Als Harry die Augen öffnet, steht er am Rand einer weiten, staub-grauen, von Kratern durchsetzten Ebene. Das Licht ist diffus, der Himmel eine kränkliche Mischung aus Gelb, Grün und Grau. In der Ferne steigt Rauch aus einem Vulkan auf, während Erdlöcher rings um ihn zischend heißen Dampf ausstoßen. Die Sonne steht auf ihrer höchsten Position und brennt auf seinem Gesicht, selbst durch all den Dampf und Rauch hindurch. Ein beißender Geruch von Schwefel liegt in der Luft. Nach aller Kunst der Beschreibung befindet er sich in einer Höllenlandschaft. Und doch...
...fühlt er sich wohl. Es ist genau seine Temperatur. Daheim, in Chicago, hat es ihn ständig gefröstelt, weil alles von der U-bahn bis zum letzten Pawn Shop (und sogar das eigene Office, für den seltenen Fall, dass ein Klient auftaucht) auf Kühlschrank-Niveau herabgekühlt wurde. Hier dagegen ist er in seinem Element. Harry sieht an sich hinab. Außer einer schwarzen Jeans trägt er nichts. Barfuß läuft er über heißes, scharfkantiges Vulkangestein und spürt dennoch keinen Schmerz. Er lacht.
Da entdeckt er in der Felswand etwas weiter entfernt im Süden einen Höhleneingang. Neugierig schlendert er darauf zu. Obwohl er bestimmt eine dreiviertel Stunde unterwegs ist, begegnet ihm nichts und niemand. Nicht einmal ein fernes Anzeichen von Leben, nicht einmal ein Punkt am Himmel, der ein Vogel sein könnte.
Feucht-heiße Luft schlägt ihm entgegen, als er endlich die Höhle betritt. Sie ist erstaunlich groß, wie der Altarraum einer Kathedrale, und der Boden komplett aus—anders als draußen völlig glattem, glänzendem—Vulkangestein. Ringsum an den Wänden brennen Kohlefeuer in riesigen Steinschalen. In der Mitte des Raumes befinden sich ein dampfendes (und für seine inzwischen angepassten Sinne einladend duftendes) Schlammbad in der Größe eines kleinen Swimming Pools. "Dampfend" ist allerdings noch untertrieben. Der grünlich-graue Schlamm scheint leise vor sich hin zu köcheln.
Ohne Zögern schreitet Harry darauf zu, zieht seine Hose aus, und lässt sich in das Becken plumpsen. Der Schlamm ist tatsächlich brodelnd heiß und er geht ihm bis zum Bauchnabel. Jeder normale Mensch hätte sich gnadenlos verbrüht. Tödlich verbrüht. Für Harry ist es wohlig warm. OK, es ist heiß. Richtig heiß. Aber auf gute Art. Fasziniert beobachtet er die Reaktion seiner Haut: ja, sie wird rot, aber auch irgendwie... ledrig zuerst, dann tauchen kleine Schuppen auf, erst um seinen Bauchnabel, dann breiten sie sich nach oben über seine Brust aus (und, dem sachten Kribbeln nach zu urteilen, auch nach unten) und weiter bis zum Hals und dann die Arme hinunter bis zu seinen Händen... besonders dicht drängen sie sich auf den Händen, und seine Finger werden länger, der kleine wächst mit dem Ringfinger zusammen, gebogene, messerscharfe Klauen schieben sich statt der Nägel aus seinen Fingerspitzen...
Harry sucht sich eine etwas flachere Stelle am Rand, wo er sich hinlegen kann wie in einer Badewanne, lehnt sich dort zurück und schließt wohlig zufrieden die Augen. Der Effekt auf seine verkrampften Muskeln—nach seiner dreiwöchigen Kettenstrafe—ist unbeschreiblich.
"Hallo, Harry", sagt eine heisere Bariton-Stimme.
Harry klappt seine Augen auf. Dann—genervt—wieder zu. Dann—neugierig wider Willen—auf. Vor ihm, am gegenüberliegenden Rand des Beckens, steht ein junger Mann oder Wesen, besser gesagt, obwohl es eindeutig männlich ist, wie sich zeigt, als dieses sich entkleidet und zu ihm in das Becken steigt. Zu Harrys Erleichterung nähert der andere sich aber nicht weiter, sondern lehnt sich dort an den Rand zurück.
Dieses Wesen sieht aus wie er, nur ist sein gesamter Körper dick mit Schuppen überzogen. Aus dem Stirn schieben sich bleiche, noch hinten gebogene Hörner, in seinem Mund blitzen Raubtierzähne, und aus den Schultern ragen—zusammengefaltet—ledrige rote Flügel. Seine Augen aber leuchten bernsteinfarben und ihren Tiefen tanzen winzige Flammen.
"Oh bitte", sagt Harry.
"Was willst denn du darstellen? Noch eine Persona?"Sein Gegenüber runzelt die Stirn.
"Persona? Was meinst du? Ich bin ich. Mein Name ist Aleister."Harry schnaubt.
"Das meine ich. Wenn du Aleister bist, wo ist dann Mulholland? Kommt der heute auch noch vorbei? Oder warum heißt du Aleister?""Weil du den Namen Mulholland noch nie mochtest", sagt Aleister.
"Dich mochte ich noch nie.""Sei nicht kindisch. Ich bin du. Willst du damit sagen, dass du dich selbst nicht magst?""So weit würde ich nicht gehen", sagt Harry.
"Aber es gibt Teile von mir, auf die könnte ich gut verzichten.""Und deshalb möchtest du sie abhacken? Abspalten von dir als eigene Persona?" Aleister hebt eine Augenbraue.
"Das kann nicht gesund sein.""Nein, ist es nicht.""Außerdem, als eigene Persona entzöge sich dieser Teil von dir ja gänzlich deiner Kontrolle, und das, musst du zugeben, kann auch keine Lösung sein.""Ja doch, Aleister. Ich habe dir doch schon recht gegeben. Was willst du noch?"Aleister lächelt. Es sieht nicht sehr vertrauenserweckend aus, mit den vielen Zähnen.
"Dir helfen, Harry. Ich mag dich nämlich. Ich mag dich nämlich sehr. Auch möchte ich nicht von dir ausgegrenzt und abgeschnitten werden. Wir könnten wunderbar zusammenarbeiten, du und ich. Immerhin teilen wir uns diesen Körper. Es wäre besser für ihn, und für uns, wenn wir uns nicht darum streiten müssten. Nicht wahr? Unser Streit, den wir da seit ein paar Wochen führen, der ist doch gar nicht schön. Aber so muss es nicht sein. Schließlich ist es unser beider Geburtsrecht, hier zu sein. Das will ich dir nicht verleugnen, das kannst du mir nicht verleugnen.""Was schlägst du also vor?" fragt Harry.
"Zunächst einen Waffenstillstand. Das ist nun wirklich nicht zuviel verlangt, zumal der Krieg dir selbst fast mehr schadet als mir. Am Ende sitze ich doch am längeren Hebel.""Fein. OK. Waffenstillstand. Was kommt dann?""Ich möchte nur, dass du vorurteilsfrei an unsere Beziehung herangehst. Dass du mir eine Chance gibst, mich zu erklären und dir außerdem zu beweisen, dass meine Absichten sich mit den deinen problemlos vereinbaren lassen. Zum Beispiel könnte ich dir zeigen, dass ich mich nicht nur auf: WUMM! KNALL! und PENG! verstehe, sondern auch darauf, unseren gemeinsamen Körper zu schützen."Harry verschränkt die Arme vor der Brust.
"Da bin ich aber gespannt."Aleister kichert. Es klingt wie das Todesröcheln eines hundertjährigen Asthmatikers.
"Hab ich schon mal gesagt, dass ich dich mag? Nun, den ersten Beweis habe ich schon erbracht, und noch dazu ganz umsonst. Eben als Geste des guten Willens. Das heiße Schlammbad nämlich, was ich dir bereitet habe, das kann mehr als nur Muskeln entspannen: es härtet deinen Körper ab—wie du feststellen wirst, sobald du aufwachst."[3]Harry blinzelt Aleister misstrauisch an.
"Wenn du abhärten sagst, meinst du dann, dass ich so aussehe wie du, wenn ich aufwache?""Nein, keine Sorge, so schnell geht das nicht. Überhaupt, um so auszusehen, müsstest du noch viele bewusste Schritte in meine Richtung tun. So wie ich aussehe, das zeigt dir nur die Grenze des Möglichen an. Darunter gibt es viele, viele Abstufungen. Was für dich die richtige Mischung zwischen Mensch und Drache ist, das musst du schon selbst herausfinden. Ich schreibe dir da gewiss nichts vor.""Ich will ganz Mensch sein", sagt Harry stur.
"Wenn du ehrlich zu dir selbst wärst, würdest du zugeben, dass du das nicht möchtest, aber davon will ich jetzt nicht wieder anfangen. Hier also mein zweiter Freundschaftsbeweis für heute: eine Rüstung aus reiner Macht. Ähnlich wie dein Schildamulett, nur rundum. Was sagst du? Soll ich dir das zeigen?""Ähm", sagt Harry.
"Ich weiß nicht recht. Großvater Mortimer hat immer gesagt, ich soll keine Bonbons von fremden Männern annehmen.""Ich bin kein fremder Mann", sagt Aleister lächelnd.
"Ich zeig's dir einfach mal, dann kannst du immer noch entscheiden, ja?"Aleister richtet sich auf und geht ein paar Schritte in Richtung Beckenmitte. Dann zeigt er Harry die Gesten, erklärt die Hintergründe, und beschreibt die magischen Ströme, die man für einen Rüstungszauber
[4] benötigt.
"Welche Worte sollen wir dazu nehmen?" fragt er schließlich.
"Armamentum incantatoris!" kommt Harrys Antwort wie aus der Pistole geschossen.
"Latein, im Ernst?" fragt Aleister.
"Nicht lieber Drakonisch? Das fänd ich irgendwie... stimmungsvoller.""Nein, in Drakonisch fluch ich schon. Außerdem spreche ich das genauso fließend wie Englisch. Es muss schon etwas sein, das ich nicht aus Versehen ausrufen kann, sonst bräucht ich gar keine Formel! Also Latein. Überhaupt, was heißt hier stimmungsvoll? Mein Name ist Harry Webster, nicht Harry Houdini. Ich trete nicht vor Publikum auf.""Nun gut", sagt Aleister, und klingt dabei ein wenig schmollend.
"Du musst damit ja zurecht kommen. Also, ich zeig's dir nochmal."Und Aleister führt den Zauber noch einmal vor, jetzt mit Harrys Formel. Und noch einmal. Schließlich macht Harry mit. Und noch einmal. Bis er ihn kann.
"Fein", knurrt Harry schließlich.
"Waffenstillstand."Aleister grinst von einem Hornansatz zum anderen.
"Wunderbar, Harry. Du wirst sehen: Zuckerbrot schmeckt besser als die Peitsche."