, aber er ist groß und mächtig. Vor fast hundert Jahren offenbarte der Erzengel Yaerius einem jungen Novizen namens Akara das Geheimniss des Lichts. In diesen Stunden findet eine große Schlacht zwischen den Mächten des Himmels und derer der Hölle statt. Die Engel werden die Finsternis zurückschlagen und ein ewiges Lichtreich errichten. Der Erzengel sagte auch, dass dies die Zeit der Menschen sei. Nun entscheidet sich, wer zum Lichtreich gehören und wer vernichtet wird. Darum gilt es nicht nur dem Bösen in einem selbst zu widerstehen, sondern auch selbst dem Bösen entgegenzustehen. Das Lichtreich ist nahe und der Frieden und die Freude wird unermesslich sein. Wer aber dem Bösen angehört, wird Pein in Ewigkeit haben. Wie hört sich das für Euch an? Glaubt Ihr, was ich sage?"

In Henrys Kopf schwirrten die Worte umher. Irgendwie hörte sich alles, was der Priester sagte, sehr vertraut an. Und gleichzeitig war es auch sehr fremd. Engel, das kommende Friedensreich und die Vernichtung der Höllenmächte, das klang ihm sehr vertraut. Es hätte eine Nacherzählung der Johannesoffenbarung sein können. Doch es war auch etwas anderes. Es war nicht die reine Botschaft Jesu, so viel konnte Henry sagen. Überhaupt, wie konnte man vom Friedensreich sprechen, ohne die Worte Jesu zu verwenden. "So etwas ähnliches habe ich schon gehört. Ich glaube, dass diese Welt und alles Böse in ihr vergehen muss. Und ich glaube, dass wir alle Kinder Gottes werden müssen, um gerettet zu werden.", antwortete Henry schließlich.

Der Priester sah zufrieden aus. "Ich habe sofort gespürt, dass Ihr der Wahrheit nicht fern seid. Die Entscheidung ist bereits gefallen. Wir werden Euch in den Orden der Aufgehenden Sonne aufnehmen. Ihr werdet der Welt ein Licht werden und Euer Lohn wird groß sein."

Henry antwortete nichts. Er wurde in den Orden aufgenommen und wurde ausgebildet. In dieser Zeit dachte er wenig an Shakespear. Die Ordensleute konnten die Genialität Shakespears nicht würdigen. Sie fanden ihn anstößig und obszön. Sie lachten nicht gerne, dafür übten sie sich im Kampf. Der Kampf war ihre Kontemplation. Immer wieder betonten sie, dem Bösen nicht ungerüstet entgegentreten zu können. Hand und Herz mussten gestählt werden für die Begegnung. Henry hatte noch nie Männer so kämpfen sehen. Die Clansleute in Irland waren während der Rebellion gegen König Henry wie wilde Berserker gewesen. Sie hatten keine Rüstungen und kämpften mit allem, was gerade zur Hand war. Formationen und Taktik waren nicht ihre Sache. Die einzige Taktik, die sie kannten, war der Überraschungsangriff. Die Ordensleute hier kämpften in geschlossenen Verbunden und gingen sehr diszipliniert vor. Sie waren gegen sich mindestens so unbarmherzig, wie sie es auch ihren Feinden gegenüber waren. Shakespeare mochten sie zwar nicht, dafür liebten sie aber die Gebete, die Henry ihnen aus seinem Glauben rezitierte. Sie mochten insbesondere die Psalemen und baten Henry, sie für sie aufzuschreiben. Nur die Bedeutung Jesu verstanden sie nicht. Und wenn Henry vom Heiligen Geist sprach, dann sagten sie, dass er sich nach Dienstschluss betrinken könne.

Mit der Zeit unternahm Henry immer seltener den Versuch, den Ordensleuten das Evangelium zu verkünden. Aber er hielt sie auch nicht für verloren. Letztlich waren die Gemeinsamkeiten von Christentum und Zakarum größer als die Unterschiede. Henry verstand es als ein Zeichen, dass die Zakarumniten von Himmel und Hölle, Engel und Dämonen und dem zukünftigen Friedensreich sprachen. Wenn sie auf die zukünftige Erlösung hofften - nunja, vielleicht wird Gott seinen Sohn auch eines Tages in diese Welt senden, so dachte Henry.

Dennoch waren die folgenden drei Jahre eine harte Lehrzeit für Henry. Nach seiner Ausbildung kam er mit vielen Dingen in Berührung, die er entweder für Aberglauben gehalten oder vor denen er sich gefürchtet hatte. Er wurde in eine Stadt jenseits des Meers entsandt, Luth Golein war ihr Name, und dort in der Garnison stationiert. Er lernte unterschiedliche Arten von Magie kennen, diejenigen die man fürchten musste und diejenigen, die auch die Zakarumniten benutzten. Er kämpfte gegen wilde Bestien, Banditen und musste auch feststellen, dass die Auferstehung von Toten nicht immer etwas Gutes war. Er fügte sich überdies nicht immer gut ein in die Reihen der Ordensleute, denn er bewahrte sich sorgsam Gnade und Barmherzigkeit in seinem Herzen auf. Henry wurde für seine Kampfkraft bewundert, aber letztlich schätzte man ihn als unzuverlässig ein. Darum bekleidete er auch nie einen der höheren Ränge und war lange Zeit ein einfacher Hauptmann der Stadtwache.

Mit der Zeit wurden die Angriffe der Wüstenbestien und der Untoten immer heftiger. Die Männer sprachen davon, dass etwas großen passieren würde. Die Mächte der Finsternis sammelten ihre letzten Kräfte, so hörte man. Kurze Zeit später wurde Henry damit beauftragt, die Kanalisation von Luth Golein nach einer untoten Bestie namens Radamant zu durchsuchen und das Böse zu vernichten. Eben kämpften sie gegen eine Gruppe von Mumien und Skeletten, da bemerkte Henry plötzlich ein wohlbekanntes Flimmern vor Augen. "Oh nein, nicht jetzt...", murmelte er. Dann verlor er das Bewusstsein.
 1. Das ist die Spielwelt der Diablo-Reihe. Diese Geschichte findet etwa ein Jahr vor den Ereignissen von Diablo 1 statt. Ich habe die Welt hier (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=6224.msg616164#msg616164) in den Grundzügen erläutert
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 06.09.2014, 21:18:25
(http://games.dnd-gate.de/index.php?action=dlattach;attach=11433;type=avatar)
Jurij Klee
Es war ein sonniger erster Juni im Jahre 2030 in Berlin. Schon jetzt, vor der Mittagszeit dieses Samstages, waren über 28 Grad erreicht und keine einzige Wolke trügte den Himmel. Trotz der Hitze waren viele Menschen auf den Beinen. Es war der zweite Tag des Karneval der Kulturen, und im zehnten Jahr des Bestehens der großen Union sollte dieser traditionelle Umzug etwas Besonderes werden. Die ganze Stadt hatte sich herausgeputzt. Fast an jedem größeren Platz waren Bühnen aufgestellt worden und überall tanzten die Menschen zu Musik aus den verschiedensten Ländern. So auch am Urbanhafen.[1]

Vor dem großen Urbankrankenhaus war eine Bühne aufgestellt. Rechts und links davon reihten sich Feststand an Feststand. Das meiste was verkauft wurde war Essen, aber es gab auch Stände mit Teppichen aus der Türkei, Kleider aus Südamerika, Muscheln aus den Philippinen und noch viele andere Dinge.
Momentan war es verhältnismäßig ruhig auf den Platz. Die meisten Menschen waren entlang der Schlange von Festständen zur Gneisenauer Straße gefolgt. Dort sollten bald die ersten Festwagen vorbeikommen. Dennoch waren über hundert Menschen vor dem Urbankrankenhaus und auf der anderen Seite im Böcklerpark unterwegs. Viele von ihnen nutzten die Zeit um etwas zu essen und andere lauschten der traditionellen türkischen Musik von der Bühne.

Einer von ihnen war Jurij. Auf dem Rückweg vom morgendlichen Training im Dojo wollte er sich hier etwas zu essen besorgen. Natürlich hatte er schnell etwas Passendes gefunden. Ein afrikanischer Stand hatte einen Kochbananeneintopf verkauft. Mit dem Essen in seiner schwarz lackierten Schale hatte er sich dann auf die andere Seite des Landwehrkanals begeben. Direkt vor der Bühne war es für den Geschmack des jungen Mannes zu laut. Hier ließ er sich auf der Kaimauer mit dem Blick zur Bühne und dem Krankenhaus nieder. Er genoss das sehr würzige Essen und die Sonne welche seine Muskeln wärmte.
Seinen Rucksack und die Waffentasche mit den Karateutensilien hatte er neben sich auf die Mauer gelegt. Auch wenn seine Augen geschult waren, konnte er sie nicht überall haben. Schließlich war so ein Fest ein Paradies für Taschendiebe und beim Überqueren der nahen Admiralbrücke musste er lästigerweise einige Verkäufer von Zer und anderen Rauschmitteln mit einem bestimmten nein verscheuchen.

Nun egal. Das trübte seine Laune nicht. Nachher, wenn er seine Taschen weggebracht hatte, wollte er mit Martin noch einmal hierher. Sein bester Freund und Mitbewohner war gerade von einer Vernissage aus Bangkok zurückgekommen und holte den Schlaf der ganzen letzten Woche nach.

Gerade als er den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte und das zufriedene Gesicht Richtung Sonne hob, stieg ihm ein seltsamer Geruch in die Nase. Er brauchte eine Weile, dann fiel es ihm ein. Es roch wie Luft die von Blitzen durchzuckt wurde, nach Spannung. Fragend öffnete er wieder die Augen und suchte die Quelle dieses Geruches, doch weder Regenwolken waren am Himmel, noch schien es von der Bühne oder den Gründerzeitbauten hinter ihm zu kommen. Auch andere Menschen auf der Kaimauer hatten den sich sogar noch verstärkenden Geruch bemerkt. Keiner schien wirklich ausmachen zu können, woher er kam. Nervosität breite sich aus und die ersten verließen die Mauer. Auch Jurij machte sich gerade bereit zum Aufbruch.

~~~

Als Harry wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden. Sein Schädel brummte. Neben sich hörte er ein Stöhnen, welches ihm zeigte, dass es nicht nur ihm so ging. Mühsam drehte er sich auf den Rücken und hob den Kopf, doch konnte er den Blick, der sich ihm bot, nicht einordnen.

(http://games.dnd-gate.de/index.php?action=dlattach;topic=7636.0;attach=11484)


"Wo sind wir?" fragte Harry verwirrt. "Hat Pete uns rausgeschmissen?" Dann, panisch—denn es gab nur einen Grund, warum Pete jemanden hinausschmiss: "Hab ich angefangen zu zaubern? So betrunken kann ich doch eigentlich nicht gewesen sein!"
 1. Karte des Urbanhafens (https://www.google.de/maps/search/Urbanhafen/@52.4958228,13.4105779,17z)
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 06.09.2014, 21:47:40
Als Henry wieder zu bewsstsein kam, hörte er eine lange nicht gehörte Stimme neben sich. Er blickte sich um und sah dann Harry. Er erkannte ihn sofort, denn er hatte sich nicht verändert. Henry wiederum hatte sich sehr verändert. Er trug die Rüstung der Ordensleute und führte den außergewöhnlichen Schild in Form einer Sonne.

Henry erfasste die Situation schneller, als Harry es tat. "Ich habe nicht gedacht, Dich wiederzutreffen. Himmel, Harry, gut Dich zu sehen. Wo sind wir diesmal gelandet? Egal, darum kümmern wir uns später. Wie ist es Dir ergangen? Du hast Dich nicht verändert. Hm... nicht einmal gealtert scheinst Du zu sein. Das... muss Magie sein.", Henry lachte herzlich. Dennoch, so schien es Harry, hatte sich der Mann, den er keine 5 Minuten vorher zum letzten Mal gesehen hatte, stark verändert. Er hatte noch immer diese gutmütigen Augen und jenes gewinnende Lachen, doch gleichzeitig war der Mann selbstsicherer geworden und strahlte eine gewisse Ruhe aus, welche auffiel. Harry war sich sicher, dass für Henry mehr als 5 Minuten vergangen waren.

Henry kramte in einem seiner kleinen Beutel am Gürtel und zog Harrys Armband aus Runensteinen hervor. "Hier, das trage ich schon eine Ewigkeit mit mir herum. Ich hatte fest gehofft, dass wir uns wiedersehen würden. Hab verdammt noch mal Recht behalten."
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 06.09.2014, 23:09:35
"Was, wer, gealtert? Wieso... wir waren doch gerade erst... sind wir denn nicht mehr in...?"

Statt die Frage zu vollenden, setzte Harry sich lieber auf und blickte panisch umher.

"Mein Schildarmband", sagte er überrascht, als Henry es ihm hinhielt. Er griff automatisch danach, aber dann musterte er bloß verdattert sein rechtes Handgelenk, an welchem er das Armband normalerweise immer trug, sogar im Bett, und welches heute unerklärlicherweise armbandlos war.

"Wir sind nicht mehr in Chicago, nicht wahr? Aber wie... ich mein... sind wir...?"

Er unterbrach sein Gestammel, als er sich an etwas erinnerte. Ihm wurde schlecht.  Mühsam erhob er sich und durchsuchte dann mit fahrigen Händen sämtliche Innen- und Außentaschen seines schwarzen Ledermantels, von denen es gut ein Dutzend gab. Endlich fand er, was er gesucht hatte: aus der linken, unteren Außentasche zog er eine abgegriffene, schwarz angelaufene Silbermünze von etwa einem Zoll Durchmesser. Er ging einige Schritte auf den Kai zu, an welchem ein einzelner Mann saß und sie aus den Augenwinkeln zu mustern schien, doch Harry beachtete ihn nicht.

Er sah einen Augenblick die Münze an, dann Henry, dann holte er weit aus—mit dem falschen Arm, erkannte er rechtzeitig, dort hielt er ja noch sein Armband!—dann also mit dem anderen Arm, und warf die Münze in hohem Bogen in den nahen Fluss.

"Wie es mir ergangen ist?" fragte er kopfschüttelnd, während er die Stelle, an der die Münze untergegangen ist, im Auge behielt. "Aus meiner Sicht wollten wir gerade Bruderschaft trinken mit Petes gutem Whiskey. Und wieso redest du plötzlich von Magie, wo du das Wort vorher nicht über die Lippen gebracht hast? Zu 'ungewöhnlich', näher wolltest du sie nicht bezeichnen! Und den Pranger fandest du gerade recht für alle Zauberer! Aber wenn ich ehrlich sein soll, Henry, so siehst du hier einen ziemlich ratlosen Zauberer vor dir. Was immer soeben mit mir geschehen ist: Feenmagie war da nicht im Spiel. Irgend etwas anderes reißt uns durch die Gegend. Und vielleicht auch wieder durch die Zeit."

Nach diesem Worten griff er wieder in die linke, untere Außentasche und zog eine schwarze Münze hervor. Es war dieselbe, die er gerade erst in den Fluss geschmissen hatte.

Er schnaubte spöttisch. "Dieses Teil ist jedenfalls mal verflucht."
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 07.09.2014, 01:11:05
Henry verzog nachdenklich den Mund. "So ist das also. Du wurdest geradewegs in diese Welt gespült und ich habe einen kleinen Abstecher nach Sankturio gemacht. Nur die Kurzfassung: Ich wurde drei Jahre lang in einem Orden ausgebildet und danach habe ich gegen wilde Bestien und wandelnde Tote gekämpft. Auch auf den ein oder anderen Zauberer bin ich getroffen. Nimm einen Rat von mir, lass ab von dem Teufelszeug. Am Ende werden sie doch alle wahnsinnig und wollen Dämonen beschwören und die Welt versklaven."

Henry trat zu Harry heran und blickte auf's Meer. "Drei Jahre bin ich dort gewesen und für Dich sind keine fünf Minuten vergangen. Ich habe versucht, herauszufinden, was mit mir geschehen ist, aber ich habe keine Antwort bekommen können.", sagte er nachdenklich. "Was auch immer diese Dimensionsreisen bewirkt, es muss sehr mächtig sein. Ich habe bisher nichts getroffen, was so viel Macht gehabt hätte. Vielleicht hätte der alte Horazon so viel Kraft gehabt. Aber dies sind alte Geschichten und keine Dinge dieser Tage. Heute werden die Schlachten nicht durch Macht, sondern durch Massen entschieden. Viele gute Kameraden sind gefallen. Aber ich merke gerade, ich rede, als ob ich noch in Sankturio wäre."

Henry klopfte Harry kräftig auf den Rücken. "Drei Jahre Zeitunterschied, Harry. Ich hoffe, das wird nicht zur Regel. Am Ende stünde ich als weißbärtiger Greis vor Dir und erzählte Dir Geschichten. Eins ist sicher: so jung kommen wir nicht mehr zusammen. Und Du hast auch schon das Stichwort gegeben. Wir wollten auf Bruderschaft trinken."

Harry stellte seinen Rucksack auf den Boden und kramte eine kleines Bündel hervor. "Du wirst es nicht glauben, aber ich habe noch den guten, alten irischen Whiskey dabei. Was hätte ich ihn alleine trinken sollen? Drei Jahre werden ihm gut getan haben, was meinst Du?" Henry entkorkte die Flasche und hielt sie Harry auffordernd hin. "Sláinte!"
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 07.09.2014, 09:37:44
Harry schwirrte der Kopf von Henrys vielen Worten. Er schwankte und sah sich nach seinem Stecken um, welchen er in einiger Entfernung auf dem Boden entdeckte. Zu weit weg. Wie bin ich nur so weit ohne ihn gekommen?

"Teufelszeug, Henry? Nein, Magie ist die Kraft der Schöpfung! Obwohl, es gibt ja auch einige Religionen, sogar christliche Sekten, die glauben, der Teufel habe die Welt und unsere Leiber erschaffen, um unsere Seelen, die von Gott sind, darin einzufangen, damit er sie besser quälen und verführen kann. Die Katharer[1] zum Beispiel, oder das, was der heilige Augustinus vor seiner Bekehrung war, wie hießen die noch gleich? Die Manichä... Mani... sha... shä... chä... er[2]", lallte er.

"Oh, was red ich da. Jedenfalls kann ich davon genausowenig ablassen wie vom Essen oder Atmen. Und wenn ich darüber wahnsinnig werden sollte, dann war's mir von Geburt an so bestimmt! Aber mit Dämonen habe ich nichts am Hut. Und ich halte mich an die Sieben Gebote und alles. Und überhaupt..."

Er hätte noch länger so weiter gefaselt, wenn Henry ihm nicht lachend auf den Rücken geklopft hätte. Gleich darauf hielt der—zurzeit noch rotbärtige—Ire ihm eine Flasche hin, die Harry bekannt vorkam.

"Oh, ist das noch der vom Nachbarn? Eigentlich bräuchte man ja zwei Gläser dazu, sonst kann man gar nicht mit den Armen... ach was! Wenn du mich in drei Jahren nicht vergessen hast, obwohl wir uns erst seit drei Stunden kennen, dann wird's wohl auch ohne das tun!"

Er nahm die Flasche aus Henrys Hand entgegen.

"Auf meinen Bruder Henry! Auf dass weder Tod noch Teufel noch der nächste Sphärensprung uns je wieder trennen. Sláinte!"
 1. Lehre der Katharer (http://de.wikipedia.org/wiki/Katharer#Lehre)
 2. Manichäismus (http://de.wikipedia.org/wiki/Manich%C3%A4ismus#Manich.C3.A4ische_Heilsgeschichte)
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 07.09.2014, 13:26:19
Henry schüttelte demonstrativ den Kopf und lächelte. "Das überrascht mich nicht. Ehrlich gesagt, ich wäre überrascht gewesen, hätte ich von Dir so etwas gehört wie: 'Oh Henry, Magie ist tückisch und gefährlich? Also, so hab ich noch gar nicht darüber nachgedacht. Besser ich gebe das Zaubern auf'. Also gut, pass nur auf Dich auf und halte Dich an Deine 7 Gebote und schwöre den 10 Todsünden ab und so."

Henry hielt es nicht für notwendig, seinen Freund darüber aufzuklären, dass es eigentlich 10 Gebote und 7 Todsünden waren. Er war sich sicher, dass Henry dies in nüchternem Zustand bewusst gewesen wäre. Also nahm er ihm die Verwechslung nicht krumm. Aber eine kleine Spitze, nur um anzuzeigen, dass es ihm aufgefallen war, konnte er sich nicht verkneifen.

Henry nahm von Harry die Flasche entgegen und goss sich einen großen Schluck in den Hals. "Ein Freund liebt jederzeit, und in der Not wird er als Bruder geboren."[1]

Henry klopfte Harry wiederum kraftig auf die Schulter. Dann verkorkte er wieder die Flasche und steckte sie in seinen Rucksack. "Wir wollen mal sehen, wo wir gelandet sind." Mit diesen Worten trat Henry auf den Fremden zu, der in einiger Entfernung auf der Kaimauer saß. Henry schätzte, dass sie wieder in irgendeiner Zukunft gelandet waren. Die Stadt war hässlich und laut und die Häuser erinnerten ihn an Chicago. Henry wurde bewusst, dass er eine sehr seltsame Erscheinung sein musste für die Menschen hier.

Henry deutete eine leichte Verbeugung an. "Greetings! My name is Henry and this is my friend Harry. Sayeth, what's the name of this place?", fragte er in Englisch.
 1. Spr 17,7
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Jurij Klee am 07.09.2014, 23:11:22
Der Mann auf der Flusskaimauer, reagierte wie jemand der ertappt wurde. Er bewegte den Blick und den Kopf von Henry weg. Trotz der Hitze schien er sogar zu frieren. Schließlich hatte er auf den nackten Armen Gänsehaut. Was saß er auch in dieser viel zu kurzen hellbrauenen Hose, den Stoffschuhn und dem Hellblauen Hemd am Wasser. Oder er hatte vom Gespräch wenigstens Bruchstücke mitbekommen und fürchtete sich gerade.

„Urbanhafen“ antwortete der Mann dann mit einer zitternden Stimme. „That´s a place in Berlin germany.“ Innerlich fluchte Jurij gerade. Er fragte sich, warum er überhaupt geantwortet hatte. Jetzt wussten diese beiden merkwürdigen Typen, dass er ihre Sprache verstand. Dabei wäre es so einfach gewesen zu sagen kein Englisch zu verstehen und schnell abzuhauen.
Hätte er nicht gesehen was er gesehen hat, würde er sie einfach für verrückte halten. Aber aus dem Nichts auftauchen. Er schluckte. Magie, das gab es nicht und doch hatte er dies gerade gesehen.

Nun endlich schloss er den Rucksack, in welchen er noch zuvor seine Schüssel gelegt hatte. Möglichst ohne hektisch zu wirken, was ihm aber nicht gelang, stieg er von der Kaimauer und schulterte seine beiden Rucksäcke. Er war fast so groß wie Harry. Dabei schien er versucht beide fremden Männer nicht aus den Augen zu lassen. Blieb aber immer wieder an Henry hasten. Nicht nur weil er mit der Rüstung seltsamer aussah als der Andere in Schwarz, sondern weil er ihm auch näher war. Zwei große Schritte und er könnte Jurij mit seiner Hand packen. „Sorry, I can´t help you.“ Ohne wie wohl jeder anderer sich umzudrehen und zu gehen, ging er langsam Rückwerts die Stufen der Treppe zur etwas tiefer liegenden nächstem Ebene hinunter. Spätestens ab jetzt war es eindeutig. Er befürchtete wohl, dass die beiden Fremden ich angreifen würden.

Rings herum gab es keine anderen Menschen. Einzig etwas abseits ging eine Familie um ein hohes Haus was deutlich hässlicher war, als die Gebäude hinter ihnen. Den es schien aus faden Platten gebaut worden zu sein.
Bis jetzt hatte wohl nur dieser Mann die Ankunft der beiden bemerkt. Sicher würde er, sobald er die beiden hinter sich gebracht hatte, die hiesige Polizei  informieren.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 07.09.2014, 23:29:47
"Can't, or won't?" hätte Harry am liebsten gefragt, aber das hätte zu aggressiv geklungen, und dieser Mann hatte offenbar Angst vor ihnen. Das war nicht gut. Ängstliche Menschen gingen zur Polizei.

"Germany, really? You mean like Hofbrauhaus, Lederhosen, and Autobahn? And that Disney Castle, what's it called? Neuschwansomething? Da wollte ich immer schon einmal hin." Er hatte etwas Mühe, die Worte deutlich rauszubringen. Dazu lächelte er breit in seinem Versuch, wie ein harmlos dummer Tourist auszuschauen. (OK, dumm war er vielleicht, denn die aufgezählte Liste stellte tatsächlich nahezu sein gesamtes Wissen über Deutschland dar.)

Er tat einen schwankenden Schritt vorwärts. Verdammt, das war einfach ein teuflischer Tropfen, der Whiskey von Henrys Nachbarn![1]

"Könntet Ihr uns wenigstens noch sagen, welches Jahr wir haben?"
 1. drunk = -2 auf alles.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 08.09.2014, 13:15:30
Henry nickte. Das Land 'Germany' war ihm auch bekannt, wenn auch nur von Erzählungen. In Irland hatte man sich von den 'Teutschen' erzählt, welche Nachfahren der Germanen waren. Himmel, das alles schien Henry schon so weit weg zu sein. Es waren wie Erinnerungen aus einem letzten Leben. "Or rather Germany as with tribes, burial mounds and druidic circles?", fragte er und lächelte.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Jurij Klee am 08.09.2014, 14:07:04
Jurij blickte vom gerüsteten Mann zum Mann im Ledermantel und zurück. Er fragte sich was das sollte? Dabei blieb er auf der letzten der drei Stufen stehen und blickte Henry in die Augen. Der eine wollte wissen welches Jahr war und der andere redete von den Stämmen, Grabhügeln und Druiden. Waren die beiden etwa verrückt oder war das Ganze ein Streich? Hatte er sich das nur eingebildet, dass sie von einem zum anderen Moment einfach da waren? Der seltsame Geruch brannte auch nicht mehr in seiner Nase.  Oder, wollten die beiden ihn nur verwirren? Während sich sein Hirn diese Fragen stellte blickte er in die Augen von Henry. Die Augen und auch seine Haltung schienen nicht aggressiv zu sein, jedenfalls im Moment. Das änderte nichts daran, dass er den beiden Männern nicht traute, doch schien er den Gedanken an eine sofortige Flucht bei Seite geschoben zu haben.

 „Wir leben“ begann er zuerst in deutsch und wechselte dann auf englisch. „We are live in 2030. Stämme und Druiden gibt es seit über 1000 Jahren nicht mehr. Was wollt ihr überhaupt? Erzählt etwas von Magie, Flüchen und verlorener Zeit. Ha, als nächstes wollt ihr mir wohl verkaufen von Merlin oder Galadriel geschickt worden zu sein oder Zeitreisende aus einer fernen Zukunft wie in Star Treck oder Jediritter die vor dem Imperium fliehen.“  Wieder wanderte sein Blick zwischen den beiden Männern hin und her.  Er brauchte sie nicht anlügen, schließlich mussten sie bemerkt haben, dass er ihr Gespräch mitbekommen hatte. Verdammt noch einmal, was ging hier vor? fragte er sich in diesem Moment. Auf so etwas wird niemand vorbereitet und schnell musste er sich eingestehen von den Beiden zutiefst erschreckt worden zu sein.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 08.09.2014, 15:13:55
2030! Also stimmte es. Auch seine Heimat war verloren. Keine 430 Jahre entfernt, nur knapp 30, aber trotzdem war alles dahin, was er sich—wenn nicht mit großem Erfolg, so doch mit großer Mühe—aufgebaut hatte. Sein altes Leben, futsch. Gestrandet zwischen den Welten und den Zeiten.

"Wie gut, dass ich schon betrunken bin", murmelte er.

Dann stürzte er sich auf das eine tröstliche Detail, das er in der ganzen Misere erblickte.

"Jediritter, im Ernst? 2030 kennt man die noch?" Und er riss die Front seines Sweatshirts hoch, um das darunterliegende T-Shirt zu präsentieren.

(http://games.dnd-gate.de/index.php?action=dlattach;topic=7636.0;attach=11508)
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Jurij Klee am 08.09.2014, 15:55:13
So rasch wie das Hemd oben war auch der junge Mann mit der blonden zerzausten Frisur einen Satz zurückgesprungen.  Als dann ein Fan-Shirt zum Vorschein kam, blickte er mehr als verwirrt drein. Das hatte er nicht erwartet. Auch wenn er sich nicht als Fan bezeichnen würde, so konnte er den Witz verstehen. „Yes, in the 4. film version.“ Langsam stellte sich sein Kopf darauf ein, einem üblem Scherz auferlegen zu sein, was ihm ein erleichtertes Lächeln abrang, auch wenn er die beiden noch immer nicht über den Weg traute. So guy´s. Was sollte das Ganze? Warum erschreckt ihr mich zu Tode. Das war ganz und gar nicht witzig. Habt ihr etwa beim Fest nicht genug spaß?“ Er blickte auf die andere Seite des Flusses zur Bühne mit dem Krankenhaus im Hintergrund und dann wieder zu den beiden.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 08.09.2014, 20:19:49
Henry begegnete dem Blick des Fremden und lachte dann. "We were about to tell you, that we are two guys wrecked in space an time. Aber Du hast Recht, wir strapazieren Deine Freundlichkeit und wir entschuldigen uns. Sagen wir einfach, wir sind neu hier und kennen uns noch nicht aus. Hast Du vielleicht einen Hinweis für uns, wo wir Arbeit finden können? Oder vielleicht kannst Du uns ein nettes Gästehaus empfehlen?", sagte Henry und wechselte einen Blick mit Harry.

Henry hatte schon die Erfahrung gemacht, dass man ihm die Geschichte von einem Dimensionssprung nicht abnahm, selbst nicht in einem Land, in welchem Magie prinzipiell bekannt war. Wozu sollte man also die Einheimischen weiter zwingen wollen, ihre - zugegebenermaßen wilde - Geschichte zu glauben?

Henry hoffte nur, dass sie nicht allzulange hier bleiben mussten. Er fand Berlin hässlich und es stank.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 09.09.2014, 00:04:53
"Gästehaus? Hast du Geld, Henry? Ich bin blank. Und meine Kreditkarte—gibt es überhaupt noch Kreditkarten?" fragte er den Einheimischen—"meine Kreditkarte ist seit mindestens zwanzig Jahren abgelaufen. Hm. Wenn hier wirklich gerade ein Fest stattfindet, kann ich mich vielleicht als Straßenkünstler betätigen." Er schnappte mit den Fingern, als erinnere er sich an etwas. "Halt, nein. Großvater Mortimer wollte mir Straßentricks beibringen, aber ich habe gesagt: ne, Opa, ich will nur was lernen, was ich auch im richtigen Leben gebrauchen kann!"

Ihm wurde bewusst, dass er faselte. Der Fremde sah ihn mit nicht deutbarem Blick an. Oder vielleicht hätte Harry den Blick deuten können, wenn er nüchtern gewesen wäre.

"Sorry, this was my first time, you know, and I'm kind of freaking out over here."
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 09.09.2014, 00:16:46
Zu mindestens einen Trick beherrscht Du.“, sagte Henry und lächelte. Er griff Harry in die Tasche und fischte die Münze heraus. Er warf die Münze ins Hafenbecken und wiederholte es noch einmal.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Jurij Klee am 09.09.2014, 01:00:52
Für den Mann waren die beiden einfach durchgeknallt. Der eine sprach in diesem Uraltenglisch und der andere in dem amerikanischen Englisch. Es hatte einen Witz diese beiden Sprachen einmal nebeneinander zu hören. Insgesamt schienen sie erst einmal nichts bösen im Sinn zu haben.

Seine Haltung entspannte sich nun gänzlich. „You want to work? Die wird von vielen gesucht. Kommt halt darauf an was sie können. Was die Kreditkarten angeht, ja und nein. Auf Kredit kauft heute niemand mehr aber Bankkarten gibt es immer noch.“ innerlich fragte sich Jurij warum er den beiden Antworten gab. Sie waren seltsam, hatten kein Geld und schienen ihn immer noch zu veralbern. Mit einem Seufzer sprach er dann weiter „Soll ich euch zur Parade bringen oder an den nächsten Caipirinhastand führen.“ wenigstens schienen sie ja nur dem Alkohol zugetragen zu sein und keiner anderen Droge.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 09.09.2014, 10:06:31
"Caipi-Stand, oh ja!" sagte Harry. "Wenn Ihr uns einen ausgeben wollt. Andererseits... es wäre schlau, wenn ich für heute erst mal aufhören würde. Als wir nämlich den Beschluss fassten, uns unter den Tisch zu saufen, da sah unsere Lage noch ganz anders aus. Aber jetzt, wo wir wissen, dass es uns in drei Stunden möglicherweise schon wieder woanders hinverschlägt... Ja, ich glaube, ich sollte besser schnell wieder nüchtern werden."

Mit Blick auf Henry—und einer Hand über seiner linken Manteltasche—knurrte Harry: "Das war übrigens... noch ein wenig früh. Wenn du erlaubst, lach ich morgen drüber." Dann sah er sich um. Auch den Einheimischen betrachtete er nachdenklich.

"Was wir wohl hier wollen, Henry? Ich meine, diese Sprünge, die können nicht ganz zufällig sein. Sonst wäre es ein bisschen arg viel Zufall gewesen, dass es dir passiert und mir dann auch, kaum dass ich dich traf. Und dein nächster Sprung hat dich wohin geführt, wo man dich in irgendwas ausgebildet hat, aber ich bin sofort hierher, und nun sind wir wieder zusammen? Das ist doch alles seltsam. Man könnte jetzt natürlich vermuten, die ganze Sache ginge von dir aus, weil mit dir alles angefangen hat. Dagegen spricht aber, dass ich meine Münze selbst aus dem Holz ziehen musste. Oder war's bei dir auch eine Münze? Nein? Hm. Also verschiedene Auslöser. Trotzdem ein gemeinsames Ziel? Jedenfalls gehe ich mal davon aus, dass wir aus einem bestimmten Grund nun ausgerechnet nach Berlin und ausgerechnet ins Jahr 2030 gesprungen sind. Aber müssen wir hier etwas lernen oder jemanden 'abholen', was meinst du?"

Er sah sich noch einmal gründlich um, konnte aber keinen anderen Menschen in ihrer Umgebung entdecken außer den Mann vor ihnen, an welchen er sich dann auch wieder wandte.

"Verzeihung. Ihr habt uns Euren Namen noch nicht genannt. Henry hat die Vorstellung zwar schon teilweise übernommen, aber ich bin Harry Webster, ein P.I. aus Chicago, wo ich zuletzt 2001 gesehen. Ich könnte mich ausweisen, wenn Ihr mir nicht glaubt. Und Ihr?" Er räusperte sich.

"Wir machen hier keine Scherze und wir wollen Euch auch keine unnötige Angst einjagen, wir versuchen nur herauszufinden, was da mit uns passiert."
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Jurij Klee am 09.09.2014, 17:52:30
Der Einheimische wirkte auf den ersten Blick nicht sehr alt. Vielleicht so maximal 25 Jahre alt. Das was seine lockeren Kleider offenbarte, zeigte einen gut im Training stehenden Körper von etwa der Größe wie Harry. Die beiden Taschen erinnerten an Trainingstaschen. So wie sie ausgebeult waren, befanden sich wohl unter anderen Kleidungsstücke in ihnen. Auf den Sport welchen der Mann praktizierte, deutete das hellblaue Achselhemd hin. Aufgrund der asiatischen Schriftzeichen und dem wappenartigen Symbol auf der rechten Brust trainierte er wohl eine asiatische Kampfkunst. Seine Augen hatten Henry und Harry fixiert. Er traute dem ganzen wohl immer noch nicht.

Und das tat Jurij auch wirklich nicht. Besonders nach den neusten Worten von Harry. Zum Teil glaubte er ihm nicht, der andere Teil bekam aber Bauchschmerzen als er von Reisen, Auslösern und jemanden abzuholen sprach. Leicht schüttelte Jurij den Kopf. Egal ob sie die Wahrheit sagten oder nicht, einfach gehen konnte er jetzt nicht. Schließlich würden sie sich ein anderes Opfer suchen und noch hörte sich ihre Story interessant an. Sie hatten wenigstens seine Aufmerksamkeit. Auch hatte er so oder so noch genug Zeit. Schließlich würde sein Freund Martin wohl erst in einigen Stunden zu etwas zu gebrauchen sein.
So nickte er kurz, und stellte sich auch vor. „I´m Jurij Klee. Eure Geschichte ist jedoch zu unglaublich um sie einfach abzukaufen und selbst wenn ihr die Wahrheit sagt. Ich könnte euch nicht weiterhelfen. Physik war nie meine Stärke.“ Er blickte zu Henry. In der Rüstung würde der Mann wohl oder übel gebraten werden. Wenigstens dagegen konnte er etwas tun. „Aber ein paar Getränke zur Abkühlung und ein deftiges Essen gegen den Kater lässt sich machen. Kommt mit.“ Mit diesen Worten stieg er wieder die Treppe hinauf. Als er an den beiden Männern vorbei war, blickte er sich um ob sie folgen würden. Dann ging es auch schon weiter zu einer Brücke auf welcher es geschäftig zuging. Etliche Musikanten und Schausteller zeigten ihr können, ein paar Bettler saßen in den Ecken und neben vielen Passanten waren auch ein paar Gruppen von Männern auf der Brücke die sich lässig  am Geländer abstützten. Henry und Harry mussten im Gewusel aufpassen um Jurij nicht zu verliehen. Er ging zwar immer nur einige Schritte voraus aber oft kreuzten andere Menschen die Sicht zu ihm. Kurz vor dem Ende der Brücke, Jurji hatte sie schon verlassen und war nach rechts gegangen, tauchte neben Henry ein weißer Mann in lockeren bunten Kleidern auf. Zuerst fragte er etwas auf Deutsch. Als er merkte das Henry ihn nicht verstand, wiederholte er das Ganze in Englisch. „Hey tolle Rüstung. Ist sicher schwer und bei dieser Hitze wirst schnell müde, ne? Willst was zum Stärken haben. Ich hätte das beste Zer der ganzen Stadt für dich. Was sagst du, willst mal probieren?“ Auch zu Harry hatte sich ein Mann gesellt der das Selbe zu fragen schien. Allein die dunkle Hautfarbe und Größe unterschied ihn vom anderen.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 12.09.2014, 11:20:11
"Das nehmen wir dankend an, Jurij. Ich darf Euch doch Jurij nennen?" sagte Harry. "Und Euren Unglauben verstehe ich gut, ich habe Henry auch nicht so einfach beim Wort genommen. Was sagst du, Henry, hast du Hunger? Ich habe ja gerade erst gefrühstückt, ich bräucht nur einen Kaffee."

Und die beiden folgten Jurij durch die fremde Stadt. Als sie beim Überqueren einer Brücke von zwei Männern in bunten Kleidern angesprochen wurden, die offensichtlich etwas verkaufen wollten[1], wehrte Harry ab: "Whatever you're selling, I'm sure it is sehr[2] tasty, but you're probably going to want money for it and I'm beyond broke. So, danke sehr, but no thank you."

Er wollte weitereilen, doch da entfuhr ihm ein Fluch auf Drakonisch—bestehend aus einem sehr gereizt, sehr aggressiv klingendem Fauchen und Zischen—denn er hatte Jurij aus den Augen verloren.[3]

"Siehst Du ihn noch, Henry?" fragte er.
 1. Sense Motive Check um betrunkene 2 daneben
 2. Ich geh davon aus, der Typ hat zer beim 2. Mal englisch ausgesprochen, dann klingt's für Harry wie sehr
 3. perception check daneben
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 12.09.2014, 17:58:31
Henry dreht sich zu dem in weiß gekleideten Mann um. "Is this some kind of stew? Etwas zu essen wäre tatsächlich nicht schlecht. Mein letzter oderntlicher Eintopf ist schon drei Jahre her oder drei Stunden, wie mans nimmt. Das mit der Rüstung ist übrigens Gewöhnungssache. Wenn man jahrelang tagtäglich so etwas trägt, dann stellt sich der Körper darauf ein. Die Haltung verändert sich und man macht ruhige, statt hektische Bewegungen. So minimiert sich der Kraftaufwand..." Henry wurde von Harry unterbrochen.

"Du meinst unsere Begleitung? Nun..., nein, ich war eben abgelenkt und jetzt ist er irgendwo im Gedränge verschwunden. Sollen wir ihn suchen? Ach nein, er hat uns unsere Geschichte ohnehin nicht geglaubt und wahrscheinlich wollte er uns auch loswerden. Ich kann es ihm nicht verdenken. Lass uns einfach weitergehen. Was Du noch sagtest, wegen.. dem Sprung und... der Münze..., lass uns darüber gleich sprechen, wenn wir Ruhe haben, okay?"

Mittlerweile hatte auch der Mann in Weiß sein Interesse an Henry verloren. Die beiden ungleichen Männer waren nun wieder allein - in der Menge.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 12.09.2014, 19:58:58
Harry zuckte mit den Schultern und folgte Henry, der ihnen einen Weg durch die Menschenmenge bahnte und dann, auf der anderen Seite des Flusses angekommen, zu einer etwas ruhigeren Stelle führte. Dabei sah er sich trotz Henrys Worte noch nach diesem Jurij um, denn Harry wusste einige Dinge über die moderne Welt, die Henry nicht wusste—beispielsweise, dass man im Ausland nicht ohne Pass unterwegs sein sollte. Wie streng war dies wohl im Jahr 2030? Wie würden die Polizei und Behörden hier wohl mit Leuten umspringen, die laut ihrer Daten "nicht existierten"? Das alles hätte er Jurij gern fragen wollen.

"Nicht geglaubt, aber trotzdem wollte er uns helfen, und wenn's nur ne Mahlzeit gewesen wäre. Glaub mir, das ist für die moderne Zeit, wo niemand mehr für seinen Mitmenschen verantwortlich sein will, weil auch die geringste Hilfestellung noch zur Aufgabe des Staates deklariert wird—also, das ist schon ziemlich erstaunlich. Zumal wir in seinen Augen ja zwei ziemliche Spinner sein müssen. Aber ich seh ihn einfach nicht mehr. Vielleicht kommt er ja zurück? Lass uns hier in der Nähe der Brücke bleiben."

Dann holte er die Münze aus seiner Tasche.

"Ich habe sie mir noch gar nicht näher angeschaut, weil Pete dann die Whiskeys auf die Theke geknallt hat. Auf den ersten Blick hatte ich gedacht, dass es eine antike römische Münze sei, die womöglich ein paar Dollar auf einer Auktion bringen würde—genug, um die Rechnung im Pub und die Reparatur an meinem Auto zu zahlen. Du wirst gesehen haben, wie ich mich abgemüht habe, sie aus dem Holz zu ziehen, wo sie feststeckte. Ich überlege gerade, ob ich in meinem Leben schon einmal etwas dümmeres getan habe, aber mir fällt nichts ein... Na ja, du fasst sie besser nicht an. Ich glaube zwar, dass sie jetzt an mich gebunden ist, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht."

Er präsentierte Henry die Münze auf seinem Handteller und drehte sie auch einmal um, damit Henry beide Seiten sah. Es war eine kleine Silbermünze, komplett schwarz angelaufen, die auf der einen Seite irgendeinen Herrscherkopf zeigte, auf der anderen eine vage geometrische Figur, die an ein Stundenglas erinnerte.

Während Henry die Münze betrachtete, sah Harry sich weiterhin nach Jurij und auch noch möglichen Polizisten um, die auf so einem Stadtfest sicherlich präsent waren. Er hatte einfach zu viele science fiction Filme über Zeitreisende gesehen, um auf einen wohlwollenden Empfang zu hoffen, und Henry mit seiner Rüstung und dem Säbel an seiner Seite und den bis über die Knie besudelten (und nach Abort stinkenden) Klamotten war schon ein wenig auffällig. Harry war sich zudem sicher, dass das Tragen von Klingenwaffen in der Öffentlichkeit hier verboten war. Und wenn die Polizei den Revolver in seiner eigenen Manteltasche fände...

"Also, was meinst du? Hast du so etwas schon einmal gesehen? Kennst du dich vielleicht mit historischen Dingen aus?"
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Jurij Klee am 12.09.2014, 20:19:49
Der schattige ruhige Platz lag unter einem Baum am Fluss. Die Brücke war gut einzusehen und auch der Straßenplatz vor der Brücke. Auf der rechten Seite des Straßenplatzes im Schatten von großen Linden reiten sich Stand an Stand. Es roch nach gegrilltem Fleisch, Crepes und den unterschiedlichsten Gewürzen. Auf der linken Seite, hinter ebenfalls großen Linden war eine Häuserfront zu erkennen. Unten schienen gut besuchte Gaststätten zu sein. Mitten auf dem Platz zwischen diesen beiden Seiten, saßen die Menschen auf einer Wiese. Einige aßen, Andere tanzten um eine spielende Band herum. Es erklang Musik, welche sich arabisch anhörte.

Von den beiden Männern unter dem Baum am Fluss nahmen die wenigsten Kenntnis. Ebenso wenig Kenntnis wie von den Menschen in Trachten, den sehr leicht bekleideten Frauen und den halb nackten Männern. Von Jurij war momentan nichts zu sehen. Mit seinen normalen Kleidern ging er in der Menge von Menschen einfach unter.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 18.09.2014, 23:11:27
Henry besah sich die Münze eine ganze Weile lang, doch dann zuckte er mit den Achseln.

"Hm, ja, könnte römisch sein", sagte er. "Oder auch nicht. So gut kenne ich mich da nicht aus. Müsste sie nicht wenigstens ein paar Schriftzeichen aufweisen, wenn sie römisch wäre? Aber nun ist sie ja auch so abgegriffen, dass man kaum noch etwas erkennen kann."

Während Harry diesen Worten lauschte, bekam er plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Er spürte Blicke in seinem Nacken, doch als er sich umdrehte, ging da nur ein Liebespärchen hinter ihnen her. Da, auf der Brücke, hatte sich da nicht gerade jemand hinter die Mauer geduckt? Waren das Polizisten dort drüben, in den komischen Uniformen, und schauten die nicht sehr misstrauisch zu ihm und Henry herüber? Und dort, der große Busch, hatte es darinnen nicht gerade mächtig geraschelt, als hielte sich jemand dort versteckt?[1]

Hastig lässt er die Münze wieder in seiner Manteltasche verschwinden.

"Henry, sag mir, dass ich nur an einem Sprungkoller leide—oder hast du auch das Gefühl, wir werden beobachtet?"[2]
 1. perception = 18! Falls Jurij sich also irgendwo versteckt hält und uns belauscht oder beobachtet, bitte einen Stealth Wurf dagegen machen... Vielleicht mag Henry auch noch auf perception würfeln...?
 2. 
Erklärung für Harrys Paranoia, falls jemand das wünscht (Anzeigen)
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Jurij Klee am 21.09.2014, 22:51:02
Harry wurde das Gefühl nicht los. Beim umherblicken bemerkte er einige Menschen die tatsächlich zu ihnen hinüber sahen. Sie schienen in erste Linie die Rüstung und das Schwert von Henry zu betrachten aber nur kurz. Einzig eine ältere Frau, so um die fünfzig Jahre, schien ziemlich erschrocken zu sein. Sie diskutierte etwas mit den beiden Männern in ihrer Begleitung und deutete immer wieder auf das Schwert. Irgendwann begann der jüngere der beiden Männer auf das Armband an seiner Linken zu drücken und sprach hinein.

Der Mann und die Frau in blaugrauer Uniform, welche Harry für Polizisten hielt, wendeten ihren Blick ab, als er zu ihnen Blickte. Sie hatten sie wirklich beobachtet. Auch sie schienen einige Worte zu wechseln, bevor sie durch irgendetwas unterbrochen wurden. Eine offensichtlich angetrunkene Frau hatte die beiden angesprochen und die uniformierte Frau schien ihr mit richtungsweisenden Gesten zu Antworten.

Im Busch, welcher geraschelt hatte, schien sich tatsächlich jemand zu verstecken. Das bunt der Kleider schimmerte durch die Äste durch. War es nicht der Mann, den sie auf der Brücke getroffen hatten?
Bevor Harry jedoch darauf reagieren konnte. Gesellte sich ungefragt ein dunkelhäutiger Mann zu ihnen. Es war definitiv der zweite Mann von der Brücke. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen hielt er den beiden Männern seine dickliche Zigarette hin. „Ey Guys. Do you want to try? Ist umsonst.” von der Zigarette ging ein süßlich Rauch aus.  Es roch nicht wirklich nach Tabak. Dieses Mal ließ er sich auch nicht wirklich abwimmeln. Er stellte sich den beiden sogar in den Weg, als diese weiter gehen wollten und meinte dass er noch andere Sachen zum Probieren hätte.

Etwa zu diesem Moment kam der junge Mann Jurij wieder. Er hielt zwei Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit in den Händen. „Hier je ein Kaffee für euch beide.“ begrüßte Jurij die beiden. Den Mann mit der Zigarette in der Hand, schaute er nicht erfreut an. Während er sich von den wirklich warmen Getränken entledigte, Harry und Henry hatten damit je einen in der Hand, fragte er die beiden ob sie wirklich von „Dem Typen“ Drogen kaufen wollten. Auf diese Frage reagierte der bis jetzt locker dastehende Mann gereizt. „Holy Fuck. Misch dich nicht im Geschäfte ein. Dich hab ich nicht gefragt.“ Gerade als Jurij dem Mann einen bösen Blick zuwarf,  fragte eine kräftige Frauenstimme auf Deutsch. „Gibt es Probleme.“ Jurij, sowie der dunkelhäutige Mann schienen überrascht zu sein. Es war die Frau in Uniform und auch ihr Partner war nicht weit. Er war neben Henry und dem Baum aufgetaucht. In seiner Hand hielt er so etwas wie einen Stift.

Es war keiner der vier Männer der zuerst reagierte, sondern der Kumpan des dunkelhäutigen Mannes. Er kam aus dem Busch gestürmt und rannte die überraschte Polizistin einfach um. Blaffend war er drauf und dran mit seinem Kumpan zu türmen, wenn nichts passieren würde. Jurij konnte nicht reagieren. Er war reflexartig neben hinter die fallenden Polizisten gesprungen und versuchte gerade ihren Fall abzumildern.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 22.09.2014, 14:30:58
Henry lachte schallend über Harrys Frage und antwortete dann: "Oh Harry, ich bin mir ziemlich sicher, dass wir beobachtet werden. Unter all jenen fröhlichen und leicht gekleideten Menschen müssen wir herausstechen wie eine schwarze Perle in einer Auster. Ich vielleicht noch mehr als Du. Mach Dir darum also keine Sorgen, sondern verhalte Dich, als wäre es ganz natürlich."

Henry schlenderte an einigen Menschen vorbei, bis er von dem dunkelhäutigen Mann angehalten wurde. Henry fühlte sich sofort von seiner aufdringlichen Art unangenehm eingenommen. "Nein, wir sind nicht interessiert, guter Mann.", sagte er und versuchte, sich vorbeizuschieben. Ihn beschlich der Gedanke, dass es sich bei dem Rauchwerk um etwas Illegales handelte. Eine Ahnung, die von Jurij bestätigt wurde, der sogleich hinzutrat.

Als nächstes hörten sie eine kräftige Frauenstimme, die etwas fragte, was Henry nicht verstand. Es klang aber nicht danach, als ob sie einfach nach dem Weg fragte. Auch ihre Kleidung sah anders aus, als die der anderen Menschen. Henry schloss daraus, dass es sich bei der Frau um jemanden von der Stadtwache handelte (obgleich er sich wunderte, dass Frauen dieses Amt ausübten).

Plötzlich ging alles ganz schnell. Der dunkelhäutige Mensch und sein Kumpane wollten fliehen und rannten dabei die Wache um. Jurij eilte der Frau zur Hilfe. Harry sah überrascht aus. Und Henry hatte beschlossen, nicht in die Sache einzugreifen, solange er nicht wusste, was vor sich ging. "Ich frage mich, was die modernen Menschen alle an diesem bitteren Getränk finden...", murmelte er.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 22.09.2014, 14:59:38
Harry bedankte sich bei Jurij für den Kaffee, doch er hatte erst einen Schluck getan, da ging alles drunter und drüber. "Drogen! Oh Mann, Harry. Du bist mir vielleicht ein Detektiv! Natürlich wollten sie Drogen verkaufen."

Eigentlich gab es nichts zu überlegen. Was er zu tun hatte, war völlig klar: unschuldig dastehen und die Polizei machen lassen. Bloß nicht eingreifen. Dann würde die Polizei ihn nämlich mit Sicherheit ebenfalls zur Wache mitnehmen. Aber wenn er nichts tat, und ein wenig Glück hatte, dann würden sie vielleicht die Drogendealer verfolgen und Henry und er könnten schnell das Weite suchen. Denn Harry hatte wirklich keine Lust, seine Papiere herzeigen zu müssen.

Leider hatte Harry aber doch zu lange überlegt und so hatte sein Körper längst die Initiative ergriffen. Und weil für diesen auch alles klar und eindeutig war, hatte er den Zauberstecken genommen und versucht das untere Ende einem der fliehenden Drogenhändler zwischen die Beine und diesen damit zu Fall zu bringen. Der erste Teil gelang ihm auch, doch der Dealer hatte einen solchen Schwung drauf, dass es einen gewaltigen Rückschlag gab, der Harry von den eh schon wackeligen Beinen holte, während der Mann selbst sich durch einen Sprung retten konnte.[1]

Und so fand Harry sich einigermaßen verdutzt auf dem Boden wieder. Nicht nur war er gebadet in Kaffee[2], er kämpfte auch gegen das dringende Bedürfnis, sich zu übergeben. Die plötzliche, hektische Bewegung, der Schlag, die Aufregung, um nicht zu sagen Panik—das alles vertrug sich nicht sehr gut mit dem Whiskey von Henrys Nachbarn.

"§#&%$^¥µ¤£√Æ¢Ӝᵹ!" fluchte er auf Drakonisch.

 1. trip = 2 vs. DC 14
 2. damage 1, aber DR 5 (fire)
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Jurij Klee am 23.09.2014, 21:45:08
Der Polizist neben Henry musste sich erst wieder fangen. Er war anscheinend gut, dass Henry nichts tat, denn erst als er dies merkte hechtete er den Dealern nach. Mit kaum hörbaren klack Geräuschen verlängerte sich das Schreibgerät zu einem schlanken Stecken mit einer kleinen metallenen Kugel an der Spitze. Nur mit Mühe erwischte er gerade noch die Hand des nach Balance suchenden Dealers, welchen Harry fast zu Fall gebracht hatte. Kleine Blitze zucken auf. Sie gingen von der Kugel des Steckens aus und fuhren direkt in die Hand des Flüchtenden. Dieser zuckte Schreiend zusammen und sank auf die Knie. Sein Kumpan blickte fluchend zurück, machte aber keine Anstalten ihm zu helfen sondern flüchtete weiter. Siegessicher holte der Polizist erneut aus um den Dealer mit einem erneuten Stromschlag den Rest zu geben, doch der Dealer beugte sich hinunter und trat mit voller Wucht gegen das Knie des Polizisten. Nun war es dieser, der überrascht vor Schmerz gepeinigt aufschrie. Der Tritt saß ziemlich gut und machte den Polizisten nahezu bewegungsunfähig.

Mit immer noch Schmerz verzerrten Gesicht blickte der Dealer auf. Er wollte seine Flucht wieder aufnehmen, doch stellte er sichtlich verärgert Fest, dass sein Kumpan direkt in die Hände einer zweiten Streife gelaufen war. Auch er währte sich redlich, schaffte es sogar ein Messer zu ziehen und durch einige Schwünge mit selbigen von seinem Gegner zu befreien. Sichtlich panisch, versuchte er in die Masse an Menschen, welche den Straßenplatz noch bevölkerten aber sich gerade weiträumig verstreuten, zu verschwinden. Dabei wurde er verfolgt vom zweiten Polizisten.
Der Dealer bei Henry, Harry und den anderen, schnaufte verächtlich während er die Flucht seines Kumpanen beobachtete. Hinter ihm hatte sich die Polizistin dank Jurij wieder gefangen. Sie hielt den jungen Mann jedoch sichtlich verärgert fest. Dieser hatte beschwichtigend die noch freie Hand gehoben. Am Ende glaubte sie seinen Worten wohl, keinen Streit zu suchen und ließ ihn los. Auch hatte sie noch ein Hühnchen mit den Dealer zu rupfen. Welcher in der Zwischenzeit von ihrem Kollegen, welcher den Schock überwunden und den Stecken wiedergefunden hatte, einen erneuten Stromschlag einstecken musste. Als sie ihren Stecken zog und zuschlagen wollte, ertönten von Hinten grölende Laute. Die Polizisten, der Dealer und Jurij blickten zurück.

Fünf vermummte Jugendlich in dreckigen, heruntergekommenen Kleidern stürmte auf sie zu. Immer wieder schrien sie „Fuck the police!“ und „Destroyed the system!“. Jurij, wie auch die Polizisten wurden sichtlich bleich, während der Dealer breit grinste und sich einer seiner eigenen Tabletten einführte. Jetzt, unter normalen Umständen, wäre wohl die beste Zeit für eine Flucht gewesen, doch die Polizistin konnte ihren verwundeten Kollegen nicht hier lassen. In befehlsgewohnten Ton, schien sie Jurij etwas zuzubrüllen. Nach ihrer Gestik wies sie ihm wohl gerade an abzuhauen. Dieser schüttelte jedoch energisch den Kopf. Gerade als sie protestieren wollte, wurde sie rücklings vom Dealer angegriffen. Er schlug ihr mit der Faust in die Rippen. Als Antwort bekam er einen erneuten Schlag mit dem Stecken, doch er zuckte nur zusammen. Die Droge, welche er genommen hatte, hatte ihm seine Schmerzen genommen. Für die Angriffe ihres Verletzten Kollegen, war der Dealer außer Reichweite.
Jurij blickte derweilen mit ernster Miene in Richtung der Jugendlichen. Aus den fünf waren langsam acht geworden. Sie schienen sich aus den zuvor feiernden Menschen heraus entwickelt zu haben. Einzig ihre deutlich abgetragene Kleidung und die mit Tüchern vermummten Gesichte unterschieden sie von Jurij und den feiernden Menschen. Vielleicht gehörten sie einer Unterschicht an, waren Drogenabhängige oder einfach rebellierende Kinder. Nichts desto trotz griffen sie gerade an.
Den ersten Jugendlichen, welcher Harry attackieren wollte, erledigte Jurij mit einem einzigen wuchtigen Tritt in die Genitalien. Für einen Moment waren die anderen dadurch eingeschüchtert. Doch als einer meinte „They are only three bastards.“ nahmen sie alle ihren Angriff wieder auf.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 24.09.2014, 13:53:16
"Ignorant children! Did nobody teach you not to meddle with adult's business? I think, you need a slap or two in order to adjust your reasoning again. Carry on and I promise, I'll teach you a lesson!", rief Henry erbost über das jugendliche Aufbegehren. Er hob sein Schild und trat vor den zu Boden gegangenen Polizisten. Sein Gesicht verriet, dass er nicht zurückweichen würde[1].
 1. Ready Action: Wenn einer der Jugendlichen in Henrys Reichweite einen Angriff durchführt, dann schlägt Henry mit seinem Schild zu.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 24.09.2014, 14:45:44
Auch in Harrys Adern kochte das Blut. Zu acht wollten diese Kerle hier—feige vermummt—sich auf eine einzelne Polizistin stürzen? Auf eine Frau? Mit ihren Parolen hätte er ja vielleicht sympathisieren können—da sah er sich selbst, vor zehn, zwölf Jahren!—aber nicht mit ihrer Feigheit. Er rappelte sich hoch, trat neben Henry und griff mit beiden Händen in die magischen Ströme um ihn, ohne wirklich an einen Zauber zu denken. Er fasste nur hinein wie ein Android in eine Steckdose und ließ sich aufladen, bis die Luft um ihn herum knisterte. Seine Stimme war ein tiefes Grollen. Vielleicht zeigte sich auch das Feuer seiner drachischen Vorfahren in seinen Augen. (Sein Stab lag vergessen auf dem Boden.)

"I'm...having...a...really...bad...day...here", presste er Wort für Wort hervor. "You don't want to be the ones who make it worse. Trust me. You really, really don't."[1]

Nach einem Blick in die Runde der Vermummten sah er demjenigen, den er für den Anführer hielt, fest in die Augen. Wenn dieser rechtzeitig wegschauen würde—gut für ihn. Wenn er meinte, mit einem Zauberer ein Wettstarren veranstalten zu wollen, nun, dann würde er einen sehr, sehr verärgerten Zauberer erblicken[2], welcher schon viel zu lange nichts mehr angezündet hatte und in diesem Augenblick mit jeder Faser seines Seins darauf brannte, den aufgestauten Frust der letzten beiden Monate als Inferno auf sein Gegenüber loszulassen.
 1. Intimidate = 27 (natürliche 20!), hatte aber die -2 wegen drunk vergessen.
 2. @ Jurij - per Seelenblick, gelt? (s. hier (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8216.msg938377#msg938377)) Ohne auf Details einzugehen: Harry ist stinkig genug, dass man sagen kann: he's ready to murder someone.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Jurij Klee am 25.09.2014, 21:43:29
Die Kraft welche Harry rief, fühlte sich in dieser Welt träge und müde an. Doch ihm viel es nicht schwer sie zu wecken, denn auch hier galt das Magie überall existiert. Als er sie weckte strömte die Kraft nur so auf ihn ein. Was für ein Pech für den Anführer der Bande. Denn er stellte sich wirklich dem geistigen Zweikampf.
So blickte Harry in die Seele eines jungen Mannes und sah ein verzweifeltes Kind das seine Mutter um Nahrung anflehte. Dann Bilder einer halb zerstörten Küstenstadt. Schemenhaft mochte er so etwas wie die Freiheitsstatur erkennen. Er fühlte die Angst des Kindes, die Kälte der Nächte und der anderen Menschen ihm gegenüber. Im Gegenzug bekam der junge Mann einen Einblick in Harrys Selbst. Ihm stockte förmlich der Atem. Denn er war überwältigt von der Erfahrung. Sein Verstand konnte das was er erlebte nicht fassen, vor allem aber auch das wie es geschah.
Langsam löste sich das magische Band auf. Der junge Mann stolperte zurück und viel zu Boden. Zitternd hob er seine Hand in die Richtung von Harry. Die ersten Worte welche er formte waren so schwach, dass nicht einmal seine Freunde, welche stehen geblieben waren, sie verstanden.

In der Zwischenzeit ging der Kampf weiter. Die Polizistin erwehrte sich mit dem Stecken gegen den Dealer. Dieser musste einige Schläge und Endladungen einstecken aber stand immer noch auf den Beinen. Jurij hatte derweil mit einem neuen Gegner zu kämpfen. Der Bursche schien deutlich Stärker zu sein, hatte Jurij sogar umklammern können. Mit einigen Kopfstößen gegen den Kopf des Burschen versuchte sich Jurij zu befreien. Am Ende gelang es ihm auch, jedoch nicht ohne eine Platzwunde einstecken zu müssen. Als Dank hierfür griff Jurij weiter den Kopf des Burschen an. Vom Kniestern um Harry hatten beide nicht wirklich etwas mitbekommen. Nur der Polizist am Boden blickte verstört zu Harry auf.

„Monster, Monster, MONSTER“ schallte es dann vom Anführer der Bande herrüber. Er hatte seine Stimme wieder gefunden und blickte Harry an als hätte er ein Ungeheuer vor sich. Der Mann reagiert so wie wohl jeder Andere auch, welcher Teil einer übernatürlichen Erfahrung wurde. Da er sie nicht verstand, hatte er Angst und verteufelte den Auslöser. Einer der Bandenmitglieder versuchte seinen Anführer zur Vernunft zu bringen. Der Anführer ließ er sich nicht abbringen. Angsterfüllt sprang er auf und suchte sein Glück in der Flucht. Ein paar der restlichen Bandenmitglieder blickten ihm verstört nach. Lauthals fluchend, folgten sie ihrem Anführer.

Bis auf den Dealer und den einen Burschen gab es nun keine Angreifer mehr. Von der anderen Seite, dort wo Wohnhäuser mit Geschäften standen. Kam eine größere Gruppe von an die sechs Polizisten angelaufen. Mehr als die Hälfte der Gruppe waren Frauen. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würden sie das kleine Kampffeld erreichen und ihrer Kollegen zu Hilfe kommen. Noch war Zeit für Henry und Harry abzuhauen. Jurij hingegen war ja immer noch in einen Kampf verwickelt.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 25.09.2014, 22:11:57
Doch auch Harry hatte der Blick in die Seele des Anführers getroffen wie noch nie ein Seelenblick zuvor. Das war New York gewesen. New York in Trümmern. Was war nur passiert? Ein Atomkrieg? Aber... aber... das... werden sie ja wohl nicht... oder doch? 57 wäre Harry heute, ohne den Sphärensprung—ein jugendliches Alter für einen Zauberer, noch jugendlicher für einen Zauberer mit Drachenblut. Und seine Heimat lag in Schutt und Asche?

Trotz seiner Starre wurde ihm bewusst, dass er und Henry jetzt eigentlich das Weite suchen sollten. Er versuchte noch zu entscheiden, ob es moralisch vertretbar wäre, Jurij in dieser Lage alleinzulassen, da traf sein Blick auf den des Polizisten, welcher noch immer auf dem Boden saß, und Harry erstarrte erneut. Die pupillenlosen Augen des Polizisten hatten die Farbe von geschmolzenem Gold.[1] Und Harrys Augen, aus Sicht des Polizisten, hatten die Farbe von Bernstein und tief in ihrem Inneren tanzten winzige Flammen.

Ungefähr gleichzeitig entblößten Harry und der Polizist die Zähne und stießen ein zischendes Fauchen aus, das—auch wenn tiefer und kehliger—sehr an zwei Kater erinnerte, von denen einer sich auf dem Territorium des anderen befand. Fast konnte man die Buckel und das gesträubte Fell sehen. Jedenfalls rührte Harry sich nicht vom Fleck.
 1. Nur für einen anderen Drachen; und nur auf dieser Welt.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Jurij Klee am 29.09.2014, 11:43:58
Aus den Augenwinkeln registrierte Jurij, wie sich Harry und der Polizist anfauchten. Auch sein Gegner tat dies. Ließ dabei aber anders als Jurij seine Verteidigung sinken. Ein Fehler, denn so konnte Jurij endlich einen kräftigen Kinnhacken ins Ziel bringen. Dieser Schlag gab dem Burschen den Rest. Rücklings fiel er zu Boden. Angespannt stand Jurij noch einen Moment in der Haltung des letzten Schlages da. Sein Atem ging schwer und am ganzen Körper zitterte er vor Anspannung. Hinter ihm erledigte nun auch die Polizistin ihren Gegner. Egal was der Dealer für eine Droge geschluckt hatte. Irgendwann musste er sich seiner Körper beugen. Dies passierte, als die Polizisten mit dem als Totschläger verwendeten Stecken eine Kniescheibe zertrümmerte. Der Dealer verdrehte die Augen und sang bewusstlos zu Boden. Ähnlich wie Jurij musste sich die Polizistin sammeln. Sie hatte sich jedoch früher erholt.

Kurz blickte sie ernst zu ihrem Kollegen, drehte sich aber weiter um die eigene Achse zu Jurij. Dieser hielt sich gerade Schmerzerfüllt mit beiden Händen den Kopf. Scheinbar waren einige der Kopfstöße doch zu stark gewesen. Rasch drehte Jurij den Kopf und den Körper, als er die Berührung bemerkte. Erst als er registrierte, wer es war, entspannte sich sein Körper wieder. Dabei kniff er ein Auge zusammen, was wohl den Kopfschmerzen geschuldet war. Die Polizistin sah den jungen Mann ernst an und wechselte mit ihm einige Worte. Nach Jurijs Haltung zu schließen, waren es keine sehr angenehmen Worte. Irgendwann senkte Jurij den Blick und nickte nur noch. Nachdem Jurij am Ende etwas sagte, blickte sie zu Henry und Harry.
In der Zwischenzeit waren ihre Kollegen angekommen. Zwei kümmerten sich um die Verletzten, während die anderen ziemlich finster zu Henry, Harry und Jurij blickten. Nach einigen Worten, hatte die Frau klar gestellt, dass sie weiter machen würde. Während sie sich in Englisch an Henry und Harry wendete, schaute sich ein Polizist die Kopfwunde von Jurij an. Aus seiner Gürteltasche holte er eine Verband. Er wies Jurij an, diesen auf die Platzwunde zu drücken und sich zu setzen. Der junge Mann folgte seinen Befehlen und setzte sich neben die Jungen, welche er ausgeschaltet hatte.

Die Polizistin stellte sich als Frau Kommissarin Fischer vor. In ihren Ausführungen wurde klar, dass sie allesamt jetzt auf die Wache gehen würden. In erster Linie als Zeugen wegen dem Angriff des Dealers und der Bande aber auch, wegen Henrys Schwert. Scheinbar war das ungesicherte Tragen von Waffen in diesem Land verboten. Da Henry sich aber so vorbildlich zurück gehalten hatte, sah sie davon ab ihm sofort die Waffe abzunehmen. Anbei stellte sie auch fest, dass Jurij in Schwierigkeiten war. Er hatte sich wohl in eine Angelegenheit der Polizei eingemischt. Sie offerierte den beiden aber auch offen, dass Jurijs Hals aus der Schlinge gezogen werden konnte, wenn die beiden bezeugten, dass er nur aus dem Grund der Selbstverteidigung gehandelt hatte.

Kurze Zeit später saßen alle drei in dem hinteren Teil eines fahrenden Polizeitransporters. Henry und Harry nebeneinander und Jurij ihnen gegenüber. Dem Jungen wurde ein Verband von einem Sanitäter um den Kopf gewickelt aber ihm ging es offensichtlich nicht gerade gut. Seine Haut war viel heller als zuvor und er rieb sich immer wieder die rechte Schläfe. Seit dem sie wieder unter sich waren, hatte er kein Wort mit den beiden anderen gewechselt. Er wich sogar ihren Blicken aus. Obwohl jetzt wohl der passenste Moment war, noch einmal kurz zu sprechen, bevor sie von der Polizei verhört wurden.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 29.09.2014, 19:50:49
Nachdem Sanitäter den verletzten Polizisten abtransportiert hatten, beruhigte Harry sich wieder, doch als man sie dann zu dem Polizeiauto geleitete, musterte er dies äußerst skeptisch, um nicht zu sagen: mit einem Ausdruck tiefsten Misstrauens, und blieb etliche Schritt davon entfernt stehen.

"Is it far? Can't I walk? I really don't think I should get into that thing", sagte er zu Henrys Erstaunen. Wenn einer Angst davor haben sollte, in so eine pferdelose Kutsche einzusteigen, dann ja wohl ich! dachte dieser.

Der vorderste Polizist winkte die beiden genervt heran, der hintere ließ seine Hand schwer auf Harrys Schulter fallen.

"Fine, then, but on your head be it!" sagte Harry und näherte sich dem Auto wie einem wilden Tier, das ihn jeden Augenblick anfallen könnte.

Während der Fahrt saß er still und angespannt da, die Augen geschlossen, die Hände mit den Handflächen nach oben auf den Oberschenkeln ruhend, und brummte leise vor sich hin: "Ommm. Ommm. Ommm."

Dass es Jurij gar nicht gut ging, schien Harry vor lauter "Ommm" nicht mitzubekommen.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Henry am 01.10.2014, 13:20:24
"Alles soll seine Ordnung haben...", murmelte Henry ergeben und folgte den beiden Polizisten. Wie Henry auch, zögerte er, als sie aufgefordert wurden, in das "Auto" zu steigen. Diese Dinger waren ihm nicht ganz geheuer. Aber er versuchte es mit Vernunft. "Wenn sie von allen verwendet werden, dann müssen sie gefahrlos sein.", überlegte er sich. Somit ließ er sich doch in dieses Gefährt bitten. Seine steife Körperhaltung jedoch sprach Bände darüber, wie unwohl er sich fühlte. Auf der Wache angekommen, gab er bereitwillig, aber knapp Auskunft über die Geschehenisse am Festplatz. Auf die Waffe angesprochen würde er nur meinen, der Säbel sei ihm ein 'liebes Stück' und er hätte 'nichts Böses im Sinn'.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 01.10.2014, 14:37:14
Henry saß schweigend neben ihm, Jurij—ebenso schweigend und dabei immer blasser werdend—ihm gegenüber, und auf jeder Seite ein Polizist. Für einige Minuten ging alles gut und Harry dachte schon: Vielleicht kommen wir ja doch heil an!

Dann stieß ihn der Polizist neben ihm an. "Hör doch endlich mit dem nervigen Brummen auf!"

Harry zuckte zusammen. Der Polizist auch. Der Schlagstock in seinem Holster hatte ein paarmal zischend um sich geblitzt und rauchte nun. Auch aus der Brusttasche des Polizisten quoll Rauch. Auf Deutsch "Ey, was soll denn der Scheiß?" rufend, griff er hinein und zog ein Mobiltelefon heraus, das, kaum an der Luft, sofort Feuer fing. Er warf es zu Boden. Alle außer Harry starrten das brennende Teil an und wussten für eine Schrecksekunde nicht, was tun. Dann griff sich der zweite Polizist mit einem Schmerzensschrei an das linke Auge, welches plötzlich wild in alle Richtungen zuckte und dabei zappende Geräusche von sich gab, bis es mit einem elektrischen Knall stehenblieb, nach oben schielend. Der Polizist öffnete den Mund, um etwas zu sagen, da schnellte sein rechter Arm plötzlich nach vorn und sein Unterarm begann, sich im Sekundentakt anzuwinkeln und wieder zu strecken, als würde ein Roboter jemanden heranwinken. Mit dem linken Arm versuchte der Mann, den anderen Arm festzuhalten, doch schien im rechten weit mehr Kraft zu stecken. Dann begann auch sein Schlagstock unkontrolliert zu blitzen, sodass der arme Kerl auch noch zu Boden ging.

Ungefähr gleichzeitig tönte ein dumpfer Fluch aus dem Fahrerraum und man sah hektische Bewegungen durch das vergitterte Sichtfenster. Das Gefährt beschleunigte mit quietschenden Reifen und steuerte dabei leicht nach links, es tat einen gewaltigen Rumps, gefolgt von einem Gekratze und Geraschel, als das Auto den mit Büschen bepflanzten Mittelstreifen überfuhr, worauf erst vor ihnen dann ringsum das Gehupe losging, während ein rotes Signallicht über ihnen aufblinkte und eine elektronische Stimme—auf Deutsch, aber trotzdem für alle verständlich—unermüdlich wiederholte: Kollisionsalarm. Kollisionsalarm. Kollisionsalarm", bis sie immer langsamer und dumpfer wurde und schließlich quäkend verreckte.

Was den Polizisten in diesem Tohuwabohu entging, aber sowohl Henry als auch Jurij auffiel: dass bei jedem einzelnen dieser Technikausfälle Harry stets eine halbe Sekunde vor den anderen Insassen zusammenzuckte.

"Manuelle Steuerung! Manuelle Steuerung!" brüllte der Fahrer derweil und hieb verzweifelt auf irgendwelche Armaturen ein. Dann tat es einen gewaltigen Schlag, alle wurden nach vorne geschleudert, und das Gefährt stand.

Das einzige, was noch funktionierte, war die Hupe.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Jurij Klee am 01.10.2014, 16:18:40
Sie hallte in einem unaufhörlichen Ton hinaus. Vielleicht war die Funktion der Hupe eingefroren oder etwas lag auf der Taste. Egal, sie hörte nicht auf.

So ging das leise Stöhnen der Insassen im hinteren Teil fast unter. Zum Glück saßen alle seitlich zur Fahrtrichtung. Sonst lägen sie alle nun auf einen Haufen. So jedoch sah es nur auf einer Seite ziemlich ungemütlich aus. Harry war zwischen Henry und dem Polizisten neben ihm eingeklemmt. Auf der anderen Seite hatte Jurij unsanft Bekanntschaft mit der Trennwand machen müssen. Der Polizist der neben ihm gesessen hatte, lag bewusstlos am Boden zu seinen Füßen. Zum Glück hatte der bionische Arm des Mannes aufgehört zu zucken.

Jurij schlug die Augen auf. Außer dem Polizisten am Boden schienen die anderen drei wie er bei Bewusstsein zu sein und ziemlich unverletzt. Gerade als er fragen wollte, was passiert sei, weitete er seine Augen und biss die Zähne zusammen. Mit der rechten Hand versuchte er die aufflammenden Schmerzen zu kanalisieren. Er krallte sich in das nächst beste was er fand, seine eigene Tasche. Mit Schmerz verzerrtem Gesicht, blickte er zu Harry. Was hatte er nur getan? Sein Körper fühlte sich an, als würde er zerrissen und gleichzeitig von tausend Nadeln malträtiert werden. Er konnte nicht einmal Schreien, so sehr verkrampfte er gerade. Langsam beugte sich der Junge vor Schmerzen nach vorne, rutschte dabei vom Sitz und landete neben dem Polizisten am Boden. Kaum war er auf dem Boden begann die Luft um seinen Körper an zu flimmern, so wie eine Straße bei großer Hitze. Der sitzende Polizist, sprang auf und wollte Jurij zur Hilfe kommen. Doch seine Finger glitten durch den Jungen durch. „Was zur Hölle?!“ rief er in Deutsch aus, während Jurijs Körper immer mehr schwand, bis nichts mehr von ihm übrig blieb.

Das durchgehende Geräusch der Hupe endete und die Wagentüren wurden aufgemacht. „Kommt raus ... Go out.“ ertönte eine Männerstimme. Es war ein Polizist der seine Hand hinein streckte. Sie hatten den Unfallort ziemlich schnell erreicht. Die Frau neben ihm, sah jedoch nicht sehr hilfsbereit aus. Sie hatte die Arme verschreckt und blickte eher Tadelnd in den Wagen.

Ihre Augen hatte dasselbe Gold wie der Polizist von vorhin.
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 01.10.2014, 16:43:55
"Oh-oh, there he goes", murmelte Harry zu Henry, als Jurij sich auf dem Boden zusammenkrümmte. "So I was right, it was a pickup."

Und dann war der junge Mann auch schon verschwunden—nach einem letzten, panischen Blick in Richtung Harry—und ein Polizist befahl ihnen, auszusteigen. Und Harry fand sich zum zweiten Mal an einem Tag Auge in Auge mit einem goldenen Drachen, und sie sah gar nicht erfreut aus.

"It wasn't my fault", sagte Harry. "I did try to tell them I had better walk to the station, and when they wouldn't let me, I meditated and everything..."

Die Polizistin, die übrigens keine Uniform trug, sondern ein Outfit, das Harry an die MIB erinnerte, zückte ihren Ausweis, hielt ihn ihrem uniformierten Kollegen unter die Nase und sagte:

"Die beiden übernehmen jetzt wir. Kümmern Sie sich um ihren verletzten Kollegen. Vergessen Sie, dass Sie die beiden hier gesehen haben."
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 01.10.2014, 16:54:48
Zu Gast bei Familie Chang

Und zu Harry sagte die Polizistin: "Shut up!" Was dieser auch tat. Sie nickte zufrieden.

"Chang Jiang-Li", sagte sie. "Folgt mir."

Und so führte die Polizistin mit den goldenen Augen Henry und Harry ein ganzes Stück von der Unfallstelle entfernt zu einer kleinen schwarzen Limousine, bei deren Anblick Harry die (bernsteinfarbenen) Augen übergingen, ganz zu schweigen von der Kinnlade, die ihm auf die Brust fiel, und den Beinen, die nicht mehr weiter wollten, weil seine Knie plötzlich butterweich waren...[1]

Henry begriff die Welt nicht mehr: sie hatten sich in eine Schlägerei zwischen Polizei und jugendlichen Aufrührern verwickeln lassen, waren von der Polizei folgerichtig—was, verhaftet?—worden, hatten einen Unfall gehabt, an dem Harry irgendwie schuld war, ein weiterer Mensch war vor ihren Augen verschwunden, sie selbst könnten auch jeden Augenblick in sonst eine fremde Dimension entrissen werden—und Harry starrte dieses seltsame Kutschengefährt an, als tanzten zehn nackte Weiber vor ihm.

(Woher dieser Vergleich kam, noch dazu in einem derart gehässigem Unterton, konnte Henry sich nicht erklären. Er verdrängte ihn schnell.)

Harry hatte derweil zwei Schritte auf das Auto zugetan. Und noch zwei. Und abermals. Dann war er heran.

"May I?" fragte er schüchtern, eine Hand in Richtung des vorderen Kotflügels erhoben. "I'll be gentle..."

Chang Jiang-Li zuckte mit den Achseln und schaute sich nach ihrem Partner um, der beim Unfallwagen zurückgeblieben war, um sich von den Streifenpolizisten noch kurz den Hergang schildern zu lassen.

Harry strich erst mit der einen Hand sanft über den Kotflügel, dann mit beiden, wobei er leise Laute der Wollust ausstieß. Viel zu schnell war Changs Kollege da und Harry wurde angeherrscht, doch endlich einzusteigen. Fast noch schwieriger allerdings, war Henry dazu zu überreden, noch einmal in ein solches Höllengefährt einzusteigen, bis Harry ihm schließlich versicherte: "Du brauchst dir echt keine Sorgen zu machen. Das ist ein vintage car. Völlig ohne Elektronik! Baujahr, was, '55? '52?"

"'51", sagte die Jiang-Li, gab Henry noch einen leichten Schubs und schlug die Tür hinter ihnen zu.

Die Ankunft

Das Anwesen der Familie Chang lag am äußersten Rand des Regierungsviertels. Es war von einem 5m hohen Zaun mit Stacheldrahtzinne und einem 100m breiten Rasenstreifen umgeben, auf welchem Wach- und Dobermänner patrouillierten. Ansonsten war es aber ein gewöhnliches, neunstöckiges Wohnhochhaus, das von außen sogar eher den Flair "gehobener Sozialbau" ausstrahlte. Von Innen wiederum sah die Sache völlig anders aus.

Die Eingangshalle, die Henry und Harry im Gefolge von Chang Jiang-Li betraten, war holzgetäfelt, ebenso der breite Flur, der geradewegs in die Mitte des Gebäudes führte, wo sich eine enorme Wendeltreppe in die Höhe wand. Als sie diese erreichten, stand beiden bereits der Mund vor Staunen offen. Die chinesischen Schriftzeichen, die als Intarsien im Treppenhaus wie in der Eingangshalle rundum und im Flur auf ganzer Länge und zu beiden Seiten in den Wanden eingelassen waren: konnte das alles echtes Gold sein? Die Drachenstatuen etwa auch, die jeden Torbogen flankierten? Und deren Augen: waren das echte Smaragde?

Jiang-Li führte die beiden die Wendeltreppe hoch und erklärte dabei, dass sich auf jedem Stock außer dem vierten und den beiden obersten jeweils fünf Wohnungen—alle bis auf drei zurzeit belegt von diversen Familienmitgliedern—und ebensoviele Gästezimmer befänden. Das Gebäude besaß offenbar einen pentagonförmigen Grundriss. Harry spürte sofort, dass die magischen Ströme hier besonders harmonisch flossen, man konnte schon sagen: in wohlgeordneten Bahnen verliefen. Auf dem vierten Stock legte Jiang-Li eine Pause ein, ihren schnaufenden Gästen zuliebe. Also gut: dem schnaufenden Harry zuliebe.

"Hier befindet sich die Bibliothek", erklärte Jiang-Li, "sowie Klassenräume und ein kleines Kino mit abgeschirmtem Projektor, das täglich drei Vorstellungen zeigt. Wünsche bitte dort auf der Liste eintragen."

Was immer ein 'Kino' und ein 'abgeschirmter Projektor' sind, dachte Henry, aber Harrys nächster Kommentar klärte dies auf.

"Da kannst du zum Beispiel Deine Lieblingsstücke von Shakespeare eintragen."

Aha. Kino ist wohl die heutige Variante von Theater. Ich erinnere mich, dass Harry so etwas mal erwähnt hatte—vor drei Jahren.

"Vielleicht ebenfalls für Euch von Interesse", fuhr Jiang-Li fort, und zwar mit Blick auf Harry, der noch immer nicht ganz bei Atem war, "wären die Gemeinschaftsräume im Keller. Dort finden sich ein Fitnessraum, Schwimmbad, sowie verschiedene Sport- und Kampfsportarenen, von Tischtennis über Volleyball bis hin zur Kegelbahn." Bei letzterem rümpfte sie ein wenig die Nase. "Im Prinzip habt Ihr überall Zugang. Nur die beiden obersten Stockwerke sind für Euch Tabu, und zwar bei Todesstrafe." Das sagte sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

Dann ging's weiter in den siebten Stock hinauf, wo Henry und Harry dankbar die beiden Zimmer, die Jiang-Li ihnen gleich bei der Treppe zuwies, in Beschlag nahmen. (Sie wagten es kaum, die Treppe hinaufzuschielen, die in das achte und somit schon verbotene Stockwerk führte.) Ihre Zimmer waren relativ groß, etwa fünf auf fünf Schritt. Ebenso dankbar nahmen sie auch Jiang-Lis Einladung an, ihnen das zentrale Badezimmer des Stockwerks zu zeigen, "falls Ihr Euch erst einmal frisch machen wollt."

In dem riesigen, türkis-gold-grün gekachelten Badezimmer waren rundum verschiedenste Düsen und Duschköpfe an der Wand angebracht, die Armaturen allesamt aus Gold, während in der Mitte verschieden große Becken wahlweise zum Schaumbad oder zum Schlammbad einluden. Jiang-Li versorgte die beiden noch mit Seife, Handtüchern und Bademänteln und empfahl ihnen, Rüstung und Kleidung einfach liegen zu lassen, es kümmere sich jemand um deren Reinigung. Dann zog sie sich zurück, ein späteres Gespräch in ihrem "Salon" in Aussicht stellend.

Henry und Harry sahen sich einen Augenblick lang sprachlos an, dann grinsten sie.

"Pass nur auf, es könnte alles ein wenig zu heiß für dich eingestellt sein", warnte Harry den Freund und zeigte ihm, wie er die Temperatur herunterregeln konnte.

Tatsächlich war Henry schon aufgefallen, dass es in diesem Gebäude allgemein eher unangenehm warm war, bestimmt ebenso warm wie draußen in der Sommerhitze, was man von einem großen Steingebäude wie diesem ja nicht erwarten würde. Harrys Tip erwies sich dann auch als goldrichtig; Henry musste den Hebel ordentlich in Richtung "Blau" verstellen, damit er die Wassertemperatur ertrug. Harry dagegen stellte sich einfach so unter den Strahl, obwohl das Wasser derart heiß war, dass es Harry trotz der hohen Zimmertemperatur in eine Nebelwolke hüllte.

Aber wenn Henry dachte, das alles wäre schon sehr merkwürdig, so sollte der eigentliche Schock erst noch kommen. Die beiden hatten soeben fertiggeduscht und waren dabei, sich abzutrocknen, da betrat eine Traube aus fünf jungen Mädchen den Raum, entledigten sich ihrer Bademäntel völlig ohne Scham—wohl aber mit neugierigen Blicken in Richtung der Gäste und auch einigem Kichern—und gingen dann ihren diversen Badevergnügen nach. Ob Harry dabei auch rot wurde, ließ sich nicht feststellen—durch das heiße Wasser war er am ganzen Körper krebsrot—jedenfalls warf er sich ebenso eilig in seinen Bademantel wie Henry und verließ das Zimmer nur einen Schritt hinter ihm.

Tee und Plätzchen

Jiang-Lis Salon strahlte, wie der Rest des Hauses, eine fernöstliche Atmosphäre aus: spärlich möbliert, niedrige Esstische mit Sitzkissen davor, mit Seidenstoffen bespannte Raumteiler, Zimmerbambus und Bonsaibäumchen, große Fenster, und überall standen Figürchen aus bemaltem Porzellan und Statuetten aus Gold oder Jade herum, die manchmal Menschen, manchmal Drachen, manchmal etwas dazwischen darstellten.

Das Gespräch mit der Gastgeberin verlief relativ angenehm—fand Henry. Außer ihr war nur noch ein weiterer Bruder, den sie als Guan-Yin vorstellte, und ihr Vater Chang Yan-Tao anwesend. Anders als die sehr authentisch chinesische Inneneinrichtung waren die drei Changs, sowohl in ihren Gesichtszügen als auch der Wahl ihrer Kleidung, von eher gemischtem Aussehen: halb europäisch, halb asiatisch. Guan-Yin war sogar blond, auch wenn er eine blau-gelbe Seidenrobe trug, deren Ärmel bis zum Boden reichten, und dazu, als einziges Zugeständnis an den westlichen Dresscode, eine weiße Krawatte (mit diamantbesetzter Krawattennadel).

Man plauderte zunächst über dies und das, bis Henry sich immer mehr entspannte und auch Harry, dessen erste Reaktion, als er sich plötzlich mit drei Changs in einem Zimmer konfrontiert sah, ein erneuter "Katzenbuckel" war, konnte dazu überredet werden, mit einer Pobacke auf dem vordersten Ende des Sessels gleich neben der Tür Platz zu nehmen.

Es gab Ingwerplätzchen zu Jasmintee. Harry nippte nur am Tee und biss einmal in ein Plätzchen. Henry langte zumindest bei dem Backwerk ordentlich zu und lobte es vielmals, was mit viel Lächeln aufgenommen wurde und den bescheidensten Beteuerungen, dies sei leider noch gar nichts im Vergleich zu den Plätzchen von Urgroßmutter Wei-wei.

Dann kam das Gespräch auf das Wie, Woher und Warum. Woher kamen sie? Was wollten Harry und Henry in Berlin? Wie lange würden sie bleiben? Wie waren sie hierhergekommen? Auf all diese Fragen antwortete Harry erstaunlich freimütig und direkt, worauf Henry, sich auf Harrys Instinkt verlassend, ebenso freimütig von seiner Zeit auf Sankturio erzählte. Die drei Changs waren exzellente Zuhörer, wussten aber leider auch keine neuen Erkenntnisse beizusteuern, was da wohl mit den beiden geschah.

"Da müsstet Ihr Euch an Sima Qian wenden", sagte Vater Chang Yan-Tao. "Wenn einer etwas darüber wissen könnte, dann er. Er spricht allerdings nicht mit jedem. Aber vielleicht habt Ihr Glück und er interessiert sich für Euch und Eure Geschichte. Ich werde ihn, wenn Ihr erlaubt, bei nächster Gelegenheit darauf ansprechen."

Zum Schluss bot er ihnen noch die Gastfreundschaft der gesamten Familie auf, so schien es, unbegrenzte Zeit an. "Ihr dürft so lange bei uns als verehrte Gäste wohnen, wie Eure Geschäfte Euch in Berlin halten. Fühlt Euch bei uns ganz wie zuhause."

Jiang-Li übersetzte, was ihr Vater wirklich damit meinte: "Entweder, Ihr logiert hier bei uns, wo wir ihn im Auge behalten können", mit einem Kopfnicken bedeutete sie Harry, "oder Ihr verschwindet aus unserer Stadt."

Henry, dem Harrys seltsames Gebaren seit der Szene am Fluss allmählich zu viel wurde, fragte leicht gereizt: "Würde endlich mal einer die Güte besitzen, mir zu erklären, was hier eigentlich los ist?"

"Wir mögen keine Roten", sagte Guan-Yin.

Harry entblößte nur die Zähne.

Ein Tag in der Vergangenheit

"Lass mich sehen, ob ich das richtig verstehe", eröffnete Henry am nächsten Morgen das Frühstücksgespräch in der Gästeküche. "Es geht hier um rivalisierende Zaubererclans. Die Changs nennen sich die 'goldenen Drachen' und deine Familie, die Marcones, nennen sich die 'roten Drachen' und aus irgendeinem Grund, der so weit zurückliegt, dass sich kein Lebender mehr daran erinnert, seid ihr Erzfeinde?"

"Hm, ja, so ungefähr", sagte Harry zwischen zwei Löffelvoll von etwas, das er "fruit loops" nannte, das aber keinerlei Früchte enthielt. "Wobei 'Erzfeinde' jetzt übertrieben wäre. Wir können uns einfach nicht riechen. Deshalb haben wir die Welt unter uns aufgeteilt, und so lange wir Roten in Amerika bleiben und die Goldenen in China, ist alles OK. Obwohl Europa zu meiner Zeit auch noch 'zu uns' gehörte. Ich wüsste wirklich zu gern, was da passiert ist."

Dass Harry damit mehr als nur die uralte, halb vergessene Fehde zwischen goldenen und roten "Drachen" meinte, sondern vielmehr an das dachte, was er in der Seele des jugendlichen Aufrührers am Fluss gesehen hatte, erkannte Henry (der im Bilde war) an Harrys entsetzt-besorgter Miene.

"Dann lass uns die Bibliothek hier im Haus ausprobieren und es herausfinden", sagte Henry entschlossen. "Ich habe ja auch noch an die 430 Jahre irische Geschichte aufzuholen."

"Und all die Shakespeare Werke, die dieser nach Deinem Sphärensprung geschrieben hat!" sagte Harry, dankbar dafür, dass der Freund das Offensichtliche vorschlug, was er selbst womöglich noch Tage hinausgezögert hätte—aus Angst vor der Wahrheit. Er beeilte sich mit seinen fruit loops.

Die Bibliothek im vierten Stock war gewaltig. Sie nahm fast das halbe Stockwerk ein, war dabei aber ein einziger Raum, von Marmorsäulen gestützt, mit deckenhohen Bücherregalen gefüllt. Dazwischen gab es immer wieder kleine Sitzgruppen mit Pulten, an denen aber zurzeit niemand saß. Ihre Schritte wurden von dicken Teppichen gedämpft, während ihre Blicke von den kristallenen Kronleuchtern angezogen wurden, die einer Staatsoper oder eines Königspalastes würdig gewesen wären und die ohne Strom (den gab es im ganzen Haus nicht) und ohne Kerzen strahlten. Natürlich standen auch wieder goldene Drachenstatuen herum, viele kleine und eine gewaltige in der Mitte des Raumes, letztere mit Rubinaugen und Diamantzähnen und diversen anderen Edelsteinen am Leib.

Und es gab bestimmte eine Millionen Bücher. Aber keinen Index und keinen Bibliothekar. Die Gänge und Regale waren nur numeriert (in chinesisch noch dazu), und trugen keinerlei Hinweise auf die Themen. Nachdem die beiden eine Weile ratlos umhergeirrt waren, wandte Harry sich einfach an den einzigen Anwesenden, der sich außer ihnen hier befand: die riesige Drachenstatue.

"Ehrwürdiger Meister", sagte er auf Drakonisch. "Wir suchen Werke zur irischen Geschichte der letzten vierhundert Jahre und zur amerikanischen der letzten 30 Jahre, und nicht zu vergessen: ein Gesamtwerk von Shakespeare."

Die Drachenaugen leuchteten auf, der Mund mit den Diamantzähnen bewegte sich und auch sonst sah die Statue auf einmal verstörend lebendig aus, als sie den beiden in einer tiefen, sonoren Stimme und auf Englisch, wenn auch mit chinesischem Akzent, die Gänge und Regalfächer benannte, in denen sie fündig würden.

"I thank you most humbly, revered master", sagte Harry.

"Your Resplendence", korrigierte der Drache.

"I beg your forgiveness, your Resplendence", sagte Harry.

Worauf Henry ihn ein wenig verzweifelt ansah. Dass er in einem Haus mit Zauberern wohnte, das war ihm klar und damit kam er klar, wenn er möglichst wenig daran dachte. Aber Drachen?

"Sag, ihr seid nicht wirklich Drachen, oder?" fragte er. "Ihr nennt euch nur so?"

"Genau, wir nennen uns nur so", bestätigte Harry. "Alles andere wäre zu lang oder zu kitschig."

Und so stöberten sie den Rest des Tages in der Geschichte ihrer jeweiligen Heimatländer. Nach kürzester Zeit war Henry sprachlos vor Entsetzen. So viel Krieg und Gewalt, und Armut und Hungersnot noch dazu! Und Bomben gegen Zivilisten! In der komprimierten Zusammenfassung musste dies alles natürlich noch drastischer, noch erschreckender wirken, das war ihm klar, aber dennoch... Die Probleme, mit denen man sich in Irland schon zu seiner Zeit herumgeschlagen hatte, die waren offenbar in 415 Jahren nicht gelöst und vor ungefähr zehn Jahren dann auch bloß quasi unter den Teppich gekehrt worden. Neben sich hörte er Harry verzweifelt murmeln: "Civil war, seriously? You'd think they'd figured out the first time around what a bad idea that was!"

Abends waren sie blass und erschöpft und zu kaum einem klaren Gedanken fähig. Beide schworen sich jedoch, egal wie lange sie hier in Berlin bleiben würden, nicht weiter in der Vergangenheit zu stöbern.

Sima Qian[2]

Harry und Henry blieben also im Haus der Familie Chang und ließen es sich, so weit möglich, gut gehen. Die Zeit verging, erst Tage, bald schon Wochen. Die beiden mieden die geschichtliche Abteilung der Bibliothek und machten auch nur wenige Ausflüge in die Stadt außerhalb des hohen Zaunes. Henry hätte eigentlich ganz darauf verzichten können, aber Harry drängte darauf, dass er hin und wieder "hier raus" musste, um seinen "Adrenalinspiegel wieder etwas runterzukriegen."

Ausnahmsweise bedurfte Henry keinerlei Erklärung, was das sei. In der Stadt schien der Freund regelrecht aufzuatmen, ging aufrecht, mit beschwingtem Schritt, während er im Hause Chang die ganze Zeit mit eingezogenem Kopf durch die Gänge schlich. Bei dem kleinsten Geräusch und bei jeder aus dem Augenwinkel wahrgenommenen Bewegung zuckte er zusammen, und mehr als ein männlicher Chang sollte ihm besser nicht auf einmal begegnen. Bei Frauen dagegen schien die Schmerzgrenze deutlich höher: erst vier oder fünf machten ihn nervös.

Und so lernten die beiden nach und nach die gesamte (sehr weitläufige) Familie kennen: zunächst in Dreiergruppen, dann paarweise, später traten auch Einzelpersonen an sie heran und suchten das Gespräch oder den sportlichen Wettbewerb. Offenbar wurde Harry nach und nach als immer "harmloser" eingestuft, bis man schließlich sogar den Kindern erlaubte, mit den Gästen zu spielen. Und die Kinder, die schienen für Harry nun gar kein Problem zu sein. Da konnten zehn oder mehr auf einmal auf ihn einstürmen und er lachte nur und balgte sich mit den Jungs (erstaunlich ruppig, aber ihnen gefiel es!) und packte die Mädchen an den Fußknöcheln und wirbelte sie im Kreis herum, bis sie jauchzten.

Henry wurde auch eingespannt und lernte binnen kürzester Zeit die wichtigsten Kommandos auf Deutsch, Chinesisch und auch in dieser etwas fauchig klingenden Sprache, in der Harry und die Kinder sich zu unterhalten schienen: "Schneller, schneller! und "Nochmal! Nochmal! oder auch: "Höher!" Und wenn die Mütter riefen, dann konnte das folgende Gebrabbel eigentlich nur heißen: "Aber Mama, ich hab doch noch gar keinen Hunger, ich muss noch gar nicht zum Mittagessen kommen!"

Überhaupt wurde es Henry und Harry in den ersten Wochen nicht langweilig. Henry war erst einmal froh, sich von den auf Sankturio erlittenen Strapazen erholen zu können. Das Kino probierte er gern und häufig aus, obwohl die ganzen Shakespeare "Filme" für seinen Geschmack äußerst befremdlich inszeniert waren. Aber die Texte waren wenigstens original. Er litt auch, Harry zuliebe, durch alle drei Star Wars Filme (welche dieser: "the original trilogy" nannte) und durch zwei Spider-Man Filme. Und als er nach anderthalb Wochen eine Rastlosigkeit in seinen Gliedern verspürte, nahm Henry das Kampftraining im Keller des Hauses auf, wozu er unter den Changs zu nahezu jeder Tages- und Nachtzeit willige Partner fand. Und weil Harry von sich aus keinerlei Anstalten machte, sich körperlich zu betätigen, stellte Henry entschlossen auch für ihn ein Trainingsprogramm zusammen und unterwies ihn eigenhändig in den Grundlagen des Stockkampfes. "Wenn du schon so etwas mit dir herumträgst", wischte er Harrys Protest beiseite, "solltest du auch wissen, wie man es richtig benutzt."

In ihrer Tagesgestaltung waren die beiden also völlig frei, an den Abenden aber wurden sie im ganzen Haus herumgereicht, und zwar ordentlich der Reihe nach, vom 7. Stock Wohnung für Wohnung bis in den 1. Stock hinab, und nach 27 Abenden fing es wieder oben an. Es wurde reichlich aufgetischt: Speisen, die Henry noch nie gesehen hatte, von einer Vielfältigkeit, die er ebenfalls nicht kannte, und man durfte nicht mit den Fingern essen, sondern musste so komische Holzstäbchen benutzen. Die Kinder lachten, weil Henry und Harry sich damit so ungeschickt anstellten, und zeigten ihnen, wie es richtig ging. Nach dem Essen wurde geplaudert, meist bei Karten- oder Brettspielen, die so seltsame Namen trugen wie: Xiangqu, Mahjong, Weiqi oder aber Dou di zhu, Da Lao Er, Zheng Fen, Zheng Shangyou und Guan Dan.

Während der ersten 27 Tage hofften die beiden jeden Abend erneut, nun endlich diesem "Sima Qian" vorgestellt zu werden, doch dann waren sie einmal durch alle Wohnungen durch und hatten ihn noch nicht zu Gesicht bekommen.

Das mochte erklären, warum Harry allmählich unruhig wurde, denn anders als Henry erhoffte er sich tatsächlich noch Antworten auf das "Wie" und "Warum" ihrer Situation. Das konnte es aber nicht sein, was Henry in der Seele rastlos machte. Zunächst lenkte er bei ihren Stadtgängen ihre Schritte immer häufiger in eine der protestantischen Kirchen, wo er das stille Gebet oder auch gelegentlich das Gespräch mit einem Pastor suchte—obwohl weder deren Englisch noch deren Latein flüssig genug war, um ein wirklich tiefgehendes Gespräch über den Glauben zu führen; im Ernst: da konnte man mit Harry besser reden, sowohl über den Glauben als auch auf Latein. Das taten sie dann auch öfters: letzteres zum Spaß, ersteres, weil es Henry ein echtes Bedürfnis war. Dabei stellte sich heraus, dass Harry nur die gröbste Vorstellung davon besaß, wofür der christliche Glaube überhaupt stand, und dass er nicht einmal das Neue Testament "ganz durchbekommen" hat, während er beim Alten Testament gar schon "im ersten Drittel stecken geblieben" war.

"Das letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass Pharaoh einen Traum hatte von sieben hübschen, fetten Kühen, die aus dem Nil auftauchten und Gras fraßen. Dann tauchten sieben hässliche, magere Kühe auf und fraßen die hübschen, fetten. Dann wachte Pharaoh auf."

"Genesis 41", sagte Henry und verdrehte die Augen. "Das heißt bei dir: das erste Drittel?"

"Ich stecke noch im ersten Drittel, habe ich ja nur behauptet", verteidigte Harry sich ohne Anzeichen von Reue.

Also ordnete Henry eine allmorgendliche Bibellesung an. Die Begierigkeit, mit der Harry zustimmte und auch Henrys Erläuterungen lauschte und danach von sich aus das Gespräch suchte, versöhnte diesen wieder mit dem Unwissen und heidnischen Vorstellungen des Freundes—offenbar war bei ihm Hopfen und Malz noch nicht gänzlich verloren. Zudem linderten diese Gespräche auch die Rastlosigkeit, die Henry ergriffen hatte, obwohl es sie nicht heilte. Besonders abends, wenn er schon im Bett lag und auf den Schlaf wartete, spürte er, dass ihn etwas weiterzog, dass er es hier nicht mehr lange würde aushalten können...

Henry war dabei nicht der einzige, der sich um Harrys Seelenheil Gedanken machte. Auch verschiedene Mitglieder der Familie Chang verwickelten letzteren immer wieder in Gespräche über den richtigen Einsatz von Magie zum Wohle der Gesellschaft und zum Schutz von Recht und Ordnung. (Eigentlich waren es mehr Predigten denn Gespräche.) Wenn sich diese zu lange hinzogen, konnte Harry ungehalten, bissig oder gar richtig laut werden. "Ich brauch echt von euch keine Nachhilfe in Sachen Moral. Dankeschön, aber soviel krieg ich ganz allein hin, egal wie rot mein Blut ist!"

Die Changs ließen sich keinesfalls beirren, und als sie Harry fragten, wie es denn mit "Nachhilfe in Sachen Magie" stünde, lehnte er nicht ab.

~~~

Und so blieb Henry am nächsten Vormittag nach der Bibellesung, und so ganz ohne abschließendes Gespräch, allein in der Bibliothek zurück und wusste nicht so recht, was mit sich anfangen. Er las noch ein wenig weiter, aber fand keine Ruhe. Da kam ihm die Idee, dass er sich doch einmal über Zauberer, "Drachen" und diese ganzen magischen Belange ein wenig schlau machen könnte. Ja, eigentlich schuldete er es Harry inzwischen sogar, allein schon um zu verstehen, weshalb dieser glaubte, sein Familienerbe allein nähme ihn vom christlichen Heilsversprechen aus. Henry trat also an die riesige Drachenstatue in der Mitte der Bibliothek heran und fragte, unter der Verwendung der Anrede: "Your Resplendence", wo er Abhandlungen für den Anfänger fände, die über gute und schlechte Magie aufklärten, sowie über die beiden Drachenfamilien und deren Fehde.[3]

Henry wartete eine ganze Weile auf Antwort, doch die Statue regte sich nicht und sagte auch nichts, obwohl er das Gefühl hatte, auch wenn die Rubinaugen nicht aufleuchteten, dass sie ihn ansahen.

"Was ist?" fragte er herausfordernd. "Habt Ihr etwas zu verbergen? Oder warum darf ein Nichtzauberer wie ich Eure geheimen Bücher nicht lesen?"

Die Drachenstatue blieb stumm.

Enttäuscht wandte Henry sich zum Ausgang. Er hatte die Türklinke schon in der Hand, da hielt ihn eine aufgeregte Greisenstimme auf.

"Verzeiht, ich kam nicht umhin", krächzte der Alte atemlos; offenbar war er Henry ein ganzes Stück nachgeeilt, "mitanzuhören, dass Ihr Fragen über Magie und über uns Drachen habt. Nun, die wenigsten Bücher in unserer Bibliothek zu dem Thema sind auf Englisch—bei Latein könnten wir etwas mehr Glück haben, aber das wären dann doch sehr veraltete, teils auch sehr fehlgeleitete Werke. Südeuropa und Teile von Nordafrika standen bis vor wenigen Jahren unter dem Einfluss der Roten, und niemand kann die Wahrheit so herrlich verdrehen wie diese Burschen! Die einzig verlässlichen Werke sind entweder auf Chinesisch oder Drakonisch, deshalb konnten wir Euch nicht weiterhelfen. Aber ich antworte gern direkt auf Eure Fragen."

Der alte Mann schien von allen Bewohnern dieses Hauses, soweit Henry das beurteilen konnte, der einzige echte Chinese zu sein. Klein und drahtig, in bodenlangen, mit Schriftzeichen bestickten Seidenroben und runder Kappe auf dem Kopf, mit dünnen weißem Schnurrbart und weißem Zopf, mit Schlitzaugen, Lächeln, und höflich-bescheidener Körperhaltung.

"Wollen wir uns setzen?" fragte der alte Chinese und zeigte einladend auf die nächstgelegene Pultgruppe.

Als sich der alte Mann drei Stunden später erhob und mit Bedauern verabschiedete, hätte Henry nicht sagen können, über was sie alles gesprochen hatten. Das heißt, er selbst hatte zunäch nur sprachlos zugehört. Was der alte Mann alles zu erzählen hatte! Aus China hatte er berichtet, nicht dem modernen, sondern dem alten China, noch vor christlicher Zeitrechnung. Er hatte so lebendig davon erzählt, dass Henry sich fast dorthin versetzt gefühlt hatte, obwohl er doch so gar nichts darüber wusste. Dann hatten sie über Recht und Ordnung, Gerechtigkeit und Strafe, über Sünde und Versuchung, Reue und Vergebung, über Tugend und Ehre, und, und, und... gesprochen. Und obwohl Henry sich in diesem Gespräch tapfer schlug, fiel ihm manchmal die Kinnlade herunter oder seine Augen weiteten sich vor Entzücken. In seinem ganzen Leben war ihm noch kein so gelehrter und dabei so weiser Mann begegnet. Für jede halbe Stunde ihres Gespräches würde Henry nun eine ganze nachdenken müssen, um auch nur halbwegs die Bedeutung und Tragweite von dessen Aussagen zu erfassen.

Am nächsten Vormittag, kaum dass Harry sich in seine "Nachhilfe" verabschiedet hatte, setzte sich der alte Chinese wieder zu Henry. Diesmal sprachen sie über die verschiedenen Arten von Magie.

"Zu meiner Zeit galt Magie entweder als schwarz oder als weiß", sagte er. "Weiß, wenn sie heilsam, beschützend oder stärkend war; schwarz, wenn sie schädigte, verseuchte oder versklavte. Heutzutage schreckt man ja vor solch klaren Unterscheidungen zurück, redet gerne von 'Grautönen.' Papperlapapp! sag ich. Wenn man einmal damit anfängt! Dann wird aus grau schnell dunkelgrau, und aus dunkelgrau ist noch schneller schwarz geworden! Euer Freund ist auch so jemand, der sich auf der sicheren Seite fühlt, solange er nur hin und wieder mal einen grauen Zauber wirkt, für einen guten Zweck, wo's doch nicht anders geht! Aber Magie hat ihren eigenen Kopf. Magie ist wie ein lebendiges Wesen und, wie alle Lebewesen, gierig. Wenn es an einer Sache Geschmack findet, will es immer mehr davon. Zuviel Grau verdichet sich zu schwarz. Er soll sich nur vorsehen, Euer Freund!"

Am dritten Tag sprachen sie dann über Geschichtsschreibung und die doppelte Verantwortung eines Historikers und welche davon größer sei: die gegenüber seinen Zeitgenossen oder die gegenüber der Nachwelt. Am vierten Tag, als Henry schon allmählich den Verdacht gewann, der alte Mann ginge dem Thema aus dem Weg, sprachen sie endlich über Drachen.

Doch wenn Henry sich neue Erkenntnisse oder Einsichten erhofft hatte, so enttäuschte der alte Chinese ihn zum ersten Mal—vielleicht verständlicherweise. Er war schließlich kein neutraler Beobachter, sondern selbst ein goldener "Drache". Da durfte es nicht verwundern, dass er die Schuld an ihrer jahrtausendalten Fehde eindeutig auf Seite der Roten sah. Mehr noch: er beschuldigte die Roten, sich seit eh und je jeglicher Mittel zu bedienen, um zu Macht und Reichtum zu gelangen, von allen nur denkbaren Arten des Verbrechens bis hin zu schwarzer Magie.

An dieser Stelle musste Henry an seine Begegnung mit Harrys "Auntie Trish" denken und was dieser über sie gesagt hat: größenwahnsinnig vielleicht...

"Ich habe doch keine Lust mehr, über Drachen zu reden", sagte Henry. "Und überhaupt seid Ihr mir bei all dem viel zu schnell dabei, Harrys Seite zu verteufeln und die Eure in den Himmel zu loben. Ich habe ihn noch nichts Böses tun sehen, und Euch noch nichts Gutes."

Vielleicht wegen dieser Worte kamen sie am fünften Tag auf das Christentum zu sprechen. Der alte Chinese kannte sich auch hiermit erstaunlich gut aus. "Als ich mich in meinen besten Jahren befand—heute sagt man 'midlife crisis' dazu—packte mich die Reiselust. Ich verließ China und bereiste die ganze Welt, darunter Rom, Griechenland, Kleinasien und das, was später das heilige Land genannt werden sollte." Und er berichtete auf dieselbe lebendige Art wie zuvor von China von seinen Reisen am Mittelmeer.

"Eine ganze Zeit lang bin ich einem Wanderprediger und dessen Anhängern gefolgt", näherte er sich schließlich dem Ende seiner Erzählung. "Nicht wegen der Predigten, zumindest nicht vordringlich, sondern weil es mich fasziniert hat, wie er seine Mitmenschen mit einfachen Worten so begeistern konnte, wie er es tat—als trüge er das Licht des Göttlichen in seinem Herzen. Und egal, wie sehr er mancherorts verspottet, bedroht, eingesperrt, sogar ausgepeitscht wurde, er ließ nicht ab von seinem Tun, nein, dies alles bestärkte ihn nur darin. Er fühlte sich geheiligt durch sein Leid, dem Heiland näher. Manchmal gewann ich den Eindruck, dass es zwischen den Predigern in dieser Hinsicht eine Art Wettbewerb gab; er jedenfalls führte ganz genau Buch. Es war aber auch irgendwie beeindruckend. Seine Zuhörer hat es ganz sicher beeindruckt: das muss ja eine wichtige Botschaft sein, wenn ein Mann so viel Schmerz und Unbill auf sich nimmt, um sie zu verbreiten!"

Es folgten ein halbes Dutzend Episoden von dieser Reise im Gefolge des Prediger—spannend, ja!—doch Henry musste sich immer öfter wundern, warum zum Beispiel die Römer immer wieder auftauchten und überhaupt alles so... altertümlich klang, sogar mit der Zeit daheim in Irland verglichen. Dass tatsächlich etwas gänzlich faul an der Sache war, bemerkte er mit Gewissheit aber erst nach einer Stunde, als der Alte nämlich fortfuhr: "Ja, und dann wollte der Prediger unbedingt in Jerusalem in den Tempel, obwohl er wusste, dass er den Leuten dort längst als Ungläubiger galt und das Betreten des Tempels einem solchen bei Todesstrafe verboten war... Ja, was soll man dazu sagen. Den Mund fusselig hab ich mir geredet, um ihn davon abzubringen. Natürlich kam es, wie es komme musste. Flucht vor der aufgebrachten Menge, Gefangenschaft, zwei Jahre später Überstellung an ein Gericht in Rom, auf eigenen Wunsch... Na ja, ich habe das ganze Trauerspiel nicht so genau weiterverfolgt. Zu der Zeit wusste ich noch nicht, was es eigentlich war, das ich da bezeugte. Die Tragweite! Wer hätte ahnen können, dass vor meinen Augen eine Kirche geboren wurde, die zweitausend Jahre später noch bestehen würde! Keine schlechte Leistung, für euch Menschen..."

Henry starrte den alten Chinesen entsetzt an. Will der mich auf den Arm nehmen oder ist er senil?

"Weder noch", erwiderte der Chinese lächelnd. "Ich sagte doch, dass ich die Reise meiner midlife crisis schuldete, und inzwischen geht es doch allmählich auf mein Ende zu. Aber verzeiht die Unterbrechung, man wünscht mich zu sprechen."

Offenbar schon seit längerer Zeit wartete ein junger Mann aus der Famile Chang in höflichem Abstand darauf, dass sie ihr Gespräch unterbrachen. Henry erkannte den Polizisten, der beim Kampf am Fluss verletzt worden war: Wen-Hao, Jiang-Lis kleinen Bruder. Als der Alte sich ihm zuwandte, sagte Wen-Hao etwas auf Chinesisch.

"Wie unhöflich!" schalt ihn der Alte. "In einer Sprache zu reden, die der Gast nicht versteht!"

"Verzeiht", sagte Wen-Hao mit einer Verbeugung in Richtung Henry, dann wandte er sich wieder an den Alten. "Sima Qian, ich wurde geschickt Euch zu sagen, dass oben alles vorbereitet ist. Der Rote ist auch schon da. Alle warten gespannt darauf, dass Ihr ihn Euch vorknöpft."

"Dass ich ihm eine Audienz gewähre", korrigierte Sima Qian. "Er hat darum gebeten." Auch er verneigte sich vor Henry. "Ich muss unser Gespräch heute leider etwas früher beenden. Ich hoffe, Ihr verzeiht." Dann erhob er sich und folgte Wen-Hao aus der Bibliothek hinaus.

Auf halbem Weg zur Tür hielt er noch einmal inne und drehte sich zu Henry um, welcher ihm besorgt gefolgt war. "Fürchtet nicht um Euren Freund. Er wird meine Gemächer unversehrt und im schlimmsten Fall ein wenig klüger und einsichtiger wieder verlassen." Sima Qian lächelte. Er hatte noch alle Zähne im Mund, fiel Henry auf. Erstaunlich für einen Mann, der aussah, als habe er die Hundert überschritten.

Selbst bereits an der Tür, musste Henry noch einmal umkehren, um seine Bibel zu holen, die er auf dem Pult vergessen hatte. Als er sich dann wieder zum Gehen wandte, fiel ihm auf, dass die Drachenstatue, die am Morgen noch ganz normal auf ihrem Platz in der Mitte der Bibliothek gestanden war, jetzt plötzlich fehlte.

Harrys Audienz dauerte den ganzen Tag und die ganze Nacht. Harry machte kaum ein Auge zu. Das lag nur zum Teil an seiner Sorge um Harry, zum anderen Teil an den fürchterlichen Geräuschen im Stockwerk über ihm. Da schabte ständig etwas über den Boden, wie gewaltige Krallen über Stein; dann ertönte immer wieder ein fürchterliches Brüllen, einem wilden Tier ähnlich; dann tat es einen gewaltigen Rumps; dann klatschte etwas so laut wie hundert Peitschen, die gleichzeitig ihr Ziel fanden. Dann war es plötzlich still, und diese Stille war noch unerträglicher, weil Henry nicht aufhören konnte, das nächste Geräusch zu erwarten... Schließlich nahm er seine Decke und ein Kissen und legte sich drei Stockwerke tiefer in die Bibliothek, wo es mehrere Sofas gab.

Dort fand Harry ihn dann am nächsten Morgen, pünktlich zu ihrer nächsten Lesung. Er sah müde aus und war noch etwas schreckhafter als in den letzten Wochen, aber durchaus vergnügt.

"Nicht, dass Sima Qian hätte sagen können, was mit uns los ist", fiel er gleich mit der Tür ins Haus. "Er ist sich nur sicher, dass zu seinen Lebzeiten und auf den sieben oder acht Welten, die er bereist hat, so etwas noch nicht vorgekommen ist."

"Warum bist du dann so fröhlich?" fragte Henry, obwohl fröhlich es nicht ganz traf. Der Freund konnte kaum still sitzen, weil das Erlebte ihn so erregt hatte, so beeindruckt offenbar.

"Du hättest ihn sehen müssen!" sprudelte Harry da auch schon heraus. "Your Resplendence ist nicht übertrieben, glaub mir! I was scared shitless the whole time but what a sight! Außerdem wissen wir jetzt immerhin, dass so etwas in den letzten viertausend Jahren hier und in der 'näheren Umgebung' nicht vorgekommen ist, das ist doch schon einmal ein Ansatzpunkt, wenn auch kein sehr beruhigender. Übrigens, er hat mir gesagt, ich müsse mich bei dir bedanken, dass ich die Audienz überhaupt bekommen habe, und vor allem dafür, dass er mich nicht zum Frühstück verspeist hat. Ich verstehe nicht ganz, was er meint... hast du schon mit ihm gesprochen? Warum hast du mir das nicht gesagt? Na, sei's drum. Ich soll dir noch was sagen. Moment, ich war zu aufgeregt, um mir's zu merken, deshalb hab ich's aufgeschrieben..."

Ein Griff in seine Hosentasche förderte ein zerknittertes Papier zutage. Er drückte es auf seinen Bauch und versuchte es ein wenig zu glätten, bevor er es Henry überreichte. Dieser las darauf, in krakeliger Handschrift: "So when I could not see for the glory of that light, I was led by the hand of them that were with me."[4]

Henry erkannte sofort, dass dies ein Zitat aus der Apostelgeschichte war, genauer der Augenblick gleich nach Paulus' Berufung zum 13. Apostel,[5] aber was wollte Sima Qian ihm damit bedeuten? Er blickte Harry entgeistert an.

"Ja, genau so habe ich ihn auch angeschaut. Aber warte, das zweite, was ich dir sagen sollte, hat er mich nicht aufschreiben lassen, weil du es unbedingt aus meinem Mund hören müsstest. Also, er habe weder das Licht gesehen noch die Stimme gehört, aber zwei der Hände seien die seinen gewesen. Um dich aber mache er sich gar keine Sorgen, denn du hättest das Licht gesehen und die Stimme gehört, und solltest du je vor lauter Erkenntnis geblendet oder umgekehrt in den schwärzesten Abgründen der Verzweiflung verloren sein, so würden die Hände, die du dir für deine Seite auserwählt hättest, dich ebenso treu führen wie er ihn geführt habe. Davon sei er nunmehr überzeugt."

Harry versuchte nachdenklich dreinzublicken, was ihm nicht gelang, und so zuckte er mit den Achseln. "Beeindruckend ist der Alte ja, aber ein wenig wirr. Wer wäre das nicht im Alter von viertausend! Oder hast du etwa eine Ahnung, was er mit all dem meint?"

Das hatte Henry in der Tat. Nachdem Sima Qian zuvor doch so sehr davon überzeugt gewesen war, dass 'rote Drachen' im allgemeinen und Harry im besonderen der Dunkelheit näher stünden als dem Licht, dem Verbrechen und der schwarzen Magie näher als allem, was gut und richtig ist, schien der alte Chinese Henry nun zuzugestehen, dass er sich seinen Freund und Weggefährten doch richtig ausgesucht habe, dass Harry offenbar doch jemand sei, auf den man sich in der Not verlassen könne.

Wenn man da von 'auserwählen' sprechen kann! dachte Henry schmunzelnd. Mir käme ja ein ganz anderes Zitat in den Sinn, um bei Paulus zu bleiben: 'And lest I should be exalted out of measure through the aboundance of revelations, there was given unto me a pricke in the flesh, the messenger of Satan to buffet mee, because I should not be exalted out of measure.'[6] Wenn Harry nur seine Magie aufgeben könnte! Aber in der Hinsicht verspürt er ja nicht die geringste Reue. Sein Herz hat er ja auf dem rechten Fleck, aber um die Wahrheit zu sehen, ist er zu eigensinnig. Und doch, so wie wir uns getroffen haben, möchte man von Vorhersehung sprechen.

"Auch keine, huh?" sagte Harry. "Das dacht' ich mir. Wenn die Goldenen eins mögen, dann sind es Wortspiele und Rätsel, die niemand außer ihnen versteht."

Henry lächelte nur und schlug Harry kameradschaftlich auf die Schulter. Den Zettel aber steckte er ein.


Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten

Am nächsten Morgen war Harry derjenige, der in der Bibliothek aufwachte, nur dass er nicht bequem auf einem Sofa lag, sondern an einem der Pulte eingeschlafen war. Komisch. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, gestern abend noch die Bibliothek aufgesucht zu haben. Im Gegenteil, er und Henry hatten ein wenig gepichelt und waren dann bleischwer in die Federn gefallen.

Vor sich ausgebreitet fand Harry drei aufgeschlagene Wälzer und einen Haufen Papierzettel, die mit unverständlichen Berechnungen vollgekritzelt waren. Die Zettel mussten aus einem der Bücher gefallen sein, denn Harrys Handschrift war das nicht, geschweige denn, dass er eine einzige Zeile davon kapierte. Auch die Bücher waren in ihm unverständlichen Sprachen verfasst. Chinesisch und was war das, Russisch? Das hier jedenfalls war Altgriechisch, da konnte Harry wenigstens die Schrift lesen und verstand auch ein paar Brocken. Großvater Mortimer hatte immer wieder versucht, Harry dazu zu bewegen, diese Sprache zu lernen, von wegen seiner Wurzeln und der Familientradition. Vielleicht hätte der gute Mann sich noch durchgesetzt, wenn er nicht so früh gestorben wäre.

Harry blätterte ein wenig in den Büchern, ob es dort Bilder gab, die auf ein Thema deuten würden, aber nur in dem altgriechischen Text fand er einige Zeichnungen. Diese bestanden aus einer Unzahl überlappender Kreise und Kringel und waren genauso unverständlich wie alles andere. Unter einer von ihnen entzifferte Harry die Worte "planetare Konstellation"—oder hieß das "planare Konstellation"? Unter der nächsten Zeichnung stand dann der Text:"Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten berechnet man, indem..."

Schnaubend klappte Harry das Buch zu. Ein mathematisches Lehrwerk für Anfänger! Er gähnte. Dann fiel sein Blick auf die Armbanduhr. Was, es war erst 5 Uhr 57? Verflucht, das kommt davon, wenn man in der Bibliothek einschläft, in der Nähe der großen Fenster, hinter denen sommerfrüh die Sonne aufgeht. Harry ließ kurzerhand alles liegen und stehen und schlurfte zurück in sein Zimmer und sein Bett.

Als er das nächste Mal aufwachte, lag er aber nicht in seinem Bett. Er war auch nicht wieder über einem Pult zusammengesunken. Er lag auf dem staubigem Boden einer ungepflasterten Landstraße—komplett angezogen, obwohl er hätte schwören können, dass er sich noch ausgezogen hatte—und neben ihm regte Henry sich, ebenso verdutzt und zudem in voller Rüstung, die wenigen Habseligkeiten zu einem Bündel verschnürt als Stütze unter dem Kopf.
 1. diese hier (http://www.daimler.com/Projects/c2c/channel/images/799051_1467256_800_530_D92F112.jpg), s. auch hier (http://de.wikipedia.org/wiki/Mercedes-Benz_W_186) bzw. hier (http://files.mercedes-fans.de/images/2010/02/ce8355abedfcd0256620e81e5b9c21bc.jpg)
 2. dieser hier (http://de.wikipedia.org/wiki/Sima_Qian)
 3. Wissen aus dem Off: "Your Resplendence" ist die korrekte Ehrenbezeichnung für den obersten Anführer der goldenen Drachen einer ganzen Welt (s. Draconomicon)
 4. Acts 22:11, zitiert nach der Geneva Bible (http://en.wikipedia.org/wiki/Geneva_Bible), s. auch hier (http://genevabible.com/introduction.php)
 5. 
Zitat im Kontext (Anzeigen)
 6. 2 Corinthian 12:7
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 01.10.2014, 16:58:50
Henry und Harry in Brückenstadt

Als Henry und Harry wieder zu sich kamen, waren sie statt in Berlin auf einer weiten Ebene. Es schien später Morgen zu sein. Sie standen erst einmal auf, klopften sich den Staub von der Kleidung und blickten sich um. Hier gab es nichts außer Himmel, Bäumen, Sträuchern, einer Handvoll Bauernhäuser inmitten bestellter Felder, auf welchen das Korn noch grün war. Am Horizont erhob sich eine Gebirgskette.

Die beiden machten sich zum nächsten Bauernhaus auf, und zum nächsten, und zum nächsten. Beim vierten endlich wurde ihnen die Tür geöffnet, wenn auch nur einen spaltbreit. Leider verstand man dort kein Englisch. Mit Gesten versuchten sie den Leuten klarzumachen, dass sie Unterkunft und Verpflegung bräuchten und dafür auch gerne arbeiten wollten, aber die Antwort bestand aus einem wortreichen Gebrabbel, von dem sie zwar keine Silbe verstanden, dessen ablehnende Grundbedeutung jedoch offensichtlich war. Als die beiden hartnäckig weitergestikulierten, ob sie wenigstens etwas Wasser und einen Kanten Brot haben dürften, wurde eine junge Frau aus den Tiefen des Hauses geholt, die in zwei oder drei weiteren Sprachen zu kommunizieren versuchte. Eine davon verstanden Henry und Harry sogar—sehr zu ihrer Überraschung, denn es war weder Englisch noch Latein (und auch nicht Drakonisch).

"Geht doch nach Brückenstadt", sagte die Frau[1]. "In Brückenstadt lassen sie jeden rein." Und sie deutete auf das Gebirge im Westen.

Also machten die beiden ungleichen Gefährten sich auf den Weg und kamen auch gegen Abend hungrig, durstig und erschöpft in Brückenstadt an. Doch wenn sie mit einem freundlichen oder zumindest bürokratisch-neutralem Willkommen gerechnet hatten, so sollten sie enttäuscht werden. Gleich am Tor wurden sie von mit Knüppeln bewaffneten Wachen gepackt und in einen Verhörraum gebracht. Dort warteten weitere Wachen, diese mit Kurzschwertern, und ein in schwarze Amtsrobe gekleideter Beamter auf sie. Dieser löste zunächst das Verständigungsproblem, in dem er eine kleine silberne Stimmgabel an die Tischkante schlug und dann zuerst an sein rechtes Ohr hielt, bevor er es bei Henry und Harry gleichtat. Nun konnten alle verstehen, was der andere sagte, obwohl ein jeder noch in seiner eigenen Sprache palaverte.

Dann erklärte der Beamte ihnen, was Sache war. Wer nach Brückenstadt hineingelangen wollte, musste sich erst "wiegen" lassen. Nicht der Körper werde da gewogen, sondern die Seele. Je dunkler diese sei, je mehr Verbrechen aus vergangenen Leben auf ihr lasteten, desto stärker würde die Seelenwaage ausschlagen, und von diesem Ergebnis hinge es ab, wo in Brückenstadt man sich einquartieren dürfe.

Henry trat als erster auf die Waage. Sie sank nicht einen Millimeter.

"Das habe ich nicht anders erwartet!" rief der Beamte. "Das sagt uns schon Euer Name. Henry, nach Henrianus, nicht wahr? Dem großen Heiligen. Willkommen in Brückenstadt! Hier, nehmt diesen Plan und diese Liste, dort findet ihr Adressen, an die Ihr Euch wenden könnt, wenn Ihr Euch allein nicht gleich zurechtfindet. Nehmt auch diese Stimmgabel! Und hier sind zehn Dukaten Begrüßungsgeschenk. Und diesen Ausweis tragt immer bei Euch. Wer ohne Ausweis erwischt wird, kommt nämlich in den Kerker, bis seine Identität festgestellt werden kann. Unterschreibt bitte hier. Dankeschön!"

Dann trat Harry auf die Waage. Sie schnellte zu Boden. So kraftvoll traf sie unten auf, dass es einen gewaltigen KLONK gab, der die Wachen entsetzt zurückspringen ließ. Plötzlich hatten sie alle ihre Schwerter in der Hand und auf Harry gerichtet. Er rührte sich nicht.

"Das habe ich nicht anders erwartet!" rief der Beamte. "Das sagt uns schon Euer Name. Harry, nach Harristrian, nicht wahr? Dem Satan persönlich. Schämt Euch! Nun, wir lassen Euch trotzdem herein. Keine Seele ist so verloren, dass ihr nicht gestattet werden muss, um ihr Heil zu kämpfen. Aber Ihr dürft das Nachtviertel nicht verlassen, darauf steht der Tod. Hier, nehmt diesen Zettel mit den wichtigsten Gesetzen unserer Stadt und einer Liste der Strafen, die Euch bei Missachtung blühen. Und damit Ihr wisst, dass wir es ernst meinen, erhaltet Ihr als Begrüßungsgeschenk zehn Hiebe. Wachen! Führt ihn kurz in den Hof und dann ab ins Nachtviertel."

"Zwei Buchstaben", protestierte Harry, als die Wachen ihn in Richtung Ausgang zerrten. "Es sind doch bloß zwei Buchstaben!" Er und Henry konnten nur noch einen entsetzten Blick tauschen, dann waren sie getrennt.

Harry allein

Zehn Fausthiebe später lag Harry in einer Zelle. War "Nachtviertel" ein Euphemismus für Kerker? Doch kaum war an jenem Abend die Sonne untergegangen, kamen drei Wachen und zerrten ihn erst aus der Zelle, dann mehrere Gänge hinunter ins Freie, dort noch drei Straßenecken weiter, wo sie ihn abermals zu Boden stießen. Sobald die Wachen verschwunden waren, näherten sich fünf zerlumpte Gestalten mit Knüppeln in den Händen und dreckigem Grinsen auf den Gesichtern. Die Wirkung der Stimmgabel hielt noch an und so hörte Harry genau, was die fünf mit ihm vorhatten. Bis auf die nackte Haut ausrauben war noch das netteste davon. Doch gleich der zweite Hieb traf ihn an der Schläfe und er verlor das Bewusstsein.

Als Harry zu sich kam, lag er in einem Bett. Seine Kleidung klebte ihm nass am Leib. Seine Hände waren voll Blut. Das Nasse auf seiner Kleidung, das war auch Blut. Er tasteste seinen Körper ab: außer Prellungen, einer aufgeplatzten Lippe und einem zerfetzten Hosenbein alles in Ordnung. Verwirrt stand er auf und untersuchte das kleine Haus, in dem er sich befand.

In der Küche lag ein totes Großmütterchen. Jemand hatte ihr den Kopf mit einer Pfanne eingeschlagen. Daneben lag ein totes Großväterchen. Jemand hatte ihm den Schürhaken in den Leib gerammt. Zwischen ihnen lag ein toter Hund. Zumindest glaubte Harry, dass es einmal ein Hund gewesen sein musste: die Leiche, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, hatte in etwa die Größe und Form eines deutschen Schäferhundes.  Das Tier hielt etwas zwischen den Zähnen. Harry bückte sich und zog es vorsichtig heraus. Es war ein Fetzen Jeansstoff. Harry untersuchte sein Hosenbein: der Fetzen passte. Die Bisswunde darunter passte auch.

Harry übergab sich in die nächste Suppenschüssel.

In den ersten Tagen wagte Harry nicht, das Haus zu verlassen. Die Vorratskammer war für einige Wochen bestückt, er müsste also keinen Hunger leiden. Nur ein großes Problem hatte er: Wohin mit den Leichen? Zerstückeln und im Ofen verbrennen war das einzige, was ihm einfiel. Am ersten Tag konnte er sich nicht dazu überwinden. Erst einmal darüber schlafen wollte er, vielleicht käme er mit klarem Kopf ja auf eine bessere Lösung! Als er jedoch wieder aufwachte—aus einem wenig erholsamen Schlaf und zudem splitternackt—waren die Leichen verschwunden. Eine blutige Säge lag noch in der ansonsten frisch geschrubbten Küche, seine Kleidung hing frisch gewaschen auf der Leine, und die Holzvorräte in der Küche waren aufgebraucht. Das Frühstück stand fertig auf dem Tisch. Eintopf aus Kohl und Graupen. Zum Glück ohne Fleischeinlage. Er war so ausgehungert, dass er sich tatsächlich darüber hermachte.

Erst nach dem Essen entdeckte er den aufgeschlagenen Notizblock auf dem Küchentisch. Es war sein eigener. Darauf stand, in weiblicher Handschrift, wie ihm schien, die der seinen trotzdem irgendwie ähnelte: "Jetzt habe ich schon zum zweiten Mal Deine Drecksarbeit erledigen müssen. Lass das bitte nicht zur Gewohnheit werden. ~ Lasciel"

Lasciel? Wer war Lasciel? Wie kam die überhaupt hier rein, er hatte die Haustür doch gründlich verrammelt! Und was meinte sie mit: zum zweiten Mal?

~~~

Doch so gruselig seine Ankunft in Brückenstadt auch war: irgendwann gewöhnte man sich an alles und lebte sich überall ein. Nach sechs Tagen begann Harry, seine Umgebung zu erforschen. Als erstes fiel ihm auf, dass die Leute einen Bogen um ihn machten. Niemand sah ihn an. Ängstlichere Personen wechselten die Straßenseite. Schlägertypen, die zu viert oder fünft unterwegs waren, rückten enger zusammen und blickten stur geradeaus, bis sie an ihm vorbei waren. Wer ihm allein in einer dunklen Gasse begegnete, drehte auf dem Absatz um und rannte um sein Leben.

Das machte es einerseits unmöglich für Harry, Leute kennenzulernen und diese über das Nachtviertel und Brückenstadt allgemein auszufragen—zumal er dafür erst noch so eine Stimmgabel bräuchte, deren Wirkung inzwischen verflogen war. Andererseits konnte er sich völlig frei bewegen, ohne vor Schlägerbanden Angst haben zu müssen.

Und so fand er schon bald von allein heraus, dass mit "Nachtviertel" die ganze Stadt gemeint war, man aber nur nachts raus durfte. Tagsüber waren Türen und Fenster von außen versperrt. Nahezu jedes Haus besaß zwei Eingänge: den einen für die Tagbewohner (bei Nacht verriegelt und verdeckt und nur anhand der Stufen erkennbar, die an manchen Häusern dort hinaufführten), den zweiten für die Nachtbewohner. Wand an Wand lebten diese und bekamen doch nichts voneinander mit. (Böden und Wände mussten magisch oder sonstwie schallgedämpft sein, denn Harry hörte wirklich nichts, egal wo er tagsüber sein Ohr an die Wand legte.)[2]

Natürlich lebten die Nachtbewohner in den Keller- und den Dachgeschossen, den alten, halb verfallenen Häusern oder den schmalen, zwischen zwei stattlicheren eingequetschten.

Nach drei Wochen aber hatte er ganz andere Sorgen, als sich über die soziale Ungerechtigkeit in Brückenstadt aufzuregen: ihm ging, trotz Rationierung, das Futter aus. Die beiden zermatschten Marsriegel aus seiner Jackentasche waren als letzte dran. Er musste dringend an Geld kommen, doch wie? Am Ende würde er stehlen und rauben müssen, wenn er nicht verhungern wollte. Arbeit zu finden hatte er schon versucht, aber niemand wollte ihm Arbeit geben, nicht einmal zum Latrinenschaufeln. (Außerdem war da wieder sein Sprachproblem; in dieser verdammten Stadt sprach einfach niemand Englisch!) Aber noch konnte er sich nicht dazu entschließen, die Leute hier—von denen die meisten ihre Familien mehr schlecht als recht ernähren konnten—auch noch zu bestehlen. Und so holte er manch eine Nacht, wie er hungrig dasaß, das Burger King Couponheftchen aus seiner Brieftasche und betrachtete träumend die Bilder darauf...

Fast schlimmer noch als der Hunger war die Einsamkeit. Wie es Henry wohl erging? Wahrscheinlich hatte er längst neue Freunde gewonnen und Harry vergessen; dank der Stimmgabel, die der Beamte ihm geschenkt hatte, konnte er sich ja mit allen unterhalten...

Dann geschah etwas seltsames. Eines Morgens legte Harry sich von nagendem Hunger geplagt ins Bett und wachte am späten Abend satt und mit einem leichten Kater wieder auf. Nicht nur das: er trug ein seidenes Hemd. Seidene Hose. Seidenstrümpfe. Schuhe, Hut, Gürtel: alles von feinster Machart. Wenn auch für seinen Geschmack reichlich weibisch: ein Bändchen hier, ein Schleifchen dort, und Rüschen überall. Und erst die Feder am Hut! Und in der Brusttasche der Seidenweste steckte ein Ausweis, auf dessen Vorderseite eine Sonne prangte. Dies waren die Klamotten eines Tagbewohners!

Und so wie in dieser Nacht ging es ihm in der nächsten und übernächsten. Sein Ernährungsproblem schien gelöst, doch er begriff nicht ganz wie. Schlafwandel ich? Oder ist das normal in dieser komischen Stadt, das man ein Nacht-Ich und ein Tag-Ich hat? Oder ist es gar der Drache in mir, der endlich "raus" will?

Das ging zwei Wochen so weiter. Jeden Abend, wenn er aufwachte, fiel ihm ein anderes seltsames Detail auf, und zwar in dieser Reihenfolge, an aufeinanderfolgenden Nächten:
—Er roch nach Parfüm. Einem blumigen Parfüm. Einem Damenparfüm.
—Er hatte Kratzer auf dem Rücken wie von Fingernägeln. Wie von Fingernägeln, die eine Frau ihrem Liebhaber in einem Moment höchster Leidenschaft über den Rücken ziehen mochte.
—In seiner Brusttasche befand sich ein Zettel mit einem Gedicht. Einem Liebesgedicht. Das Gedicht war so schlecht, es musste von einem Liebenden geschrieben worden sein.
—Er konnte das Gedicht lesen. (Dass dies nicht selbstverständlich war, fiel im tatsächlich erst in der Folgenacht auf.) Wieso konnte er das Gedicht lesen? Hatte ihm jemand eine Stimmgabel ans Ohr gehalten?
—Auf der Rückseite des Zettels fand sich eine Widmung: "Oh Harry! Noch nie traf ich einen Mann, der so einfühlsam ist wie Du, der mich so gut verstanden hat! Küßchen, Imona."

Einfühlsam, ich? Also, wenn ich's nicht eh schon gewusst hätte, wüsst' ich es jetzt: da ist etwas faul! Einfühlsam bin ich wie Conan der Barbar. Und Frauen verstehe ich so gut wie Donald Duck.

Das mit der Stimmgabel aber, das testete er gleich aus. Tatsächlich, er verstand die Leute auf der Straße plötzlich. Sie konnten ihn zwar immer noch nicht verstehen, aber das war doch schon einmal was! Nun konnte er sich irgendwo hinstellen oder hinsetzen, wo man ihn nicht bemerkte, und ihren Gesprächen lauschen. Nicht nur fühlte er sich dadurch etwas weniger allein, er erfuhr auch ein bisschen mehr über seine Umgebung und die Menschen hier.

Zum Beispiel, dass eigentlich niemand von ihnen in dieser Stadt sein wollte. Alle kamen woanders her und wollten woanders hin, saßen aber fest. Warum, das erfuhr Harry nicht. Auch nicht das woher oder wohin. Nur, dass es als Nachtbewohner offenbar einen einzigen Weg gab, hier wieder herauszukommen: mit beiden Füßen zuerst.

Und je mehr Harry ob dieser Erkenntnis in Trübsal und Hoffnungslosigkeit verfiel, desto wilder schienen seine Tage zu werden. Immer öfter wachte er jetzt mit einem ausgewachsenen Kater auf und dazu völlig gerädert, dass er sich oft einfach nur umdrehte und die halbe Nacht im Bett verbrachte.

Dann wurde er eines späten Mittags von Magengrimmen geweckt und befand sich nicht im eigenen Bett. Schlimmer noch: er war nicht allein im Bett. Ein ganz reizendes nacktes Geschöpf lag neben ihm und schmiegte sich wohlig erschöpft an ihn. Ihr Name war Amatrice. Und auf der anderen Seite lag Narissa und bedeckte seinen Hals und Rücken mit ihren Küssen. In den Augen beider Frauen leuchtete glückselige Zufriedenheit.

Nun wäre dies für die meisten Männer seines Alters wohl ein dream-come-true, aber erstens hatte Harry absolut gar nichts davon mitbekommen und zweitens hatte er seine eigenen Gründe, warum er stets auf safer sex bestand. Von ihm schwanger zu werden bedeutete für jede Frau, die nicht selbst ein Drache war, das Todesurteil!

Ist das jetzt schon der Wahnsinn, vor dem Henry mich gewarnt hat? Eine abgespaltene Persönlichkeit? Nicht Jekyll und Hyde, sondern Harry und Lasciel?

So oder so, das hier war nicht akzeptabel. Diesem Treiben würde er ein Ende bereiten. Also kramte er am nächsten Morgen, bevor er zu Bett ging, seine Handschellen heraus und kettete sich mit einer Hand ans heimische Bettgestell. Den Schlüssel legte er vorher so weit entfernt auf den Boden, dass nur ein Jediritter herankommen würde. (Er dachte erst einmal nicht weiter als an den kommenden Tag und wie er sein "Schlafwandeln" verhindert konnte; wie er danach selbst wieder loskommen würde, das müsste man dann sehen. Jetzt galt es erst einmal, das Leben unschuldiger Frauen zu retten.)

Ein verzweifelter Plan, der absolut gar nichts nutzte. Am nächsten Abend fand er sich wieder satt und verkatert in seinem Bett vor. Drei Dinge waren anders: er war vollkommen nackt und beide Hände waren mit den Handschellen am (übrigens schmiedeeisernen) Bettgestell festgekettet. Der Schlüssel lag auch nicht mehr da, wo er ihn hingelegt hatte.

Am nächsten Abend das gleiche Bild. Am übernächsten auch. Eine Woche später begann Harry mit sich selbst zu reden. Er bettelte und flehte. Bitte, bitte, bitte, hör auf damit, Harry oder Lasciel oder wer immer mir das antut! Hör auf, mich ans Bett zu ketten! Ich will auch brav sein! Ganz lieb will ich sein! Nie wieder versuchen, dir deinen täglichen Spaß zu verderben! Lass mich frei, ich werd' sonst irre!

Und vielleicht wurde er das, denn nachdem zwei weitere Wochen vergangen waren, hatte er folgenden Traum.

Harry träumt. (Anzeigen)

Und doch war er noch immer mit beiden Händen am Bettgestell angekettet, als er erwachte. Ja, es ist schon der Wahn... Mein Ich zerfällt in seine Teile... Es gibt keine Hoffnung, kein Entkommen!

Henry allein

Und wie erging es Henry in jenen Wochen? Nun, auch er hatte keinerlei Schwierigkeiten, eine sichere Bleibe zu finden. Er blieb gleich bei der Stadtwache! So kann ich Harry am ehesten wiederfinden und vielleicht auch etwas auf ihn aufpassen, dachte er sich. Doch zunächst einmal musste er durch das Fenster mit ansehen, wie seine zukünftigen Kameraden den Bruder auf dem Hof verprügelten.

Der Beamte war begeistert von Henrys Idee und schickte ihn zum Hauptmann der Wache. Dieser freute sich ebenfalls, doch lehnte er Henrys Bitte, zur Wache im Nachtviertel eingeteilt zu werden, entschieden ab. "Das ist nichts für Neulinge", sagte er. "Überhaupt, Ihr müsst Euch erst beweisen."

Und so wurde Henry zur Tagwache im Stadtkern eingesetzt. Dort musste er den Marktplatz und die beiden Tempel patrouillieren, die diesen flankierten. Im Osten die "Kirche der Drei", in welcher "die drei guten Götter" verehrt wurden, im Westen die "Kirche der Vier", welche den "vier guten Göttinnen" geweiht war.

Schon wieder heidnische Tempel und noch dazu Vielgötterei! Aber was tut man nicht alles für seine Freunde.

Und so vergingen die Tage. Eigentlich gab es nichts zu bewachen oder zu ergreifen. Den gelegentlichen Taschendieb, der aber zumeist wieder freigelassen wurde, da er sich als Spross einer einflussreichen Familie herausstellte, der nur eine Mutprobe hatte ablegen wollen, um seine Freunde zu beeindrucken. Hin und wieder musste auch ein Händler ermahnt werden, dessen Waage ein wenig unehrlich war. Das gab dann eine Geldstrafe.

In den beiden Tempeln sah die Sache sogar noch langweiliger aus. Kein Tagbewohner würde auf die Idee kommen, sich an Tempeleigentum oder gar am Inhalt der Opferschalen zu vergreifen. Henrys Aufgabe bestand darin, in blankpolierter Rüstung seine Runden zu drehen und mal hier, mal dort dekorativ stehen zu bleiben und den Bürgern der Stadt, wenn sie ihn ansprachen, mit Trost, Rat oder auch mit frommen Sprüchen weiterzuhelfen. Für letzteres verwendete er einfach Bibelsprüche und hatte einen tollen Erfolg damit. Binnen kürzester Zeit sprach es sich herum, dass eine der im Tempelbezirk zuständigen Stadtwachen über einen unerschöpflichen Fundus an Sprüchen verfügte, die zwar weise waren, aber dennoch von einfachen Leuten verstanden werden konnten. Innerhalb eines einzigen Monats verdreifachten sich die Besucherzahlen.

Trotzdem war Henry einsam. Mit keinem dieser Leute konnte er über sich und seine Sorgen reden. Dafür interessierte sich niemand! Er vermisste Harry. Mit dem konnte er offen reden. Scherzen. Einen heben gehen. Oder einfach nur in behaglicher Stille dasitzen und gemeinsam schweigen. Wie es ihm wohl im "Nachtviertel" erging? So wie Henry die Leute hier verstand wohnten im Nachtviertel nur Diebe und Vagabunden, Betrüger, Huren und Spieler, Schläger und Meuchelmörder. Und dort war Harry ganz auf sich allein gestellt! Ob er überhaupt noch am Leben war? Und ihm, Henry, fehlte es hier an nichts! Und das alles nur, weil Harry wegen seiner Größe ein paar Pfund mehr auf die Waage brachte und weil sein Name in der Sprache der Einwohner ähnlich wie ihre Bezeichnung für Satan klang. Das war nicht recht!

Seine gesamte Freizeit verbrachte Henry also damit, Harry zu suchen. Was mit dem "Nachtviertel" gemeint war, fand er schnell heraus. Das stellte ihn vor ein Problem: Brückenstadt war groß. Wenn das Nachtviertel die ganze Stadt umfasste, konnte Harry überall sein. Wo also mit der Suche beginnen? Wie sollte er ihn überhaupt suchen, wenn er als Tagbewohner nachts nicht unterwegs sein durfte?

Bevor Henry eine Antwort auf diese Fragen gefunden hatte, geschahen drei Dinge. Zunächst einmal fand er etwas Interessantes über Brückenstadt heraus, und zwar von einer der Nachtwachen. Er wollte sich bei diesem Mann erkundigen, was er tun müsse, um auch als Nachtwache arbeiten zu dürfen, und dieser hatte es lang und breit erklärt. Dabei erwähnte der Mann, dass er als Nachtwache das dreifache Gehalt erhielte wie zuvor und er vorhabe, so viel wie möglich zu sparen, damit er in einem Jahr für sich und seine Frau den Brückenzoll zusammenhätte und diese grässliche Stadt endlich verlassen könne.

Das war das Geheimnis von Brückenstadt. Das war der Grund, warum die Stadt so entsetzlich überfüllt war, dass man sich nicht anders zu helfen wusste, als der Hälfte der Bewohner zu verbieten, ihre Häuser bei Tag zu verlassen, der anderen Hälfte bei Nacht. Umsonst durfte man hinein, aber zahlen musste, wer wieder hinauswollte! Und der Brückenzoll für eine Person kostete in etwa das Jahresgehalt einer Tageswache.

Henry hatte die Zollbrücke schon mehrmals gesehen, bestaunt, und sich nichts dabei gedacht. Er ging allerdings nicht gern dorthin. Brückenstadt lag nämlich auf einem Berghang, welcher abrupt an einer Schlucht endete, die so tief war, dass man den Grund nicht sah, und so weit, dass man die gegenüberliegende Seite nicht sah—was auch damit zusammenhing, dass stets ein dichter Nebel über der Schlucht lag. Eine schmale Hängebrücke war darüber gespannt, die an ihrem tiefsten Punkt im Nebel verschwand. Das ganze sah sehr unheimlich und irgendwie... dämonisch aus. Der Anblick ließ ihn an die Felsschlucht von Gehenna denken, der Ort, an dem die Abtrünnigen geworfen wurden.

Das zweite Ereignis waren eine Reihe von nächtlichen Störungen. Kinder erzählten, dass in der Nacht ein Gespenst um ihr Haus streifen würde und an die Fenster klopfte. Mit zitternden Fingern versuchte es, durch angelehnte Fenster nach den Kindern zu greifen. Und es jagte den Kindern einen Schrecken ein, indem es durch Ritzen und Spalten raunte: „Einhundert Kinder muss ich haben. Mein Leben gegen das von einhundert Kindern. Komm, mein Kleines. Ich werde Dich immer in meinem Busen tragen.

Man hielt diese Vorkommnisse zunächst für Fantasien kleiner Kinder, die zu viele Märchen gehört hatten. Als sich die Berichte aber mehrten, stellte man doch Untersuchungen an. Man fand eine Reihe von verwischten Handabdrücken. Und dann, es dauerte nicht lange, wurden tatsächlich Kinder vermisst. Längst hielt die Wache die Vorkommnisse nicht mehr für Kinderphantasien. Die Männer waren äußerst alarmiert.

Man erinnerte sich daran, dass Henry auffällig oft nach der Nachtwache gefragt hatte. Henry wurde verdächtigt, von den eigenen Leuten verhaftet und endlos verhört. Mit ihrer komischen Waage kamen sie ihm wieder, mit Tränken und Zaubersängen, die angeblich die Wahrheit aus ihm herausbringen sollten. Nun, er sagte ja schon die ganze Zeit die Wahrheit: "Ich bin kein Kinderschreck! Im Gegenteil, ich habe schon oft gegen die Wesen der Dunkelheit gekämpft. Lasst mich zur Nachtwache und ich werde die Sache aufklären."

Ob es am Ende seine Beteuerungen oder ihr Zauberwerk war, jedenfalls glaubte man ihm und entschuldigte sich vielmals. Eine Durchsuchung seines Gemaches hatte auch keinerlei Hinweise zu Tage gebracht. Henry durfte seinen Dienst wieder aufnehmen, doch die Hoffnung, in näherer Zukunft der Nachtwache zugeteilt zu werden, war erst einmal dahin.

Als drittes fand er eines Morgens einen Zettel auf seinem Nachttisch. Dort stand in unbekannter, kunstvoll verschnörkelter Handschrift: "Ich habe Deinen hübschen Freund gefunden. Ohja, eines abends habe ich ihn gefunden und ihn durchschaut. Er bricht die Herzen der stolzesten Frau'n. Ob ich ihm dafür seine Finger brechen werde? Unterste Gasse, letztes Haus in der Reihe, roter Backstein. Komm nicht zu früh und auch nicht zu spät.

Henry zögerte nicht lange. Es war ihm klar, dass der fremde Schreiber niemand anderen meinen konnte als Harry. Henry hatte eine Intuition und packte seine Sachen zusammen. Gleich in dieser Nacht machte Henry sich auf den Weg. Es war fast schon lächerlich einfach, ins Nachtviertel zu gelangen. Er musste sich nur ein bisschen auf der Wachstube "verquatschen", sodass er den Sonnenuntergang verpasste und ihm lachend ein Bett in einer der leeren Zellen angeboten wurde. Von dort aus musste er nur, das aber ungesehen, zu der Tür hinaus, durch die man auch Harry geschleift hatte. Henry fühlte sich etwas unwohl, sich den Zugang zum Nachtviertel zu erschleichen. Aber in der Not galt ein Leben mehr als ein Gebot.

~~~

Das Haus in der Untersten Gasse war schnell gefunden. Henry musste sich auf dem Weg dahin auch nur zweimal Strauchdieben erwehren, die ihn ausrauben wollten. Er klopfte, doch niemand öffnete. Also brach er die Tür auf. Die ersten beiden Zimmer, die er untersuchte, waren leer; dann endlich fand er Harry. Offenbar nicht einen Tag zu früh.

Angekettet und splitternackt lag der arme Harry auf seinem Bett und brabbelte wie ein Geisteskranker vor sich hin. Als er Henry erblickte, lachte er irre und rasselte mit seiner Kette. Für ein Trugbild hielt er ihn. Henry untersuchte die Fesseln. Er war sich sicher, dass er selbst das dünne Kettchen hätte zerreißen können; den geschundenen Handgelenken nach zu urteilen hatte Harry es wohl probiert, doch fehlte ihm die Kraft dazu. Es dauerte eine geraume Weile, bis Henry den Kameraden davon überzeugen konnte, dass er tatsächlich hier war; noch länger, bis Harry sich so weit gefasst hatte, dass er ihm sagen konnte, wo sich der "Ersatzschlüssel" zu seinen Fesseln befand.

Kaum hatte Henry diese aufgeschlossen, sprang Harry auch schon auf und suchte—schwankend—seine im ganzen Zimmer verstreute Kleidung zusammen. Immer noch schwankend zog er sich an, wobei er zunächst die Hosenbeine verwechselte, dann sein Hemd mit den kurzen Ärmeln verkehrt herum anzog, dann gar den linken Stiefel auf den rechten Fuß zog; es bedurfte Henrys Hinweise, um ihn darauf aufmerksam zu machen. Als er endlich fertig angezogen war, stand er einen Augenblick da, dann brach er zitternd auf dem Boden zusammen.

"Drei Wochen!" rief Harry. "Oh Gott, Henry, wenn du nicht gekommen wärst! Irre wäre ich geworden. Nicht einen Tag länger hätte ich es ausgehalten. Von allen Heiligen im Himmel, Henry, bist du der heiligste!"

"Niemand ist heiliger als Jesus Christus", antwortete Henry verschmitzt.

Und wieder zu zwein

Als die beiden kurz darauf am Küchentisch saßen, zitterte Harry noch immer. Auch zuckte sein Kopf in unregelmäßigen Abständen, bis er ihn stöhnend auf die Tischplatte knallte.

"Das ist die Magie", sagte Henry. "Ich habe dich gewarnt."

"Magie", empörte sich Harry, "hat die Fesseln nicht verschlossen. Mit Magie hätte ich sie höchstens aufgekriegt. Was meinst du, wie lange ich das verdammte Schloss angestarrt und all meine Gedanken darauf gerichtet habe, und vielleicht hätte ich auch was erreicht damit, wenn mir nicht jemand beide Hände angekettet hätte. Man kann nämlich nicht wirklich zaubern, wenn beide Hände angekettet sind. Man braucht nämlich mindestens eine Hand zum Zaubern!" Während der ganzen Rede fuchtelte er derart hitzig mit seinen Händen umher, dass er Funken durch die Luft zog.

"Ja, ich habe auch das Gefühl, hier Teil eines kleinen, perversen Spielchens geworden zu sein", sagte Henry ruhig. "Es wird Zeit, dass wir aus dieser Stadt verschwinden."

"Ja, aber wie?" rief Harry. "Diese Dimensionssprünge passieren nie, wenn man's will."

"Da kann ich weiterhelfen", sagte Henry und erklärte rasch, was es mit der Brücke auf sich hatte. "Nur, wie wir das Geld für die Passage zusammenkriegen sollen, weiß ich noch nicht", seufzte er. "Und auch nicht, wohin die Brücke führt."

Harry steckte sich eine unsichtbare Pfeife in den Mund, kaute darauf herum und untersuchte dann den Zettel.

"So, dir schreibt also auch jemand solch nette Briefchen", meinte er. "The plot thickens. Hm. Meine hat mit Namen unterschrieben. Lasciel. Hat deine sich nicht vorgestelllt? Es ist doch eine Frau, oder? Von der Schrift her würde ich das annehmen."

Henry antwortete nicht, also drehte Harry den Zettel um. "Hier auf der Rückseite erscheint gerade eine Schrift, war wohl mit Magie versteckt. Moment, gleich... OK, also, da steht: 'Du bist sehr widersinnig und warst mir nicht nützlich. Aber zumindest jetzt wirst Du mir ein wenig Freude bereiten. Das Spielchen hat begonnen. Ich habe der Stadtwache einen Hinweis zukommen lassen. Wirklich widerlich, was Du in Deiner Stube versteckt hältst. Sie werden sich fragen, wie Du ihre kleinen Zauber täuschen konntest, aber sie werden keine Zweifel haben. Es gibt nur einen Weg: über die Brücke. Auf der Brücke sag, dass Du nach Kurun willst. Nicht mehr.'

Hm. Kurun. Was meinst du, sollen wir nach Kurun? Der Rest klingt ja nicht nett. Andererseits, wenn wir bei dem 'kleinen Spielchen' nicht mitmachen, wird sie dich bestrafen, so wie Lasciel mich bestraft hat. Weißt du, mit was sie dir da droht?
"

Henry war blass geworden und nickte nun. "Ja, ich fürchte, wir haben keine andere Wahl", antwortete er zähneknirschend.

Und so mussten sie nur noch planen, wie sie über die Brücke kommen sollten, und zwar möglichst noch in dieser Nacht.

"Ich habe eine Idee", sagte Harry. "Sie wird dir nicht gefallen. Also, ich kenne da einige gutbetuchte Damen, die eventuell bereit wären, wenn ich ihnen eine entsprechend herzzerreißende Geschichte auftische, mir aus meiner Not zu helfen. Glaub mir, Henry, eine solche Vorgehensweise ist mir zutiefst zuwider—du ahnst gar nicht, wie sehr mein Gewissen mich wegen dieser reizenden Geschöpfe eh schon plagt—aber welche Wahl haben wir? Sobald ich das nächste Mal einschlafe, wird Lasciel die Sache in die Hand nehmen und dabei könnte es Tote geben. Da hinterlasse ich lieber nur Belogen und Betrogene. Or, as the sailors say: Always choose the lesser weevil."

Harry sah unglücklich, aber zugleich entschlossen aus. Henry sagte nichts, aber das war Zustimmung genug. Er wollte gar nicht daran denken, was die Wachen in seiner Stube vorfinden würden oder was passieren mochte, wenn er das nächste Mal einschlief und sie den Brückenzoll noch nicht beisammen hatten.

"Gut", sagte Harry. "Dann such ich nur schnell meine Siebensachen zusammen und wir machen uns auf den Weg."

~~~

Und so zogen die beiden gemeinsam durch die Nacht. Den wenigen Nachtwachen, die unterwegs waren, wichen sie ohne Schwierigkeiten aus. Solange Nacht war, fühlte Henry sich einigermaßen sicher. Im Nachtviertel suchte ihn niemand.

Als erstes steuerte Harry ein großes Haus auf der Nordseite des Marktplatzes an. Hier wohnten Amatrice und Narissa, Tochter und Nichte des Bürgermeisters. Henry wartete in einer dunklen Nische, während Harry sich—auf was für Schleichwegen auch immer—ins Innere des Hauses begab.

Dort tischte er den beiden Mädchen, die ganz entzückt waren, ihn zu so ungewohnter Stunde wiederzusehen, eine Lügenmär auf, die beide zu Tränen rührte. Eine kranke Mutter kam darin vor, ein geldgieriger Heiler, ein betrügerischer Pfandleiher... kurzum, die beiden leerten ihre Geldkassetten und versuchten dabei gar, sich gegenseitig zu übertrumpfen, wer dem Geliebten in seiner Not mehr Geld ausleihen könne. Zum Schluss drehten beide ihre Kassetten einfach auf den Kopf; Amatrice gewann den Wettbewerb, einfach weil sie als Tochter des Bürgermeisters mehr Geld von ihren Eltern zugesteckt bekam. Die Summe reichte nicht ganz für einmal Brückenzoll. Dennoch bedankte Harry sich ausgiebig bei den Damen—wenn auch nicht ganz so ausgiebig, wie sie es gerne hätten. Er entschuldigte sich damit, dass er seine arme kranke Mutter nicht so lange allein lassen dürfe.[5]

Harry konnte Henry kaum in die Augen sehen, als er ihn in seiner Nische abholte. (Aber er war gottfroh, dass er Henry dort noch vorfand. Auf dem Marktplatz patrouillierten die Nachtwachen nämlich sehr streng, man wollte ja schließlich Hab und Gut der Reichen beschützen. Und so hatte Henry auch mehrmals sich tief in seine Ecke drücken, den Atem anhalten, und zu Gott, dem Allmächtigen beten müssen.)

Als nächstes besuchte Harry Imona. Auch Imona "lieh" ihm, so viel sie konnte, als sie von seiner kranken Mutter erfuhr. Dann ging es zu einem weiteren Mädchen, dessen Adresse auf einem der Liebesbriefchen stand, die sich in Harrys linker, oberer Innentasche (gleich über dem Herzen) drängten; sie hatte mit Mathildchen unterschrieben. Ein unschuldiges Geschöpf, wie sich herausstellte. Sehr unschuldig. Überhaupt nicht Harrys Typ. Und dabei wirklich so unschuldig, dass er nicht daran zweifelte, sie müsse durch ihn überhaupt erst erfahren haben, wie das so funktioniert mit Mann und Frau und dem Klapperstorch. Leider hatte Mathildchen fast ihr ganzes Geld für Tand ausgegeben. Noch immer war der Brückenzoll nicht zusammen. Nicht einmal dreiviertel, und die kurze Sommernacht war bald vorbei.[6]

Das nächste Briefchen in seiner Sammlung stammte von einer Fiona. Fiona weinte, als sie Harry sah. Sie warf sich ihm an den Hals. "Harry", rief sie. "Harry, bitte bleib! Bitte bleib für immer bei mir! Dein Kind trag ich unter dem Herzen! Wenn du mich nicht nimmst, verstoßen wird der Vater mich!"

Harry wusste nicht, was er tun sollte. In seinem ganzen Leben hatte er sich nicht so hilflos gefühlt. Er drückte Fiona an sich, küsste sie aufs Haar, murmelte beruhigende Worte, während seine Augen—ungesehen von ihr—sich mit Entsetzen füllten.

Starr vor Entsetzen war sein Blick noch immer, als er zu Henry zurückkehrte. Er hob beide Hände: in der linken hielt er einen prallen Geldsack—weit mehr, als sie für den Brückenzoll bräuchten—an der anderen Hand befand sich ein Verlobungsring.[7]

"Frag nicht", bat er leise. "Nicht heute. Lass uns einfach hier verschwinden."

Und so eilten sie, als wäre der Teufel hinter ihnen her, zur Zollbrücke hoch.

Als die Wachen, welche den Eingang zur Brücke bewachten, in Sicht kamen, drückte Harry Henry rasch Fionas Geldbeutel in die Hand. Im Osten zeigte sich bereits eine Ahnung von Morgengrauen.

"Geh du zuerst", sagte Harry, weil er Angst hatte, nach Henry könnte schon gefahndet werden. Henry nahm das Geld, ohne ein Wort zu sagen, und verschwand in Nacht und Nebel. Niemand hielt ihn auf. Harry wartete noch eine Weile, dann folgte er ihm.

Der Gang über die schaukelnde Hängebrücke war das gruseligste, was Harry je erlebt hatte. Unter ihm das Nichts, vor ihm das Nichts, und bald auch hinter ihm. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, zerrte an seiner Kleidung, brachte die Brücke nur noch mehr zum Schwingen und zerstreute doch nicht den Nebel. Der Nebel blieb gänzlich unberührt, als seien er und der Wind nicht von derselben Dimension.

Dann schwebte vor Harry plötzlich ein Steintor. Auf einer Hängebrücke aus Tauen und Holzplanken.

Von Toren in die Anderswelt hatte er schon gehört. Dies war auch ein Tor. Ein Tor in eine andere Welt.

Wohin des Wegs, Reisender? fragte eine Stimme in seinem Kopf.

"Nach Kurun", sagte Harry.

Dann tritt ein, sagte die Stimme.


 1. auf Thoru
 2. Die Idee mit der Zweiteilung einer Stadt nach Tag- und Nachtbewohnern (sowie die mit der Zollbrücke) stammt aus Twilight Robbery (http://www.franceshardinge.com/library/twilight_robbery.html) von Frances Hardinge.
 3. natural armor +1
 4. bloodline spell level 3
 5. Bluff = 26 + 20
 6. Bluff = 23 + 15
 7. Bluff = 29 (natürliche 20)
Titel: Vom Schicksal verweht
Beitrag von: Harry Webster am 01.10.2014, 17:21:54
Und weiter geht's hier (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8230.msg929970#msg929970).