Gatsburg, USA, im Herbst 195x
Die milde Sonne des beginnenden Herbstes leuchtet auf das ehrwürdige Gebäude des Konservatoriums hinab, das an diesem ersten Tag des neuen Semesters nach der alljährlichen Sommerpause zum Leben erwacht, während rundum die Blätter der Bäume beginnen, das bunte Kleid ihres nahenden Endes anzunehmen und das Auge mit einem Reigen aus kräftig leuchtenden Mustern zu erfreuen.
Der Parkplatz vor dem Konservatorium, sonst nur von den wenigen privaten Wagen einiger Lehrer besetzt, quillt geradezu über: Zahlreiche Limousinen, fast ausnahmslos geräumige, teure Modelle, einige davon mit Kennzeichen, die auf alle möglichen Staaten der USA hinweisen, reihen sich dicht an dicht. Sichtlich angespannte Väter in grauen, blauen oder schwarzen Sonntagsanzügen entsteigen ihnen gemeinsam mit aufgeregten Müttern, die, in ihren besten Kleidern und mit den teuersten Hüten herausgeputzt, ihre kaum minder geschniegelten Sprösslinge einer letzten kritischen Prüfung unterwerfen, bevor sie mit ihnen den Kiesweg zum Schulgebäude beschreiten und dann die Stufen der beeindruckenden Steintreppe zum Haupteingang erklimmen. Dort, in der Aula des mittleren Gebäudeteils, versammeln sich immer mehr Eltern und Neuschüler und harren der Begrüßung durch Leiter und Kollegium des Konservatoriums. Ihre Anspannung äußert sich in einem nicht enden wollenden Gemurmel und verleiht der Aula die Atmosphäre eines summenden Bienenkorbs.
Weitaus weniger beachtet, lediglich von einigen neugierigen (und offenkundig nervösen) Sprösslingen im Vorübergehen beäugt, sieht man auch die Altschüler des Internats allein oder in kleinen Grüppchen der Aula zustreben, leicht erkennbar durch das Grünblau ihrer Schuluniformen: Die Jungen in einer dunkelblauen Bundfaltenhose, weißem Hemd mit ebenso blauer Krawatte und dunkelgrünem Pullunder, die Mädchen in denselben Farben, doch in einem gut knielangen Faltenrock anstelle der Hose und einer weißen Bluse mit einer kleinen Halsschleife anstelle von Hemd und Krawatte. Alle auf der Brust mit dem eingestickten Wappen des Konservatoriums, den drei ineinander verschlungenen Buchstaben GCM[1].
Die Altschüler sammeln sich in den Sitzplätzen der hinteren Reihen, während die Plätze in den vorderen Reihen den Neuankömmlingen und deren Eltern vorbehalten sind. Tatsächlich stehen einige Schülerinnen bereit, den Ankommenden mit freundlichem Lächeln den Weg zu ihren namentlich reservierten Plätzen zu weisen – eine Geste, die auf die meist gut betuchten und recht spendefreudigen Herrschaften bereits in den letzten Jahren nach allgemeinem Einvernehmen einen sehr positiven Eindruck gemacht hat.
Auf dem Podium der Aula, leicht erhöht, sind bereits die knapp zwei Dutzend Pädagogen zu sehen, die für die Ausbildung der gut 150 Schüler des Konservatoriums verantwortlich zeichnen. Auch sie im besten Sonntagsstaat, die meisten von ihnen im gesetzten Alter. Etwas abseits weisen ein Klavier sowie ein hoher Notenständer darauf hin, dass die Begrüßungszeremonie auch einen musikalischen Teil beinhalten wird. Alles in allem herrscht eine feierliche, erwartungsvolle Stimmung.
Rick hatte lange geschlafen, wie er es eigentlich immer tat, wenn er die Möglichkeit hatte. Irgenwie liebte er es, im Bett zu liegen und zu träumen. Besonders in dieser Halbschlafphase, in der er das Gefühl hatte, Kontrolle über seine Träume zu haben.
Aber irgendwann muß man ja mal aufstehen. Also den üblichen Gang ins Bad, schnell noch in die Cafeteria, bevor das Frühstück abgeräumt wurde und dann auf die Zermonie der Neuankömmlinge vorbereiten. Zum Glück hatten ihn seine Eltern schon vor zwei Tagen hergebracht.
Die Klamotten hatte er schon am Abend rausgesucht. Deshalb braucht das Umziehen auch nicht sehr lange. Kurz überlegt Rick noch, ob er sich die neumodische Frisur, die er sich in den Ferien zugelegt hatte, wieder rauskämmen soll, entschließt sich dann aber dagegen. Zum Glück gab es für die Haartracht der Männer am Konservatorum nur wenige Regeln.
Bevor er sein Zimmer verläßt, greift er seinem Klarinettenkoffer. Er hat bestimmt noch eine Stunde Zeit, bevor das große TamTam losgeht.
Und so macht er das, was er fast immer macht, wenn in nichts hetzt. Eine große Eiche im Garten der Anstalt bietet ihm ein wenig Schatten und eine Möglichkeit sich anzulehnen.
Spoiler (Anzeigen)Als er gebeten worden war, während der Zermonie ein Stück zu spielen, wußte Rick gar nicht, wie ihm geschah. Aber natürlich konnte man sowas nicht ablehnen. Aber warum gerade er, wo es doch so viele andere Schüler gibt, die bessere Musiker sind?
Sein Lehrer hatte irgendwas von einem Gefühl für das Stück gefasselt, daß andere wohl so nicht hatten. Aber richtig verstanden hatte Rick es nicht.
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Als er jetzt noch einmal mit der Klarinette üben will, spielt er verschiedene Interpretationen des Stücks, die er gehört hat nach. Eine Fähigkeit, die er bis heute nicht versteht. Wie von selbst kommen ihm die Töne und Tempi in den Sinn. Seine Finger brauchen nur nachmachen, was sein Geist schon weiß.
Noch immer ist er unentschlossen, welche Version ihm am Besten gefällt. Soll er vielleicht eine eigene entwickeln?
Doch dann schrickt er auf. Ein Blick auf die Uhr verrät ihm, daß er mal wieder viel zu spät ist. Hastig rafft er seine Sachen zusammen und rennt in Richtung Aula. Etwas außer Atem und ein wenig zerzaust betritt er dann den Saal. Bei einer kurzen Umschau stellt er fest, daß er tatsächlich einer der letzten ist, die eintreffen. Schnell und möglichst unauffällig sucht er sich einen Platz.
Die Schüler trennen sich nach kurzer Besprechung und gehen vorerst ihrer Wege. Laura überlässt Ayleen die Notenblätter, so dass sie sich Notizen machen kann, und Tiffany begleitet sie sehr bereitwillig in die Bibliothek. Den Schlüssel erhält sie tatsächlich problemlos, wie es Laura Ann schon vorausgesagt hat. Die beiden Mädchen teilen sich ihre Suche ein und durchforsten die Bestände systematisch, was recht langweilig ist, aber schließlich doch zu brauchbaren Ergebnissen führt.
"Ein Blick in alte Folianten (Ayleen)" (Anzeigen)Ayleen stößt auf ein altes Buch, das sich mit den Auswirkungen von Musik auf Psyche und Wahrnehmung beschäftigt. Es trägt den etwas trockenen Titel "Musik und Emotion, eine psychologische Betrachtung" und ist recht steif formuliert, in einem altmodisch anmutenden Akademikerstil. Doch es führt unter anderem einige Untersuchungen auf, denen zufolge bestimmte Klangabfolgen bei manchen Menschen messbare Auswirkungen haben, die sich nicht auf reine Empfindungen beschränken.
"Besonders labile, nicht gefestigte Persönlichkeiten", so schreibt der Autor an einer Stelle, "tendieren in diesem Falle zu Reaktionen, die auf eine gestörte Wahrnehmung hinweisen und bis hin zu Halluzinationen reichen, welche jenen kaum nachstehen, die sich durch Psychopharmaka erzielen lassen." Erwähnt werden zwei Fälle in den USA, in denen durch entsprechende Effekte Wahnvorstellungen hervorgerufen wurden. In einem der beiden Fälle musste die betroffene Person aufgrund ihrer totalen Verweigerung der realen Welt dauerhaft in einem Sanatorium untergebracht werden. Besonders interessant ist, dass unter den Beispielen für Schöpfer dieser Kategorie von Musik der Name Hall genannt wird...
Ayleens Versuche mit Teilstücken des Unendlichkeitskonzerts befriedigen sie hingegen nicht recht. Die Musik ist faszinierend, die Zeit vergeht beim Spielen in unheimlicher Geschwindigkeit, und immer wieder kommt für Sekundenbruchteile die Erinnerung an jenen Moment auf, als sie zum ersten Mal einen Akkord von Halls Werk hörte. Doch derselbe starke Effekt will sich einfach nicht noch einmal einstellen, während ihr Spiel sich in den Weiten des Campus verliert.
Ricky, der sich ebenfalls in der Bibliothek umschaut, hat mit der Multiharmonik einen guten Ansatzpunkt für seine Suche. Zu seiner riesigen Enttäuschung findet er zu diesem Stichwort jedoch kein einziges Dokument. Schon bald hat er die Suche in kreuzlangweiligen Listen und Verzeichnissen satt, und seine Gedanken beginnen zu schweifen... Er kann sich sehr lebhaft an die Blicke der anderen erinnern, als er in den kleinen Probenraum kam. Sie hatten alle miteinander etwas an sich, als seien sie gerade aus einem Tagtraum erwacht. Es steht ihm noch ganz deutlich vor Augen, dass er schon einmal eine Schülerin mit so einem Gesichtsausdruck gesehen hat. Ein süßes Mädchen, leider einen Jahrgang über ihm und daher wohl kaum interessiert. Doch er hat für sie geschwärmt, weshalb ihm ihr Blick noch genau in Erinnerung ist. Doch wo war das nur..?
"Augen, die man nicht vergisst (Ricky)" (Anzeigen)Seine Überlegungen kreisen immer noch um dieses Thema, als er sich später die Erlaubnis holt, für eine kurze Fahrt zum Postamt in Gatsburg das Internatsgelände zu verlassen – denn der ersehnte Brief seiner Mutter muss dort abgeholt werden. Als er frohen Mutes mit einem Umschlag zurückkehrt, in dem, dem Umfang nach, einige Zeitungsausschnitte stecken, muss er die Hauptstrasse überqueren, um zur Bushaltstelle des Ortes zu kommen. Da bleibt sein Blick an der alten, etwas vergammelt wirkenden Front des Unicorn Cinema hängen. Während er den düster und staubig wirkenden Eingangsbereich mustert, kommt die Erinnerung wieder: Genau dieser dunkle Eingang war es, der ihn an das Maul eines Monsters erinnerte, als er seinen früheren Schwarm Debby mit diesem seltsam verträumten Gesichtsausdruck aus einer Vorstellung kommen sah...
Ayleens Versuche mit dem Stück versetzen sie zwar nicht mehr in die traumhafte Stimmung wie beim ersten Mal, doch es wird ihr schnell eine angenehme Gewohnheit, verschiedene Passagen bei jeder guten Gelegenheit zu spielen. Immer wieder hat sie das eigenartige, aber faszinierende Gefühl, als spiele sich diese Musik von ganz allein. Es ist reine Entspannung – oder wäre es zumindest, würde sie nicht immer wieder von Mitschülern gestört, die langsam aber sicher neugierig zu werden beginnen. Und sie merkt nach und nach, dass es auf dem Gelände des Internats kaum einen Ort gibt, an dem man wirklich ungestört sein kann.
Ein durchdringender Blick (Ayleen) (Anzeigen)Da sie sich um Tiffany bemüht, fällt ihr schließlich auch auf, dass es noch jemanden gibt, der sich scheinbar sehr oft in der Nähe der schüchternen Schülerin aufhält: Eddy. Der Mädchenschwarm taucht wiederholt auf und behält das Mädchen im Blick, obwohl er ihr nur selten direkt nahe kommt, insbesondere dann nicht, wenn sie in Begleitung von Mitschülerinnen ist. Aus irgendeinem Grund kommen Ayleen seine Blicke jedoch reichlich finster und gereizt vor...
Ricky versucht sich auf den Film zu besinnen, doch er hat nur noch die vage Erinnerung an einen alten romantischen Schinken – genau die Art von Film, in den die Mädchen des Internats gern in ganzen Gruppen gehen, um Mengen an Konfekt und Taschentüchern zu verbrauchen, die für jemanden mit einem geringen Taschengeld ganz beachtliche Ausgaben darstellen. Doch wenn er sich recht erinnert, hat er es sonst nie erlebt, dass eine der Schnulzen auf die Schülerinnen einen derartigen Eindruck gemacht hat. Meist verlassen sie das Kino angeregt durcheinander schnatternd und fröhlich, trotz aller drinnen vergossenen Tränen. Debby wirkte irgendwie... anders. Ernster.
Er sinniert noch über das Kino und den Betreiber, einen alten, spindeldürren Mann, der manchmal ein wenig unheimlich wirkt, als er im Bus zurück ins Internat sitzt. Der Umschlag auf seinem Schoss enthält tatsächlich diverse Zeitungsausschnitte und einen Brief seiner Mutter mit den üblichen Mahnungen, ja recht fleißig zu sein und sie stolz zu machen, zudem mit dem Hinweis, er möge doch sorgfältig mit den Ausschnitten umgehen, die ihr teure Erinnerungen seien.
Seltsame Begebenheiten (Ricky) (Anzeigen)Als er später auf seiner Bude die alten, nach Druckerschwärze riechenden Seiten durchblättert, findet er alles, wie es in seiner Erinnerung war. Halls Verschwinden mitsamt einer Sopranistin und zwei weiteren Musikern vor dem Publikum der Uraufführung erklären die Blätter allesamt zu einem Bühnentrick, der von den einen als geschickter Schachzug, von den anderen als billiger Budenzauber gewertet wird.
In einer späteren Ausgabe findet er eigentlich mehr per Zufall einen weiteren Artikel, denn die Überschrift lässt kaum die Verbindung zum Fall Hall erahnen. Es wird der Fall eines Mannes erwähnt, der sich als Albert F. Hall, der Monate zuvor verschwundene Musiker, ausgab. Man vermutete einen Geistesgestörten, denn Hall war als vermisst erklärt worden, und der Unbekannte, obwohl mit einer gewissen Ähnlichkeit im Aussehen, redete derart wirr, dass man ihn zu einer näheren Untersuchung in ein Sanatorium verbrachte. In die Zeitung kam seine Geschichte, als er tags darauf wieder verschwunden war, ohne eine Spur zu hinterlassen...
Eddy, der beim Anblick der grau gekleideten Männer das Buch mit beiden Armen an den Leib drückt, als wollte man es ihm entreißen, schaut erst Phelps an, dann die Leinwand. Mehrmals geht sein Blick wild zwischen dem alten Mann und den Grauen hin und her, dann stürzt er sich mit einem lauten Aufschrei auf die Leinwand, taucht darin ein und ist verschwunden. Der Kinobesitzer hat die Augen geschlossen, den Kopf leicht in den Nacken gelegt und scheint zu träumen, während seine hageren Finger mit traumwandlerischer Sicherheit über die Tasten des Klaviers tanzen. Alles spielt sich wie im Licht eines Stroboskops vor den Augen der Schüler ab, die Eindrücke wechseln in einem verwirrenden Tempo: Eddy, dessen sehniger Körper im Sprung auf die Leinwand zufliegt, bis sein Schrei mit einem Mal abreißt – die grauen Männer, die über die Sitzreihen und zwischen ihnen hindurch auf sie zu eilen, die Augen wie gläserne Murmeln, ausdruckslos, die Gesichter auf sonderbare Weise sich gleichend, wie bei eineiigen Zwillingen – Phelps, der völlig entrückt wirkt und die Musik über den Rufen der Grauen durch den Raum schweben lässt.
Dann tauchen auch sie in das Tor ein, und die Stimmen der Grauen werden binnen weniger Herzschläge so leise, dass sie sie nur noch wie aus weiter Ferne hören, um schließlich zu verstummen. Doch die Musik begleitet sie eigenartigerweise noch immer – oder klingt sie nur in den Ohren der Schüler nach? Windböen zerren an ihnen, sie haben das Gefühl, aus großer Tiefe zu fallen, es fällt ihnen schwer zu atmen, und ihre Sinne scheinen zu schwinden...
...und als sie wieder zu sich kommen, liegt jeder von ihnen auf dem Rücken. Unter sich fühlen sie Gras, hohes Gras, und über ihnen scheint eine Sonne, die die Haut wärmt, ohne zu blenden. Ein ungewohnter, warmer Orangeton geht von ihr aus und umfängt alles. Und im Schein dieser seltsamen Sonne sehen sie Farben. Viele, bunte Farben – eine Pracht, die ihnen den Atem raubt. Farben, die sie nie zuvor gesehen oder auch nur für möglich gehalten hätten! Als seien sie ihr Leben lang blind gewesen und öffneten zum ersten Mal ihre Augen, um zu sehen...
~ Ende des ersten Kapitels ~