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Archiv => Archiv - Online-RPGs Pathfinder => Rûngard-Saga => Thema gestartet von: Tristan am 16.08.2017, 00:06:11

Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 16.08.2017, 00:06:11


Es wird schon dunkel, als sie endlich auf der Thinginsel ankommen. Sie waren spät losgekommen. In der vergangenen Nacht hatte ein Sturm getobt, der sich am Morgen nicht so recht legen wollte. Als Tristan und die restlichen elf Männer ihres Bootes endlich einstimmig beschlossen, man könne los, die Gefahr sei vorüber, hatte Lîf entsetzt protestiert: "Was, bei dem Sturm?" Während der Fahrt, die fast den ganzen Nachmittag dauerte, saß sie dann zwischen den Weibern in der Mitte des Bootes, eng zusammen gekauert, und sagte kein Wort. Kaum dass sie wieder Land unter den Füßen hat, änderte sich das allerdings sofort. Die Ladung ist bei so vielen Händen schnell ausgeladen, das Boot höher aufs Ufer geschoben. Dann macht sich die kleine Gruppe auf den Weg ins Landesinnere, wie schon etliche vor ihnen. Ihres ist bestimmt das zehnte Boot am Ufer, und draußen auf dem Meer nähern sich weitere.

Auf kleinen Schlitten ziehen sie, jeweils zu zweit, die Vorräte in Richtung Thingstätte. Die Schneedecke ist leider nicht geschlossen, das macht die Sache noch mühsamer. Der Wind, der über die nahezu strauchlose Landschaft weht, ist schneidend kalt, doch alle sind dick in Felljacken und wollene Kopftücher verpackt, aus denen nur gerötete Nasenspitzen in den Wind ragen. Neun Ehepaare zählen sie sowie zwei Töchter mitsamt ihren Verlobten, dazu ein Greis und zwei junge Burschen, die zum ersten Mal mitdurften. Die Kinder mussten daheim in der Obhut der Knechte und Mägde und älteren Geschwister bleiben. Jungs dürfen ab vierzehn Jahren mit auf das Disenthing; Mädchen nur, wenn sie verheiratet oder verlobt sind. Die beiden jungen Dinger laufen engumschlungen, einen der leichteren Schlitten ziehend, dabei immer wieder kichernd, während ihre nicht viel älteren Verlobten die beiden Jungen aufziehen und anstacheln, welche sich mit derart zotigen Scherzen revanchieren, dass Tristan froh ist, dass Lîf die Sprache noch nicht so gut versteht.

Mit dem alten Ole zusammen zieht Tristan einen der schwersten Schlitten; Lîf hinter ihm mit Gertrud, des schönen Karls Weib, einen leichten. Immer wieder dreht er sich nach ihr um, wie um sich versichern, dass sie noch da sei. (In Wahrheit aber, weil sich eine unerträgliche Unruhe in ihm ausbreitet, wenn er nicht regelmäßig sein Weib betrachten kann; ihm geht es wie dem Trunkenbold, dessen Gedanken zu jeder Zeit nur um das nächste Bier kreisen!) Ist sie nicht schön? Grundgütige Gaja! Wie keck hier und da ein paar feuerrote Locken aus dem schweren Kopftuch lugen! Und ihre Furcht von der Überfahrt hat sie auch vergessen und plappert munter mit ihrer Schlittenkameradin und deutet in die Landschaft und kommentiert, was sie sieht, und schimpft über das Wetter, den Winter, die Männer, die Kälte, den mangelnden Schnee, die Männer und das Wetter.

"Bei allen Ahnen, Tristan... hält dieses Weib irgendwann auch mal den Mund?" knurrt der alte Ole. "Kann sie dir die Kopfschmerzen überhaupt aufwiegen, selbst wenn sie kocht und wäscht für drei?" Dann kichert er so hämisch, wie nur ein Greis hämisch kichern kann. "Schnür' ihr doch beim nächsten Halt die Felljacke ÜBER ihrem Kopf zu, so tät' ich's machen, aber tüchtig!" Und damit Lîf seine Worte auch nur ja mitbekommt, spricht er laut und halb über die Schulter nach hinten gewandt.

Weshalb prompt hinter ihnen der Ruf erschallt: "Das habe ich genau gehört! Aber das ist typisch für einen Tunichtgut und Säufer wie dich, Ole Islaugsson: Dich interessieren nur die Würfel und das Methorn! Du weißt schon, warum du kein Weib hast, die würde dir nämlich..!" Mit Ole traut sie sich so zu reden, denn er ist nicht nur ein häufiger Gast in Tristans Haus, sondern gehört fast zur Familie. Eine Art Ersatzvater für ihren Mann, wenn Lîf das richtig verstanden hat. Tristan hat es ihr so erklärt: "Mein Leben hat Ole gerettet, als ich vierzehn war, und mich aus der schrecklichsten Gefangenschaft befreit."

Mit einem schmerzlichen Gesichtsausdruck wendet sich der gescholtene Ole nun nach vorn und brummt: "Die Ahnen mögen dich schützen, Tristan - gebrauchen kannst du's, gegen dieses Mundwerk kommt ja kein Sterblicher an. Das kommt davon, wenn man bei der Wahl seines Eheweibs mit dem falschen Körperteil denkt, aber da seid ihr jungen Männer ja unbelehrbar. Ich kann nur hoffen, dass sie dich sehr warm hält in eurem Ehebett!"

"Sehr", bestätigt Tristan ihm. Er schaut dabei lieber nicht nach hinten. "Und reden tut sie kaum dabei."

Und so stapft man weiter. Den Hügel dort hinten rechts muss man noch erreichen, dahinter liegt die Thingstätte.


Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 16.08.2017, 15:23:18
Zwar fällt es der nicht gerade kräftigen Lîf schwer, mit den anderen Weibern Schritt zu halten, doch als Bauerntochter hat sie gelernt, die Zähne zusammenzubeißen, wenn es ans Arbeiten geht. So stemmt sie sich in die Zugseile, Seite an Seite mit der untersetzten Gertrud, deren Atem ebenso in kleinen Wölkchen vor ihren Gesichtern emporschwebt wie der des Rotschopfs. Die eisige Luft brennt in der Lunge, vor allem, wenn man viel redet – doch gerade weil man ihr mehrfach geraten hat, sich auf die notwendigste zu beschränken, bis man rastet und sich an einem Feuer wärmen kann, hält Lîf ihren Redefluss aufrecht. Nur um ihnen allen zu zeigen, dass sie ihren eigenen Willen hat! Und auch, um die Sprache besser zu lernen, die man hier spricht und die sich merklich von ihrem gewohnten Dialekt aus Fersland unterscheidet. Dafür ist sie allerdings auch ziemlich aus der Puste.

Keuchend wendet sie sich an Gertrud, die neben ihr voranstapft, in die Seile gestemmt wie ein gutmütiger Ochse: langsam, aber willig, wie überhaupt das ganze Weib ein sanftmütiger, unerschütterlicher Fels zu sein scheint. "Sag mal... warum... bist du nicht böse... auf Karl..? Wie der... allen Weibern... schöne Augen macht..!" bringt sie zwischen ihren tiefen Atemzügen stoßweise hervor. Gertrud lacht nur – sanft, unbesorgt, wie immer. Sie schüttelt ihren Kopf belustigt, dass sich die schweren blonden Zöpfe, die unter ihrem Kopftuch hervorragen, nur so über ihren Rücken winden wie Schlangen. "Ach was! Hunde, die bellen, beißen nicht, Mädchen! Er muss einfach allem nachlaufen, was Röcke trägt. Aber das hat nichts zu sagen: Er ist eben so" meint die behäbig wirkende Gertrud so fröhlich, dass Lîf nur den Kopf schütteln kann.

"Der kriecht schon keiner andren unter'n Rock – er weiß doch, was er an mir hat" ergänzt Karls junges Weib augenzwinkernd, was der schräg hinter ihnen gehenden Inga an Kichern entlockt, wissen doch alle, dass der schöne Karl trotz aller Prahlereien über seine Liebesabenteuer des Nachts stets das Lager seiner üppig gebauten Gefährtin aufsucht. "Ist ja auch keine sonst ein so weiches Ruhekissen" ruft die sommersprossige Inga keck, die noch nicht lange verheiratet ist, aber schon ihr erstes Kind voller Stolz huckepack trägt, in Tücher auf ihren Rücken gebunden. Die anderen Weiber, die den kurzen Wortwechsel mitbekommen haben, werfen einige Scherze ein, die auf Kosten der vollbusigen Gertrud gehen und jenen der Männer in ihrer Direktheit nur wenig nachstehen.

Doch die Blonde lächelt nur gleichmütig und zieht weiter stoisch den Schlitten, während Lîf sich gewaltig anstrengen muss, es ihr gleichzutun. Sie hat von den Witzen kaum die Hälfte dem Wortlaut nach verstanden, aber Tonfall und anschließendes Gelächter der Weiber lassen jeden außer dem naivsten Geist ahnen, was ihre Äußerungen bedeuten. Während sie den Blick auf den gefrorenen Boden richtet und sich einstemmt, denkt die junge Frau zum wiederholten Mal über die Widersprüche nach, die sie hier bereits kennengelernt hat: Einerseits ist dieser Menschenschlag rau, rauer noch als die Bauern in ihrer Heimat. Doch andererseits sind sie gelegentlich von einer Fröhlichkeit, die sich dann in kindlichen – oder auch nicht ganz so kindlichen – Spöttereien Luft macht, bei denen es ihr selbst schon mehrmals die Röte ins Gesicht getrieben hat.

Diese Menschen sind ungekünstelt. Man spricht hier recht freimütig über Dinge, die anderswo schamhaft umschrieben werden. Auch Dinge über Weiber und Männer... Unwillkürlich wandert ihr Blick voran, zu den Mannsleuten, die vor ihnen gehen, den schwereren Schlitten ziehen und den Weg für die nachfolgenden Weiber ebnen. In diesem Moment dreht sich Tristan um und sieht ihr direkt in die Augen. Errötend senkt sie sie wieder. Gertrud neben ihr grinst und meint leise, als die Männer wieder nach vorn sehen: "Der deine ist aber auch ein hübscher Kerl..!" Indem sie zusammenzuckt, zischt Lîf zur Seite: "Er ist nicht der meine... allenfalls bin ich sein – er hat mich ja schließlich rechtmäßig ge.. ge... erworben!" spuckt sie regelrecht aus, als ihr das Wort einfällt, das sie suchte.

Doch Gertrud lässt sich auch von dem bissigen Ton des Rotschopfs nicht aus der Ruhe bringen. Sie lächelt wissend. "Ach, und wenn du ihn so hasst, warum schaust du dann dauernd zu ihm rüber?" neckt sie Lîf. "Tu' ich gar nicht!" Gertrud neigt sich zu ihr, um ihr ins Ohr zu raunen: "Du solltest es dir eingestehen, Lîf... er ist ja auch eine gute Partie. Und außerdem gehören Mann und Weib zusammen. Was sträubst du dich so dagegen? Ich sag' dir, du hättest einen viel schlechteren abbekommen können!""Ach, so einen wie deinen Prahlhans und Schürzenjäger meinst du?!" kann sich die junge Frau nicht beherrschen. Doch nicht einmal das kann die sanfte Gertrud aus der Ruhe bringen. "Karl ist ein guter Mann" behauptet sie so unerschütterlich, dass Lîf ihre bösen Worte gleich wieder bedauert. "Ich lasse sie über ihn reden, was sie wollen. Wart's ab: Wenn ihr euer erstes Kind habt, wirst du's schon einsehen. Ist sowieso für jeden offensichtlich, der Augen im Kopf hat..." Die junge Frau beißt sich auf die Lippen und fragt nicht, was wohl so offensichtlich sein mag, denn sie fürchtet die Antwort...
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 17.08.2017, 14:11:22
"Und du sagst doch selbst, er hat dich rechtmäßig erworben", fügt Gertrud nach kurzem Überlegen noch hinzu. "Gerade so, wie's allen Weibern geht. Es wirft der Mann ein Auge auf ein junges Ding und tritt darauf mit seinem Vater vor den ihren, und der eine Vater spricht zum anderen: 'Mein Sohn ist, wie du weißt, ein Mann mit Hof und gutem Ansehen, ihm fehlt also nur noch ein tüchtiges Weib. Dafür täte ihm deine Tochter recht gut gefallen. Nenne mir daher deinen Preis.' Und ihr Vater sagt: 'Du wirst viel hinlegen müssen, denn sie ist meine einzige Erbin und außerdem so tüchtig, dass mir der Fleiß ihrer Hände sehr fehlen wird.' Dann geht die Rede hin und her und die Väter einigen sich schließlich auf den Preis und der Handel ist abgeschlossen und dem Mädchen erzählt man erst hinterher davon. So war's bei mir und so wär's dir daheim auch ergangen. Oder hält man es bei euch etwa anders? Heißt man es nicht auch 'Brautkauf', wo du herkommst?"[1]

~~~

Danach schweigen erst einmal alle bis auf ein einzelnes Wort, das man sich bisweilen zuwirft, denn die Last scheint immer schwerer zu werden und die einbrechende Dunkelheit legt sich auf die Stimmung. Auch wird es immer kälter. Dafür rückt aber der Hügel immer näher, hinter dem fünf große Langhäuser sie mit einem warmen Feuer und Schutz vor dem unaufhörlichen Wind locken. Gerade heben sich die Herzen wieder, werden die Schritte wieder schneller, als direkt neben Lîf ein lautes, gar schauerliches Heulen ertönt, kurz nachdem—oder kurz zuvor?—ihr Schlitten über einen besonders großen Grasschopf holpert. Vor Schreck stolpert Lîf selbst und schlägt lang hin. Gertrud reagiert einen Moment zu spät, sodass der Schlitten zunächst weiterhin auf die Gestürzte zuhält.[2] Getrud schreit auf und plötzlich ist Lîf von aufgeregten Stimmen umgeben. Ihr erster Gedanke aber gilt nicht sich selbst sondern der Kreatur, die da so jämmerlich geschrieen hat. Ein Geist? Oder ein Tier? Verletzt? Durch ihren Schlitten? Dies ist, was sie erblickt[3]:

 1. Das läuft bei euch schon auch so, dass die Väter über den "Brautkauf" verhandeln wie über jeden anderen Handel, und Lîf hat da sicherlich auch schon einige Geschichten gehört, wo jemand seine Tochter an einen Mann verkauft hat, den sie nicht ausstehen kann oder vorher gar nicht kannte, aber natürlich kommt es genauso oft vor, dass die zukünftige Braut zu dem Zeitpunkt längst weiß, wem sie ins Auge gefallen ist und diesen Mann entweder ignoriert oder abzuwehren versucht hat oder aber aktiv ermutigt. Überhaupt: es muss schon ein seltsamer Vater sein, der den Wunsch der Tochter gar nicht bedenkt? Der sie gar nicht fragt? Nicht einmal vorher informiert? Nicht wahr, wer täte sowas?!
 2. Reflex vs. 10, ob Lîf sich aus der Bahn rollen kann, sonst d3 Schaden? Oder bloß entsprechend beschrieben.
 3. Ausgewürfelte Ereignisse, s. hier (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1033483#msg1033483). Entweder ist Lîf verletzt oder die Robbe, denn die Vorgabe ist: einer wird verletzt.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 17.08.2017, 17:34:10
Mit einem Augenrollen zerrt Lîf an den Seilen, während Gertrud neben ihr wieder anfängt. "Doch, natürlich" gibt sie widerwillig zu. Der Brautkauf ist auch in Fersland gang und gäbe, das kann sie schwer leugnen. "Aber mir hätte mein Vater niemals einen Kerl vorgesetzt, ohne mich auch nur anzuhören!" behauptet der Rotschopf hitzig, obwohl sie sich alles andere als sicher ist, dass dem tatsächlich so ist. Es gab da schon verschiedentlich Aussprachen in ihrer Familie, die für die junge Lîf mit einer gesalzenen Tracht Prügel endeten, weil sie sich nie etwas gefallen ließ und immer ihren Kopf durchsetzen wollte. Und da sie auch Gertruds erstaunte, dann zweifelnd-amüsierte Miene gar nicht sehen muss, um sie sich vorstellen zu können, schränkt sie gleich darauf ein: "Meine Eltern wollten immer, dass ich glücklich bin. Bestimmt hätten sie mich wenigstens vorher gefragt." Als sie das unterdrückte Kichern der molligen Blonden und einiger anderer Weiber hört, die ihre Worte mitbekommen haben, fügt sie missmutig hinzu: "Ich bin doch keine Milchkuh oder Zuchtstute..." Es wurmt sie, dass ihr keine glauben will, was sie zu gern selbst glauben würde: Dass sie ganz allein über ihr Leben hätte entscheiden dürfen, auswählen oder ablehnen, wenn sie nur hartnäckig genug gewesen wäre. Trotz aller bitteren Lektionen, die ihr Dickkopf und ihre scharfe Zunge bereits eingebracht haben.

~~~

Immerhin macht sich keines der Weiber mehr laut über sie lustig – entweder, weil sie mittlerweile wissen, wie heißblütig Tristans Weib ist, oder schlicht, weil sie ihre Puste zum Ziehen der Schlitten, zum Tragen der Lasten oder ihrer Kinder brauchen. Und da sie ungern auf verlorenem Posten steht, lässt es auch die junge Frau dabei bewenden. Sie ist ganz in den für ein schmales Mädchen wie sie anstrengenden Marsch vertieft, als neben ihr das laute Geheul erklingt, sie einen Satz machen und ausrutschen lässt. Der Aufprall ist dank der dicken, fellbesetzten Kleider, die sie von Tristan geschenkt bekam, nicht sehr schmerzhaft, treibt ihr aber zunächst einmal die Luft aus den Lungen. Als sie nach einem Moment der Benommenheit aufsieht, hört sie Gertruds Schrei gellen: "Gütige Mutter – pass auf, Mädchen..!!" Eher instinktiv rollt sie sich beiseite[1], und eine Kufe des Schlittens zischt knapp neben ihrem Bein vorbei, bevor das Gefährt gegen eine Schneeverwehung prallt und ruckartig zum Stillstand kommt. Zitternd bleibt sie liegen, während um sie herum die Weiber herbeilaufen und aufgeregt durcheinander schnattern. Lediglich die dicke Gertrud kniet sich neben den Rotschopf, überzeugt sich, dass Lîf nichts ernsthaftes geschehen ist, und zieht vorsichtig deren festgeklemmte Röcke unter der Kufe hervor. "Alles gut, Kindchen?" fragt sie sanft, und die mehr verdatterte als wirklich mitgenommene Lîf nickt langsam.

Sie macht den Mund auf, um zu antworten, als neben ihr wieder das klägliche Heulen ertönt. Halb richtet sie sich auf, wälzt sich herum – und schaut in ein paar riesig großer, unendlich traurig aussehender Augen. Lîfs Mund steht halb offen, sie fixiert das kleine, rundliche Wesen und bringt keinen Ton heraus, so sehr berührt sie der Anblick. Die anderen Weiber wechseln irritierte Blicke, als sich die junge Frau auf die Knie erhebt und ein Stück auf den kleinen Heuler zu rutscht. "Du armes kleines Ding... wo ist deine Mutter..?" flüstert sie und scheint ihre Umgebung ganz vergessen zu haben. "Du liebe Zeit... hat der Schlitten sie am Kopf erwischt?" wispert die freche Inga ihrer Nachbarin zu. Doch Gertrud, die sanfte Gertrud, blitzt sie zornig an und nimmt sie ebenso in Schutz, wie man es bei ihrem prahlenden Mann gewohnt ist: "Sei still, dumme Gans! Sie ist eben anders. Wer weiß, was sie gerade sieht... Gewiss spricht die Große Mutter zu ihr – warum wird die alte Esja sie sonst in die Lehre genommen haben?" Daraufhin verstummen die Weiber und sehen zu, wie die junge Frau vor dem Tierchen kniet, das mutterseelenallein liegt und zu ihr aufschaut. "Was bei allen Ahnen treibt ihr Weiber nur wieder?! Euch zu hüten, ist ja schlimmer als ein ganzes Rudel..." poltert Ansgar, der zurück zu der Weibergruppe gestapft ist. Mitten im Satz bricht er ab und starrt die Szene vollkommen perplex an. Blinzelnd kratzt er sich am Kopf und brummt etwas unverständliches. "Weiber..!" fasst er seine Ratlosigkeit schließlich zusammen.
 1. Reflexwurf mit einer 12 (siehe hier (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1033544#msg1033544)) geschafft
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 17.08.2017, 21:56:14
Auch Tristan ist, so schnell er sich von seinem Schlitten losmachen kann, an Lîfs Seite. "Liebes, bist du wohlauf?" fragt er besorgt, auch wenn ihm dies die eigenen Augen verraten würden, täte er statt zu fragen besser hinschauen. Lîf aber beachtet ihn gar nicht, ihre ganze Aufmerksamkeit gilt etwas, das sie auf dem Boden entdeckt hat. Erst, als Tristan um sie herumgelaufen ist, sieht er das kleine Wesen. Es ist verletzt. Eine Wunde—Bisswunde?—klafft nahe der Beinflossen und eine blutige Spur zieht sich durch den Schnee, Richtung Fjord. Tristan fasst Lîf bei der Schulter.

"Komm, wir müssen weiter. Du kannst dem Kleinen nicht helfen. Wenn seine Mutter es nicht wollte und seine Sippe es hier zurückgelassen hat... es ist ein Wunder, dass es überhaupt so lange überlebt hat. Aber den restlichen Winter übersteht es nicht mehr, verletzt oder unverletzt."

Doch Lîf rührt sich nicht. Tristan weist sie noch einmal darauf hin, dass alle müde sind und frieren und die nahe Thingstätte endlich erreichen wollen. Ihn erstaunt es dabei weniger, dass ein verletztes Tier das Mitgefühl seines Weibes erwecken kann. Erstens, weil Lîf, auch wenn sie gerne einmal schimpft, einfach nicht anders kann als mit jedem Wesen mitzufühlen, das sich in Not befindet, und zweitens, weil sie das, was andere zwar gerne als Lippenbekenntnis führen, tatsächlich im Herzen fühlt: dass Tiere nämlich ebenso Gajas Geschöpfe sind wie Menschen auch.

Und ich wollte sie gar nicht anders haben...

"Ich würde das Kerlchen ja von seinem Leid erlösen", versucht er es daher noch einmal im Guten, "aber auf dieser Insel ist die Robbenjagd verboten, wie überhaupt alle Jagd, weil es unsere heiligste Stätte ist. Deswegen mussten wir ja sogar Salzfisch einpacken, denn hier darf man nicht einmal fischen."

Als hätte der junge Seehund das Wort "Fisch" verstanden, robbt er noch ein Stück näher auf Lîf zu und sie hat den Eindruck, dass seine Augen sogar noch ein wenig größer werden.

"Jetzt komm schon", sagt Tristan ein wenig ungeduldig. "Ich fahr auch gerne mit dir im Saatmond noch einmal hierher, dann ist nämlich ganz Wodland voller Robben, drei verschiedene Arten, die hier an den Stränden bis weit ins Land hinauf ihre Weibchen begatten oder ihre Jungen gebären oder einfach nur in der Sonne liegen, das ist wirklich ein prächtiger Anblick! Aber für das Kleine hier kannst du nichts tun."

Und er versucht, sein Weib auf die Beine zu ziehen. Allzu bewusst ist er sich der vielen Blicke, die auf ihm und seiner Lîf dabei ruhen. Einige der Umstehenden warten nur darauf, dass etwas Interessantes passiert—man kann das daran erkennen, dass vor ihren Gesichtern keine Atemwolke schwebt, denn vor lauter Spannung halten sie den Atem an—um später in allen fünf Langhäusern das Geschehen haarklein weitererzählen können und dadurch selbst ein wenig interessant zu erscheinen.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 18.08.2017, 13:59:39
Nur für einen Moment blickt Lîf auf, starrt Tristan an und nickt stumm. Dann wendet sie sich wieder dem Tierchen zu, entdeckt die Blutspur und rutscht auf ihren Knien noch näher heran. Ihre Arme breitet die junge Frau aus, wie um den Heuler von allem abzuschirmen, und als er auch näher heranrobbt, fangen ihre Augen an, feucht zu schimmern. Das ist ein Wesen, das ebenso weit von seiner Mutter, seiner Familie weg ist wie sie... ein verwundetes darüber hinaus, und ein so junges, dass es allein hilflos ist. Die kleine Robbe wird hier nicht lang überleben... Tristans Worte, obwohl in mitleidigem Ton gesprochen, bohren sich ihr ins Herz, und lassen sie trotzig aufschauen. "Und deshalb wollt ihr es einfach sterben lassen?!" faucht sie biestiger, als man es angesichts ihrer eben noch geradezu greifbaren Trauer erwarten würde. "Wenn dieser Ort so heilig ist, dass niemand die Robben hier töten darf, darf man sie dann sterben lassen?!" fährt sie fort und redet sich, wie so oft, in Fahrt.

Die Weiber, die sich hinter Tristan drängeln, und einige der Männer, die herangekommen sind, wechseln ratlose Blicke. "Was ist?!" schnappt der Rotschopf, die unausgesprochenen Gedanken der Umstehenden spürend. "Er hat recht, Mädel" meint die handfeste, nüchterne Gertrud und schüttelt bedauernd den Kopf. "Du kannst dem Tierchen nicht helfen. Würdest seine Qual nur verlängern." Tristan kennt die Art genau, wie sich die Lippen seines jungen Weibes aufeinander pressen, eine Schnute bilden, während ihre Augen mit einem erbitterten Blick die Reihe der anderen absuchen. Ist da nicht irgendeiner, der sie unterstützen will, eines von den Weibern wenigstens..? "Lass mich..!" ruft sie, als ihr Mann sie auf die Beine ziehen will. Dann wendet sie sich wieder der Robbe zu, streckt eine Hand aus... berührt das Tier, das einen klagenden Laut von sich gibt.

"Was macht das törichte Weibsbild da?" kann man durch das Gemurmel der anderen verstehen. "Weibsbild?! Ein Mädchen ist das noch, ein Gör, das übers Knie gelegt gehört! So was unsinniges...""Lasst sie doch, das Kind ist ja nicht ganz bei sich!""Und wie lange sollen wir hier herumstehen? Bis wir festgefroren sind?!""Tristan, bring dein Weib zur Vernunft, wir müssen weiter!""Vorsicht: Wenn ihr sie anfasst, zürnt vielleicht die Große Mutter!" So fliegen die Worte hin und her, während die junge Frau ganz an die kleine Robbe heran gekrochen ist beide Hände auf den rundlichen Leib gelegt hat und mit geschlossenen Augen ein Gebet zu murmeln beginnt[1]. "Da seht! Die Macht der Großen Mutter!" Tatsächlich: Die blutende Wunde des Tieres schließt sich ganz allmählich, der Blutstrom versiegt nach und nach, während die Leute die Köpfe schütteln.

Und wieder sind sich alle uneins. "Die Große Mutter anzurufen, um ein Tier zu heilen, das ist Frevel!" behaupten einige, während andere dagegenhalten: "Wenn Gaya selbst das Wunder gewährt, dann hat das Mädchen Ihren Segen!" Ansgar, sein eines verbliebenes Auge auf die Szene gerichtet, tritt neben Tristan und sagt leise zu ihm: "Jungchen... was immer du tust: Du musst deinem Weib beibringen, dass sie nun eine von uns ist und sich nicht ständig solche Alleingänge leisten kann. Ob du sie nun übers Knie legst oder es ihr mit Worten beibringst – bring sie dazu, dass sie sich mehr zurückhält!" Mit dem Kinn nickt er auf den Haufen durcheinander redender, streitender Menschen. "Du siehst es ja: Die einen denken, dass sie frevelt, die anderen halten sie für eine Art Heilige, die den Willen der Großen Mutter ausführt. Das gibt auf Dauer böses Blut. Eine drudkvinde muss versöhnen, nicht spalten!"

Nachdenklich schabt er sich mit der Hand übers Kinn und fügt hinzu: "Vielleicht wäre es das beste, wenn du dafür sorgst, dass sie bald ein Kind bekommt. Eins, zwei... einen ganzen Haufen, wenn's sein muss. Dann hat sie genug zu tun und kann keine Unruhe mehr stiften." Er schlägt Tristan noch einmal kameradschaftlich auf die Schulter, um ihm zu zeigen, dass er es nur gut mit dem jungen Paar meint, übertönt dann das Stimmengewirr und fordert alle auf, wieder weiter zu marschieren. Zögerlich löst sich die kleine Versammlung um Lîf und die Robbe auf, bis nur noch Gertrud wartend bei dem kleinen Schlitten steht und der Rotschopf, vor dem jetzt kräftiger wirkenden Heuler kniend, zu Tristan aufsieht. Nun wirkt ihr Gesicht nicht mehr so zornig und entschlossen wie eben, sieht sie eher wieder wie ein junges Mädchen aus, das nicht weiter weiß. Auf ihren Zügen mischen sich der Trotz und die Scham darüber, dass sie selbst nicht sagen kann, wie ihr nächster Schritt aussehen soll. "Es hat bestimmt Hunger..." sagt sie sehr leise und klingt beinahe bittend.
 1. Leichte Wunden heilen
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 18.08.2017, 17:35:52
Eine scharfe Zurechtweisung liegt schon auf Tristans Zunge und der Griff um Lîfs Arme verstärkt sich im gleichen Maße, wie ihr Körper sich versteift in Erwartung, jeden Moment gewaltsam auf die Beine gezerrt zu werden. Doch dann kommt Ansgar daher und redet in einem Ton mit ihm und gibt Ratschläge, wie er sein Weib zu behandeln hätte, wie es sich allenfalls der alte Ole erlauben dürfte und vielleicht—vielleicht!—noch der schöne Karl, denn der ist wenigstens im Nehmen so gut wie im Austeilen.

"Wie", schnappt Tristan zurück, "und das alles weißt du, weil du mit Esjas Tochter verheiratet warst, ganze zehn Jahre lang, bis sie sich von dir getrennt hat, weil du dich lieber in den Betten deiner Mägde vergnügt hast als in ihrem? Sag du mir nicht, wie ich mein Weib zu behandeln habe!" Damit wendet er sich Lîf zu und überlässt es Ole, in seinem Rücken den aufgebrachten Ansgar zu beruhigen; den Geräuschen nach wird Körpereinsatz nötig.

"Lîf, du musst jetzt kommen", beginnt er schroffer als beabsichtigt, bevor ihre elende Miene ihn gleich wieder innehalten lässt. Tränen glitzern in ihren Augen und rühren sein Herz. Wie jung sie auf einmal aussieht! Um den verrutschten Schal wieder über ihren Mund zu ziehen, streckt er die Hand nach ihr aus, doch Lîf zuckt zurück, als dächte sie, er wolle sie ohrfeigen. Er schnaubt ungläubig, lässt sich aber in seinem Tun nicht beirren. Erst, als sie wieder warm vermummt ist, kümmert er sich um das nächste Problem. Gertrud wartet als einzige geduldig, alle anderen kehren zu ihren Schlitten zurück in der ebenso unausgesprochenen wie deutlichen Forderung, dass es jetzt bitteschön weitergeht. Tristan sieht von Getrud zu Lîf und wieder zurück.

"Hol' mir bitte rasch einen Fisch da aus dem Salzfass", sagt er zu Getrud, deutend, "und danach hol' Inga herbei, das nutzlose Stück mit dem frechen Maul."

Inga ist Getruds jüngere Halbschwester und außerdem allein unterwegs, da ihr Mann, dessen Aufgabe es ist, mit vier anderen die Thingstätte vorzubereiten, die Überfahrt schon vor zwei Tagen gemacht hat. Aus dieser Richtung hat Tristan also keinen Protest zu fürchten. Getrud jedenfalls gehorcht sofort. Sie sieht das wohl auch so, dass ihr Schwesterlein es als Buße für die bösen Worte verdient hat, bei der Beseitigung des Problems eingespannt zu werden. Wortwörtlich. Wenn die kleine Robbe mitmacht.

Als Gertrud mit Schwester und Fisch zurück ist, wischt Tristan letzteren kurz mit Schnee ab, um das überschüssige Salz zu entfernen, und reicht ihn seinem Weib. "Wenn du bei zwanzig das Kerlchen im Arm hast, kannst du ihn mitnehmen; sonst bleibt er da und du stellst dich nicht weiter an."

Damit tritt er ein paar Schritte zurück und wartet gespannt.[1]
 1. Handle Animal, würde ich sagen, oder? Das Tierchen ist ja schon friendly, da bring wild empathy auch nichts mehr. Gegen DC 10?
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 18.08.2017, 19:17:46
Während Ole und Ansgar eine typische Diskussion unter Männern führen – also mit diversen blauen Flecken als Spätfolge – schluckt Lîf und sieht zu ihrem Mann auf. Wie er sie erst anfährt, verletzt sie offenkundig, doch die Ablehnung durch die anderen hat sie stark genug verunsichert, dass sie nicht mehr die Energie hat, aufzubegehren. "Bitte, Tristan, um der Großen Mutter willen – ich spüre einfach, dass Sie es mir befiehlt" bettelt sie leise, ehe er den Schal über ihren Mund zieht und ihre Stimme undeutlich wird. Gertrud derweil hat der Szene stumm zugeschaut und nickt auf die Anweisung Tristans.

Die junge Frau hat den Fisch schließlich aus der Hand ihres Mannes angenommen und dem kleinen Tier angeboten. Nach einigem Zögern[1] hat der Kleine endlich danach geschnappt, und Lîf hat den runden Körper mit ihren Armen umschlungen. Darauf gibt ihr Findelkind eine Art hohes Quäken von sich, scheint aber mehr verwirrt als erschrocken und beruhigt sich nach mehreren hektischen Befreiungsversuchen wieder. Sie schaut wieder zu Tristan auf, und dieses Mal leuchten ihre Augen wie die eines kleinen Mädchens vor einem lange ersehnten Geschenk, auch wenn sie noch immer feucht sind. Dass sie lächelt, kann man hinter dem Schal nicht sehen, der bis über ihre Nase gezogen ist, doch der Blick ist genau jener, der ihn wohl bewogen haben mag, sie zum Weib zu nehmen.

Ingas Stimme unterbricht das Idyll: "Warum ich? Ich hab' doch gar nichts getan..!" mault sie, Kleid und Schürze raffend, um die Säume einigermaßen trocken zu halten, da sie an den Schlitten der anderen Weiber vorbei durch den nicht plattgetretenen Schnee zu Tristan und Lîf zurück gehen muss. Vor den beiden angelangt, starrt sie auf ihre Schuhe und zieht einen Schmollmund, der dem Lîfs von eben verdächtig ähnlich sieht. Dabei legt sie die Arme auf den Rücken und wiegt beruhigend das Bündel mit ihrem Kind, dessen faltiges Gesichtchen sich für einen Moment bei einem herzhaften Gähnen verzieht. Ole, der mittlerweile den wütenden Ansgar erfolgreich beruhigt hat, kommt kurz vorbei, sieht Tristan in die Augen, legt ihm eine Hand auf die Schulter und nickt ihm stumm zu. Dann wendet er sich ebenfalls wieder nach vorn.
 1. Mit Tieren umgehen gegen 10, geschafft mit einer 12 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1033626#msg1033626)
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 19.08.2017, 21:52:58
"Dann siehst du also selbst, dass es Zeit wird, Inga, dass du auch mal was tust, außer Wölkchen beim Reden machen", entgegnet Tristan ungerührt, derweil er sein Weib samt Robbe auf die Beine hebt. "Gib' daher Lîf dein Balg auf den Rücken und pack' bei deiner Schwester am Schlitten an. Hurtig, wir wollen doch alle weiter."

Doch Inga stützt nur eine Hand in die Hüfte und rührt sich nicht. Ihr empörter Blick geht zu Gertrud. Da ruft einer von hinten: "Was ist, warum geht's denn noch nicht voran?" Worauf Tristan zurückruft: "Tut mir leid, aber jetzt ist es Inga, die nicht vom Fleck kommt!" Worauf ein vielstimmiges Maulen anhebt, das Inga einen erschrockenen Satz vorwärts machen lässt.

"Dein Kind", erinnert Tristan sie betont geduldig, "Lîfs Rücken. Dann von der Schwester einspannen lassen. Und während du den Schlitten ziehst, kannst du dir ja einmal still durch den Kopf gehen lassen, ob du wirklich so bös' über ein Weib reden möchtest, dass bei Nacht und jedem Wetter sofort zu dir eilen würd', wenn deinem Mann oder dir oder deinem Balg etwas fehlt."

Bevor Lîf, nun also mit einem zappelnden Etwas im Arm und einem—Gaja sei Dank!—friedlich schlafenden Etwas auf dem Rücken, auch nur einen Schritt tun kann, fasst ihr Mann sie um die Hüfte und zieht sie vorwärts. "Den Rest des Weges läufst du neben mir", sagt er in einem Ton, der jeder Widerrede müde ist, "und gibst nicht einen Laut von dir."

Der kleine Zug setzt sich also endlich wieder in Bewegung. Weit ist es nicht mehr und doch hätte Lîf es kaum weiter geschafft, denn die kleine Robbe scheint mit jedem Schritt schwerer zu werden und es dauert auch gar nicht lang, da beginnt sie wieder zu zappeln und sich zu winden und Lîf muss, mit einem Seitenblick zu ihrem Mann, besänftigend auf das Tier einreden. Kaum ist die Robbe wieder friedlich, fängt das Kind auf ihrem Rücken zu greinen an. So nähert man sich der Palisade und dem hell erleuchteten Tor. Doch als Lîf an der Seite ihres Mannes darauf zusteuert, bekommt sie anderweitigen Befehl.

"Wart' hier am Tor auf Inga, gib ihr das kreischende Balg zurück, dann trag' deine Robbe zur Priesterhütte, hier außen herum. Esja soll sagen, was mit dem Tier zu tun ist. Hinterher findest du mich im Langhaus an der Stirnseite, dem größten von allen, direkt gegenüber vom Tor."

Für mehr bleibt keine Zeit, denn Ole drängt weiter, und so steht Lîf auf einmal ganz allein vor dem Tor mit ihrer doppelten Last und sieht nur noch den Hinterkopf ihres Mannes über dem vollgepackten Schlitten und bald darauf nicht einmal mehr das.[1]
 1. Die Hütte der Priester ist außerhalb der Palisade, rechtsherum, aber nicht weit entfernt. Auf die Ferne wirkt sie rund, beim Näherkommen bzw. spätestens im Innenraum sieht Lîf, dass die Hütte fünf (gleich lange) Wände hat. Tür mit Fell verhängt. Esja wird dir 'öffnen'. (Etliche Leute im Inneren, teils um Feuer in der Mitte versammelt, aber die werde ich dann beschreiben.)
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 20.08.2017, 12:55:17
Zu Tristans Erleichterung – womöglich auch Überraschung – gehorcht ihm Lîf diesmal widerspruchslos. Sei es, dass sein Weib ihm dankbar für sein Zugeständnis ist, sei es, dass die beiden kleinen Wesen, die sie nun trägt, weichere Gefühle in ihr wecken oder die junge Frau schlicht zu sehr fordern: Ihr sonst so schlagfertiges Mundwerk schweigt fürs Erste, und sie marschiert tapfer mit. Ständig ist sie damit beschäftigt, die kleine Robbe zu bändigen oder mit leiser Stimme ein Lied zu singen, um den Säugling auf ihrem Rücken zu beruhigen. Die Seitenblicke, die Tristan während des Weitermarschs nun auf sie werfen kann, zeigen ihm aber ein junges Weib, das ihm ausgeglichener, ja, glücklicher erscheint, als sie war, seit sie geraubt wurde. Ihre Augen strahlen geradezu aus ihrer Vermummung hervor. Ole, der seine Ziehtochter ebenso zu beobachten scheint, knurrt einige Male wie ein satter Bär – grimmig, aber irgendwie doch zufrieden. Dann wendet er sich mit einem Grinsen an Tristan und hält ihn kurz zurück, bis Lîf weit genug voran ist, um ihn nicht zu verstehen: "Unser Einauge ist ein grober Klotz mit einem lockeren Mundwerk. Seine Worte waren grob, aber ich glaube, er hat das rechte getroffen, meine Junge: Sie braucht was Kleines, das ihre Gedanken ablenkt. Sieh dir das Mädchen doch nur an – eine richtige Familie würde ihr Halt geben." Das Grinsen des Alten wird breiter, als er brummt: "Wenn ich so jung wär' wie du und an deiner Stelle, ich würd' jedenfalls schleunigst dafür sorgen, dass mein Weib nicht unglücklich ist – und ich auch nicht!"

~~~~~

Am Tor angelangt nickt der Rotschopf auf Tristans Worte. Sie ist zu stolz, um zuzugeben, dass sie müde und abgekämpft ist, hat doch das Gewicht von Kind und Heuler zusammen ihren schmalen Körper sehr belastet. Dennoch ist sie dankbar, als Inga ankommt und die Tücher löst, mit denen sie ihr den Säugling auf den Rücken gebunden hat. Sie gibt nicht einmal einen spitzen Kommentar von sich, obwohl Inga ein Gesicht zieht und das Kind an sich nimmt, als befürchte sie, es sei bei Lîf in schlechten Händen gewesen. Die junge Frau ist in einer versöhnlichen Stimmung und ignoriert das beleidigte Schweigen Ingas, um dem Kind mit einem sanften Lächeln nachzublicken. Doch lange hat sie nicht Zeit, sich zu besinnen: Die Robbe vor ihrer Brust zieht noch immer an ihren Armen wie ein Bleigewicht und gibt ein leises Quäken von sich, während sie sich unruhig windet. Keuchend schleppt Lîf ihre Last zur Priesterhütte, wie befohlen, wo sich die einfache Holztür wie von Geisterhand öffnet, noch ehe sie mit einem Ruf auf sich aufmerksam machen kann. In der Türöffnung zeichnet sich eine gebeugte Gestalt in einem einfachen Kleid und einem großen Kopftuch ab, die sie von unten mustert. Lange, schwere Zöpfe, in denen nur noch wenige Strähnen das Goldblond der Jugend zeigen, hängen der Greisen bis fast zu den Knien herab: die alte Esja. Wie so oft fragt sich der Rotschopf, ob ihre Lehrmeisterin ihr Kommen gespürt hat oder einfach über scharfe Sinne und Instinkt verfügt. Verlegen steht sie da, bis Esja brummt: "Na, nun komm schon rein, Kindchen! Wenn du noch lange dastehst und deinen Mund belüftest, wird's ganz kalt hier drinnen..." Blinzelnd schließt Lîf den Mund und gehorcht ihrer Lehrerin.

~~~~~

Als Tristan in das Langhaus eintritt, umfangen ihn warme, wenn auch recht stickige Luft, mit Rauch und dem Geruch nach Essen, Schweiß und Tieren durchsetzt, sowie die gedämpfte Geräuschkulissen, die zahlreiche Menschen verursachen. Der Innenraum des langgestreckten Gebäudes ist von zwei großen Feuerstellen und einigen Kienspänen mehr schlecht als recht erleuchtet. Er erkennt die Umrisse von Männern, die in Gruppen beieinander hocken und sich unterhalten, aufwärmen, während hinter ihm die Mitglieder seiner Reisegruppe aus der Kälte in die relative Behaglichkeit drängen. Einige Weiber umstehen einen Kessel, der über einem der Feuer hängt. Sie sind damit beschäftigt, für etwas Warmes zu essen zu sorgen. Sie empfangen die ankommenden Weiber und helfen ihnen dabei, deren Gepäck unterzubringen – kurz: sie tun alle anfallenden Arbeiten, während die Mannsleute, deren Pflichten außerhalb des Hauses liegen, müßig sind und sich die Hände an dem Feuer wärmen, das nicht zum Kochen verwendet wird. Ole, dessen narbenzerfurchtes Gesicht vielen bekannt ist, wird lautstark begrüßt und packt diverse Unterarme, um sie zünftig zu schütteln. Die übrigen Männer der Gruppe überlassen den Weibern das Auspacken und gesellen sich zu den Vertretern anderer Siedlungen. Es scheint alles friedlich, bis Tristans Auge die Weiber erblickt, die sich dicht zusammendrängen und offenkundig aufgeregt miteinander wispern. Vor allem Inga, die um einiges später mit ihrem Kind auf dem Arm hineinkam, wird umlagert. Sie erzählt allem Anschein nach, und er glaubt einige Blicke zu sehen, die neugierig, ungläubig, vielleicht auch ein wenig ängstlich, in seine Richtung gehen. Die Worte kann er aus der Entfernung nicht verstehen, doch die Gesten der Weiber sprechen für sich: Es muss um den Vorfall mit der Robbe gehen, und es scheint sie sehr zu bewegen, was Inga und ihre Begleiterinnen zu erzählen haben. Manche von ihnen wirken ehrfürchtig, andere erschrocken, wie sie so zuhören.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 21.08.2017, 00:17:08
"Ja was glaubt ihr zwei denn?" schnaubt Tristan, als Ole in dieselbe Kerbe schlägt wie Ansgar. "Dass ich Nacht für Nacht neben meinem jungen Weib läge, keusch wie ein Mönchlein? Kannst meine Kebsen fragen, ob ich auch nur einmal bei ihnen war, seit ich meine Lîf habe. Und die alte Hulda beschreibt dir bestimmt gern, welche Geräusche nächtens aus unserer Kammer dringen. Bei Gaja, ich sage dir: alles, was ein Mann zu der Sache beitragen kann, trage ich mit großem Fleiß bei!"

Dann hat man Lîf auch schon wieder eingeholt und Tristan sucht ihren Blick in der Hoffnung, ihre Augen möchten noch so strahlen wie zuvor. Ja, tun sie! Einen kleinen Stich gibt ihm das ja schon, der vom Neid herrührt: über ein Tier gerät sie in solcherlei Entzücken, eine verletzte Robbe macht sie glücklicher als alles, was er für sie tut!

Geduld! mahnt er sich nicht zum ersten Mal. Irgendwann, wenn sie sich an das Leben hier gewöhnt hat, wird sie erkennen, dass nur wenige Frauen es in der Ehe so gut antreffen wie sie. Welcher Mann außer mir hätte ihr da vorhin ihren Willen gelassen? Wer zu ihr gehalten, wenn sie sich aufführt wie ein kleines Mädchen? Aber hinter ihrem Trotz versteckt sie nur ihre Furcht: vor der Fremde, dem Alleinsein in der Fremde, dem Verlust ihrer Sippe Schutz—als ob ich das nicht durchschauen tät'! Deshalb muss ich ihr nur weiterhin zeigen, dass sie als mein Weib nichts zu fürchten hat, dass niemand so sehr auf sie achtgibt wie ich, dann wird sie mich, wenn ich von das nächste Mal von der Fahrt heimkehr', mit ebensolch leuchtenden Augen empfangen.

"Aber tüchtig ist sie doch", raunt er Ole zu, nachdem die beiden Lîf eine ganze Weile lang still beobachtet haben, wie sie sich, ihr Blick inzwischen verbissen, mit ihrer zappeligen Last durch das holprige Gelände kämpft, "ausdauernd, beharrlich und zäh—wenn sie etwas nur wirklich will."

~~~

Später, im Langhaus des Jarl, hockt er sich schweigend zu Ole auf die Seitenbank. Wenig später steht auf dem Tisch vor ihm auch schon ein dampfender Teller. Hungrig langt er zu. Dabei geht sein Blick immer wieder zu Inga hinüber. Was für ein dummes Stück—hat nichts dazugelernt! Worüber sie wohl den restlichen Weg nachgesonnen hat? Sicherlich nicht über das, was er ihr aufgetragen hat.

Es gibt eben zwei Sorten, auch bei den Weibern: die, die gleich aufbrausen und sich genauso rasch wieder einkriegen—wie meine Lîf oder auch unser Ansgar—und solche, die erst ruhig bleiben, aber im Inneren kochen und brodeln und aus einer kleinen Sache eine große machen, um dann irgendwann ganz plötzlich, wenn längst niemand mehr an den Vorfall denkt, aufzubrausen und zurückzuschlagen. Ich weiß, welche Sorte mir lieber ist!

Als Gertrud ihrer Schwester dann offenbar ins Wort fällt, um dem Bericht der Jüngeren etwas hinzuzufügen, das die Gemüter erst einmal wieder besänftigt, muss Tristan eine dritte Art Mensch zugestehen. Es gibt nämlich auch solche, die sich weder jetzt noch später aufregen, sondern immer ruhig und gelassen bleiben.

~~~

"Da kannst du deinen kleinen Freund absetzen", sagt Esja und deutet auf eine Art Verschlag nahe der Tür, der einen Bereich von etwa einem Schritt auf zwei mit einer gut kniehohen Bretterwand vom Feuer abschirmt und zur Seite hin offen ist. Lîf hat die Robbe kaum dort abgeladen, da trippeln zwei schwarzweiße Vögel mit viel zu großen, bunten Schnäbeln heran. Drüben auf Jarlsö hat sie die beiden schon einmal gesehen, denn sie nisten bei Esja gleich hinter dem Haus.

Lîf stutzt. Es werden ja wohl kaum dieselben beiden sein, oder? Diese Vögel gibt es hier zu Hunderten, wenn nicht gar Tausenden, wohin man nur blickt.[1] Noch viel erstaunter ist sie, als die ungleichen Tiere sich neugierig beäugen, beschnüffeln (die Robbe) und mit dem Schnabel anstubsen. Gänzlich über gehen ihr die Augen, als Esja sagt: "Bard, gib' dem Kleinen ein paar von deinen Fischen ab", worauf der größere der beiden Vögel den Kopf in einen mit Wasser gefüllten Eimer steckt und mit einem Schnabel voll fingerdünner silbriger Fische wieder auftaucht und damit zur Robbe hinüberwatschelt. Die Übergabe gerät allerdings zu einem kleinen Gerangel, weil es nun einmal nicht so gedacht ist, dass Buntschnäbel Robben füttern, und Lîfs kleiner Freund außerdem dem Fütterungsalter eigentlich längst entwachsen ist.

"Komm Kindchen, die drei sind beschäftigt. Komm ans Feuer." Die alte drudkvinde setzt sich auf eine breite, fellbedeckte Bank und deutet auf die anderen vier Frauen, die neben ihr und an den beiden gegenüberliegenden Wänden auf ähnlichen Bänken sitzen. "Aud, Isgerd, Unn und Ragnhild", stellt sie kurz vor. "Und das hier ist Lîf." Die Frauen—zwei etwa so alt wie Esja, zwei kaum älter als Lîf—nicken ihr knapp zu. Sie nickt zurück und wendet sich dann den drei Frauen zu, die sie aus dem Augenwinkel in der Nähe der Tür erblickt hat und die noch nicht vorgestellt wurden, doch erkennt sofort ihren Irrtum: diese drei hocken auf dem Boden, die Köpfe gesenkt, das Haar auf eine Handbreit geschoren. Bei zweien ist außerdem, zu Lîfs Entsetzen, die Vorstellung gar nicht notwendig: Vigtis und Julfrid, zwei der Heilerinnenschwestern, die mit Lîf zusammen erbeutet wurden und denen es so viel schlechter als ihr selbst ergangen ist. Vigtis hat Lîf als scharfzüngig und rechthaberisch in Erinnerung, Julfrid als sanft, still und ein wenig ängstlich. Mit beiden hat Lîf nicht viel zu tun gehabt auf der so jählings unterbrochenen Reise, hat sich lieber an die fröhlicheren gehalten. Die dritte Magd ist ihr unbekannt. Keine der drei sieht auf.

"Setz dich hier zu mir, Kind", wiederholt Esja leise, aber sehr bestimmt. "Wir haben heute noch eine wichtige Frage zu klären und du möchtest deinen Mann doch nicht allzu lange warten lassen."

Die vier anderen Frauen bleiben still, aber ihre Mienen verraten Spannung.
 1. Ich gehe mal davon aus, dass Lîfs Mentorin daheim keinen Tiergefährten hatte, sondern wie Lîf selbst eine Naturdomäne, dass Lîf also davon noch gar nichts weiß.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 21.08.2017, 12:20:57
Ole nickt und meint, noch immer grinsend: "Na, dann ist's ja gut. Das Mädchen ist jung und gesund, irgendwann wird die Große Mutter sie schon segnen. Wenn ein Mann seinen Speer nur tüchtig gebraucht, wird die Jagd auch ein Erfolg!" Sein leises Lachen geht in ein Husten über. Das scheint aber die Laune des Alten nicht trüben zu können. Er stapft neben Tristan her und lässt den Blick der eisgrauen Augen unter den buschigen Brauen mit einer Art bärbeißigen Wohlwollens zwischen dem Ziehsohn und Lîf hin und her wandern. Auf Tristans bewundernde Worte nickt er bedächtig. "Das ist sie fürwahr. Ein prächtiges Weibsbild, mein Junge, und ich gönn euch beiden, dass ihr miteinander alt werdet und einen ganzen Stall voll Kinder zu hüten habt." Denn Nachwuchs gilt nach wie vor als Segen der Göttin – mit jedem gesunden Kind wächst das Ansehen des Vaters und insbesondere der Mutter in der Gemeinschaft.

~~~

Während die Männer um ihn herum trinken, lachen und raue Scherze austauschen, den alten Ole einmal mehr zu einigen seiner anscheinend zahllosen Geschichten von alten Raubfahrten, Unwettern, harten Wintern und durchzechten Nächten auffordern, kann Tristan beobachten, wie die Weibergruppe sich in mehrere kleine auflöst, in denen weiter miteinander getuschelt wird. Während in Gertruds Nähe die älteren, erfahrenen Matronen sich wieder ruhig dem großen Kessel und den knurrenden Mägen ihrer Mannsleute widmen, sitzen einige junge Weiber mit Inga beisammen, die ihr Kind auf dem Schoß hält und von einer der anderen einen hölzernen Becher gereicht bekommt, mit dem soeben etwas dampfende, stark gewürzte Fischsuppe aus dem Kessel geschöpft wurde. Dankbar nimmt sie ihn entgegen, trinkt einige Schlucke und will weiter reden, als sie sich an die Kehle greift und heftig zu husten beginnt. Aufgeregt klingt das Stimmengewirr der Weiber um sie auf, eine nimmt den greinenden Säugling, während zwei andere sich um die junge Mutter bemühen, die zu zucken beginnt und zusehends blasser wird. Der Becher ist aus Ingas Hand gefallen und rollt unbeachtet unter die Bank, auf die sie sinkt. Bei den Männern scheint noch niemand außer Tristan etwas bemerkt zu haben – alle hängen gebannt an Oles Lippen, der gerade berichtet, wie er sein erstes Weib raubte, eine reiche Kaufmannstochter.

~~~

Gehorsam, aber sichtlich unsicher tritt Lîf ein, wie man sie geheißen hat. Vor der alten Esja hat sie einen Heidenrespekt, weswegen sie auch tief ihren Kopf neigt, um ihre Lehrmeisterin zu grüßen. Die beiden Vögel beobachtet sie zunächst mit mäßiger Überraschung, dann zunehmend perplex bei ihrem mehr als eigenartigen Verhalten. Und als einer gar die kleine Robbe auf Befehl zu füttern beginnt, hat sie ganz runde Augen bekommen. "Ein Wunder... ist das das Wirken der Großen Mutter?" fragt sie die Alte in ehrfürchtigem Flüsterton. So etwas hat sie wirklich noch nie gesehen! Sie kann ihren Blick kaum von der bizarren Szene wenden, als sie Esja zum Feuer folgt, wo sie auch vor den Frauen, die ihr vorgestellt werden, den Kopf neigt.

Kaum fällt ihr Blick jedoch auf ihre ehemaligen Gefährtinnen, beißt sie sich auf die Lippen. Sie macht eine Bewegung, als wolle sie zu ihnen treten, und kann sich wohl nur schwer zurückhalten, es tatsächlich zu tun. Gewiss, jeder kennt Leibeigene, auch ihre Familie hatte mehrere Knechte und Mägde, die nicht ihre eigenen Herren waren und auf dem Hof zu helfen hatten. Doch die Heilerinnen, mit denen sie eine enge Freundschaft verband – jedenfalls mit der stillen Julfrid, die die aufbrausende Lîf so oft um ihre Sanftmut beneidet hat... es trifft die junge Frau hart, sie so zu sehen. Vor allem das kurz geschorene Haar der drei treibt ihr fast die Tränen in die Augen. Wie kann ein Weib wohl mehr erniedrigt werden als dadurch, dass man ihr die Haarpracht raubt, die langen Zöpfe, auf die eine jede stolz ist? Doch Esjas Worte lassen keinen Widerspruch zu: Lîf nickt stumm, presst die Lippen aufeinander und senkt ihren Blick, um nicht jenen der Mägde zu begegnen. Insbesondere dem Julfrids, die stumm leidet, wie sie es von ihr gewohnt ist. Ihr eigenes Schicksal hätte dasselbe sein können... Lîfs Gedanken wandern zu Tristan. Er hat ihr dies erspart, indem er sie zu seiner persönlichen Beute erklärte. Fast schämt sie sich in diesem Moment für ihren Stolz, der sie diese Geste nie hat schätzen lassen. "Nein, Mor" spricht sie Esja mit dem Titel an, der ihr von einer Schülerin zusteht, "das möchte ich nicht." Denn er ist gut zu ihr gewesen, besser, als sie hätte erwarten dürfen, gesteht sie sich stumm ein.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 21.08.2017, 18:09:44
"Am besten, du legst dich dazu", weist Esja ihre Schülerin an, "dann geht es leichter. Komm, sei nicht so schüchtern, gleich hier bei mir ist Platz. Schal und Jacke hurtig ausgezogen und vergiss die Stiefel nicht." Lîf ist so überfordert von der ganzen Situation, dass sie Esjas Anleitung in all diesen Dingen dankbar befolgt. Als sie dann endlich neben der alten Esja auf der breiten Bettbank liegt, klopft ihr das Herz bis zum Hals. Die alte Frau beugt sich über sie und spricht so leise, dass Lîf die Ohren spitzen muss:

"Schließ die Augen und höre gut zu, was ich dir erkläre, und dann mache es genau, wie ich sage. Als erstes nämlich stellst du dir einen Ort vor, an dem du dich so richtig wohl fühlst, wo du dich nach einem langen Arbeitstag oder einer anstrengenden Reise gerne ausruhen möchtest, weil du dich dort sicher und geborgen und heimelig und leicht im Herzen fühlst. Es ist ein einsamer Ort, nur für dich allein. Niemand außer dir kennt den Weg dahin! Ein Ort, an dem du so richtig aufatmen kannst, wo du frei bist, unbeobachtet, wo keine Last und kein Kummer dich drückt. Und nachdem du dich dort eine Weile lang erholt hast und dich gestärkt fühlst, sieh dich um: irgendwo in der Nähe wirst du eine Öffnung finden, den Eingang zu einem Tunnel, welcher tief in die Erde hinabführt. Die Größe der Öffnung spielt dabei keine Rolle. Es kann das Loch einer Wühlmaus sein oder der Eingang zu einer Höhle, in der Riesen hausen könnten, das ist einerlei. Du wirst nur einen solchen Zugang finden und egal wie groß oder wie klein, er wird genau richtig sein, denn Gaja weiß, wie weit sie sich dir öffnen muss, damit deine Seele Platz in ihr findet.

Denn als nächstes musst du durch diese Öffnung in das Erdreich eindringen. Vielleicht kannst du aufrecht gehen, vielleicht musst du auf allen Vieren krabbeln oder gar auf dem Bauch vorwärts robben. Es wird dunkel um dich herum sein, aber du wirst keine Angst haben. Und dann wirst du Geistern begegnen, Tiergeistern nämlich, und wieder spielt es keine Rolle, wie groß der Gang oder Tunnel ist, in dem du dich befindest. Du könntest ein Mausloch hinabgekrochen sein und trotzdem dem Geist eines Pferdes begegnen, eines Haifisches oder eines Kormorans. Und jeden dieser Geister sollst du, so wie er dir begegnet, ansprechen und fragen: 'Bist du mein Seelenbruder?' oder natürlich, falls es ein weibliches Tier ist: 'Bist du meine Seelenschwester?' Und wenn er es nicht ist, so wird er grußlos weiterziehen. Wenn er sich dir aber auf diese Weise verbunden fühlt, so wird er dich beachten, dir antworten oder ganz aufgeregt tun oder dir auf seine Weise zeigen, dass er so für dich empfindet.

So lange nun aber sollst du suchen und den Mut nicht verlieren: bis du ein Tier gefunden hast, dass deine Frage bejaht; oder bis du einem Robbengeist begegnest und dieser deine Frage entweder bejaht oder verneint; oder bis unser Trommelschlag in der Ferne verklingt. Dann drehe dich ruhig aber prompt um und kehre denselben Weg zurück, den du genommen hast, während unsere Trommeln wieder lauter werden, bis du den Ort vom Anfang wieder erreichst—begleitet, vielleicht, von deinem Seelenbruder oder deiner Seelenschwester. Bist du bereit? Gaja beschütze dich auf deiner Reise."[1]

Während Esjas Rede sind Lîfs Glieder bereits immer schwerer geworden, haben ihre Muskeln und ihre Gedanken gleichermaßen sich gelöst, dass sie fast zu schweben meint oder vielleicht schwimmt sie auch leicht wie ein Blatt auf stiller See. Bevor die alte Frau endet, füllt sich die Hütte schon mit sanft pochendem Trommelschlag, im Rhythmus ihrem Herzschlag gleich, dass sie bald nicht mehr zu sagen weiß, ob es oder er den Takt vorgibt. Schlägt es überhaupt noch aus eigener Kraft oder treibt nur die Trommel es weiter?

Gerade, als Lîf loslassen will, als sie schon spürt, wie sie im Boden versinkt, herrscht über ihr plötzlich helle Aufregung. Stimmen reden durcheinander, es stolpert der Takt, dass auch ihr Herz stolpern muss, und sie gerät in Panik, als sie nämlich aufspringen will und nicht mehr weiß, wo oben ist. Da aber spricht Esja mit ruhiger Stimme: "Ich kümmer' mich darum, trommelt ihr weiter."

Und Lîf sinkt tiefer... tiefer... und ist allein.

~~~

Als Tristan begreift, dass die Frauen dort drüben mit all ihrem Schütteln und Rütteln und kräftig auf den Rücken Klopfen nichts erreichen, springt Tristan auf, setzt über den Tisch hinweg und durchmisst mit langen Schritten die Halle. Reden oder essen sollte man halt, aber nicht beides gleichzeitig! Bis er Inga erreicht, hat endlich eines der Weibsbilder die Sinne wieder beisammen und eilt los, um Hilfe zu holen, doch Tristan befürchtet, dass diese zu spät kommen will, wenn die Heilerin erst noch hierher zurückeilen muss.

Also packt er sich Inga wie einen Sack über die Schulter und nimmt den kürzesten Weg—hinten, durch die Kammer des verdutzten Jarls und zur Hintertür hinaus—bis vor die Priesterhütte. Dort klopft Tristan Sturm und poltert dann hinein, gebeten oder ungebeten, und lädt Inga auf dem Boden vor der alten Esja ab.

"Verschluckt... an der Fischsuppe...", bringt er atemlos hervor.
 1. So, jetzt kannst du dich so richtig austoben mit allem, was Lîf für wichtig hält, was ihre Natur ist, was ihre Persönlichkeit symbolisch umschreibt - und sie später zwecks Selbsterkenntnis wieder zerrupfen kann. Natürlich muss ihre Suche nach einem Tiergefährten erfolglos bleiben, aber vielleicht erkennt sie statt dessen an dieser Stelle ihre besondere Verbundenheit zur Pflanzenwelt? Vielleicht kann sie nach dieser Reise dann, auch wenn die mürrische Halma darin natürlich die Vorarbeit geleistet hat, ihre Holzfaust und/oder den Verstrickenszauber das erste Mal wirken. Die Reise muss dabei nicht ganz so verlaufen, wie Esja das vorzeichnet.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 22.08.2017, 11:03:28
Unsicher folgt die junge drudkvinde Esjas Anweisungen. Sie zieht Jacke, Schal und Stiefel aus, legt sich auf den Rücken und starrt an die Decke. Die Hände faltet sie über dem Bauch. Dann hört sie der Alten zu, schließt die Augen und überlässt sich mit einem leisen, aber deutlichen "Ich bin bereit" der Stimme ihrer Lehrmeisterin und dem dumpfen Trommelschlag. Kaum erfasst der kurze Tumult ihren träge dahin gleitenden Geist, und schon bald hat sie die Hütte, die anderen Weiber und die gesamte Insel hinter sich gelassen. Stille herrscht, bis auf das regelmäßige Pochen, von dem sie plötzlich nicht mehr sagen kann, ob es die Trommeln sind oder ob die Instrumente schon verstummten und sie ihrem eigenen Herzschlag lauscht. Es ist dunkel um sie herum, obwohl sie das Gefühl hat, die Augen zu öffnen. Dann, ganz allmählich, beginnen sie sich an die Umgebung zu gewöhnen, schälen sich Umrisse aus einem dämmrigen Halblicht heraus. Bäume! Riesige, uralte Bäume, die ehrwürdig und majestätisch über ihr aufragen, weit oben in der Höhe ihre mächtigen Äste ineinander greifen lassen und ein dunkles, dichtes Dach über Lîf bilden, die sich mit einem Mal winzig und unbedeutend vorkommt.

Staunend wandert sie durch diesen Urwald, saugt den Duft in sich auf, hört aus weiter Ferne die Stimmen von Tieren, durchstreift das Unterholz... Da wird ihr plötzlich bewusst, dass sie sich, wie in einem Traum, ganz mühelos bewegt, obgleich sie doch kaum zehn Schritte weit sehen kann, so dicht ist das Unterholz. Und sie blickt an sich hinab, wird sich zum ersten Mal ihrer selbst bewusst, seit sie in diesen verwunschenen Wald kam. Überrascht bleibt sie stehen, muss sie doch feststellen, dass sie gar nicht läuft – sie scheint zu schweben! Hat sie überhaupt Beine? Ihr Kleid, das Brust und Arme warm und weich umfließt, entfaltet sich darunter nach allen Seiten wie eine Blüte, bildet Falten und scheint in einem Wind zu flattern, den sie selbst nicht spürt. Sie kann nicht sehen, wie sie unterhalb ihrer Hüften aussieht, fühlt auch nicht, ob sie Füße auf den federnden, satten Waldboden setzt oder nicht. Neugierig geworden, erforscht sie sich weiter: Nein, das ist nicht ihr Kleid, das sie da trägt – es ist ein Kinderkleid, wie es kleine Mädchen tragen! Staunend betastet sie sich selbst. Keine Schürze, keine Buckelfibeln, an denen die zierlichen Kettchen mit ihren intimsten Habseligkeiten hängen, dem Knochenkamm, der kleinen Nagelfeile, dem Zahnstocher... keines der Zeichen eines erwachsenen Weibes.

Sie schaut sich suchend um, doch es gibt hier nichts, worin sie sich spiegeln könnte, keinen Teich, kein Metall. Also befühlt sie ihr Gesicht, ihren Kopf, und es wird zur Gewissheit: Sie trägt ihr Kopftuch nach Art der Mädchen und unverheirateten Frauen, die Schleife ist unter dem Kinn geschlungen statt im Nacken. Und auf ihrem Rücken ragt unter dem Tuch ein einzelner, dünner Zopf hervor statt der zwei seitlichen Zöpfe des Weibes. Sie ist ein Kind! Wieder? Sie war doch bereits ein Weib, hatte eines Morgens die blutigen Laken auf ihrem Nachtlager gefunden, ja, sie war doch sogar einem Mann vermählt worden – oder nicht?! "Ist da jemand? Wo bin ich? Wer bin ich..?" ruft sie verwirrt in den dunklen Wald hinein, und ihr Stimmchen klingt dünn und hell. Da plötzlich, vor ihr, ragen zwei alte, knorrige Eichen auf. Fast wie runzlige Greisengesichter wirkt die dicke Borke der riesigen Bäume, und Lîf hält inne, um ehrfürchtig an ihnen hinauf zu blicken. Ein Windstoß, den sie nun doch fühlt, lässt ihr Kleid flattern. Warme Luft, die erdig riecht... und dann sieht sie es: Eine große, kreisrunde Öffnung in der Flanke eines Hügels direkt vor ihr. Links und rechts ist sie umgeben von den dicken Wurzeln der Eichen, die einen natürlichen Torbogen zu bilden scheinen.

Dunkel ist es dort drinnen, dunkel und still, und sie ist nur ein kleines Mädchen, allein und wehrlos. Doch sie empfindet keine Angst, noch nicht einmal Beunruhigung. Im Gegenteil: Aus dem gähnenden Loch scheint ihr Wärme zu strahlen, beim Anblick der Öffnung verspürt die kleine Lîf Vertrauen und Zuneigung. Es ist der Schoß der Großen Mutter, warm, fruchtbar, Geborgenheit bietend all Ihren Kindern... "Mama..!" flüstert das Mädchen, streckt die Ärmchen aus und schwebt voller Vertrauen voran in die Dunkelheit...

~~~

Alle Weiber reden durcheinander, Panik scheint sich unter ihnen auszubreiten. Nun werden auch einige der Mannsleute aufmerksam, schauen auf. Doch Tristan ist der Schnellste: Während eines der Weiber loshastet und sich in der Eile beinahe auf die Rocksäume tritt, hebt er Inga hoch und wirft sie sich über die Schulter. Das junge Weib ist ganz schlaff, nur gelegentliche Krämpfe durchlaufen ihren Körper, als sie würgt, röchelt und nach Luft schnappt. Als er in der Priesterhütte ankommt, ist das Weib schon vor ihm hineingestürzt und hat offenbar atemlos die schlechten Neuigkeiten verkündet, denn die alte Esja kommt ihm bereits entgegengehumpelt. Mit einer kurzen, herrischen Geste nickt sie mehreren Weibern zu, die er undeutlich hinter ihr erkennt – und ist das nicht auch seine Lîf, die dort reglos liegt..? Und ist ihr Kopf nicht umgeben von dünnen Schwaden, die aus einem Tiegel unter ihr aufsteigen? Ein schwerer, würziger, aber irgendwie auch betäubender Geruch liegt in der Luft...

Diese fremdartig, ja, aus einer anderen Welt scheinende Szene entzieht jedoch die alte drudkvinde sehr rasch wieder seinem Blick. Mit ernster Miene scheucht sie ihn und eine von drei sichtlich verschreckten Mägden in ein anderes Gemach, das dunkel und kühl erscheint, weit weniger von stickigen Kräuterdämpfen durchwabert als jenes, in dem sein eigenes Weib liegt. Dort bedeutet sie ihm, Inga auf einen mit Fellen behaglich gepolsterten hölzernen Lehnstuhl zu betten, und kniet sich mit Hilfe der kurzgeschorenen Magd neben die halb Bewusstlose. Brummend untersucht sie sie, hebt ihre Augenlider an, während die Magd, ein ängstlich wirkendes, blasses Wesen, das mit vollem Haar wohl durchaus hübsch wäre, die Hände ringt und Tristan erschrocken ansieht. "Mmmmh... verschluckt also? Fischsuppe?" fragt Esja ihn, ohne aufzusehen. Als er bejaht, nickt sie einige Male, greift nach einem kleinen metallenen Gegenstand, der an einem Kettchen von einer der Buckelfibeln hängt, die ihre Schürze halten, und umfasst mit ihrer hageren Hand Ingas Kinn.

"Den Mund auf, Mädchen!" fordert sie, doch Inga, die offenbar nur schlecht Luft bekommt, windet sich, und die Alte hat keinen Erfolg. "Törichtes Ding – ich will dir doch nur helfen!" knurrt sie. Doch Inga, totenblass und in Panik, gehorcht ihr nicht. Oder gehorchen dem jungen Weib die eigenen Glieder nicht mehr? "Du!" wendet sich Esja plötzlich an die aufschreckende Magd. "Hol die zwei hölzernen Stäbe dort hinten von der Bank." Gehorsam eilt die Magd los. An Tristan gewandt meint Esja: "Ich muss ihren Rachen untersuchen. Sorg mir dafür, dass sie stillhält."[1] Die Magd kehrt zurück, hält ihr mit zitternden Händen die geforderten Holzstäbe – schmal und flach, soweit Tristan erkennt – unter die Nase. "Hier" sagt sie schüchtern. "Gut! Er wird sie ruhig halten, und du sperrst mir damit ihren Mund auf, so dass sie nicht zubeißen kann. Hier, an den Mundwinkeln, setzt du an." Die Alte erteilt ihre Kommandos mit ruhiger Stimme. Nichts scheint sie erschüttern zu können.
 1. Ich würde sagen, wenn Tristan Inga festzuhalten versucht, erfordert das ein Kampfmanöver gegen ihre Verteidigung von 11 (ich nehme mal einen GE-Bonus von +1 an), dessen Ergebnis du gern selbst beschreiben darfst. Wenn er sie dagegen festbinden will, macht sie die Standardprobe auf Entfesselungskunst gegen seinen Kampfmanöverbonus + 20, die ich dann in meinen nächsten Post einbauen würde. Geeignete Lederriemen liegen in dem Raum genug herum.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 23.08.2017, 00:42:42
Ein Grabhügel! denkt das Mädchen noch, doch nicht einmal das kann ihr Angst einflößen: sie schwebt hinein und wird von einer Dunkelheit umfangen, die schwärzer ist als jede Nacht. Es riecht nach Pilzen, nach Erde und feuchtem Laub, ein kühler Nebel umschmeichelt ihr erhitztes Gesicht, und ringsherum hebt ein Rascheln und Wispern an, wie um sie willkommen zu heißen. Zunächst hört sie nur hier und da ein Wort heraus, doch dann nähern sich drei der Stimmen, oder vielleicht reden sie auch bloß lauter und deutlicher.

Wer bin ich? höhnt plötzlich ein Weib so dicht an Lîfs Ohr, dass der Hauch eines Atems es streifen müsste, besäße die Stimme nur einen Atem.
WO bin ich? lacht eine zweite etwas weiter weg.
Ist da jemand da jemand da jemand? erklingt verwirrt aus der Ferne ein Ruf.

So naiv! spottet es nun am anderen Ohr, so unbedarft, so nichtsahnend, so schutzbedürftig wie ein kleines Kind. Dafür haben Generationen gekämpft und sich abgemüht, für solch schwächliche Brut?
Nein, nicht schwach, sie sieht es nur nicht ein, protestiert die zweite vom hinteren Ende der Höhle. Du warst genauso in ihrem Alter!
Wer sieht was nicht ein und warum tut sie's nicht tut sie's nicht tut sie's nicht? fragt das dritte Weib in der Ferne.

Sie glaubt, unser aller Mutter müsst' ein Leben lang uns alle schützen, prustet es neben Lîf laut und heiter.
Ja, hat die Mutter sie denn geschützt, als die Räuber kamen? fragt die zweite in gedämpftem Ton. Müsst' ihr das nicht die Augen öffnen?
Wie, die Räuber kamen? echot die dritte leise. Nicht der gehörnte Mann? Ich dacht', sie hätt' ihn gefunden, den ihren... Oder hab' ich's nur geträumt nur geträumt nur geträumt?

Mal von vorn, mal von hinten, mal von links oder rechts, so tönen die Stimmen in der dunklen Höhle, gerade so als würden drei Geister einen lustigen Reigen um das Mädchen tanzen, und immer ist die erste laut und sehr nah, die zweite bedächtig und ein wenig diskreter, die dritte aber, die Greisenstimme, wispert von fern.

Ach, bleib mir mit deinem Gehörnten vom Leib, kreischt die erste ganz nah. Auch der hat sich einfach genommen, was er haben wollte, nicht besser als ein Räuber! Nicht besser als mein Vater, kaum lag die Mutter im Grab!
Jetzt beruhige dich, Tochter, sein Kind hast du geliebt!
So schön wie meiner einst meiner einst meiner einst?

Das soll dem Mädchen ein Trost sein? Sieh sie dir doch an! Bis in die Kindheit flieht sie vor ihrem Ehebett! Und du weißt, was sie schluckt, damit sie nur ja sein Balg nicht tragen muss!
Ja, das ist töricht, schilt da die zweite. Es muss schon ein arger Trotzkopf sein, der sich selber schadet, nur um dem anderen wehzutun.
Sein Balg, oh Große Mutter, es war so schön. Drum ging ich das Jahr darauf wieder zu unserem geheimen Ort und jedes weitere, doch erst im fünften erschien er mir und wir lagen glückselig fünf Nächte beisammen. Und wieder war es ein Mädchen, das ich ihm gebar ihm gebar ihm gebar.

Sei still! keift die erste, obwohl man die Ohren schon sehr spitzen muss, um die Alte überhaupt zu verstehen. Das interessiert hier doch nicht. Geraubt wurde das Mädchen, gegen ihren Willen genommen, und dafür wagt der Kerl ihr gar noch die Schuld zu geben: 'Du bist halt zu jung und zu schön', erklärt er ihr dreist. Und deshalb sage ich: fliehen soll sie von hier! Am besten, sie trennt ihm vorher im Schlaf noch die Kehle durch!
Ach geh, wie soll sie das tun? Und wohin gehen? Und ist's da besser? Und was könnte bei einem Versuch ihr nicht alles zustoßen? Und nicht einmal du hattest den Mut, deinen Gatten zu ermorden! Herrje, was rätst du dem armen Kind da für einen Unsinn! Nein, ausgeschlossen ist sowohl ein Mord als auch die Flucht, nur Kummer und Unglück winkt auf diesem Pfad. Auch soll sie keine Zeit mehr damit vertun, sich dererlei Gespinste zu erträumen. Ich sage, nur ein Weg führt zu ihrem Glück: sie muss sich abfinden mit ihrem Schicksal und das Beste daraus machen. Nur ein Narr legt sich mit dem Schicksal an!
Abfinden? Abfinden? wispert es fern. Nicht an ihm erfreuen? Dem schönen Heim? Dem schmucken Mann, der sie mit Geschenken und lieben Worten überhäuft und dessen nächtliches Drängen sie erbeben lässt? Nicht ihm das Herz öffnen? Nicht seine Kinder gebären, viele schöne Kinder Kinder Kinder?

Du widerst mich an! kreischt es von links.
Mich nicht. So hätte mir mein Leben wohl gefallen. Stellt euch vor: Nicht einmal geschlagen hat er sie bisher und ich hoffe bloß, es fällt ihm nicht noch ein, so wie das Mädchen mit ihm zankt. Ein paarmal bin ich bereits erschrocken und dachte mir: gleich tanzt die Rute oder drischt die Faust, mein Erik hätte längst die eine bei der Hand oder die andere wundgeschlagen! Und du, Tochter, gib' du nur auch auf dein freches Mundwerk acht und red' nicht so mit deiner Ur-und-noch-dreimal-Ur-Großmutter! Sie weiß mehr über klopfende Herzen und Leidenschaft, über die liebende, die lustvolle Hingabe zu einem Mann als all ihre Töchter und deren Töchter seither, nicht zuletzt du und ich!
Ulmentochter, kichert die Alte, So rief mein wilder Geliebter mich. 'Ulmentochter, komm her, ich berste schon fast vor Sehnsucht nach dir. Deine Lippen lass mich kosten, deinen Atem, deine Brüste, den süßen Nektar deines Schoßes, und berühre auch du mich überall ganz ohne Scham. Und eine Bitte hätte ich noch: so, wie die Ulme sich dreimal von deinem Vater begatten ließ und nur das dritte Kind für sich behielt, so lass auch mich ein drittes Mal deinen Schoß befruchten und den Sohn für mich behalten.' Und ein Sohn wurde es und er nahm ihn mir und ich sah nicht den Sohn noch seinen Vater je wieder. Doch meine beiden Töchter nannte ich seither nur noch Ulmentöchter Ulmentöchter Ulmentöchter.

Ulmentochter! spuckt die erste. So nannte der Vater mich, denn die Mutter lag unter der Ulme und er traf mich oft dort an, weinend die Arme um den Stamm geschlungen. 'Ulmentochter hat ein süßes Geheimnis', sagte er, als mein Leib mit seiner Brut anschwoll. 'Ulmentochter braucht rasch einen neuen Pflug für ihren hübschen kleinen Acker', als er mich drei Tage darauf an einen Klotz verscherbelte so grob wie er selbst.
Ulmentochter, säuselt die zweite versonnen. Mich rief die Mutter so. 'Ulmentochter erträgt alles', sprach sie, 'tröstet andere, gibt ihnen Kraft, sie selbst leidet still. Ulmentochter teilt gerecht und sorgt für alle: den Mann, die Kinder, den Gast, das Gesinde. Und setzt das Schicksal ihr auch noch so arg zu, nimmt ihr die Lieben, das Heim, den Schutz ihrer Sippe: Ulmentochter gibt niemals auf. Aus dem Stumpf noch treibt sie wieder aus und schafft neues Leben. Ulmentochter hat heilende Hände.'
Ulmentochter Ulmentochter Ulmentochter.

Ulmentochter, sieht endlich auch die erste ein. Wir sind Ulmentöchter.
Und du, kleine Lîf, bist eine von uns.
Von uns von uns von uns.

So tönt es um die kleine Lîf herum, während sie noch immer in der dunklen Höhle schwebt, tief im Inneren des Grabhügels, im Schoß der Erdmutter.

~~~

"Verflucht, das dumme Stück ist selber ein Fisch: jetzt halt doch mal still. Sigrid, geh weg da, du bist im Weg. So, aber jetzt!" müht Tristan sich, die zappelnde und um sich schlagende Inga in den Griff zu bekommen. Wie kann ein einzelnes Weib ihm nur so viel Ärger machen![1]

Hoffentlich ist's nicht schon zu spät, hoffentlich kann Esja noch helfen! Das tät' ich gerade gebrauchen, dass das dumme Stück uns wegstirbt, gleich nachdem sie Streit mit uns hatte. Was wird das für ein Gerede geben! Die Hälfte der Leute wird sagen: weil Tristans Weib Lîf die Große Mutter beleidigt hat, indem sie ihre Heilkräfte auf ein Tier verschwendete, dafür also musste die arme Inga sterben!

"Ha, so weit kommt es noch!" murmelt er empört. "Was meint eigentlich jeder Hrut und Knut, den Willen Gajas so genau zu kennen? Meine Lîf ist ein gutes Weib und wenn sie auch mir nicht immer gehorcht, so gehorcht sie der Großen Mutter aufs Wort!"

Doch warum liegt sie nebenan so reglos da? Hat sie doch etwas falsch gemacht? Was macht die alte Esja da mit ihr und was soll das Getrommel? Während neben ihm die Magd sich an die Arbeit macht, Ingas Maul aufzuhebeln, verbiegt Tristan sich in der Hoffnung, einen Blick hinüber zu werfen, doch der Durchgang, der die beiden Kammern der Hütte voneinander trennt, ist erstens mit einem Vorhang verdeckt und zweitens drängen sich dort bereits weitere Zuschauer: Gertrud, blass und eine Hand vor den Mund gepresst, Helga, halb hinter der ersten versteckt, und schließlich Egil Svensson, Ingas Mann.
 1. Der erste grapple Versuch (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1033756#msg1033756) misslingt mit einer 7; der zweite gelingt mit einer 17.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 23.08.2017, 11:42:45
Als die Stimmen plötzlich in der Dunkelheit um sie aufklingen, erschrickt das Mädchen doch. Die eine so voller Hohn beängstigt sie besonders, doch die zweite, belustigte, verwirrt Lîf, und jene dritte, aus weiter Ferne, lässt irgendeine Saite in ihrem Inneren schwingen, so dass ihr ganz weh ums Herz wird... Stumm lauscht sie dem Widerhall der Worte, die hin und her zu fliegen scheinen, krampft ihre kleinen Händchen ineinander, wagt kaum zu atmen. Doch wie die drei Weiber – wer mögen sie wohl sein – so streiten, lachen, spotten, sinnen, wird ihr nach und nach klar, worüber sie sprechen. Und obwohl es stockdunkel ist, fühlt sie ihre Wangen rot glühen. "Aber ich... aber..." versucht sie einige Male mit ihrer dünnen Kinderstimme einzufallen, ohne sich durchsetzen zu können. Orientierungslos schwebt sie durch die Finsternis, jagt den Stimmen nach, die immer wieder an anderen Stellen aufzuklingen scheinen, während sie bemerkt, wie ihre Gefühle sich langsam zu verwirren beginnen, den Stimmen sich anzugleichen. Ja, sie empfindet Zorn und Empörung, wenn die erste spricht, spürt ein spöttisches Lachen in ihrer Kehle aufsteigen, Unverständnis, wenn die zweite sich meldet, und wenn die Stimme der dritten erklingt, wird ihr so weich ums Herz, so warm und sanft...

Dann hat sie das Gefühl, sich an etwas zu erinnern. An etwas, das sie nie erlebte und doch Teil ihrer Vergangenheit ist. Einer Vergangenheit, die sie auch jetzt noch nicht berührt, ja, noch nicht einmal aus weiter Ferne erahnt hat. "Ulmentochter..." wispert sie leise. Der Klang des Wortes hat etwas vertrautes, das sich anfühlt wie ein Lieblingskleid, das man schon lange getragen und liebgewonnen hat, das sich dem Körper angepasst hat und sich nun warm und glatt an die Haut schmiegt. "Ich bin... bin ich... bin ich ihr?" fragt sie in die Dunkelheit hinein. Und sie fühlt wieder den Zorn und die Scham, die Wärme und die Liebe, alles zugleich. "Ich bin... eine von euch" wiederholt sie, die helle, klare Mädchenstimme erhebend, die nun mit einem Mal die Weiten der dunklen Höhle mit ihrem Klang auszufüllen scheint, obgleich sie nicht schreit. Die Wände aus feuchter, fruchtbarer Erde werfen sie zurück, lassen sie tanzen zwischen dicken Wurzeln, großen Steinen und schweren Erdklumpen. Und das Mädchen streckt die Arme zur Seite aus und beginnt ebenfalls zu tanzen.

Leicht wie Libellenflügel breitet sich ihr Kleid aus, entfaltet sich zu einer Blüte aus Stoff, getragen von einem Wind, der nicht hörbar und nicht spürbar ist. Und die kleine Lîf dreht sich um ihre Achse, legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen und lässt sich treiben, eine schwebende kleine Blume mitten im Schoß der Großen Mutter. Die Stimmen der drei Weiber klingen noch in ihren Ohren, sie weiß nicht: reden sie noch zu ihr, oder ist es die Kraft der Erinnerung, die sie am Leben erhält? Ein Lächeln breitet sich auf dem kleinen Gesicht mit den weichen, kindlichen Zügen aus, als sie fühlt, wie sich die widerstreitenden Weiber in ihr vereinen, um ein einziges, facettenreiches und doch harmonisches ganzes zu bilden, das so widersprüchlich erscheinen mag, dass es eine Mannsperson in den Wahnsinn treiben kann, das sich manchmal selbst nicht versteht, das oft mehr nach dem Herzen als nach dem Verstande urteilen wird und doch spürt, dass es von der Großen Mutter selbst so gewollt ist, wie es ist: ein Weib. Ein Weib namens Lîf. Und das Weib öffnet die Augen, die nun die Dunkelheit durchdringen, ein düsteres Dämmerlicht erfassen. Es erinnert sich und beginnt nach einem zu suchen, der ihm sagen kann, was es zu wissen begehrt.

~~~

Röchelnd und würgend bäumt sich Inga unter Tristans Griff auf, kommt aber nicht gegen die Kraft eines Mannes an. Er schlingt seine Arme von hinten um sie, presst sie an die Stuhllehne und gibt so Esja und der Magd genug Spielraum. Die Alte tritt dicht an das panische junge Weib heran, hebt ein Knie und setzt es ihr ohne viel Federlesens am Unterbauch an, nagelt sie mit Tristans Hilfe auf dem Stuhl fest und drückt mit einer ihrer hageren Hände auf die Stirn Ingas, fixiert ihren hin und her zuckenden Kopf. "Jetzt, Mädchen – los doch!" befiehlt sie der sichtlich eingeschüchterten Magd, die es nach mehreren erfolglosen Versuchen schafft, Inga die Holzstäbe in die Mundwinkel zu stecken. Als ihr die Kiefer aufgehebelt werden und sie mit zwangsweise aufgesperrtem Mund bewegungsunfähig auf dem Stuhl sitzt, gehen Ingas krampfartige Zuckungen in ein Zittern und ein ängstliches Gurgeln über. Mit geweiteten Augen, in denen nackte Angst sitzt, sieht sie zu der alten drudkvinde empor. Die brummt leise: "Hab keine Angst, Kindchen, ich helf' dir ja nur..." Das hindert sie aber nicht daran, das kleine, im Licht aufblitzende Metallwerkzeug von dem Kettchen zu nehmen und, mit gerunzelter Stirn und einigen prüfenden Blicken, in Ingas Rachen einzuführen. Tristan spürt, wie sie daraufhin wieder in Panik zu kämpfen beginnt, würgend und mit den Beinen strampelnd.

Esja beugt sich tief über Inga, mahnt einige Male gereizt Tristan und vor allem die blasse Magd, das junge Weib ruhig zu halten, und scheint nach etwas zu suchen. Bange Momente vergehen, in denen auch von den Zuschauern niemand sich rührt oder einen Ton von sich gibt. Nur das gequälte Röcheln Ingas und das Knistern eines kleinen Feuers unterbrechen die Stille. Die weichherzige Gertrud legt Egil eine Hand auf den Unterarm. Der Schmied, dessen großen, knochigen Fäusten so riesige Kraft innewohnt und von dem alle denken, schier nichts könne einen solchen Hünen erschüttern, schaut nun hilflos zu, blass, Schweißperlen auf der Stirn. Er muss sein junges Weib sehr lieben, denn bei jedem Wimmern, jedem Aufbäumen Ingas beißt er sich auf die Lippen, ballt die Fäuste, stöhnt leise.

Da endlich zieht Esja die Hand zurück, hebt das schimmernde Instrument, eine einfache Pinzette, und hält sie triumphierend in die Höhe. Darin kann man im schwachen Licht undeutlich eine Art Dorn ausmachen – eine Gräte, jedoch von ungewöhnlicher Länge. "Das war's – da haben alle bösen Geister ihre Finger im Spiel gehabt" meint die Alte und betrachtet sich das Ding von allen Seiten. "Hatte sich ausgerechnet in den Kehldeckel gespießt..." Die zitternde und röchelnde Inga ist nun erschlafft und bietet Tristans Armen keinen Widerstand mehr. Auf Esjas Nicken hat die Magd auch ihren Mund wieder freigegeben. Totenblass hängt sie auf dem Stuhl. Doch die drudkvinde meint resolut zu dem herbeieilenden Egil: "Nur die Ruhe, Jungchen! Es hätte sie nicht umgebracht. Hat ihr nur das Gefühl gegeben, keine Luft zu bekommen, und da ist das dumme Ding kopflos geworden. Wahrscheinlich hatte sie starke Schmerzen, und vielleicht hätt' sich's auch noch entzündet, auf Dauer." Sie schüttelt brummend den Kopf, als der hünenhafte Mann an Ingas Seite eilt und sichtlich mit Tränen der Erleichterung kämpft.

Doch dann wird ihr faltiges Gesicht bei diesem Anblick weicher, und sie fügt etwas sanfter hinzu: "Na, na, ist ja nun alles überstanden! Bring dein Weib rüber ins Langhaus. Ich mische ihr einen Trunk mit Honig, den soll sie langsam in kleinen Schlucken trinken. Dann sind die Schmerzen bald vorüber." Sie zwinkert Tristan und der Magd zu, während Egil stumm nickt, sein Weib auf die Arme hebt und hinausträgt, an den starrenden Zaungästen vorüber, die von der Alten alsbald hinausgescheucht werden. Nachdem sie auch die Magd wieder in den anderen Raum geschickt hat – die Tristan und ihr noch einen scheuen Blick zuwarf, ehe sie verschwand – wendet sie sich an ihn und meint mit einem bärbeißig wirkenden Schmunzeln: "Ich werde ihr sagen, dass die wunde Stelle schneller verheilt, wenn sie schweigt. Dann steht ihr loses Mundwerk wenigstens mal für ein paar Tage still." Ihr Kichern klingt nicht bösartig, aber es lässt sie für einen Moment fast wie ein junges Mädchen erscheinen, das sich an einem Schabernack erfreut.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 23.08.2017, 17:52:32
Als Lîf zu tanzen beginnt, verhallen die Stimmen der drei Geister im Hintergrund, doch kaum besinnt sie sich und will sich endlich auf die Suche machen, die Esja ihr aufgetragen hat, rufen die drei Stimmen ihr noch ein paarmal nach, immer leiser und wirrer werdend:

Bin ich ihr, fragt sie? Nein, wir sind wir! Aber du bist wie wir.
Du folgst uns nach, Saat unserer Saat, Ulmentochter!
Ich war die erste und hatte selbst zwei Töchter und einen Sohn, soviele als lebten, und meine Töchter hatten zweie und einen Sohn, und jene auch und weiter ging's auf diese Art, und immer nur lebten drei und reichten die Gabe weiter, und du bist drei mal drei drei mal drei drei mal drei.

Du bist die, von der verlangt wird, dass sie der Ulme Versprechen einlöst.
Du bist die Sonne, von der die Große Mutter will, dass sie dem Mond Kinder gebiert.
Du bist der Tag, dein Bezwinger die Nacht. Doch so wie am Abend er dich verschlingt, verschlingst am Morgen du ihn du ihn du ihn.

Also eigentlich ganz einfach, wie du siehst: mach weiterhin brav die Beine breit und lass dein finsteres Kraut weg—mehr verlangt niemand von dir.
Das kann man so ausdrücken, ich tät's aber nicht. Zwei Geschlechter sollt ihr vereinen, du mit ihm, die sich vor langer Zeit stritten und nun nicht mehr zueinander finden. Erst war es der Zorn, der sie trennte, dann der Stolz, dann der Hass, zum Schluss war's einfach so.
Aber muss es so bleiben so bleiben so bleiben?

Was bedrängt ihr sie so? Ich sage: wenn sie nicht will, dann muss sie auch nicht. Warum sollten die Kinder für die Taten ihrer Vorväter büßen?
Ach, aber um Buße geht es doch längst nicht mehr. Wem sollte sie noch nützen nach all den Jahrtausenden? Nein, was jetzt noch zählt ist allein die Versöhnung!
Und die Zukunft die Zukunft die Zukunft.[1]

Dann sieht Lîf endlich ein Licht vor sich—den Eingang zur Höhle, es gibt keinen zweiten—und sie schwebt, flüchtet fast, darauf zu. Bald darauf erreicht sie eine Lichtung im Wald, auf der steht ein einzelner, mächtiger Baum: eine Ulme natürlich, das erkennt sie sofort an der geschuppten Borke, den geflügelten Früchten, den Blättern, die Entenfüßen gleichen. Doch auch hier ist weit und breit kein Tier zu sehen. Statt dessen sitzt vor dem Baum eine rothaarige, nur leicht bekleidete Frau, lässig an den Stamm gelehnt, von roten Beeren naschend. Sie blickt Lîf erwartungsvoll entgegen.

Wie Lîf einige Schritte auf die fremde Frau zumacht, erkennt sie deren Halskette wieder. Genauso sieht die Kette der Großmutter aus! In einem kleinen Haus nebenan wohnte die knorrige Alte, solange Lîf sich erinnern kann. Alle Erwachsenen hatten Angst vor ihr und gingen ihr aus dem Weg. Sie muss sehr streng gewesen sein mit den eigenen Kindern, so hat die Mutter es Lîf erzählt, aber die Enkelin besuchte ihre Großmutter gern. Geschichten sponn die Alte so flink und unermüdlich, wie ihre Hände das Garn sponnen. Auch das Weben hat Lîf bei ihr gelernt. Diese drei Dinge verbindet die junge Frau mit der Großmutter: Spinnen, Weben und Geschichten erzählen. Und wann immer sie von den Eltern Schelte oder Schläge bekommen hatte, so lief sie in die Hütte der Alten und fand dort Trost. Von der Großmutter als einziger hat Lîf Abschied genommen, ihr hat sie die Nachricht an die Eltern anvertraut, als sie—nur etwas über ein halbes Jahr ist es her!—bei Nacht und Nebel davongelaufen ist, um eine richtige Heilerin zu werden.

Und nun sitzt die Großmutter hier als junge Frau vor ihr! Und der Stich ins Herz, den Lîf dabei verspürt, sagt ihr deutlicher als der klare Verstand, was dies zu bedeuten hat: die Großmutter ist tot.

~~~

"Ja, das wäre ein Segen", antwortet Tristan zerstreut, als er mit Esja plötzlich allein dasteht. "Aber wie geht es meiner Lîf? Warum liegt sie drüben wie leblos? Sie hat doch nichts falsch gemacht, oder? Das Tier war verletzt und sie musste es einfach... weil es in Not war... eine Kreatur in Not, das erträgt sie nicht, da muss sie nun einmal helfen!"

Gerade erst hat er sich über den jungen Schmied amüsiert, der so hilflos dastand mit feuchtem Blick, als seine dumme Inga in Not war, jetzt steht Tristan einerseits nicht ganz zu dumm da, noch stöhnt er vor sich hin wie ein waidwundes Tier, aber auf und ab marschiert er, und zwar händeringend.

"War ich doch zu voreilig? Hätte ich sie doch besser dies eine Mal noch zu Hause gelassen? Sie weiß noch so gar nichts über uns und die hiesigen Gepflogenheiten, sie ist noch so trotzig, so zornig, will sich nicht dreinfinden. Aber sie muss doch lernen! Sie muss sich doch einfügen! Und wie hätte es ausgesehen, für sie wie für die anderen, wenn ich sie daheim gelassen hätte, als schämte ich mich ihrer, als traute ich ihr nicht, als gehörte sie noch nicht wirklich zu mir? Dabei bin ich doch stolz auf sie. Und sie, auch wenn sie bloß 'Hmpf' gemacht hat, als ich ihr davon erzählte, hat sich doch sehr hierauf gefreut. Wie aufgeregt sie schon bald ins Planen geriet! Wie eifrig sie an unserer Festkleidung nähte! Wie sie plötzlich unsere Mägde hierhin und dorthin schickte, als hätte sie da endlich begriffen, dass sie die Herrin im Haus ist!"

Ein wenig erstaunt es ihn, dass er plötzlich so haltlos daherbrabbelt und all die Zweifel ausspricht, das ganze Hin und Her, das er still für sich meinte abgewogen zu haben, bevor er Ole überhaupt erst Antwort gab auf dessen Frage, ob er seine vorlaute Lîf denn dieses Jahr schon auf das Disenthing mitzunehmen wage oder lieber nicht.

"Nicht wahr, es war doch richtig? Dass ich sie mitnahm... und auch dem kleinen Heuler helfen ließ... Was die Leute da aber reden vonwegen, es sei gegen den Willen der Mutter, die Kräfte, die mein Weib schließlich durch sie empfängt, auf das Heilen eines Tieres zu verschwenden—das ist doch Unfug?"
 1. Ursprünglich war dies tatsächlich als einfache schamanische Unterweltsreise gedacht, bei der Lîf sich selbst erkennen sollte, so wie du's auch verstanden hast. (Ich dachte halt, Du schreibst die ganze Reise selber...) Aber dann hast Du mittendrin mir wieder den Ball zugeworfen, und ich kann ja eigentlich nicht beschreiben, was Lîf in ihrer innersten Seele findet, sondern nur die äußeren Umstände beeinflussen. Da kam ich nur auf genau zwei Optionen: dass die Trommeln irgendwie Einfluss nähmen oder eben, dass Lîf eine Vision hätte (sprich Ahnengeister). Na ja, so kam es zu den Dreien.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 24.08.2017, 12:08:21
Die Stimmen der drei Weiber klingen um sie herum auf, die Worte fliegen durch das Dämmerlicht, Lîf wirbelt um ihre eigene Achse, schwebt umher – und immer mehr verdichtet sich in ihr das Gefühl, dass dies alles gut ist, wie es ist. Die Dinge müssen so sein: die Höhle, die Düsternis, die drei Weiber, sie selbst... Vertrauen auf die führende Hand der großen Mutter breitet sich in ihr aus, macht sie ruhig, gelassen und sogar ein wenig fröhlich. Singen möchte sie wie das kleine Mädchen, das sie ein paar Atemzüge zuvor noch war, ihre Zöpfe fliegen lassen in einem ausgelassenen Reigen. Ja, sie beginnt zu verstehen..! Nicht, wie andere verstehen, die Gaya nicht so lieben und dienen wie sie, wie die Mannsleute zu verstehen glauben, mit ihren kümmerlichen Gedanken, die niemals die ganze Herrlichkeit Ihrer Schöpfung werden erfassen können! Nein, sie versteht mit dem Herzen, verschmilzt mit den drei Weibern, mit der Erde, dem Schoß der Mutter, der sie umgibt, wird in einem Herzschlag zum Weib, zur Schwangeren, zur Mutter und endlich zur Greisin, ehe sie zu Ihr zurückkehrt und aus Ihr neu geboren wiederkehrt, die Welt mit einem lauten Schreien begrüßt, an einer großen, nährenden Brust Kraft schöpft, zum Mädchen wird, zur Jungfrau und wiederum zum Weib...

Und die Worte der drei hallen in ihrem Kopf wieder. Zwei lange verfeindete, entfremdete Geschlechter vereinen... was mögen sie meinen? Versöhnung? Die Zukunft... ihre Zukunft – mit ihm..? Neugierig bewegt sie sich auf das Licht zu, die riesige, wundervolle, mächtige Ulme, breitet die Arme aus und jauchzt vor Freude! Dann hält sie inne, als ihr Blick auf den Rotschopf vor ihr fällt. Ein Spiegelbild ihrer selbst..? Und plötzlich erkennt sie die Halskette, weiß, wer das Weib vor ihr ist und was ihr Hiersein bedeutet! Es tut weh und ist schön zugleich: Der Schmerz darüber, dass die Großmutter ihre Welt verlassen musste, mischt sich mit der Erkenntnis, dass sie nun zurückgekehrt ist zu ihrer aller Mutter und darauf wartet, erneut geboren zu werden. "Großmutter..!" ruft Lîf, breitet die Arme wieder aus und eilt auf sie zu, kniet vor ihr nieder und umarmt sie, herzt sie. "Großmutter!" schluchzt sie, salzige Tränen vor Freude wie vor Trauer vergießend. Dann sieht sie an dem jugendlichen, kräftigen Weib mit den alten Augen auf und flüstert: "Bist du meine Seelenschwester..?" Und ihr Blick gleitet von dem lächelnden Gesicht im Kranz seiner roten Locken hinauf an dem borkigen Stamm, zu den knorrigen Ästen mit ihrem dichten Laub. [/b]"Weißt du es denn nicht, kleine Ulmentochter?"[/b] fragt die Großmutter sie mit nachsichtigem Lächeln und streicht ihr über die Wange.

Ulmentochter... hallt es durch ihren Geist, und die majestätischen Zweige neigen sich in einer leichten Brise, scheinen ihr zuzunicken...

Dann streicht die Hand der Großmutter sanft über ihre Augen, ihre Lider sinken unwiderstehlich hinab, und sie fällt in einen tiefen Schlaf...

~~~

Die Alte kichert. "Das wäre es... Inga ist nicht böse, aber ein sehr dummes Ding. Sie versteht wenig, plappert viel, und oft genug auch das Falsche. Nun..." seufzt sie gespielt, "...ihr Mann ist schweigsamer, aber mit seinem Verstand kann er ihr wohl das Wasser reichen. Die Große Mutter schenkt jedem Menschenkind das passende Gegenstück." Und es ist schwer zu erkennen, wie viel von ihren Worten die greise drudkvinde ernst meint und wie viel im Scherz. Mit einem leisen Ächzen lässt sie sich in den Lehnstuhl sinken und befestigt die kleine Pinzette wieder an ihrer Schürze. "Dummerjan" brummt sie dann auf Tristans Fragen. "Glaubst du denn, ich würde mir herausnehmen, sie so einfach zu verurteilen wie diese ewig angsterfüllten, schnatternden Hühner?!" Mürrisch winkt sie ab. "Brauchst mir nichts zu erzählen, ich kenne sie, all die Ingas... machen sich selbst und ihre Männer ganz verrückt mit dem dummen Gerede!" Dann legt sie Tristan eine verwelkte Hand auf den Unterarm und sagt ernst: "Glaube mir, mein Junge: Sie wird nicht bestraft. Im Gegenteil: Sie ist auf der Suche nach etwas. Etwas sehr wichtigem." Dann lächelt sie, und ihr Gesicht ist von tausend kleinen Fältchen durchzogen: "Ich weiß. Sie hat ein weiches Herz, auch wenn es zu oft und zu rasch im Zorn entflammt. Sie wird lernen müssen, und du, ihr Mann, musst ihr dabei helfen."

Eindringlich sieht sie Tristan an. "Mach dir keine Illusionen: Es ist nicht leicht, eine Dienerin Gayas dein Weib zu nennen! So manches Mal wirst du sie nicht verstehen, und sie selbst wird sich auch nicht verstehen – aber ihr beide müsst lernen, damit umzugehen. Sie ist das kühle Wasser und das sengende Feuer, die sanfte Liebe und der verzehrende Zorn. Und du, du musst ihr Halt geben. Wird nicht einfach für dich werden, Jungchen" kichert sie und tätschelt seine Hand. "Aber du wirst mit der Zeit lernen, zu unterscheiden: Manchmal braucht sie dein Verständnis und deine Schulter zum Anlehnen, ein anderes Mal deine harte Hand, die sie zurückhält, wenn die Leidenschaft sie mit sich reißt." Schließlich stemmt sie sich wieder hoch und meint: "Red keinen Unsinn, Jungchen! Du hast recht getan, sie mitzunehmen – ihr seid Mann und Weib, sie gehört zu dir und du zu ihr! Du sagst doch selbst, dass sie sich gefreut hat. Schenk ihr Freude, und sie wird dir Freude schenken, wie du sie dir stets erhofft hast. Aber erkenne auch, wenn sie über die Stränge schlägt, und zeig ihr Grenzen auf wie jeder Mann seinem Weib. Habe keine Angst: Sie wird vor Zorn sprühen, doch wenn du es nicht übertreibst, ihre Freiheit nicht ungerecht einschränkst, wird sie es stets einsehen und dir hernach Dank dafür wissen."

Gerade will sie fortfahren und knurrt: "Lass die Leute reden! Was der Wille Gayas ist und was nicht, entscheiden nicht sie, sondern die Große Mutter allein! Deine Lîf muss in vielem noch lernen, sich unterzuordnen, Regeln zu gehorchen, doch der Göttin gehorcht sie bereits, weil ihr Herz stärker ist als ihr Trotzkopf. Mach dir keine Sorgen, sie wird–" In diesem Moment hat sie die Tür zu dem Raum wieder geöffnet, in dem Tristans Weib liegt. Dort, im schweren Rauch der Kräuter, herrscht nun völlige Stille. Doch man hört gedämpftes Wehgeschrei von außen. Auf Esjas fragenden Blick murmelt eine der Mägde leise: "Frau Inga... sie hat glaube ich etwas Ungehöriges über die Sache mit der kleinen Robbe gesagt." Die beiden anderen Mägde sehen zu Boden, doch man kann unschwer erkennen, dass sie ein Grinsen zu verbergen suchen. Sogar die Alte schmunzelt kurz. "Da siehst du, mein Junge: Sie konnte ihr lockere Zunge wie so oft nicht beherrschen, kaum dass sie wieder imstande war, zu reden. Und nun übernimmt der Gürtel ihres Mannes, was ich mit meinem Schweigegebot an sie erreichen wollte. An der Zeit war's ja schon lange, dass der gutmütige Dummkopf sich dazu entschließt! Vielleicht lernt sie dadurch, sparsamer mit ihren Reden umzugehen... jedenfalls bis sie wieder sitzen kann." Mit einem theatralischen Kopfschütteln wendet sie sich Lîf und den übrigen Weibern zu. Tristans Weib rührt sich nicht, doch ihre Lider flattern.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 24.08.2017, 22:25:30
Auch die Großmutter schließt Lîf froh in ihre Arme, macht beruhigende Laute und streicht, als die Enkelin den Kopf an sie lehnt, sacht über deren Haar; die Beeren liegen vergessen auf der Erde. "Nun, nun, Kindchen, nicht immer so stürmisch. Bei den Ahnen, was für ein Wirbelwind!" Auf Lîfs Frage hin überlegt sie kurz.

"Seelenschwester, ja, so könnte man's nennen. Ich war dir sehr ähnlich als junge Frau. Verzeih', wenn ich dich vorhin in der Höhle erschreckt habe! Ich nenne die Dinge halt stets beim Namen. Nicht so wie Mutter, die sich alles immer so zurechtbiegt und zusammenreimt, bis das herauskommt, mit dem sie am leichtesten leben kann. Aber du! Du bist so wie ich: stolz, aufbrausend, trotzig, du begehrst gegen das Unrecht auf! Und deswegen verstehe ich auch nicht, wie du dich diesem Kerl hingeben kannst, Nacht für Nacht in stiller Komplizenschaft, diesem Räuber und Raubmörder, der nicht einmal zugeben will, dass er dich geraubt und zu seinem Willen gezwungen hat, sondern es so hindreht und wendet, als sei er dein Retter und hätte auch noch deine Dankbarkeit verdient! Oh, wie hätt' ich ihm diesen törichten Gedanken ausgetrieben!

Aber was rede ich. So täte ich's, so hab ich es stets gehalten, und weiß Gaja genug dafür gelitten. Vielleicht... vielleicht machst du es doch schlauer, Schwester, indem du deinen Stolz überwindest, wie ich es nie konnte. Deine Mutter, schau, da hat die meine recht, war, so sehr ich unser beider Vater für alles hasste, doch meine liebste Tochter und die einzige, aus der je etwas Anständiges wurde. Vielleicht... vielleicht wusste Gaja am Ende doch am besten, was geschehen muss, vielleicht gab es keinen anderen Weg... Oh weh, da fragt man sich: was ist das für ein seltsamer Rat von der Großmutter? Mach es so oder mach es besser so—ha! Also lass es mich noch einmal versuchen: Mach es so, wie du denkst, sag ich. Hör nur auf dich. Dein Herz. Dein Gewissen. Auf das, was du für richtig hältst. Und wenn du dann einmal herausgefunden hast, was du tun willst—lass dir von keinem mehr da hereinreden! Nur du kannst sagen, was in deinem Leben nötig ist und was erträglich.

Ach, aber weißt du, als du dich damals verabschiedet hast... da ahnte ich schon, dass ich dich in diesem Leben nicht wiedersehen würde. Auch fürchtete ich bereits, dass du bald kein Mädchen mehr wärest, sondern Gewalt an Leib und Seele erfahren würdest... wie gern hätte ich dich beschützt! Wie gern dir geraten: bleib doch hier, wo es sicher ist! Aber sicher ist es nirgendwo, Liebes, und Gajas Ruf muss eine Ulmentochter folgen, daher ließ ich dich gehen. Bisweilen wünscht' ich mir jetzt, ich hätte es nicht. Wenn ich dich nur beschützen könnte vor all dem Leid, all den Gefahren, die auf deinem Weg liegen! Aber die Toten sind den Lebenden schlechte Reisegefährten!

Darum ein letzter Rat an dich: sei schlauer als ich, die alles immer allein schaffen wollte—such dir Verbündete! Mit den richtigen Verbündeten, wer weiß, da mag dir sogar die Flucht von diesen unerträglichen Inseln gelingen und diesem frechen Räuber, der mein armes liebes Kind so schändlich... Halt, da dränge ich dich ja schon wieder zu Plänen, die ich selbst in deiner Lage schmieden würde. Vergiss also den zweiten Satz und beachte nur den ersten: mit Verbündeten ist das Leben leichter. Und jetzt schlaf, Schwester. Schlaf... und lausche den Trommeln, wie sie lauter werden... folge immer den Trommeln, sie führen dich an dein Ziel..."


Und Lîf schließt die Augen. Während der langen Rede der Großmutter ist ihr Kopf längst auf deren Schoß gesunken, während sie selbst sich lang auf dem Rücken ausgestreckt hat und das Gesicht der Ulmenkrone zugewandt. Ihr Schlaf ist leicht, der Trommeln verlässlicher Pulsschlag treibt sie voran, ein paarmal flattern die Lider... Da schwebt dann ein Gesicht über ihr und eine Stimme spricht... (eine männliche Stimme, was sie eigentlich erschrecken oder verwundern müsste; statt dessen klopft bloß ihr Herz auf einmal schneller, kommt aus dem Takt mit den Trommeln, rast...): "Ich hoffe, du hast gefunden, was du suchtest, Liebes. Ich warte drüben auf dich. Komm' bald."

~~~

Bei Esjas Rede hätte es Tristan wohl ein wenig mulmelig werden müssen, denn die Aufgabe, die sie beschreibt, ist sicher keine leichte. Doch der Weiseste ist Lîfs Gemahl nun einmal nicht, dafür unerschrocken, und so gehen ihm zwar einige Gedanken durch den Kopf, aber wohl kaum die, die Esja hat anregen wollen. Erleichtert ist er natürlich, dass Lîf nicht bestraft wird. Als die drudkvinde das weiche Herz erwähnt—in einem Atemzug mit dem viel zu rasch entflammenden Zorn—denkt Tristan bloß: Wieviel lieber ist mir doch ein Weib mit weichem Herz als mit hartem! Dass er sein Weib und ihren Zorn schon irgendwann zähmen würde, daran hegt er nämlich nicht den geringsten Zweifel; sich selbst dagegen sieht er als den größten Nutznießer ihres weichen Herzens. Als es kurz darauf heißt, eine Dienerin Gajas sei nur schwer für einen Mann zu verstehen, da kontert er in Gedanken: Wie jedes Weib! Bei der Auflistung all dessen, was er für Lîf tun und sein soll, wehrt er lässig ab: Ja, ja, genau das tu ich doch schon! Nur als die alte Heilerin ihm erklärt, wie und in welchen Situationen er sein Weib zu bändigen habe, lacht er innerlich: Also, wenn die Leidenschaft meine Lîf mitreißt, dann bekommt sie gewiss nicht meine harte HAND zu spüren!

Bei einem einzigen Punkt spricht er seine Gedanken aus: "Freude, ja, das habe ich ihr schon in der ersten Nacht versprochen, wenn sie sich mir nur anvertraut und keine Furcht vor mir hat... Und meine ganze Freude ist sie sowieso", gibt er gerne zu. Als Esja fortfährt, sieht er dagegen nur still bei sich ein: Ja, damit tue ich mich schwer: die Leute reden lassen. Es kümmert mich einfach viel zu sehr!

Daraufhin geleitet die alte Heilerin ihn zurück in die Hauptkammer, wo die Trommeln inzwischen nur noch ganz sacht pochen und sein Weib sich schläfrig räkelt und die Augen reibt, aber doch so ganz noch nicht zu sich findet. Die Erklärung für das Wehgeschrei von draußen nimmt Tristan nur so am Rande wahr, da kniet er bereits bei seiner Lîf und streicht ihr eine nasse Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht und will sie schon sanft wachrütteln, da fängt er einen mahnenden Blick Esjas auf, der ihm sagt, dass die drudkvinde mit Lîf für heute noch nicht ganz fertig ist, und so wispert er nur: "Ich hoffe, du hast gefunden, was du suchtest, Liebes. Ich warte drüben auf dich. Komm' bald."

Dann wendet er sich zum Gehen.

"Muss mich eh noch beim Jarl entschuldigen... Dank für alles!" verabschiedet er sich bei Esja. Und dabei denkt er nicht einmal nebenbei an Inga und ihre Gräte.

~~~

"Also Kindchen, dann erzähl", fordert Esja ihre junge Schülerin auf. "Hast Du Dein Seelengeschwisterchen gefunden?"

Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 25.08.2017, 15:53:04
Während sie langsam aus den weichen, warmen Armen ihrer Großmutter und aus ihrer Vision wieder zurück in die Wirklichkeit gleitet, liegt ein seliges Lächeln auf Lîfs Lippen. Ihre Augenlider flattern einige Male, als würde sie heftig träumen, und ein leises Seufzen ist zu vernehmen, als sie sich ganz träge zu rühren beginnt. Tristans Stimme dringt an ihr Ohr, vermengt sich mit den Eindrücken, die ihr die Vision beschert hat, bringt sie aus dem seligen, gemächlichen Dahinschweben, lässt ihr Herz heftiger pochen – doch nicht auf eine unangenehme Weise. Eine Erregung erfasst sie, und sie macht eine geistige Anstrengung, wieder in das Hier und Jetzt zurück zu finden. Endlich: Stille. Das Rascheln von Kleidern, der schwere, betäubende Geruch von Kräutern, die Bank in ihrem Rücken. Sie ist wieder sie selbst! Langsam tastet sie ihren Leib ab. Ja, sie ist wieder das junge Weib, das sie vor ihrem Traum war. Obwohl sie noch immer die Erinnerung daran hat, ein schreiender Säugling gewesen zu sein, ein kleines Mädchen, eine Schwangere – sie fühlt noch die Rückenschmerzen! – eine Mutter mit ihrem Kind im Arm und auch eine Greisin, weise und grau geworden nach einem langen Leben...

Ganz allmählich schlägt sie die Augen auf, blinzelt, blickt sich um. Und erkennt ihre Lehrmeisterin. "Mor" sagt sie leise, aber mit klarer Stimme. "Ich weiß jetzt, wer ich bin!" Dann erzählt sie der Alten ihre Traumreise in allen Einzelheiten, die sich untilgbar in ihr Gedächtnis gebrannt haben: Die dunkle Höhle, sie, die kleine Lîf, die drei Weiber, ihre Großmutter – und die Ulme. "Ulmentochter... das bin ich. Ulmentöchter sind wir alle, die Weiber meiner Ahnenlinie" schließt der Rotschopf ermattet, aber sichtlich glücklich. "Mor, als ich an der Ulme aufblickte, da wusste ich es auf einmal – ich habe es gespürt!" Mit beiden Händen umschließt sie sanft, aber nachdrücklich die welke Hand der Greisin, drückt sie gegen ihre Brust, als könne Esja so besser spüren, was in ihrem Herzen vorgeht. "Die Große Mutter will, dass ich ihr als Tochter der Ulme diene, ich bin ganz sicher" beteuert sie. "So ist es doch, nicht wahr, Mor?" Ihre Augen leuchten hoffnungsvoll auf. Sichtlich sehnt sie sich nach Bestätigung. Dann, nach mehrmaligen verwirrtem Zwinkern, fragt sie: "Tristan – wo ist er? Ich hörte auch seine Stimme." Was dieser vermeintliche Teil ihrer Vision zu bedeuten hat, ist ihr noch unklar. Aber auch wenn sie sich noch oft dagegen sträubt, mit ganzen Herzen und nicht nur vor dem Recht sein Weib zu sein: Muss die Göttin nicht Pläne mit dem Skalden und Lîf haben, wenn sie ihm erlaubt, in der Vision ihrer jungen Dienerin zugegen zu sein? Ein Gedanke, der Lif erschreckt und ihr Herz zugleich freudig pochen lässt.

~~~

Tristan wendet sich derweil nach seinem Gespräch mit der alten drudkvinde und Lehrmeisterin seines Weibes nach draußen, die ihm noch mit auf den Weg gab: "Sorg dich nicht allzu sehr, Jungchen: Du und sie, euch hat Gaya zusammengeführt, und Sie wird auch dafür sorgen, dass ihr zusammen glücklich werdet. Ich hab' dafür ein Gespür – es mag nicht sofort sein, und es mag auch einige Tränen und Schweiß kosten, aber vertrau der Großen Mutter!" Damit hat sie ihm ein segnendes Symbol mit der Daumenkuppe auf die Stirn gemalt und ihm zugenickt, ehe sie ihn entließ. Draußen angelangt sieht er zwei andere Gestalten, die ebenfalls dem großen Langhaus zustreben, ein Mann und ein Weib. Da sie sich recht langsam bewegen, hat er sie bald eingeholt und erkannt Inga mit ihrem Gemahl. Der Schmied blickt grimmig drein und wirkt so recht furchteinflößend, mit seinen Muskelbergen und seiner langen Gestalt, mit der er jedermann überragt. Tristan allerdings, der sein simples Gemüt kennt, vermeint in den Augen Egils einen Glanz zu erkennen, der eine andere Sprache spricht: Ein Leuchten, fast wie ein zufriedener Säugling, der sich gerade an der Brust satt getrunken hat und mit sich und der Welt glücklich im Arm der Mutter schlummert. Ja: Der Hüne wirkt regelrecht... selig?

Sein Weib hingegen macht einen ganz anderen Eindruck. Inga hinkt mit kleinen Schrittchen auffällig langsam neben Egil her, einen halben Schritt hinter ihm, und senkt den Kopf, als Tristan die beiden überholt. Dennoch erkennt er, dass ihre Augen nun verweint aussehen, die rosigen Lippen, die so verlockend lächeln können, sind zu einem trotzigen, mürrischen Flunsch verzogen. Es ist ihr offenkundig peinlich, Tristan in die Augen zu sehen. Egil dagegen nickt ihm ernst und gemessen zu, offenkundig um seine Würde bedacht, und brummt kurz: "Hab Dank, dass du mein Weib gerettet hast – auch in ihrem Namen." Von Inga ist nur ein Schniefen zu hören, das Egil aber anscheinend als Zustimmung zu werten geneigt ist. Vom Langhaus her sind gedämpfte Stimmen und Gelächter zu hören. Dort scheint es nach wie vor hoch herzugehen. Vor den Eingängen sind einige der jüngeren Weiber damit beschäftigt, Weißdornzweige über den Türstöcken anzubringen. Der Weißdorn, wie jedem bekannt ist, hat die Kraft, vor bösen Geistern und Hexerei zu schützen. Und wie ein Wissenssammler von Tristans Format ebenfalls weiß, ist ihre zauberische Schutzwirkung besonders groß, wenn sie aus den Händen einer Mutter sind, die ihr Kind noch stillt, denn von ihr geht Lebenskraft in die Zweige über, die sie länger frisch und damit wirkkräftig erhält.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 25.08.2017, 23:39:22
"Jetzt weißt du, wer du bist?" fragt Esja kichernd. "Ach Kindchen, das ist erst der Anfang!" Doch als Lîf gleich darauf eifrig zu erzählen beginnt, unterbricht die Lehrmeisterin sie gleich zu Beginn und schickt erst einmal die drei Mägde hinaus. Nach den Tieren im Stall möchten sie schauen und erst wieder hereinkommen, wenn man sie rufe. Dann lauscht sie Lîf aufmerksam weiter.

"Ulmentochter!" ruft Esja. Es klingt überrascht.

"Ulmentochter!" stimmen Unn und Aud ein. Dann deutet Aud auf sich: "Holundertochter" und Unn tut's ihr nach: "Lindentochter" und die beiden jungen Frauen rufen "Haseltöchter" und kichern. Dabei bleibt unklar, ob sie wegen des doppeldeutigen "Haseltöchter" kichern, oder weil sie gerade mit der kleinen Robbe spielen, die gar nicht mehr ängstlich zwischen den beiden liegt und mal diese anstubst, mal jene. Doch so putzig das ist: in diesem Moment hat Lîf kaum einen Gedanken dafür.

"Buchentochter", stellt Esja sich als letzte vor, dann betrachtet sie Lîf eine ganze Weile lang still. "Ulmentochter", murmelt sie mehrmals vor sich hin und schließlich lauter: "Ulmentochter. Nein sowas. Für einen Apfel hätte ich dich gehalten, vielleicht auch eine Lärche, weil du zwei Naturen in dir vereinst, aber Ulme! Da wär' ich nicht drauf gekommen. Von Ulmentöchtern heißt es nämlich, dass sie sanftmütig seien, verstehst du? Ganz Erde, warm, beständig, für jeden ein Halt." Sie murmelt undeutig weiter und Lîf muss sich lange gedulden, bis endlich: "Ja, ja, das meiste davon sehe ich schon bei dir auch, man muss nur genau hinschauen. Jetzt guck' nicht so besorgt! Je länger ich es bedenke, umso deutlicher erkenne ich, dass es so sein muss! Aber dein Temperament, woher stammt dies?"

Und sie kramt in einem Beutel, der an ihrem Gürtel hängt, zählt fünf Stäbchen daraus ab und wirft sie vor sich auf die Bank. Das Ergebnis beäugt sie lange. Dann lächelt sie.

"Ich weiß, von wem deine Ahnenfrau sprach, ich weiß, wer der Gehörnte war, der stürmische Liebhaber: ein Satyr war's! So, das erklärt nun alles: dein rotes Haar, dein Temperament wie Feuer und Wasser so wild, so wandelbar, so aufbrausend wie hitzig, und auch, warum dein Körper schon weiß, was er will, dein Herz und Verstand aber noch nicht. Und der Ahnenfrau Mutter, die Ulme, ahnst du, mein Kind, wer das war? Ahnst du, woher wir alle stammen, ob Buche, Linde, Holunder, ob Hasel oder Ulme? Habe ich dir schon von Gajas ersten Kindern erzählt? Der Satyr ist nur eines davon, der frivole Bursche. Die Baumfrauen sind weitere. Dryaden heißen sie sich und die Elben waren die ersten, mit denen die Baumfrauen ihr Blut vermischten, wodurch die Spitzohren die ersten Sterblichen wurden, die Gajas Kräfte zu nutzen lernten. Und die Baumkinder unter ihrem Volk, die nannten sie Druiden nach ihren Müttern, und deshalb heißen auch wir uns drudkvinder—Dryadentöchter! Und ich sehe deinen fragenden Blick: ja, es gibt auch drudmanden—Dryadensöhne. Fünf mal fünf Bäume sind Gaja geweiht, darin die Baumfrauen leben, ein Dutzend derer einem Menschen Töchter gebären, das zweite Dutzend aber stets einen Sohn. Nur die Mistel, das geheimnisvollste unter den heiligen Gehölzen, da weiß man nicht: wird's eine Tochter oder ein Sohn oder beides zugleich."

Abermals blickt Esja auf die geworfenen Runenstäbe und sinniert vor sich hin, wobei sie mal eifrig nickt, mal sich nachdenklich an die Nase fast, mal abwägend mit dem Kopf wackelt, mal einen sorgenvollen Seufzer tut. Doch falls Lîf auf eine Erklärung wartet, so wird sie enttäuscht, denn die Alte wechselt das Thema.

"Nun war das aber gar nicht die Aufgabe, die ich dir gestellt habe, Kindchen. Hast du wirklich überhaupt kein Tier dort getroffen?" Und als Lîf dies verneint, seufzt die alte Heilerin von ganzem Herzen. "Also kein treuer Gefährte, der dir zur Seite steht, wohin du auch gehst, was auch immer du tust. Alleine meinst du deinen Weg gehen zu müssen! Nur aus sich selbst heraus will die kleine Ulmentochter all ihre Kräfte schöpfen! Nun gut, wenn du dir das so in den Kopf gesetzt hast, wird es dir niemand ausreden können. Ulmentochter willst du sein und sonst nichts. Keine Robbenschwester oder Möwenschwester oder Wolfschwester, nein? Ein Einzelkind! Das wird nicht leicht, lass es dir sagen. Schau dir meine beiden Schätze an oder deinen kleinen Freund von vorhin. Das Herz erwärmen sie einem, nicht wahr? Und treu sind sie, widersprechen nie."

"Darf ich ihn behalten?" ruft Isgerd dazwischen, darauf Ragnhild: "Nein, ich!"

"Ts, unterbrecht mich nicht. Wenn ich mit Lîf fertig bin, dürft ihr auf die Reise gehen, dann wisst ihr's gleich. Es wäre doch gelacht, wenn das nicht etwas zu bedeuten hatte, dass Lîf diesen Kleinen fand."

"Und wenn wir beide Robbenschwestern sind?" fragen Isgerd und Ragnhild zugleich.

"Dann wird der Kleine schon wählen, bei wem er bleiben will, und die andere wird den ihren früh genug treffen. Und jetzt seid still. Wo war ich?"

Lîf sagt es ihr.

"Genau. Und deshalb bitte ich dich, wenn du in deinem Leben auch nur auf einen Rat hören willst, so höre auf diesen: allein durchs Leben gehen ist nicht gut. Deine Großmutter sagt es ja auch. Wenn du dir schon keinen Wegbegleiter unter Gajas Kreaturen erwählen willst, dann übersieh wenigstens nicht den Gefährten, den die Große Mutter dir bereits an die Seite gestellt hat. Einen treueren findest du nicht, das sag' ich dir. Wie kann es dich wundern, seine Stimme gehört zu haben? Ist er nicht dein Mann? Gehört er nicht zu dir? Hütet er nicht ein ähnliches Geheimnis wie du? Wie könnte das kein Schicksal sein? Aber jetzt habe ich darüber schon zu viel geschwatzt. Was ist, Lîf, eilst du jetzt zu deinem Mann hinüber oder hast du noch Fragen an mich? Eine will ich dir heute noch beantworten, also überleg' sie dir gut."

~~~

Gerade, wie Tristan durchs Palisadentor tritt, holt er Egil und Inga ein. Im ersten Moment wundert er sich, warum Inga hinkt, dann fällt ihm ein, was er vorhin nur mit halbem Ohr mitbekommen hat. Der zufriedene Glanz in Egils Augen gibt ihm dann aber zu denken. Selig? Weil er sein Weib geprügelt hat? Tristan stellt sich vor, er hätte gerade seine Lîf übers Knie gelegt und ist sich sicher: elend wär ihm da!

Oder kann man Gefallen daran finden? Olav[1] schlug sein Weib und seine Mägde und bekam kaum genug davon, aber dann war es so, dass der alte Skalde kein Laster ausließ, solange das Gesetz es noch erlaubte. Aber Egil? So ein sanftmütiger Kerl! Wenn Egil daran Gefallen finden kann, dann scheint mir doch, jeder Mann könnte es! Drum bestärkt mich dies nur nur in einem: weder Rute noch Gürtel sollen mir je in die Hand hüpfen und auch die Fäuste will ich lieber zähneknirschend in der Tasche ballen, ehe ich sie meiner Lîf ins Gesicht fliegen ließe!

"Ach was", wehrt er ab. "Gar nichts habe ich getan, die alte Esja alles!"

Er will schon vorbei, dann hält er noch einmal inne. Sein letzter Versuch, Inga zur Vernunft zu bringen, hat eher das Gegenteil bewirkt, soll er überhaupt noch einmal wagen, ihr ein Friedensangebot zu machen? Zudem es ihm gegen den Strich geht, dieses dumme Stück... Halt, so darf er nicht denken. Er muss jetzt auch an seine Frau denken, nicht nur an sich selbst. "Mit Esjas Trunk wird dein Hals bestimmt bald besser", offeriert er daher ein wenig zögerlich. Als Inga ihn darauf anblickt, sucht er dann aber schon verlegen nach Worten. "Ähm, hast du gesehen? Die Weiber da drüben brauchen bestimmt deine Hilfe mit dem Weißdorn. Von einer jungen Mutter aufgehängt, wirkt er besonders machtvoll."

Auf diese Weise gibt Tristan ihr eine geschickte Fluchtmöglichkeit, die es ihr ersparen würde, so gedemütigt wie sie gerade ausschaut mit ihrem Mann zusammen das vollbesetzte Langhaus zu betreten und von wissendem Grinsen ringsum begrüßt zu werden. Ob sie's annimmt oder nicht, bleibt ihr überlassen.

"Wir wollen bestimmt kein böses Blut, meine Lîf und ich", wendet Tristan sich darauf an Egil. "Dein Vater ist mein Drachenführer. Ich verlasse mich auf ihn und er sich auf mich und so muss es sein. Das bedenken die Frauen nicht richtig. Oder vielmehr können sie ja gar nicht wissen, was das bedeutet. Und die meine ist auch noch sehr jung und vom Festland, wo alles ganz anders ist. Also... nichts für ungut, ja?"

Tristan klopft dem Hünen auf die Schulter, bevor man gemeinsam (mit oder ohne Inga) den Hof überquert und das Hóper Langhaus betritt. Dort verabschiedet Tristan sich mit einem Nicken und begibt sich zum Jarl, um sich dafür zu entschuldigen, dass er vorhin so einfach durch dessen Gemach gepoltert war.

Danach schaut er sich nach Ole um, doch der befindet sich unerreichbar in der Mitte einer großen und—obwohl Bier und Met vor dem Opfer am vierten Tag streng verboten sind—schon sehr fröhlichen Runde. Tristan ist nicht danach, sich dort dazuzudrängeln, und so setzt er sich wieder an seinen Platz, wo noch der kalte Eintopf steht, und verschlingt diesen. Dann lehnt er sich zurück und wartet auf sein Weib.
 1. Olav war der alte Skalde, der Tristan aufnahm, als dieser mit 14 nach Hóp kam. Ein alter Trunkenbold, der eben gerne prügelte. Zwei Jahre später starb er auf Fahrt und hinterließ seinem Adoptivsohn Tristan den Hof und alles darauf. (Das erwähnte Weib war schon lange tot und mit Kindern wurde es auch nie was.)—Nicht zu verwechseln mit Ole. Die beiden Namen sind mir leider zu ähnlich geraten.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 26.08.2017, 14:04:21
Lîf hängt mit den Augen an Esjas Lippen. Die Erklärungen der Alten lassen den Rotschopf ein ums andere Mal den Mund aufsperren. So ist das also..! Nun beginnt ihr vieles klar zu werden. Und auch wenn sie sich ein wenig vor den beiden anderen Weibern geniert, da ihre Lehrmeisterin ihr Seelenleben so vollständig und vor allem treffend vor ihnen ausbreitet, hört sie ihr doch gebannt zu. Bei der Erwähnung des Satyrs schießt die Röte in ihre Wangen, und sie senkt verlegen den Blick. Stumm fragt sich Lîf, ob die alte Esja auch ahnt, welche Gedanken sie gelegentlich bewegen – Gedanken, die sie aus gutem Grund niemals jemandem gebeichtet hat. Dein Körper weiß schon, was er will, dein Herz und Verstand aber noch nicht – das ist auf eine Art treffend, die ihr das Herz bis zum Hals schlagen und die Hände zittern lässt. Den Blick auf ihre Knie gesenkt, presst die junge Frau die Lippen zusammen. Wenn die Alte es ihr nun ansieht..? Tristan... sie erinnert sich an seine Stimme und kann ein gewisses Kribbeln nicht leugnen, das in ihrem Bauch beginnt und ihren ganzen Körper zu erfassen scheint. Lîf versucht langsam und tief zu atmen, um sich zu beruhigen. Allzu leicht, allzu bequem wäre es, ihre frivolen Träume dem bösen, zügellosen Satyr zuzuschreiben, der seine wollüstigen Tänze in ihrem Blut vollführt. Sie darf dem nicht nachgeben! Darf nicht... darf... soll... muss..?


Eilig hascht sie nach dem Strohhalm, den Esjas Themenwechsel ihr schließlich bietet. "Nein, Mor: Ein Tier sah ich nicht. Ich hörte viele, fern im Wald, doch gezeigt hat sich mir keines." Mit einem kleinen Seufzer nickt sie, als die Sprache auf die treuen, liebenswerten Tiergefährten der anderen Weiber im Raum kommt. Zu gern hätte sie den kleinen Heuler den ihren genannt... Schweren Herzens wendet sie den Blick von den großen, runden Augen des Tieres wieder ihrer Meisterin zu. Und deren Ratschlag trifft sie erneut an der Stelle, an der sie so unsicher und verlegen wird. Instinktiv will Lîf widersprechen, öffnet schon den Mund, schließt ihn dann aber wieder und reibt ihre Hände aneinander. Er gehört zu ihr, sie zu ihm... die Anzeichen sind zu eindeutig. Schicksal, der Wille der Großen Mutter... wie könnte sie leugnen, dass er ihr Herz zum Pochen bringt wie kein anderer? Gewiss, es ist ihr in der Vergangenheit noch stets gelungen, das auf den Zorn zu schieben. Den gerechten Zorn darüber, dass er sie geraubt, sie gegen ihren Willen entführt und zu seinem Weib gemacht hat. Aber ist es wirklich allein ihre Empörung, ihr aufflammendes Temperament? Oder..? Das Kribbeln verstärkt sich, als wimmelten unter ihrem Kleid tausend Ameisen umher, so dass sie ganz unruhig auf ihrem Hinterteil hin und her zu rutschen beginnt und schließlich widerstrebend zugeben muss: "Du bist weiser als ich, Mor. Vielleicht... vielleicht hast du das richtige getroffen."

Als die Alte sie endlich entlässt, springt sie rasch auf, doppelt verschämt, zum einen, weil sie ihre Hast nicht als Unaufmerksamkeit oder Aufbegehren gegen die Lehrmeisterin verstanden wissen will, zum anderen, weil sie nach wie vor das Gefühl hat, nackt vor Esja zu stehen – die greise drudkvinde, kann sie bis auf den Grund von Lîfs Seele blicken, ihre geheimsten Gedanken und Empfindungen erraten? Erst als sie schon eine ehrerbietige Abschiedsgeste gemacht und sich bei der Alten bedankt hat, bleibt sie doch noch einmal in der Tür stehen, dreht sich um und fragt vorsichtig: "Mor..? Woran erkennt man, ob die Große Mutter zwei Menschen füreinander bestimmt hat? Spricht sie durch das Herz zu einem, oder... kann es nicht auch sein, dass man nur glaubt, etwas sei Ihr Wille, weil man es sich selbst so wünscht..?" Wieder steigt das Blut in ihre Wangen. Die Frage klingt in ihren eigenen Ohren verräterisch, fast wie ein Geständnis – aber sie muss es einfach wissen!

~~~

Ja, wenn er sich Egil so betrachtet, scheint es Tristan sicher, dass der Schmied Gefallen daran gefunden hat, seinem Weib das Hinterteil zu versohlen. Anders kann er sich[1] den zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht des Hünen nicht erklären. Inga indes empfindet deutlich weniger Freude, wie unschwer vorstellbar und auch leicht an ihren Zügen abzulesen ist. Egil klopft Tristan auf die Schulter, dass dem Skalden die Knochen im Leib zu tanzen scheinen, und brummt gutmütig: "Keine falsche Bescheidenheit – zu ihr gebracht hast du mein holdes Weibchen. Wärst du nicht so rasch gewesen, wer weiß – Gaya verhüt' es, aber womöglich wär' sie nicht mehr am Leben." Sein Weib sieht den beiden Männern zu, wischt sich mit dem Ärmel über die tränennassen Augen und schnieft noch einmal vernehmlich. Sie scheint zunächst zu zögern, die goldene Brücke zu betreten, die ihr Tristan baut, doch dann nickt sie, murmelt eine Zustimmung und hinkt zu den Weibern hinüber, die sehr wahrscheinlich deutlich mehr Verständnis und weniger Spott für ihre Not haben werden als die Kerle im Inneren des Langhauses, haben doch die meisten von ihnen schon selbst oft genug den Gürtel ihres Mannes oder eine frisch geschnittene Rute zu kosten bekommen.

Egil blickt ihr nach und wendet sich mit einem tiefen Seufzen an Tristan: "Sie ist mir ein treues Weib, sorgt gut für unsern kleinen Bengel, hält mir das Haus in Ordnung, kocht fein... wenn nur ihr loses Mundwerk nicht wär'..! Ich hab's nur schwer übers Herz gebracht, aber sie war reif für eine Abreibung. Am Ende bringt sie sich und mich noch in arge Schwierigkeiten, wenn sie allzu frech redet. " Mit einem verlegenen Grinsen kratzt er sich im Nacken und fügt leiser hinzu: "Und dann ist's auch ganz schön, wenn sie mal eine Weile den Schnabel hält." Der Blick, mit dem der riesige Mann Inga dabei nachsieht, ist durchaus liebevoll. Doch ihm ist auch eine gewisse Erleichterung anzuhören. Und nun besinnt sich Tristan auch, wie manche der Männer den langsamen, gutherzigen Schmied schon verspottet haben, weil der seinem Weib keinen Einhalt gebieten könne. Und böses Blut gab es verschiedentlich auch schon, wenn Inga mit ihrer raschen, spitzen Zunge allzu beleidigende Worte gebrauchte... Egil jedenfalls wirkt für diesmal besänftigt und nickt. "Sicher. Sie können so was eben einfach nicht verstehen. Haben dafür ja auch genug Weibersachen, die für unsereins ewig ein Rätsel bleiben, stimmt's?" Damit ist für den simpel gestrickten Schmied die Angelegenheit offenbar erledigt. Jedenfalls wirkt er wieder völlig unbeschwert, als sie in das Langhaus treten.

Dort treffen den einsam seinen Eintopf löffelnden Tristan gelegentlich die Blicke einiger Weiber. Doch sie wirken nun nicht mehr so sehr ängstlich und misstrauisch als vielmehr... bewundernd? Die wundersame Rettung Ingas scheint sich unter ihnen bereits herumgesprochen zu haben, und während man von der alten Esja Wunder bereits so gewohnt ist, dass man sie regelrecht erwartet, hat ihm sein Eingreifen - wahrscheinlich mit den typischen Übertreibungen des Weiberklatschs gewürzt - anscheinend Respekt unter ihren Geschlechtsgenossinnen verschafft. Immerhin hat die heißblütige, unbeherrschte Inga nicht gerade freundlich von ihm und seiner Lîf gesprochen. Und dennoch hat er nicht gezögert, ihr beizuspringen. Mögen kriegerische Großtaten ihn in den Augen ihrer Männer lobenswert scheinen lassen: Die Weiber hingegen lassen sich offenbar von dieser Handlungsweise deutlich mehr beeindrucken. Nach einer Weile kommt gar die großgewachsene Sigrid mit ihrem herben, beinahe etwas männlich wirkenden Gesicht zu ihm hinüber und reicht ihm mit einem Lächeln eine kleine Holzplatte, auf der sich hauchfein geschnittene Scheiben halbgefrorenen Fisches finden – eine Delikatesse. "Hier – die Große Mutter segne's dir" nickt sie ihm auffordernd zu und fügt an: "Lass es dir nur schmecken, denn wir wissen's schon alle: Du bist ein Mannsbild mit einem guten Herzen." Und ihm kommt der Gedanke, dass die Gunst der Weiber, der Herrinnen über Vorräte, Herdfeuer und Kochtöpfe, eine äußerst angenehme und vorteilhafte Sache sein kann.
 1. Mit einem umwerfenden Sense Motive-Ergebnis von 4 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1033950#msg1033950)... ^^
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 26.08.2017, 20:50:23
Lîfs erster Instinkt ist die Flucht, doch während sie sich in aller Hast Stiefel, Jacke und Schal anlegt, drängt sich ihr doch eine Frage auf, die sie heute Nacht um den Schlaf bringen würde, wenn sie darauf keine Antwort erhält.

Esja denkt eine Weile darüber nach, dann hebt sie an: "Das Herz, mein Kind? Nein, ich fürchte, daran lässt sich Gajas Wille schwerlich messen, liegt es doch oftmals beim eigenen schon falsch. Welche Art Mann sähe die Große Mutter gerne an deiner Seite? Nun, da müssen wir schon ein wenig praktisch denken. Uns Baumtöchtern, und auch den Söhnen, hat Gaja eine wichtige Aufgabe anvertraut: ihre Fluren sollen wir schützen und alle Kreaturen darauf, und als ob das noch nicht schwer genug wäre, obliegt es uns als zweites dafür zu sorgen, dass eine neue Generation Baumkinder geboren wird, denn jemand muss unsere Aufgabe weiterführen, nach unserem Tod. Welchen Begleiter wünscht Gaja sich also für dich? Nun, ganz einfach den, der dir bei dieser Aufgabe hilft oder, das wäre das mindeste, dich nicht daran hindert. Ob dein Herz für ihn schlägt? Das kann Gaja doch nicht entscheiden! Wem du dein Herz öffnest, wem auf immer verschließt, das bleibt dir selbst überlassen.

Kann es nun geschehen, dass dein Herz dir falsch rät? Dass es dir vorgaukelt, jemand sei dir bestimmt und ist es nicht? Nichts täte es lieber! Ganze Generationen junger dummer Dinger sind darauf schon hereingefallen. Wie, sagt es denn niemals die Wahrheit? Doch, das mag schon auch geschehen. Wie aber den Unterschied erkennen? Dazu stell dir vor, du liebtest jemanden von ganzem Herzen, er aber befiehlt dir, zuhause zu bleiben, zu kochen, zu waschen, zu nähen und für die Blagen zu sorgen und dich nicht um Nachbars sieche Alte zu kümmern. Wäre eine solche Ehe von Gaja gesegnet? Nein, denn dein Mann hindert dich daran, der Aufgabe nachzugehen, welche die Mutter dir anvertraut hat. Die meisten Männer sind so, sie wollen nicht teilen. Auch manche Weiber klammern zu fest. Deshalb bleiben die meisten von uns allein oder heiraten nur einander. Oder wir nehmen uns Liebhaber, der Kinder wegen. Da würden wir sogar mit einem das Lager teilen, den wir hassen, wenn nämlich das Dryadenblut in ihm oder ihr noch kräftig zu spüren ist, unsere eigene Linie aber schon schwächer wird. Auch da muss man praktisch denken.

Zurück zu dir. Deine Linie ist stark und Tristans auch und was gab vor drei Monden er mir zur Antwort, als ich fragte, ob ich dich in die Lehre nehmen dürfte? Ohne Zögern ja! Und wie hat er reagiert, als du die kleine Kreatur dort drüben beschützen wolltest? Hat er's dir zu verbieten versucht oder hat er's dir erlaubt? Hat er gar geholfen? Sag, wie war's? Nein, sag's nicht laut, es reicht, dass du selbst es weißt. Und da hast du deine Antwort."


Das wäre ein schöner Schlusssatz und Lîf will das Fell vor der Tür schon beiseite ziehen, um hinauszuschlüpfen, da tönt von rechts ein Quäken und große runde Augen blicken sie an—vorwurfsvoll, wie sie sich einbildet—und so eilt sie doch noch einmal quer durch den Raum zu der kleinen Robbe hin und verabschiedet sich. Zurück an der Tür wirft sie einen letzten wehmütigen Blick auf das Tier zurück.

"Bist du dir sicher", brummelt da ihre Lehrmeisterin, "dass dir ein Tier zum Gefährten nicht doch besser gefiele statt eines Mannes? S'ist leichter im Umgang, ganz ohne Frage, und dein Herz wüsste stets, was es bei seinem Anblick fühlen soll."

Während die drei alten Weiber zu kichern beginnen, duckt Lîf sich errötend ins Freie.

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"Dank dir Sigrid, hm, den feinen Fisch will ich mir schon schmecken lassen." Tristan beugt sich vor und senkt verschwörerisch die Stimme. "Aber das mit dem Herzen, du, das sag' keinem weiter, oder willst du mich in Verruf bringen unter den meinen? Aber wenn du oder die anderen Weiber mir die gute Tat vergelten wollt, dann seid lieb zu meiner Lîf. Sie hat hier doch noch keinen außer dem alten Ole und mir."

Genau in diesem Augenblick sieht er seine Lîf am anderen Ende des Langhauses eintreten, wo sie sich sogleich nach ihm umblickt, und er winkt ihr zu. Sie aber bemerkt ihn nicht gleich, denn ihr Blick streift zuerst die vorderen Bänke, gleich bei der Tür, und arbeitet sich nur langsam vorwärts. Dazu setzt sie zögernd einen Fuß vor den anderen, dann bleibt sie auch schon wieder stehen und schaut nach links und nach rechts. Dann erst geht's zwei Schrittchen weiter. Ja, was glaubt sie denn, wer ihr Mann sei? Der Skalde des Jarls, das weiß sie doch! Der, der morgen die Gesetze vortragen wird! Und der schläft im Langhaus, mitsamt seines Weibes, auf dem dritten Platz vor Gisle Gunmarssons Kammer, vor ihm nur noch Sven Blutaxt und Eyvind Graumantel, die beiden Drachenführer.[1]

Endlich bemerkt Lîf sein Winken. Sigrid, die natürlich auch schauen musste, wonach er schaut, dreht sich rechtzeitig zu ihm um, um seine Augen, seine ganze Miene aufleuchten zu sehen, als Lîfs und sein Blick sich treffen. Es darf vermutet werden, er selbst könnte es später nicht bezeugen, dass die gute Frau sich daraufhin stillschweigend, vielleicht schmunzelnd, zurückzieht.
 1. Nur auf den Rûngard-Inseln ist der Skalde gleichzeitig Gesetzessprecher. Mit der Information "Skalde des Jarls" konnte Lîf also nichts anfangen. Mit fersländischen Adelshöfen kennt sie sich zwar auch nicht aus, aber wie mag sie sich die Stellung der dortigen Skalden schon denken? Wie hochrangig kann schon der sein, der mit Liedern und Geschichten für die Unterhaltung sorgt?
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 27.08.2017, 11:19:24
Sehr nachdenklich geworden wandert Lîf den kurzen Weg von der Priesterhütte zurück zum Langhaus. Was Esja ihr gesagt hat, kann doch nur auf eine Art verstanden werden – oder..? Sie beißt sich auf die Lippen, verlangsamt ihre Schritte, je näher die Tür kommt, über der nun Weißdornzweige befestigt sind. Dem nachzugeben, würde heißen, ihrem Herzen zu folgen, aber gleichzeitig auch wieder nicht. Warum nur fühlt sie manchmal so weich und warm, wenn sie an ihn denkt, würde sich am liebsten an seine Brust kuscheln und seine kräftigen Arme um sich spüren, so gern, dass es beinahe schmerzt, nicht bei ihm zu sein? Wünscht sich, das Weib zu sein, das ihn glücklich macht, ja, ihm Kinder schenkt... nur um dann, in anderen Momenten, zu merken, wie der Stolz in ihr wieder aufbegehrt, der Wille, ihren Kopf durchzusetzen, und sei es noch so unvernünftig, was sie will – ist es denn nicht ihre eigene Dummheit, die sie begehen darf, wenn sie es wünscht?! Wie soll sie ihm nur erklären, dass sie so hin- und hergerissen ist zwischen zwei Extremen, mal das sanfte, liebende Weib, mal die fauchende Wildkatze? Sie schlingt die Arme um ihren Oberkörper, seufzt leise und starrt auf den Schnee zu ihren Füßen, unschlüssig vor der Tür verharrend, durch die gedämpft die Menschen im Langhaus zu hören sind.

Zu gern würde sie ihm alles erklären, doch wie die richtigen Worte finden? Und wie kann sie erwarten, dass er Verständnis hat und sich mit einer Partnerin abplagen will, die ihn mit ihrem Temperament immer wieder ärgern und reizen, vielleicht sogar vor seinen Kameraden bloßstellen wird, ob sie will oder nicht? Denn wenn der Rotschopf eines weiß, dann das: Sie mag Tristan zuliebe ihr bestes tun, sich den Sitten seiner Leute anzupassen, doch gänzlich wird das Feuer in ihrem Herzen nie verlöschen. Immer wieder wird es passieren, dass sie die Grenzen überschreitet, die ihr als seinem Weib gesetzt wären. Und jetzt, wo ihr regelrecht elend zumute ist vor Sehnsucht und Ratlosigkeit, kann sie sehr wohl verstehen, was es für ihn bedeuten muss, wenn die anderen Mannsleute ihn im Scherz fragen, wann er ihr wohl erlauben wird, sich Hosen zu nähen. Sie erschüttert damit seine Position, sein Ansehen, sein Mannestum, was sie gewiss nicht will. Sie liebt ihn doch! Liebt ihn..? Ein schmerzliches Lächeln umspielt ihre Lippen. Nun hat sie es sich also doch eingestanden, der alten Esja sei Dank, die ihr da eben gründlich den Kopf gewaschen hat. Vielleicht hat die Greisin ja recht, und sie muss tun, was ihr Herz befiehlt, ganz gleich, wie groß die Gefahren und die Schwierigkeiten sind. Auf die Große Mutter vertrauen, dass Sie ihrer Dienerin helfen wird, ihr heißes Blut zu zügeln.

Denn nur bei Tristan zu liegen, um die Linie seines und ihres Blutes fortzuführen..? Nein! Und selbst wenn es ihre heilige Pflicht ist, alles in ihr wehrt sich dagegen, ihm etwas anderes zu sein als eines von zwei Dingen: entweder seine Sklavin, sein bloßer Besitz, ohne jegliche Bindung an ihren Herrn – oder sein Weib, das alles im Leben mit ihm teilt, nicht nur das Lager. Wieder seufzt sie. Wenn sie nur in sein Herz sehen könnte, um zu erfahren, ob er bereit dazu ist, sie nicht nur nach dem Recht der Inseln, sondern auch wirklich in seinem Inneren als die Seine anzunehmen, der Ihre zu sein und ihre Fehler zu ertragen! Die sie nun mal nicht ändern kann, davon ist die junge Frau überzeugt. Mit einem neuerlichen Seufzen tritt sie in das Langhaus ein und blickt sich um. Erst nach einigem Suchen entdeckt sie ihn und schlängelt sich nach kurzem Zögern zwischen den Gruppen hindurch, die hier beisammen sitzen. Zu ihrer großen Erleichterung scheint niemand mehr sonderlich auf sie zu achten, nimmt auch niemand Anstoß an ihrer Anwesenheit. Als sie endlich vor Tristan steht, sich Handschuhe und Schal abstreift und zu Boden blickt, fehlen ihr die Worte.

Sie sieht eines der Weiber – Sigrid – das sich gerade von ihm zurückzieht, und fühlt einen Stich der Eifersucht. Was hatte eine andere bei Tristan zu suchen?! Doch sie beruhigt sich wieder, als sie sieht, dass er der hochgewachsenen Sigrid mit ihren kantigen Gesichtszügen kaum nachblickt. Zögerlich räuspert sie sich und bringt leise hervor: "Danke... wegen der Sache mit der kleinen Robbe, meine ich." Die Art, wie sie an ihrer Unterlippe nagt, sich die rote Haarflut immer wieder aus der Stirn schiebt und ihren Blick über den Boden schweifen lässt, kennt er bereits von ihr: Lîf weiß nicht, wie sie beginnen soll, schämt sich, kämpft mit sich, mit ihren Fehlern und Schwächen und ist doch zu stolz, um sie laut einzugestehen. Als sie den Blick wieder hebt und ihm vorsichtig zulächelt, wirkt die Geste zwar, als müsse sie sich darum bemühen, doch es liegt auch eine gewisse Zärtlichkeit in ihrem Blick, wie sie so vor ihm steht und sich windet – da ist etwas, das gegen ihren Stolz kämpft und sie hier hält, obwohl sie sich offenkundig unwohl fühlt, wie die ungehorsame Tochter vor dem Vater zu stehen, dem sie beichten muss, dass sie den Milchkrug zerbrochen hat. Wie so oft stellt Tristan fest, dass in der Brust seines jungen Weibes zwei Herzen zu schlagen scheinen.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 27.08.2017, 21:28:10
Wie Lîf sich ihren Weg durch das Langhaus bahnt, schlägt Tristans Herz mit jedem Schritt höher. Doch als sie dann vor ihm steht, versetzt sie ihm gleich wieder einen gezielten Stich da hinein: wie unwohl ihr unter seinem Blick ist, wie sie sich windet! Wie sehr sie mit sich ringen muss, ihm Dank auszusprechen, wie sehr es ihr gegen den Strich geht! Sie sagt's wohl bloß, weil die Leute es von ihr erwarten, da könnt' er drauf wetten. Ach, aber am ärgsten trifft es ihn, wie sehr sie sich um ein Lächeln bemühen muss. Wenn sie ihm wirklich dankbar wäre für seine Hilfe, dann müsste das doch etwas leichter gehen.[1] Er wartet darauf, dass sie wenigstens erzählt, was Esja denn nun zu der Robbe gesagt habe, doch sie steht bloß weiter mit gesenktem Kopf da, als harre sie seiner Schelte. Eigentlich will er nicht mit ihr schelten. Was er sagen wollte, hat er längst gesagt, bei sowas fackelt er gar nicht lange.

Aber vielleicht hat sie recht, dass sie so vor ihm steht. An den nächsten Tischen kann man wohl sehen, wie die Ohren sich spitzen. Offenbar erwartet nicht nur sein Weib, dass er ihr tüchtig ins Gewissen redet. Wenn er's nicht tut, könnt's ein Gerede geben, die Leute würden sagen: der Egil hat sich beherzt um die Sache gekümmert, der Tristan nicht! Hat nicht sogar Esja ihm dringend geraten, seinem Weib Grenzen zu zeigen, sobald sie über die Stränge schlägt, wie ein jeder Mann seinem Weib? Also schön, was sein muss, muss sein.

"Da bist du ja endlich!" begrüßt Tristan sie also. "Jetzt komm, was stehst du da und starrst den Fußboden an, du bist doch keine Magd. Setz dich zu mir. So ist besser. Und wegen der Robbe, da habe ich schon gehört, dass Esja dir recht gegeben hat, und überhaupt hat sie mir gesagt, dass du Gajas Willen mit besonderem Eifer und Tüchtigkeit folgst. In diesem Punkt hast du dir also nichts zuschulden kommen lassen, im Gegenteil, da muss ich stolz auf dich sein! Aber schau, in einer solchen Situation wie vorhin, da darfst du die Leute nicht erst lange rätseln und daherschwatzen lassen, da musst du dich gleich an sie wenden und klar sagen, was Sache ist. Du bist doch kein kleines Mädchen mehr, sondern ein verheiratetes Weib. Die Frau des Skalden und Esjas Schülerin! Wenn die Leute murren, da hebe den Kopf und schreite gleich ein. Sag: 'Gaja will, dass ich der Robbe helfe', oder wenn du dir nicht auf den ersten Blick sicher bist, was ein Zeichen zu bedeuten hat, sag: 'Seid einen Augenblick still, die Große Mutter spricht zu mir!' Zweifel lassen sich leichter zerstreuen, wenn sie noch nicht überall die Runde gemacht haben. Und jetzt lass uns nicht mehr darüber reden. Hast du Hunger? Da drüben kannst du dir Fischsuppe holen, oder probier hier den gebeizten Fisch, den die gute Sigrid mir gebracht hat."

Doch die Entscheidung darüber nimmt er ihr ab, indem er sie kurzerhand auf seinen Schoß zieht und mit dem guten Fisch füttert wie Bard die kleine Robbe. (Ob es ein ähnliches Gerangel dabei gibt, hängt sehr von Lîf ab. Vielleicht gibt sie ja auch ihrem Herzen nach und schmiegt sich an ihn, dann zieht er sie noch näher an sich heran und vergräbt das Gesicht kurz zwischen ihren Brüsten.) Aber egal welche Seite sein Weib ihm zeigt, zum Schluss flüstert er ihr jedenfalls ins Ohr:

"Ich bin dir doch gar nicht böse, das musst du nicht denken. Ich weiß doch, wie schwer es ist, sich in der Fremde einzufinden, hast du das vergessen? Die anderen verstehen das nicht, können es nicht verstehen, weil sie's nie erlebt haben. Also hör' auf mich, ich will dir doch helfen! Nur um eine Sache muss ich dich bitten: mit der Inga lege dich in den nächsten Tagen nicht wieder an. Mir ist egal, wie du es tust, ob du ihr aus dem Weg gehst oder ihr schmeichelst oder welch Kniffe ihr Weiber da untereinander verwendet, nur lass es nicht wieder zum Streit kommen! Und ich will dich gleich noch warnen: Egil, ihr Mann, hat sie windelweich geprügelt, die Inga, weil sie so böse über des Skalden Weib gesprochen hat. Er ist nämlich der Sohn meines Drachenführers, da darf es einfach kein böses Blut geben, das sieht er so wie ich. Aber bei der Inga, da kann ich nicht sagen: trägt sie's ihm nach oder dir. Also ich bitte dich: Gib acht!"

So appelliert Tristan an seines Weibes bessere Seite, bevor er Lîf wieder freigibt.
 1. Sense Motive = 9 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1033992#msg1033992) (mit Eheweib-Bonus)
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 28.08.2017, 11:23:50
Diesmal gehorcht Lîf ihrem Tristan sofort und setzt sich neben ihn, lässt sich von ihm in den Arm nehmen, lehnt sich gegen ihn und lässt ihren Kopf auf seine Schulter sinken. "Ich weiß, dass es nicht recht war" sagt sie kleinlaut und so leise, dass nur ihr Mann die Worte verstehen kann. "Die Göttin weiß es: Ich versuche ja, nicht wütend zu werden – ich merke doch selbst, dass ich dann nicht mehr weiß, was ich sage..." Es fällt ihr schwer, sehr schwer, das zuzugeben, und ihr Stolz will schon wieder auflodern. Doch sie bezwingt ihn, und die Belohnung folgt auf dem Fuße: Liebevoll, ja, zärtlich setzt Tristan sie auf seinen Schoß, und noch ehe sie ihren fragenden Blick mit einer Äußerung ergänzen kann, schwebt ein Stück Fisch vor ihren Lippen, und sie schaut erst verwundert, dann kichert sie, sperrt den Mund auf und lässt sich füttern. Offenbar hat er in diesem Moment ganz genau den richtigen Ton gefunden. Jedenfalls legt die junge Frau sanft ihre Hand auf seinen Hinterkopf und streichelt über sein Haar, als er sein Gesicht an ihre Brüste schmiegt, lächelt und merkt gar nicht, wie einige der Weiber im Hintergrund, die die beiden genau beobachten, wissend nicken und schmunzeln.

An Tristans Brust geschmiegt, einen Arm um seinen Nacken geschlungen, mit der anderen Hand immer wieder über seine Wange mit den rauen Barthaaren streichelnd, lässt sie sich willig ein Stückchen von der Delikatesse nach dem anderen in den Mund schieben, kaut, genießt und lächelt selig, als sie endlich gesättigt die Augen schließt und ihrerseits ihr Gesicht an seinem Hals vergräbt, ihn küsst und leise seufzt. Wie Balsam legen sich seine tröstenden Worte über ihre aufgewühlten Gefühle, beruhigen und besänftigen sie, und der Rotschopf flüstert ihm ins Ohr: "Ich will alles tun, was ich kann, damit es keinen Streit mehr gibt, ich versprech's dir!" Was sie, bei allem Temperament und den damit einhergehenden geringen Erfolgsaussichten, ehrlich meint. Inga tut ihr sogar bereits leid – zumal Tristan nach geltendem Brauch ebenfalls das Recht gehabt hätte, mit ihr zu verfahren wie Egil mit seinem Weib. Sie weiß es immer mehr zu schätzen, dass das Schicksal sie mit einem Mann verbunden hat, der ihr nicht nur das Herz schneller schlagen lässt, sondern der sie wirklich zu lieben scheint – so, wie sie ist. Und das, gesteht sie sich mit einem lautlosen Seufzer, ist bei einem Wildfang wie ihr alles andere als leicht. Glücklich kuschelt sie sich an ihn und lässt eine Hand unter sein Hemd gleiten, um über seine breite Brust zu streicheln. Dass er sie wieder freigeben will, registriert sie nicht, oder sie ignoriert es: Die junge Frau fühlt sich auf seinem Schoß mit einem Mal sehr wohl.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 28.08.2017, 18:58:40
"Oh!" macht Tristan, als Lîf mit der Hand unter sein Hemd fährt, nachdem sie ihn zuvor schon gestreichelt, geküsst und ihm alles versprochen hat, was er von ihr hören wollte. "Oh Lîf, bei dir weiß man wirklich nie, wie du als nächstes—" reagieren wirst, wäre der Satz weitergegangen, den Tristan so abrupt enden lässt. Auch jeden Gedanken, sein Weib freizugeben, verwirft Tristan angesichts der veränderten Lage sofort. Vielmehr sinkt die Hand, die Lîf zuvor gefüttert hat, nun unter den Tisch und dort zielgenau an ihr wohlgeformtes Hinterteil, um sie noch ein Stück näher zu ziehen und hernach genussvoll daran herumzukneten. Er hat nicht die geringste Ahnung, was er gerade richtig gemacht hat, dass sein Weib sich ihm auf diese Weise zuwendet. Von sich aus hat sie das in den drei Monden ihrer Ehe noch nicht getan und es hat auch bloß Ole zu Gast sein müssen, damit sie sich vor jeglicher intimen Geste ihres Gatten errötend wegduckte. Und jetzt kuschelt sie sich derart aufreizend auf seinem Schoß im vollbesetzten Langhaus und geniert sich nicht? Das verstehe, wer will.

"Hm, hatte ich erwähnt, dass es vor dem Opferfest am vierten Tag verboten ist, dass Mann und Weib miteinander liegen, ja?" fragt er sie, leise stöhnend. "Wer sich solche Regeln nur ausdenkt..."

Und so kommt es, dass die beiden einige Zeit später, als die Kienspane ausgebrannt und die Herdfeuer niedergebrannt sind, die Weiber das Geschirr gesäubert und die Männer die Tische beiseite geräumt haben und ein jeder seinen Platz auf den Schlafbänken gefunden hat, dass unsere jungen Eheleute also, obwohl innigst gestimmt, nur engumschlungen in ihre Felldecken gekuschelt beisammen liegen und still dem Wispern der anderen, dem tiefen Atmen, dem Schnarchen lauschen, bis der Schlaf auch sie mit beiden Armen umfängt.

Ha, am Ende wird die Sache ja doch viel einfacher, als die alte Esja meint, denkt Tristan noch, bevor seine Sinne entgleiten. Sieht doch so aus, als hätte Lîfs Herz schon über den Trotzkopf gewonnen! Dann können wir uns den Schweiß, die Tränen und sonstigen Mühen ja sparen und gleich zum gemeinsam glücklich werden übergehen...

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Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 01.09.2017, 14:31:44
Früh am Morgen ist es stickig und duster in dem Langhaus. Unter der Decke aus roh behauenen Balken und Weidenflechtwerk haben sich die Gerüche des Feuers, der Mahlzeit vom Abend und der Menschen gesammelt. Die Asche der Feuerstellen glimmt nur noch schwach. Gelegentlich bewegt sich eine dicke Felldecke, wenn einer der Schläfer sich im Traum rührt, klingt ein Schnarchen auf – oder auch ein kurzer, weniger angenehmer Laut, begleitet von einer Wolke üblen Geruchs und dem unterdrückten Murren der Schläfer rundum. In der Stille beginnt sich irgendwann an mehreren Stellen etwas zu regen. Unter dem leisen Rascheln wollener Kleider kriechen Gestalten unter den Fellen hervor, recken sich müde, bemühen sich um leise Bewegungen, um den Rest nicht zu wecken, und tauschen im Flüsterton Morgengrüße aus: die Weiber. Sie, deren Aufgabe es ist, für Haus und Herd zu sorgen, sind es gewohnt, frühzeitig aufzustehen, während ihre Mannsbilder noch schnarchen, und so tun sie es auch jetzt. Mit routinierten Bewegungen tappen sie durch das Halbdunkel, teilen sich in die verschiedenen Weiberarbeiten, die des Morgens zu erledigen sind: Feuer entfachen, Wasser für den Frühstücksbrei zum Kochen bringen, die hölzernen Schüsseln und Becher auf die Tische stellen, die eiskalten Stiefel der Männer an den Feuern anwärmen, ohne das Leder anzusengen – denn dann droht der Schuldigen eine Tracht Prügel – Schnee von draußen hereinholen und wärmen, damit Wasser für die übliche Katzenwäsche bereitsteht, wenn ihre Männer erwachen... es ist mehr als genug für die vergleichsweise wenigen Weiber zu tun, die zum Thing mitreisen durften, und da man auch keine Mägde hier hat, muss jede tüchtig mit anpacken.

Auch Lîf hat sich vorsichtig von Tristan gelöst, in dessen Arm sie irgendwann spät in der Nacht friedlich eingeschlafen ist. In einer gelösten Stimmung wie selten seit ihrer Entführung hat sie dem schlafenden Skalde ein verträumtes Lächeln geschenkt, ihm eine Strähne behutsam aus der Stirn gestrichen und ist eine Weile neben ihm sitzen geblieben, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, um seine Züge zu betrachten. Leise seufzend hat sie sich eingestanden, dass sie noch immer nicht weiß, was sie will – was er ihr wirklich bedeutet. Da sind so viele böse Worte, ist so viel Streit zwischen ihnen, da ist ihre brennende Scham, ihr auflodernder Zorn, wenn sie daran denkt, wie er sie erst raubte, dann zum Weib nahm und schließlich auch bestieg, ohne sie zu fragen. Da ist ihre Sehnsucht, nach den Eltern, dem Hof, ihren Freundinnen, nach Ferslands weiter Landschaft... Aber da ist andererseits die eigenartige Anziehungskraft des gutaussehenden Mannes mit seiner faszinierenden Stimme, da ist seit neuestem auch das Eingeständnis, dass es ihr im Vergleich zu anderen Weibern auf den Inseln, erst recht zu den Mägden, wahrhaft gut geht bei Tristan. Dass er sie, nüchtern betrachtet, besser behandelt, als er muss. Noch nie hat er sie geschlagen, nie eine frische Rute geschnitten, um sie zu züchtigen, was sie verwundert, wenn sie ehrlich ist. Denn dank ihrer heißblütigen, zornigen Ader hat selbst ihr Vater das immer wieder einmal getan. Er kommt ihr so unbegreiflich, so widersprüchlich vor, wie sie sich selbst fühlt. Doch wo der Widerspruch, die Launenhaftigkeit, das Sprunghafte als Markenzeichen des Weibes gelten, ist er doch ein echter Mann, hat nichts Weibisches an sich, das muss Lîf zugeben, so sehr sie sich auch bemüht, alle Fehler bei Tristan zu finden, an denen sie herummäkeln kann.

Er ist ein Mann, oh ja... ein schöner Mann, und ein seltsamer Mann! "Komm, hilf mir, Lîf" wispert es neben ihr, und sie sieht auf. Sigrid ist's, die sich keuchend mit einigen Paar Stiefeln abschleppt, die die Mannsbilder – typisch! – beim Schlafengehen achtlos neben ihre Lager geworfen haben. Der Rotschopf schenkt Tristan noch einen langen, grüblerischen Blick, dann stemmt sie sich hoch und nimmt Sigrid ein paar von den ledernen Stiefeln ab. Während andere Weiber das Essen vorbereiten, kümmern sich die beiden um das kleinere Feuer, um das sie ihre Last kreisförmig anordnen. Dann setzen sie sich nebeneinander, kuscheln sich wie zwei Katzen aneinander – es ist, ohne die Schlaffelle und ehe die Feuer wieder Wärme geschaffen haben, empfindlich kühl in dem verräucherten Langhaus – und passen auf, dass keiner der Stiefel Schaden nimmt. Eines der Weiber, die das Essen besorgen, bringt ihnen einen Korb mit alten Rüben, und sie nehmen die kleinen, vielseitig verwendbaren Messer, die von ihren Schürzen baumeln, und beginnen die Rüben zu schälen und kleinzuschneiden, während sie sich leise miteinander unterhalten. Immer wieder fällt Lîfs Blick dabei auf ihren schlafenden Mann, und ihr wird bewusst, wie schön er aussieht, wenn seine Züge so entspannt sind wie jetzt. Sigrid, die sich an den Vortag erinnert und deren Aufmerksamkeit auch dies nicht entgeht, schmunzelt in sich hinein. Ihre Lebenserfahrung sagt ihr, dass so manches junge Weib irgendwann die Schmach verwand, geraubt worden zu sein – was kommt es letztlich darauf an, ob der Vater einem den Bräutigam aussucht oder ob der Zukünftige einen selbst auswählt? Wichtig ist doch nur, dass er ein tüchtiges Mannsbild, ein guter Liebhaber und ein zuverlässiger Freund ist – dann kann man der Großen Mutter danken. Sie sagt auch nichts, sondern lächelt nur verständnisvoll, als Lîfs Hände mit Rübe und Messer in ihren Schoß sinken, wie sie so leise seufzend ihren Tristan anschaut, und die Arbeit fast ganz an der Älteren hängen bleibt. Sigrid war auch einmal ein junges Weib und wusste nicht, wie mit den starken, unbekannten Gefühlen umgehen, die sie überfielen, als ihr schwellender Busen erstmals die jungen Kerle auf sie aufmerksam werden ließ. Und in diesen Dingen unterscheiden sich künftige Weise Frauen nicht von ihren Altersgenossinnen.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 02.09.2017, 12:06:13
"Ich kann mich noch gut erinnern, wie sie ihn brachten", sinnt Sigrid, während ihre Hände wie von allein die Rüben bearbeiten. "Du wirst damals deiner Mutter Brust erst knapp entwöhnt gewesen sein. Ich aber war ein junges Weib und trug an meinem vierten Kind. Natürlich waren wir alle zusammengelaufen, als die Drachen in Sicht kamen, um zu schauen, wie es unseren Männern auf der Fahrt ergangen war und ob der unsere es überhaupt heil nach Hause geschafft hat. Vieh und reichlich Gut hatten sie dabei und nur einen einzigen Festländer: klapperdürr, blaß, kränklich sah das Bürschlein aus und stumm schien er auch. Keinen Mucks tat er, nicht ein Wort kam von seinen Lippen, egal was man ihn fragte oder wie man ihn triezte. Schaute einen nur an aus großen, dunklen Augen, aber irgendwie nicht wie ein Kind und auch nicht ängstlich oder verletzt, sondern... so recht weiß ich es nicht zu beschreiben... als sähe er dich gar nicht, als stünde jemand oder etwas ganz anderes vor ihm an deiner statt.

Jedenfalls fragten wir uns alle, warum unsere Männer ausgerechnet so ein Bürschlein anschleppten; normalerweise sind's ja doch eher hübsche Mädchen, die sie sich als Bettgefährtin mitbringen, oder auch einmal den ein oder anderen kräftigen Burschen für die gröbere Arbeit. Aber dann stellen sie den Jungen vor den Jarl hin und sagen ihm: 'Sing'. Und er sang ein Lied so schaurig und so schön, in heller Knabenstimme, für die er eigentlich schon zu alt aussah... in einer Sprache, die keiner von uns je gehört hat, auch nicht die Mägde, die vom Festland waren... und das Lied ging einem so durch und durch und rührte einen so ans Herz, dass man gar nicht hätte sagen können, was man da eigentlich fühlte. Noch nie hat einer von uns so etwas im Leben gehört, oder seither wieder. Wir alle wussten sofort: dieser Junge ist nicht ganz von unserer Welt. Jedem war auch sofort klar, dass er kein Knecht sein würde, sondern Olavs Schüler. Da musste gar kein Wort drüber verloren werden. Der Jarl hat es zwar noch offiziell gemacht und Esja hat ihre Runenstäbe geworfen und bestätigt, was wir schon wussten: ein Feenbalg sei der Junge in der Tat, dazu von mächtiger Linie. Natürlich bestürmten wir sie sofort, sie solle uns doch mehr verraten: Ist er Selkie- oder Satyrsohn, Wassermann oder ein kleiner Neck? Hat Gaja ihn uns geschickt? Wird er uns Fluch oder Heil bringen?[1]

Aber Esja hat bloß gekichert und geantwortet, des einen Fluch sei des anderen Heil. Auf unsere Mädchen müssten wir schon ein wenig acht geben, dass der schöne Junge nicht allzu viele davon am Wegesrand pflücke, aber unsere Drachen würden heil zu uns heimkehren, solange er mit an Bord sei. Und, hat sie noch gesagt"
, jetzt kichert Sigrid selbst in sich hinein, "wenn wir ihm endlich eine brächten, die er mit ganzem Herzen zum Weibe sich ersehne, dann müssten wir uns auch um die jungen Mädchen keine Sorgen mehr machen, dann seine Sorte sei treu, wenn es denn einer gelänge, sein Herz zu erobern. Was haben wir sie ihm in den Weg geworfen, unsere jungen Frauen, damit er nur endlich eine nähme!" Sigrids ganzer Körper bebt vor unterdrücktem Lachen.

Da dreht Tristan sich auf einmal auf seiner Bettbank herum und die beiden Frauen, die sich unbelauscht gefühlt hatten, schrecken auf, doch Tristan hat sich nur zur Wand gedreht und atmet noch immer tief und gleichmäßig.

"Leid hat er mir getan, der Junge, dass er zu Olav kam", fährt Sigrid etwas leiser fort. "Der war einer der schlimmsten Prügler, die du dir vorstellen kannst. Ständig betrunken war er auch. Gespielt hat er, gehurt, geflucht... Obwohl, wenn ich zurückdenke, hat er in den letzten beiden Jahren weniger getrunken und kaum noch gespielt und dem Jungen erstaunlich viel beigebracht. Und geschlagen höchstens ein Dutzend Mal. Und dann zwei Jahre später, auf ihrer ersten gemeinsamen Fahrt, starb Olav und Tristan war mit einem Mal unser Skalde. Da spätestens haben es dann alle gewusst: wenn Gaja ihn uns nicht geschickt hat, dann war es das Schicksal. Was hätten wir nur ohne Skalden gemacht? Vier Lehrbuben hat Olav in seinem Leben versucht auszubilden; zwei hat er bald wieder rausgeschmissen, weil sie ihm nichts taugten; der dritte aber ist auf seiner ersten Fahrt am Festland davongelaufen, weil er es nicht länger bei ihm ertrug; nur Tristan hat sowohl etwas getaugt als auch genug ertragen."

Sie beugt sich näher an Lîfs Ohr und wispert verschwörerisch: "Zweimal gewiss habe der Junge ihm schon das Leben gerettet, erzählt mein Eyvind mir, und wer weiß wie oft noch, nur weil er mit dabei war! Zweimal wäre ich also schon Witwe geworden ohne deinen Tristan. Nicht, dass mein Eyvind so etwas vor versammelter Mannschaft zugeben würde..."

Abermals wirft Tristan sich herum, diesmal auf den Rücken. Zwar wird er auch dieses Mal noch nicht wach, aber lange kann es nicht mehr dauern.
 1. Lîf erinnert sich vielleicht daran, dass Tristan ihr das Lied in der Hochzeitsnacht (nach ihrer Sichtweise) vorgesungen hat, nachdem er ihr zuvor die Geschichte erzählt hat, woher das Lied angeblich stamme und warum er so gut singen könne (s. HG IV).
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 02.09.2017, 16:24:52
Still lauscht die junge Frau Sigrid, ohne den Blick von Tristan abzuwenden. Jedes Mal, wenn er zu erwachen droht, hält sie den Atem an, doch noch haben ihn die Waldnymphen, die den Schlaf bringen, nicht aus ihren Armen entlassen. "Ja, diesen Blick kenne ich... manchmal hat er ihn noch immer" murmelt der Rotschopf leise und erinnert sich an die Nacht, in der er ihr von dem Feenblut in seinen Adern erzählte. Sie hat es ihm zunächst nicht geglaubt – doch je länger sie mit der alten Esja zusammen ist und von der Greisin lernt, je mehr sie realisiert, dass sie selbst ein Erbe in sich trägt, das nicht ganz von dieser Welt ist, desto wahrscheinlicher kommt es ihr vor, dass es bei ihm auch so sein mag. Da er kein Weib ist, konnte ihn Esja natürlich nicht zum Lehrmädchen nehmen – zu unterschiedlich sind sich Mann und Weib darin, wie sie die Kraft aus Gayas Schoß wahrnehmen und handhaben. Doch offenbar hat sich bei ihrem Mann jene Kraft einen anderen Weg gesucht, in die Welt zu gelangen. Seine Stimme, ja... seine Stimme vermag Lîf gelegentlich selbst dann zu besänftigen, wenn sie zornig ist. Und das vermag sonst niemand außer der Zeit, solange die Wut in ihrem Bauch brennt wie ein großes Feuer. Wie war das noch, als er sie zum ersten Mal bestieg..?

Ein Schmerz durchzuckte sie ganz plötzlich, die sich vorgenommen hatte, alles über sich ergehen zu lassen, nicht zu klagen, aber auch keinesfalls Freude zu empfinden. Ein Schmerz, den er ihr zugefügt hatte, als er sie... regelrecht gepfählt hatte! Die junge Frau erinnert sich nicht mehr genau, weiß nur noch, dass sie weinte und schrie, ihm mit den Fäusten gegen die Brust trommelte und alle möglichen Krankheiten an den Hals wünschte, weil er ihr so wehgetan hatte, just in dem Moment, in dem seine Beharrlichkeit sie dazu gebracht hatte, sich auf den Rücken zu legen und zuzulassen, wogegen sie sich zuvor immer gewehrt hatte. Es stach wie von    giftigen Dornen in ihrem Schoß, und sie gab ihm die Schuld. Ja, so war es... Doch dann nahm er die kämpfende, kratzende, heulende Lîf in den Arm und redete ruhig auf sie ein. Seine Stimme war es, die die Wut in ihr ganz allmählich von einem lodernden Brand zu einer kleinen, flackernden Flamme schrumpfen ließ. Hinterher schämte sie sich, schalt sich selbst schwach und dumm, dass sie sich schließlich in seinen Armen ausgeweint hatte wie ein kleines Kind. Doch seine Stimme hatte eine beruhigende Wirkung, fast wie die milde Hand einer tröstenden Mutter. In diesem Moment wurde ihr klar, dass in ihm auch ein winziger Teil der Großen Mutter wirken muss.

Wie in Zeitlupe bewegen sich ihre schmalen Hände, lassen eine lange Spirale der Rübenschale sich unendlich langsam abwickeln – in der Zeit, in der Sigrid neben ihr drei Früchte komplett geschält und kleingeschnitten hat. "Ein Feenbalg..." Dann lässt sie Messer und Rübe sinken, starrt auf ihren Schoß und hebt den Blick wieder zu Sigrid. "Was? Hat er denn nie eine... mit einer..?" fragt sie ungläubig. Sie meint doch die Mannsleute zu kennen: Jedem Rock steigen sie nach, keiner von ihnen kann einem jungen Mädchen widerstehen, wenn es nicht gar zu hässlich ist. "Treu... ha! Kein Mann ist treu" behauptet sie, und es lodert wieder in ihr auf. Doch dann horcht sie auf. "Das hat sie im Ernst gesagt..?!" Halb zweifelnd, halb mit einer vagen Hoffnung blickt sie auf den Schlafenden. "Er hat sich noch nie eine andere in sein Lager geholt?" Sie beginnt wieder zu wanken. Wem soll sie nur glauben? Ihrem Herzen? Ihrem Stolz? Der alten Esja? Sigrid? Was sie da über Tristans Leben hört, das klingt nicht nach dem harten, rücksichtslosen Schürzenjäger und Banditen, den sie sich in ihrer Vorstellung zurechtgestrickt hat, weil so einen abzulehnen leicht fällt. Ohne zu wissen, warum sie es tut, murmelt sie unvermittelt: "Er wird bald aufwachen – ich hole ihm einen Becher Tee." Damit legt sie die halb geschälte Rübe beiseite, sieht Sigrid verlegen einen Moment ins Gesicht und wendet sich dann ab, um leise zu den Weibern zu eilen, die Wasser erhitzen und Kräuter hineinwerfen. Wenig später ist sie wieder zurück, in den Händen einen dampfenden Holzbecher, den sie vorsichtig balanciert, während sie sich neben sein Lager kniet, auf ihre Fersen hockt und darauf wartet, dass er erwacht. Eigenartigerweise fühlt es sich gut an, ihn so in aller Ruhe anzusehen. Es ist ein Anblick, der es ihr warm ums Herz werden lässt. Die anderen Weiber und sogar Sigrid sind für den Moment vergessen.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 03.09.2017, 10:51:01
"Keine Freie!" bestätigt Sigrid lächelnd Lîfs Frage, denn für sie sind diese beiden Dinge gleichbedeutend: kein freies Weib gebettet heißt so viel wie keine Frau gebettet, denn Mägde zählen nicht. Auf die Idee, dass Lîf dies womöglich anders sehen könnte, kommt sie nicht einmal. "Das hätten wir Weiber mitbekommen, denn nach Esjas Ankündigung hatten wir ein besonders achtsames Auge auf ihn. Er schätze eben seine Ruhe, behauptete er frech, wann immer man ihn fragte, warum er sich denn nicht endlich ein Weib nähme, ach, er wisse ja gar nicht, wie die anderen Männer es ertrügen: das ständige Gezänk im Haus, das Geschnatter und Geschwätz! Aber wir haben ihn durchschaut. Ganz furchtbar einsam war er. Bis du kamst."

Wie naiv du bist, gutes Kind! denkt sie sich aber, als sie Lîf nachblickt, wie diese loseilt, ihrem Mann einen Tee zu holen. Noch keine ins Lager geholt, ein Mann von über dreißig? Was denkst du dir, mein liebes Dummchen. Ein halbes Dutzend Bälger hatten Olavs Mägde deinem Tristan schon geworfen, da war er so alt wie du und Olav noch warm in seinem Grab! Olav aber kann der Vater nicht gewesen sein, denn die Mägde waren alles seine Töchter, und so verderbt war der alte Trunkenbold dann doch nicht, dass man ihm zutrauen wollte, die eigene Brut geschwängert zu haben. Nein, das wäre gegen das Gesetz, und gegen das Gesetz verstieß Olav nicht. Aber ach, das wirst du schon selbst noch spitzkriegen, was da läuft zwischen Mann und Mägden, und dich dreinfinden wie jede von uns. Meine Aufgabe ist es nicht, jedem jungen Ding dies schonend beizubringen, da habe ich mit den eigenen Töchtern Not genug!

Und wie sie Lîf mit dem Becher bei ihrem Mann hockend betrachtet, spürt sie wohl auch einen Stich Neid in ihrem Herzen. Mag das Glück der beiden auch noch so flüchtig sein: so glücklich wäre Sigrid in ihrem Leben gern einmal gewesen.

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Mit dem Gedächtnis ist es eine seltsame Sache. Nicht nur ist es sehr subjektiv, wie jeder weiß: dass nämlich zwei Menschen ein und denselben Vorfall auf gänzlich unterschiedliche Weise in Erinnerung behalten, dass zudem der eine sich dies merkt, der andere jenes, und beide behaupten würden: 'Ne, daran kann ich mich nicht erinnern, das ist nicht passiert!', wenngleich es sich doch genauso vor ihren Augen einst abgespielt hat. Nein, da kann außerdem ein Weib liebevoll ihren schlafenden Mann betrachten und dabei an das für sie so schmerzhafte, so erniedrigende erste Mal zurückdenken, da er sie 'bestieg', gar 'pfählte', an ihre Wut danach, ihren blindwütigen Zorn. Und sie mag sich sogar bewusst sein, den genauen Ablauf der Nacht nicht mehr recht im Gedächtnis zu haben, und dennoch will ihr nicht einfallen, wie der Mann auf ihr damaliges Toben tatsächlich reagiert hat. Ja, so ganz verschwommen glaubt sie wohl, dass er geduldig war und sie getröstet hat, dass sie dies zuließ, sich zum Schluss gar schluchzend in seine Arme warf und dort allmählich beruhigte. Aber was dazwischen geschah, unmittelbar nach dem Vollzug seiner Lust, die ihre Qual war, erinnert sie sich daran? Wie erschrocken er war, ihr wehgetan zu haben, wie durcheinander. 'Das wollt' ich aber doch nicht!' hat er gejammert und "Verzeih!' und einige kopflose Dinge, bis er sich schließlich ein wenig fing und ihr zu versichern begann: 'Liebes, wein' nicht, es tut doch bloß das erste Mal weh. Das hat die Große Mutter so eingerichtet, das lässt sich nicht vermeiden. Bitte, du darfst nicht denken, dass es jedes Mal so wäre. Vertrau Gaja, wenn nicht mir! Glaubst du, sie hätte so gar nicht an ihre Töchter gedacht, als sie diese Dinge vorsah? Du bist jetzt ein Weib, kein Kind mehr, und der Übergang muss ein wenig schmerzen, damit seine Bedeutung nicht übersehen wird. Um ein Mann zu werden, glaub mir, ist mindestens ebenso viel Schmerz vonnöten! Wichtig ist, dass wir zusammen sind, Mann und Weib, und du unter meinem Schutz stehst vor dem Gesetz und jedem guten Brauch, und niemand wird es mehr wagen, dich zu schänden, und alles andere, das dir Sorge bereitet, das gehen wir gemeinsam an, das klären wir schon, nun drängt uns ja niemand mehr!' So und auf ähnliche Art sprach er ihr eine geraume Weile Trost zu und vielleicht ist es doch nicht so verwunderlich, dass sie nur die Wirkung seiner Rede, aber nicht den Wortlaut in Erinnerung behielt, denn er sprach dabei über Dinge, von denen er keine Ahnung hatte. Und doch sprach er in reinster Absicht. Der Trost war echt.

Seltsam ist indes, dass auch Tristan sich nicht recht an diese Nacht erinnert, die ihn doch immerhin ans Ziel seiner Träume brachte. Ja, Lîf war hinterher aufgewühlt, soviel weiß er noch. Hat kurz um sich geschlagen, dann ein wenig geschluchzt in seinem Arm, bis er sie beruhigen konnte. Es tut halt doch weh, den Weibern, das erste Mal, da kann man noch so sanft sein, das lässt sich nicht vermeiden. Man kann sie noch so streicheln und küssen und herzen: irgendwann kommt der Moment, da gilt es zuzustoßen. Und er ist auch fest davon überzeugt, dass man als Mann ebensoviel Demütigung und wesentlich mehr Schmerz erleiden muss, bis man als ein solcher anerkannt wird. Würde man also Tristan glauben wollen—und vor allem glaubt er es selbst—war die erste Nacht gar nicht weiter dramatisch. Wesentlich besser in Erinnerung ist ihm überhaupt die zweite Nacht. Die lief nämlich so, wie er sich eigentlich die erste gewünscht hätte. Lîfs Angst vom Vortag? Völlig verschwunden! (Für Angst hielt er es, denn er wie hätte er ahnen sollen, dass es der reine Trotz war, Wut, Bitterkeit, Rachdurst, Widersinn: dass sie sich eben vorgenommen hatte, KEINE Freude zu empfinden, obwohl er ihr doch Freude versprochen hatte—oder weil? Im Ernst: wie hätte er darauf kommen sollen, dass Lîf lieber Schmerz als Freude von ihm erfahren wollte, nur damit sie ihn weiterhin in Ruhe hassen könnte und nur ja keine positive Seite an ihm erkennen müsste, die sie zwänge, ihre Meinung ihm gegenüber zum Besseren zu ändern? Verquere Weiberlogik! Dafür hat er sich so um sie bemüht? Sich so viele quälend lange Wochen zurückgehalten? Ihr erst Gelegenheit gegeben, sich einzufinden, ihn kennenzulernen, Vertrauen zu fassen? Weil er eines um jeden Preis verhindern wollte: dass sie sein Beiliegen als Gewalt empfände!)

Daher ist wohl verständlich, dass sein Gedächtnis die zweite Nacht in größerer Klarheit verwahrt. Fast den ganzen Tag hatten sie in der Halle des Jarls gefeiert, immer mehr Leute aus ganz Hóp kamen hinzu, gratulierten, brachten spontan Geschenke: Brot, einen halben Schinken, Stoffe, abgetragene Kleider, und derlei nützliche Dinge für den Hausstand zu zweit. (Er gab dafür den Met aus.) Auf die Schultern hob man das Brautpaar oder warf sie beide—im Ernst!—in die Luft und fing sie wieder auf mithilfe von Decken und noch immer floss der Met in Strömen. Und sogar Lîf wurde bei all dem immer fröhlicher. Hinzu kam, dass sie sich sehr darüber freute, Esjas Schülerin werden zu dürfen—"Wann fangen wir denn an? Morgen? Übermorgen? Wann darf ich anfangen?" fragte sie mal Esja, mal Tristan, und weil irgendwer ihr immer wieder vom Met nachschenkte, sie dieses Gebräu aber gar nicht gewohnt war, fragte sie gleich darauf noch einmal, weil sie vergessen hatte, die Frage gerade erst gestellt zu haben. Und als Tristan sein junges Weib endlich wieder zuhause hatte und dort Richtung Ehebett steuerte, war sie heiter und gelöst und bewegte sich in hüpfenden Tanzschritten fort und zeigte keinerlei Angst, als er ihr die Kleider vom Leib streifte, legte sich nicht nur willig, sondern glucksend zu Bett, empfing seine Küsse mit geöffneten Lippen, verfolgte sein Erforschen ihres Körpers teils mit Neugier, teils mit Heiterkeit, und ertrug auch den notwendigerweise kraftvolleren Akt ohne jegliche Klage, und alles, was sie hinterher sagte, war "Oh!"

So hat zumindest Tristan die zweite Nacht in Erinnerung und deshalb meint er wohl auch, dass Lîf froh sein könne, einen so liebevollen Mann wie ihn gefunden zu haben. Tatsächlich stellt sich für ihn die Sachlage völlig anders dar als für sie: nicht geraubt hat er seine Lîf, sondern gerettet! So will er die Sache sehen, so muss er sie sehen, so legt er sich deshalb alles zurecht. Und sein Gedächtnis ist ihm dabei ein williger Komplize.[1]

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Noch nicht sehr lange hockt Lîf bei ihrem Tristan, da flattern seine Lider, da öffnen sich endlich, nach einigen Fehlversuchen, seine Augen, dann fällt sein Blick endlich auf sie. Erstaunt blinzelt er darauf, verdutzt wirkt die Miene, den Schlaf meint er sich aus den Augen reiben zu müssen, ehe er ihnen trauen darf, doch darauf scheint er noch immer zu stutzen und sie nicht recht einordnen zu können. Dann runzelt er die Stirn, als geriete sein Grübeln in misstrauische Bahnen, doch auf einmal klärt sich sein Blick, werden seine Züge ganz weich, und seine Augen strahlen.

"Lîf!" begrüßt er sie. "Oh meine Lîf!"

Sie hält ihm den Tee hin, er nimmt ihn ihr ab, stellt ihn aber gleich auf die Bank und setzt sich auf, um sie sofort in den Arm zu ziehen. Außer immer wieder ihren Namen scheint ihm aber nichts einzufallen, das er ihr zu sagen hätte. Dies ändert sich erst, als sie beide einige Zeit später über einer Schüssel Gerstenbrei beisammen sitzen.

"Ich muss zeitig auf der Thingstätte sein, gleich nach der Schüssel hier breche ich auf. Du kannst entweder mit mir kommen, dann wirst du dich da aber eine Zeitlang gedulden müssen, bis es losgeht, oder du schließt dich hier den restlichen Weibern an, ganz wie's dir lieber ist. Wir können ja sowieso nicht beisammen stehen, ich muss ja die meiste Zeit in der Mitte vortragen oder aufmerken, also am besten wäre es wohl, du fändest jetzt schon jemanden, die Gertrud vielleicht. Ach, und die guten Sachen, die brauchen wir heute noch nicht, erst auf dem Opferfest. Aber das hatte ich schon gesagt, nicht wahr? Ich weiß nicht mehr, was ich dir daheim alles schon erklärt habe, was nicht. Es sind Dinge, an die ich selbst gar nicht mehr denken muss, weil ich schon auf so vielen Thingversammlungen war, dass ich gar nicht mehr weiß, was man auf seiner ersten noch nicht wissen kann."

Ein wenig wirr redet Tristan daher; es klingt glückselig.
 1. Sorry, das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen! Er hat doch wirklich alles getan, was man in seiner Situation nur tun konnte, um ihr eine unangenehme Erfahrung zu ersparen!
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 03.09.2017, 11:50:32
Lîfs Herz erwärmt sich mehr und mehr, während sie ihren friedlich schlummernden Tristan anblickt. Dass Sigrids Worte ganz ausdrücklich nicht die Mägde einschlossen, hat sie – absichtlich? Unbewusst? – überhört. Ein Mannsbild, das treu ist, nur sie liebt, ein Feenblut, ein so schöner Mann mit einer Stimme, bei der es einem kalt über den Rücken läuft, so sehr kann sie einen verzaubern..! Ein-, zweimal schaut sie zu Sigrid zurück, lächelt verlegen, errötend ob der vermeintlichen Schwäche, die sie zeigt, des Nachgebens und des Eingeständnisses, dass sie auch für ihn empfindet, wo sie doch so viele Male laut und trotzig verkündet hat, dass er sie niemals mit ihrem Einverständnis besitzen würde! Doch zu ihrer Erleichterung scheint aus dem Blick des anderen Weibes kein Spott zu sprechen. Nickte ihr Sigrid nicht sogar kaum merklich zu..? Immer wieder legt Lîf eine Hand ganz leicht auf seine Brust, spürte, wie sie sich bei jedem Atemzug leise hebt. Dann wieder streicht sie mit den Fingerkuppen unendlich sachte über seine Lippen. Seltsam, dass ihr heute zum ersten Mal auffällt, wie männlich schön dieser Mund ist – bezaubernde Laute aus einem herrlichen Mund? So muss es wohl sein: Es ist sein Feenerbe, das sie erkennt.

Die Gedanken des Rotschopfs beginnen zu wandern, all die Momente neu zum Leben zu erwecken, in denen sie ihn seufzend beobachtet hat, heimlich, ohne dass er es bemerkte, weil sie sich ihrer Gefühle schämte. Ja,: nun, wo sie es vor sich selbst zugibt, wird es leichter, ihr Herz zu verstehen. Er muss der Mann sein, den sie liebt. Wenn sie nur gewusst hätte, wie sich Liebe anfühlt! Was war sie dumm, naiv... ein kleines Mädchen nur, obwohl ihr Körper schon der eines Weibes war. Liebe – was hatte sie sich darunter vorgestellt? Sie weiß es selbst nicht mehr. Doch jetzt hat sie gelernt, dass Liebe nicht rein und strahlend daherkommen muss, mit dem lauten Ruf an das Herz: 'Sieh her – ich bin die Liebe, und ich nehme dich in Besitz!' Nein, verliebt sein kann auch bedeuten, zu weinen, sich verletzlich zu fühlen – und so manches Mal auch verletzt. Liebe hat, wie alle Gaben der Großen Mutter, zwei Seiten. Und die junge Frau beginnt zu ahnen, dass die schmerzhafte ein Preis ist, der nur recht und billig ist für jene andere, die sie gerade erlebt. Ihre Erinnerungen verschwimmen zusehends zu einem bunten, angenehmen Kaleidoskop von Szenen, in denen sie an seiner Seite Freude empfand, ohne es damals zugeben zu wollen.

Jetzt kommt ihr der eigene Stolz albern vor, kindlich. Sie hat sich selbst und ihm das Glück verweigert, weil sie recht haben, ihren Kopf durchsetzen wollte. Nun aber fühlt sie sich erwachsen. Sie ist Tristans Weib, er ihr Mann, vor den Gesetzen der Inseln schon längst, aber jetzt, hier und heute erst weiß sie auch, was es bedeutet. Und der Gedanke, ihr Leben mit ihm zu verbringen und ihm Kinder zu schenken, hat verloren, was sie ihn bislang hat ablehnen lassen. Da, während sie noch am Sinnieren ist, die Kräuter in dem aufsteigenden Dampf aus dem Becher riecht, schlägt er die Augen auf, und sie beobachtet die Wandlung seiner Miene: erst verschlafen, desorientiert, dann, als er sie erkennt, überrascht, schließlich erstaunt, grüblerisch und ganz am Ende... glücklich. Unwillkürlich lächelt auch sie, als sie ihm den Becher reicht und sanft mahnt: "Vorsicht, er ist heiß – verbrenn dich nicht." Als er sie kurz darauf in die Arme zieht, lässt sie es willig geschehen, kuschelt sich an seine Brust und hört einfach zu, wie er immer wieder ihren Namen wiederholt.

Ihr ist, als erwache sie aus einem schönen, aber verschwommenen Traum, als sie irgendwann realisiert, dass sie beieinander zu Tisch sitzen, wo die anderen Weiber mittlerweile das Frühstück für alle bereitet haben – einen winzigen Moment fühlt sie Scham, weil sie nicht geholfen hat. Doch dann erläutert er ihr noch einmal, wie alles an diesem Tag ablaufen wird, und sie nickt geduldig, murmelt ein ums andere Mal: "Aber ja, sicher" und "Das werde ich tun" oder "Nein, ich werd's nicht vergessen, mach dir keine Sorgen". Endlich, nachdem er mit seiner etwas wirren Rede am Ende angelangt ist, lehnt sie sich noch einmal gegen ihn, unbekümmert, was die anderen denken werden, und sagt bedächtig: "Ich glaube, ich bleibe hier bei den Weibern und helfe beim Aufräumen. Ich habe mich schon vorm Essenmachen gedrückt." Als künftige drudkvinde fühlt sie sich in einer Vorbildposition, und es wäre wohl ein schlechter Dank an die Gemeinschaft, ihre alltäglichen Pflichten nicht zu erfüllen, ausgerechnet von ihr, die man von der Magd, der bloßen Sklavin zum freien Eheweib und nun gar zum Lehrmädchen der Weisen Frau gemacht hat. Auch scheint ihr Tristans Rat, die Gesellschaft der anderen Weiber zu suchen, weise. Und so hat sie ihren Beschluss gefasst, auch wenn es ihr schwerfällt, ihn ziehen zu lassen. "Werden wir zwischendurch auch ein paar Augenblicke für uns haben?" erkundigt sie sich. Zuhause waren die Versammlungen langwierige Angelegenheiten, und wenn die Männer sich über wichtige Dinge berieten, war ihre Runde, wenn auch nicht tabu, so doch ein unüblicher Aufenthaltsort für die Weibsleute, die zumeist abseits in ihrem eigenen Kreis beisammen saßen. Just heute möchte sie aber nicht so lange von ihm getrennt sein.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 04.09.2017, 23:35:03
"Mittags wird's eine Stärkung geben, ich will versuchen, ob ich mich währenddessen von den anderen losreißen und kurz zu dir rüberkommen kann, wenn es dir denn so wichtig wäre." So großspurig Tristan diese Worte, der männlichen Zuhörer wegen, auch klingen lässt, wie eben ein Gatte, der seufzend dem Wunsch seines Eheweibes stattgibt, um des Hausfriedens willens, so bittend aber bohrt sein Blick sich in den ihren: Sag ja, Liebes, oh bitte sag, dass es dir wichtig ist!

Doch kaum hat er seine Antwort—für die richtige gibt's einen Kuss, bei der falschen nur einen Händedruck zum Abschied—da muss er auch schon los. Ole ruft nämlich herüber und der schöne Karl ist auch schon marschbereit sowie ein gutes Dutzend weiterer, unter denen Lîf nur Jarl Gisle erkennt, die beiden Drachenführer Sven und Eyvind, dazu Svens Sohn Egil. Tristan schnappt sich Waffengurt, Schild, warme Kleidung und eilt zu ihnen.

Im allgemeinen Durcheinander des Aufbruchs gerät der schöne Karl in Lîfs Nähe und sie zuckt ein wenig zusammen (nicht vor Schreck, es kommt nur so unerwartet), als er plötzlich dicht an ihrem Ohr flüstert: "Du hast den Tristan ja ganz schön am Schürzenzipfel, wie? Besorgst es ihm ordentlich Nacht für Nacht, reitest ihn bis nach Wolkenheim und wieder zurück, dass er unterwegs seinen Verstand verliert? Das machst du gut, Mädel! Ha, was hat der Kerl sich eingebildet, sowas könnt' ihm nie passieren, und manch einen von uns dafür verspottet! Ach, aber jetzt werden wir einmal so richtig Spaß mit ihm haben, was wird er sich anhören müssen. Wären die Ahnen für ihren Humor bekannt, tät ich sagen, sie hätten dich geschickt!" Karl lacht kurz und kehlig, dann verabschiedet er sich von Lîf mit einem "Weiter so!", gefolgt von einem beherzten Klaps auf ihr schönes Hinterteil. Zu diesem Zeitpunkt ist Tristan aber bereits ins Freie getreten—ein Umstand, der den schönen Karl wohl zu dieser Abschiedsgeste ermutigt hat.

Nachdem Karl als letzter des Trupps das Langhaus verlassen hat, tritt dort wieder Ruhe ein. Kurz müssen die Weiber sich orientieren, werfen sie einander Blicke zu, dann machen sie sich an die Arbeit. Aufräumen, Säubern, die letzten Schläfer wecken... Lîf schaut sich um, wem sie zur Hand gehen kann, wem sie sich später anschließen mag.

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Während die fleißigen Hände der Eheweiber sich rühren, brechen nach und nach die restlichen Männer einzeln oder in kleinen Grüppchen zur Thingstätte auf, bis die Frauen unter sich sind. Dann erst machen auch diese sich bereit, ziehen sich warm an und folgen ihren Männern nach. Nur einige Alte bleiben zurück, um den Rübeneintopf für das Mittagsmahl weiter zu rühren.

Die Sonne ist bereits voll aufgegangen, als Lîf mit ihren Begleiterinnen ins Freie tritt, allesamt ordentlich eingepackt in Schals, Handschuhe und dicke Felljacken. Sie umrunden die palisadengezäunten Langhäuser, passieren die Heilerhütte und den daran angeschlossenen Stall, und halten dann auf einen einzelnen Hügel im Nordwesten zu. In der Ferne sind weitere Hügel zu sehen, kahl wie die ganze Landschaft hier (anders als auf Jarlsö!), und dahinter erheben sich drei Berge, von denen die äußeren in gezackten Spitzen enden, den mittleren aber ein breiter, flacher Gipfel krönt, der irgendwie abgebrochen wirkt. Der Berg sieht so aus, als müsste er eigentlich höher sein, als hätte er früher einmal eine Spitze besessen wie seine Nachbarn, doch welch kosmische Gewalt sie ihm abgeschlagen haben sollte, wüsste Lîf nicht zu sagen. Sie schaudert ein wenig bei diesem Gedanken. Wie gut, dass ihr Ziel nicht die fernen Berge, sondern nur der nahe Hügel ist, der geradezu lieblich und sanftmütig dagegen wirkt.

Nicht ein einzelner, sondern bestimmt zwei Dutzend Bautasteine unterschiedlicher Größe sind auf der Hügelkuppe aufgestellt. (Später zählt Lîf 27, das wären für jeden Mond des Jahres zwei und für den Vergessenen Tag einer; oder vielleicht soll es auch drei mal drei mal drei bedeuten? Die Drei ist ihr jetzt schon mehrmals untergekommen als besondere Zahl, neben der fünf, was hat das nur zu bedeuten?) Und dazwischen tummelt sich bereits das Mannsvolk. Feuer brennen in einem engen Kreis um die Steine herum (dreizehn, um genau zu sein—diesmal eindeutig die Monde eines Jahres), daran sich bereits einige Leute wärmen. Als die Weibergruppe sich diesen nähert, hält Lîf Ausschau nach Tristan, erblickt ihn in dem Gewühl aber nicht. Vor der Einfriedung der Thingstätte—in den Boden gerammte Haselruten, teils mit Steinen gestützt—hält sie kurz an, um den Moment zu würdigen: zum ersten Mal wird sie eine solche betreten. Zum ersten Mal nimmt sie ihre Rechte als verheiratetes Weib in Anspruch.

Schnell verteilen die Frauen aus Hóp und Svalbardhus, der zweiten großen Siedlung auf Jarslö, sowie die von den beiden kleineren Inseln Ingla und Seeholm sich auf die 13 Feuer und blicken erwartungsvoll Richtung Steinansammlung, wo sich der Menschenhaufen ebenfalls zu sortieren scheint: ein weiter Ring bildet sich um dreizehn Männer, die sich sieben zu fünfen gegenüber stehen, mit Tristan in der Mitte. Er trägt etwas seltsames auf dem Kopf. Soll das eine Krone sein? Aus Holz ist sie geschnitzt und gelb angemalt und statt Edelsteinen sind billige Schmucksteine angeklebt. Der Pelz um Tristans Schultern dagegen ist edel und gut gearbeitet. In der Hand hält er einen Stab, wie die Könige auf dem Festland ihn einst trugen, vor Jork Kuijts Zeiten, als noch jeder 'Stamm' einen 'König' hatte.

Zwei weitere Männer, die Helme tragen, zerren einen dritten, der als einziger keine Waffen am Gürtel führt, vor Tristan hin. Es ist der Jarl! erkennt Lîf erschrocken. Bevor sie überhaupt so recht begreifen kann, was da los ist, wird bereits laut die Anklage verlesen. Allerlei unglaubliche Dinge soll der Jarl verbrochen haben: feigen Mord, heimlich des Nachts, dazu Diebstahl von Gut und Vieh, aus keinem gerechten Grund, sondern aus reiner Habgier! Eine Frauenstimme ruft hinein (Lîf hat gar nicht bemerkt, dass dort auch ein Weib mit dabei steht), dass er sie in ihrem eigenen Bett geschändet habe, gleich nachdem er ihrem Mann im Schlaf die Kehle aufschlitzte!

Die Sache wird immer seltsamer. Wann soll das denn alles passiert sein? Kann das alles in diesem Winter passiert sein, in Hóp, ohne dass sie etwas davon erfahren hätte? Ohne dass Tristan ihr davon etwas erzählt hätte?

Vorne zwischen den Bautasteinen ruft nun alles durcheinander. Die fünf Männer auf der einen Seite—Ole darunter! Und Egil und Karl!—verteidigen den Jarl, rufen, sie kennten ihn nur als ehrbaren Mann, als tapferen Mann, auf keinen Fall sei er eine Memme, die nachts in Häuser schleicht und Männer im Schlaf ermordet! Die sieben gegenüber aber, Sven Blutaxt darunter und der einäugige Ansgar, verteidigen den Kläger, Eyvind Graumantel, und das Eheweib des Ermordeten, die ein ehrliches Weib sei und eine derartige Klage niemals erfinden könnte, ihren eigenen Ruf dabei aufs Spiel setzend! Und überhaupt hätten der Sohn und die beiden Töchter den frechen Kerl ja noch fortlaufen sehen, nach seiner dreifachen Schandtat. Und so wogt die Aufregung hin und her, während Tristan immer wieder dazwischen ruft und schilt, man verstehe nichts, wenn alles gleichzeitig krakeele, es möchte doch bitte erst der eine, dann der andere reden.

Auf der Suche nach einer Erklärung sieht Lîf sich nach den anderen Weibern um, welche die Szene mit leuchtenden Augen beobachten. Einige nicken aufgeregt und klopfen Zustimmung auf dem eigenen Schenkel, die jüngsten blicken derart gebannt, dass ihnen gar die Münder offenstehen. Lîf ist die einzige, die den Blick überhaupt von der Szene losreißen kann, um die Zuschauer zu betrachten.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 05.09.2017, 15:22:09
Auf Tristans Erklärung lächelt Lîf nur und sagt leise, in einem gespielt verschwörerischen, aber durchaus selbstsicheren Ton: "Reiß dich los..." Sie ahnt, dass sein demonstrativer Tonfall für die Zuhörer bestimmt ist, vor denen natürlich er als Mann die Hosen anhaben muss, nimmt es ihm aber nicht übel. Was hätte sie auch davon, ihn in den Augen aller als einen Pantoffelhelden wie der schöne Karl erscheinen zu lassen? Das junge Weib des Skalden genießt lieber den Kuss, den es sich anscheinend mit seinem Wunsch verdient hat – denn dass es ihr ernst und wichtig ist, wird Tristan aus ihrem Blick ebenso so sicher herauslesen können wie sie aus seinem die Aufforderung, es ihm zu zeigen. Leise seufzend sieht sie ihm nach, wie er inmitten der Mannsleute loszieht. Ist das, im Großen wie im Kleinen, nicht allzu oft das Schicksal der Weibsleute? Zurückzubleiben und nur hinterdrein schauen zu können, nicht wissend, was dem Mann begegnen wird, womit er sich herumschlagen muss? Und statt ihm beiseite stehen zu können, muss man sich um den Hof und das Gesinde kümmern, die Kinder, den Herd, die Vorratskammer. Wenn man ein glückliches Weib ist und nicht gar nur eine simple Magd.

Sie ist so in ihre Gedanken versunken, dass es Karl gelingt, sie zu überraschen. Um ihr Zusammenzucken zu überspielen, das ihr peinlich ist, stemmt sie die Fäuste in die Hüften und sieht ihn von oben herab an. "Pah" schnaubt der Rotschopf. "Du sprichst wohl von dir?! Der meine jedenfalls hängt an keinem Schürzenband wie du! Der lässt sich von niemanden was sagen!" Nicht, dass sie damit ihre wahre Meinung kundtun würde: Lîf hält es durchaus für weise, wenn ein Mann auch auf sein Weib hört. Doch da sie weiß, was hier, unter den Inselleuten, zählt, sucht sie ihn instinktiv so darzustellen, dass sie stolz auf ihn sein kann: Der freie, der wilde und kühne Mann, der keinen Herrn über sich anerkennt als die Gesetze der Sippen. Spitz fügt sie hinzu: "Und du lern erst mal in den Sattel kommen, ehe du über die Reitkünste anderer redest – bei dir und deiner Gertrud weiß man gar nicht so recht, wer Ross und wer Reiter ist." Da es für ihn entehrend wäre, die Hand gegen sie zu erheben, ganz abgesehen von Tristans Rache, schaut sie Karl furchtlos in die Augen, ja, sogar mit einem herausfordernden Blitzen. Als er ihr statt einer wütenden Antwort aber die flache Hand auf die Kehrseite klatschen lässt, schnappt sie empört nach Luft. "Wenn dich Tristan sieht..!" faucht sie und wirft verächtlich den Kopf mit der roten Haarpracht zurück.

Als die Weiber schließlich unter sich sind, gesellt sie sich zu Gertrud, um mit ihr die Tische zu säubern, an denen gegessen wurde. Sie versucht einige Male, ihr Gegenüber mit bedenklichen Worten ob ihres Karl aufzustacheln, der ja nun wirklich jedem Weiberrock nachläuft, deutet ihr gar an, wo der unverschämte Kerl seine Finger hatte, erntet aber nur ein nachsichtiges Lächeln. "Ach was – das ist seine Art, dir zu sagen, dass du ein ansehnliches Weibsbild bist, Lîf" meint sie nur und lässt die frustrierte junge Frau mit den Augen rollen. Bei der gutmütigen Gertrud ist wirklich rein gar nichts zu machen: Ihr Karl könnte wohl vor ihren Augen allen erreichbaren Weibern unter die Röcke kriechen, und sie fände noch eine Entschuldigung für ihn! Böse sein kann sie der arglosen, schwerfälligen, aber immer verlässlichen und arbeitsamen Gertrud jedoch auch nicht. So gehen sie gemeinsam los, als die jüngeren Weiber den Männern folgen, eine bei der anderen eingehakt. Als die Hügelkuppe in Sicht kommt, sieht sich Lîf ehrfürchtig um. Immerhin ist hier ein Versammlungsplatz, an dem Recht gesprochen wird, Streitigkeiten Schlichtung erfahren, Schicksale entschieden werden. Und ihr Tristan ist einer der wichtigsten Männer dabei! Dieser Gedanke lässt sie sich stolz recken, auch wenn die unbekannte Atmosphäre, die Ungewissheit, was sie wohl erwartet, sie ein wenig unsicher macht.

Endlich haben alle Weiber ihre Plätze gefunden, und sie kann sich auf die Versammlung konzentrieren. Da: Tristan, in der Mitte! Ihr Tristan! Sie kann sich kaum beherrschen, ihm zuzuwinken. Es scheint, als habe er wirklich eine ganz zentrale Rolle. Das wäre in ihrer Heimat anders, wo ein Skalde das Gedächtnis aller darstellt, den Mahner, den Lehrer und willkommenen Berater, aber nicht den Hüter der Gesetze selbst. Verwundert späht sie nach der seltsamen Kopfbedeckung, die er trägt, verspürt kurz den Drang zum Grinsen, unterdrückt ihn aber verschämt. Was sich die Sitten hier doch von jenen zuhause unterscheiden..! Indes, ansonsten bietet er auch in Lîfs Augen einen sehr imposanten Anblick, und sie lauscht so aufmerksam, wie ihre Nachbarinnen es tun. Der Streit zwischen den beiden Parteien wird rasch lauter, aber ganz entgegen dem ersten Eindruck, nach dem die mahnenden Ordnungsrufe Tristans ungehört zu verhallen scheinen, auch strukturierter. Und schließlich macht er fast den Eindruck eines Schauspiels mit einer abgesprochenen Choreographie, weil immer ein Vertreter einer Seite seine Stimme über das allgemeine Schimpfen, Murren und Drohen erhebt, dann einer der anderen. Obwohl sie offenbar festen Regeln, einem regelrechten Ritual folgen, scheinen sich die Beteiligten aber wirklich zu ereifern, und oberflächlich betrachtet rufen sie nach wie vor alle wild durcheinander. Die junge Frau sieht hochrote Köpfe, geballte Fäuste, die drohend geschüttelt oder beteuernd gegen die eigene Brust geschlagen werden. Es hat fast den Anschein, als seien die Streitenden kurz davor, sich gegenseitig an die Kehle zu gehen! Aber doch scheint niemand beunruhigt. Sie sieht sich unter den Weibern um, in deren Mitte sie hockt, und keine zeigt auch nur die geringste Angst oder Sorge. Vielmehr starren sie alle gebannt auf das Geschehen.

Einige beginnen auch, die hin- und herwogende Lärmkulisse der Widersacher mit einem Raunen und Brummen zu untermalen, das ebenfalls mal lauter, mal leiser wird. Dabei unterstützen offenbar nicht alle dieselbe Partei. Verwirrt sieht sie sich um. Hört denn hier überhaupt niemand auf die Argumente, die vorgebracht werden?! Es scheint ihr vielmehr so, dass der jeweils mitreißendste Redner die meisten Stimmen aus der Zuhörerschaft hinter sich versammelt. Und das ist nach Ansicht der Menschen hier offenbar derjenige, der am lautesten brüllt, am heftigsten mit den Zähnen knirscht, dessen Adern am Hals am deutlichsten hervortreten und der nicht zuletzt die einfallsreichsten Schmähtitel für die andere Partei erfindet. Und sie wundert sich immer mehr, dass nicht wirklich alles in Mord und Totschlag endet. Wenn ihr jemand so wild, vor Wut schäumend entgegenträte, sie würde in Todesangst nach dem nächsten Gegenstand greifen, der sich als Waffe eignet! Ratlos fragt sie Gertrud neben sich: "Ist das normal so? Warum hören sie denn nicht auf Tristan und schreien so?" In Fersland gehen Rechtsstreitigkeiten auch nicht ohne die eine oder andere Beleidigung und einiges Geschrei ab, aber gegen dies hier kennt sie von dort nur das Gesäusel sanft zwitschernder Vögel! Sie muss einmal mehr einsehen, um wie viel wilder und rauer diese Leute sind. "Besser wäre es, ihr würdet das Urteil euren Weibern überlassen... die schreien sich wenigstens nicht die Hälse wund, noch ehe sie wissen, welche Seite Grund hat, sich aufzuregen" murmelt sie leise zu sich selbst. Andererseits... selbst der weibliche Teil der Versammlung scheint sich von der aufgeheizten Stimmung anstecken zu lassen. Ist das alles nun Ernst oder nur ein übliches Spektakel..?
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 05.09.2017, 21:43:19
Tatsächlich verschluckt der schöne Karl sich fast vor Lachen, als Lîf derartig zotig zurückschießt, und schlußfolgert beglückt: "Oh ja, an der wird der Gute noch seine Freude haben!"

Ihm nachblickend, erinnert sich Lîf, dass unter den ganzen Verhaltensmaßregeln, die Tristan ihr vor der Reise einzuprägen versuchte, sich unter anderem die fand, sie möge mit den anderen Männern auf keinen Fall so reden wie mit Ole oder gar mit ihm, das könne doch schnell ins Auge gehen—nur beim Karl, da bräuchte sie sich nicht so arg vorsehen, der stecke so gut ein, wie er austeilt. Nur auf das rechte Maß solle sie bitte achten. Noch etliche Namen fielen in Tristans Anweisungen, weit mehr, als sie sich merken oder auseinander halten konnte, und vielleicht dachte sie auch ein wenig trotzig: Ich soll aufpassen, was ich sage? Wer sich von meinem Worten beleidigt oder angegriffen fühlen könnte? Ha, so weit kommt's noch! Hätten mich halt nicht rauben sollen, die frechen Kerle, dann bliebe ihnen jetzt mein Mundwerk erspart! Vielleicht wünscht sie sich jetzt, doch ein wenig besser aufgemerkt zu haben...

Und vielleicht weicht bald darauf auch ihre Empörung auf den schönen Karl, als nämlich auf der Thingstätte der Streit immer lauter und wilder wird, dass Lîf Angst bekommt, gleich gingen sich alle an die Kehle, ja, vielleicht nimmt der Name "Karl" doch allmählich einen Klang an, der Sicherheit verspricht: Tristan vorneweg, natürlich, dann Ole, Gertrud... Sigrid vielleicht noch? Und Esja natürlich, trotz des ein wenig angstvollen Respekts, den sie Lîf einflößt. Und vielleicht doch auch der schöne Karl? Leute, bei denen sie halbwegs sie selbst sein darf und ihr nicht gleich jeder Fehler krummgenommen wird...? Der nicht gleich von Tristan Rechenschaft fordert für sein freches junges Weib? Was ist dagegen schon ein Klaps auf den Po?

Gertrud scheint Lîfs Frage zum Tumult nicht zu hören, so gebannt schaut sie den Männern zu.

"Weil die Leute das Spektakel lieben", antwortet Sigrid an ihrer Statt. Sigrid, die eigentlich ihre Tochter Helga begleiten wollte, wurde von dieser schroff abgewiesen—"Ich geh lieber mit meinen Freundinnen!" und weg war das freche Stück. Daher hat sich die ältere Frau, vor den beiden Zeugen beschämt errötend, Lîf und Gertrud angeschlossen, wobei sie gar eine Entschuldigung für die Tochter murmelte. Inzwischen hat sie sich wieder gefangen. "Das war zu Alberichs Zeiten schon so und ist heute nicht anders." Lîfs Vorschlag lässt sie auflachen. "Oh, ach, ich weiß nicht, da haben wir doch auch schon einige, die das können!"

Doch ein weiteres Gespräch wird unmöglich, denn zwischen den Gerichtssteinen ist man offenbar schon bei einem Urteil anlangt.

"Ruhe!" schreit Tristan, und diesmal gehorcht die Menge ihm, und er tritt vor den Beklagten hin. "So will ich denn das Urteil verkünden: Friedlosigkeit verdient diese feige Tat, unablösbare! Drei Tage hast du, Alberich, um von hier zu verschwinden, und wenn dich danach doch noch einer erblicken sollte, der darf dich verstümmeln oder totschlagen, ohne Strafe zu fürchten, und sogar deine Leiche schänden. Jeder aber, der dir dann noch hilft, soll deine Friedlosigkeit teilen! Jeder, der dir auch nur ein Stück Brot reicht, wird dafür büßen. Dein ganzes Hab und Gut wird dir abgesprochen und neu verteilt, die Hälfte an die Witwe, der Rest unter den anderen sechs Familien. Dein Weib aber, dein junges, soll sich von dir lossagen und zu ihrem Vater zurückkehren, und wenn dein Balg, mit dem sie noch schwanger geht, dann geboren wird, darf dieser entscheiden, ob es angenommen oder ausgesetzt wird. Und jetzt geh' mir aus den Augen!"

Und der Jarl zieht tatsächlich ab, aber keinesfalls still. "Ha, jetzt seh ich wohl, wer die ganze Sache eingefädelt hat, und wozu! An mein Hab und Gut wollte die arme Witwe von Anfang an, dem Mann hat sie wohl selbst die Kehle durchschnitten, oder dies hat getan, wer immer sein Aug' auf sie geworfen hat. Friedlosigkeit hätt' der verdient, der einen solch feigen Plan ersann, statt mir mit dem Schwert entgegen zu treten und mich damit zu überwinden, worauf als ehrlicher Sieger er sich alles nehmen hätt' können, was mein! Bah!" Und er spuckt Tristan vor die Füße, bevor er sich abwendet. Ole aber, Karl, Egil und ein dritter—seine fünf Zeugen außer einem—stoßen ähnliche Flüche aus und verkünden: "Wohin er geht, gehen wir auch!" und ziehen mit ihm ab.

Auch der Rest der Ansammlung verläuft sich nun rasch, bis Tristan allein dasteht. Die hölzerne Krone und auch den Stab beiseite legend, wendet er sich an die Zuschauer:

"Obwohl Alberich das falsche Spiel durchschaute, konnte er nichts dagegen tun. Zum Friedlosen hatte König Ingjold vom Stamm der Færsen ihn erklärt und so blieb ihm nichts, als seine Heimat Skörvellir zu verlassen und sein Heil in der Fremde zu suchen. Sein Vater aber, Ole Langbrok, und die beiden Brüder, der gute Flake und der starke Egil, und erst recht Vetter Bjarni, der Freund aus Jugendzeiten: sie alle, statt ihn wie befohlen zu ächten, schlossen sich ihm lieber an auf seiner Wanderschaft. Die Treue zu ihm war's auf der einen Seite und auf der anderen: Was hätte sie auch halten sollen in einem Gebiet, da solch hinterhältiges Spiel gelänge? Denn eins wussten sie gewiss: dass Alberich nichts von dem getan hatte, das ihm angelastet wurde. Und so war jeder Gedanke des Bleibens ihnen unerträglich. Lange irrte man gemeinsam umher, denn der Einfluss der Færsen reichte weit, über Felder, Täler und Berge, über Flüsse und weite Ebenen, stets hatten sie Ingjolds Schergen im Nacken, derweil sich ihnen weitere Friedlose anschlossen, wohl ein gutes Dutzend, denen man gerne glaubte, wenn sie von ähnlichen Schicksalen berichteten. Und so kam man eines Tages ans Meer und war dem Einfluss der Færsen noch immer nicht entronnen. Einen Winter gelang es ihnen wohl, sich zu verstecken, und in dieser Zeit bauten sie unter Bjarnis Anleitung ein Boot. Mit diesem stachen sie, sobald die Winterstürme nachließen, in See. Zunächst fuhren sie nach Norden und nach Süden, doch fanden sie kein Land, da die Häuptlinge nicht Ingjold Gefolgschaft schuldeten und die Mär von Alberichs Schandtaten nicht schon verbreitet worden wäre. Und so beschlossen sie eines Tages, nach Osten zu segeln. Und gelangten, nach langer Irrfahrt, endlich an ein großes Eiland, auf dem nur ein paar Fischer lebten, die sich leicht beherrschen ließen, und dort fanden Alberich und seine Männer endlich ein neues Zuhause."

An dieser Stelle unterbricht Tristan sich, während die Männer Szenen der Landnahme nachstellten, wie sie etwa den Widerstand der Bevölkerung niederschlugen, wie diese sich darauf Alberich unterwarf und ihm Gefolgschaft schwor und bald darauf genauso treu ergeben war wie die alte Schar; wie man weitere Fahrten unternahm und noch viele kleinere Inseln weiter im Osten entdeckte. Doch das Auskommen auf den Inseln war karg. Auch gab es nur wenige Frauen, über die bald ein großer Streit ausbrach.

"So kann es nicht weitergehen!" verkündet Jarl Gisle energisch. "Die armen Mädchen schleichen ja schon auf krummen Beinen daher, so wund sind sie geritten, weil auf eine jede sechs Männer kommen. Das ist für niemanden gut!" Und er fährt fort: Da er inzwischen eine solch stattliche Anzahl Kämpfer um sich geschart habe und Vetter Bjarni, bekannter inzwischen unter dem Beinamen 'der Drachensänger', ihm noch ein Dutzend Schiffe gebaut habe, ein jedes besser als das vorige—schnell wie Falken seien sie, so etwas kenne in der alten Heimat niemand—zumal die Überraschung auf ihrer Seite wäre: kurzum, der Tag, auf den sie alle gewartet hätten, sei endlich gekommen.

"Der Tag", ruft "Alberich" seinen jubelnden Mannen zu, "an dem wir uns zurückholen, was uns gestohlen wurde und das Zehnfache dazu für die erlittene Schmach! Das Zwanzigfache, für die Feigheit, die Heimlichkeit, die Hinterlist! Das Dreißigfache dafür, dass man mir sogar Frau und Kind nahm! Und außerdem will ich nicht eher rasten, bis Ingjolds Kopf auf meiner Speerspitze steckt!"

Und so stachen Alberich und seinen Mannen bald darauf mit ihren Schiffen abermals in See, wandten sich diesmal aber in Richtung Westen, auf die erste Raubfahrt der Rûngarder Seeräuber an Ferslands Küsten—wie Lîf sehr wohl mit Schaudern erkennt und in diesem Augenblick dennoch nicht verdammen kann, denn so lebendig, so überzeugend ist das Spiel der Männer und Tristans Erzählung gewesen, dass die Fahrt, zumindest diese erste, ihr als überfällig und gerecht erscheint.

An "Land" angekommen verteilt "Alberich" gleich Befehle, auf was seine Männer alles achten sollen, wie vorgehen, was rauben. Vieh und Kornsäcke und Schmuckkästschen und vor allem: "Weibsbilder!"

Und auf diesen Schlachtruf hin stürmen "Alberichs Männer" plötzlich in alle Richtungen los, nämlich auf die Weiber an den Feuern zu, welche aufkreischen und wie in wilder Panik zu fliehen versuchen, doch schon werden die ersten geschnappt und über Schultern geworfen und, so sehr sie sich auch winden und schlagen und strampeln, zurück zu den "Schiffen" getragen. Auch auf Lîfs Gruppe laufen ein Dutzend Männer zu, vorneweg "Alberich" selbst (Jarl Gisle), seine treuen Brüder Egil (Ingas Egil) und Flake (Thorstein oder Thorleik oder irgendwas mit Thor, Lîf kommt nicht drauf) und auch Vetter Bjarni (der schöne Karl)—doch Tristan ist nicht unter ihnen. (Ansgar auch nicht oder Sven oder Eyvind: die spielen ja alle auf færsischer Seite.)

Einen Augenblick steht Lîf wie erstarrt da, dann packt Gertrud sie lachend am Arm und sagt: "Komm, ein wenig sollen sie uns schon jagen müssen!" und läuft kreischend davon, Lîf mitzerrend, so diese sich nicht völlig ziert.[1]
 1. Von wem der vier Genannten willst du dich fangen lassen? Bei einem gelungen GE-Wurf (Acrobatics) vs. 10 darfst du dir aussuchen, wem du vor die Füße stolperst, sonst entscheiden das die Herren und der Zufall unter sich.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 06.09.2017, 11:15:27
Obwohl sie sich wieder an die Mahnungen ihres Mannes erinnert, schaut Lîf dem unverschämten Karl mehr wütend als schuldbewusst nach. Tristan hat gut reden: Soll sie vielleicht nichts dazu sagen oder gar lächeln, wenn dieser schamlose Schürzenjäger ihr Hinterteil tätschelt, als gehörte es in sein Bett?! Wäre sie nicht zu stolz dazu, sie wäre versucht, Tristan von diesem Übergriff zu erzählen, damit er Karl in seine Schranken verweist. Nach echter Weiberart angefangen, wäre dies sicherlich nicht weiter schwer: Sie müsste es ihm nur geschickt andeuten, sich zieren, als sei es ihr unendlich peinlich und nur durch eine Unbedachtsamkeit überhaupt herausgerutscht, sich von ihm bitten oder gar befehlen lassen, ihm alles zu erzählen, dabei ein wenig übertreiben, andeuten, wie erniedrigend Karls Unverschämtheit für ein Weib und... nun, doch in gewissem Sinne ja auch für deren fast schon gehörnten Mann wäre... Ja, Lîf würde sich zutrauen, das zu erreichen: vorsichtig, stets so tuend, als sei alles gar nicht ihre Idee, der Stärke des Mannes schmeichelnd... Aber sie ist nun mal kein Weib wie alle anderen. Lieber würde sie sich die Zunge abbeißen, als zuzugeben, wie sie sich den lüsternen Mannsleuten ausgeliefert fühlt, wenn sie allein ist! Trotzig verschränkt sie die Arme und schwört sich, dass sie einen Weg finden wird, allen zudringlichen Kerlen die schlüpfrigen Witze und Handgreiflichkeiten zu verleiden, auch ohne Hilfe! Und ohne den Ärger heraufzubeschwören, den zu vermeiden Tristan dir auftrug..! sagt eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf.

Diese Stimme, auf die sie selten hört, wenn sie erregt ist, nagt nun jedoch weiter an ihrer Entschlossenheit. Auch Gertruds Worte, so sehr sich das sanftmütige, mollige Weib in seinem Charakter auch von Lîf unterscheidet, bleiben nicht ganz ohne Wirkung. Letztlich sind die Männer von den Inseln tatsächlich raue Gesellen, die gewohnt sind, auch ihre Weiber nicht gerade sanft anzupacken. Ein Kompliment für ihre Schönheit..? Die junge Frau kann sich nicht ganz dagegen wehren, dass das auch ein wenig schmeichelhaft ist. Und Karl, bei aller Unverschämtheit, hat seinen Beinamen "Der Schöne" nicht ganz ohne Grund, auch das lässt sich nicht leugnen... Sie selbst ist ein junges Weib, das in sich die Kraft der Jugend und des Lebens spürt, und dass Männer und Weiber einander begehren, ist von der Großen Mutter selbst so eingerichtet. Grummelnd schränkt sie schließlich ihr Vorhaben dahingehend ein, dass sie ihn in Zukunft zumindest nicht mehr ermutigen wird, sie so zudringlich zu tätscheln. Ja, sie wird es mit Vernunft angehen, auch wenn der heißblütigen Lîf das schwerfallen wird! Sie wird Karls Anzüglichkeiten künftig einfach ignorieren, mit einem überlegenen Lächeln, ihm damit klarmachen, dass sie seine eigenartigen Komplimente anerkennt, aber immer treu zu Tristan stehen wird. Eine gute Lösung, mit der sie recht zufrieden ist – die Tatsache, dass sie ihren Hitzkopf nicht immer so schön unter Kontrolle hat, wie sie es sich gerade ausmalt, lässt sie dabei großzügig unter den Tisch fallen. Es wird sich schon alles finden, mit Hilfe der Göttin.

Sie wendet ihre Aufmerksamkeit wieder dem seltsamen, aber irgendwie mitreißenden Spektakel zu und versucht dabei Sigrids Erklärungen zu lauschen. Das hagere Weib tat Lîf sehr leid, als es von der eigenen Tochter so respektlos behandelt wurde, darum hat sie Sigrid demonstrativ mit Gertrud in die Mitte genommen, als sie hierher gingen. Nun nickt sie nachdenklich zu den Worten der Älteren, die sich offenbar auskennt. "Ach so ist das..." murmelt sie. Dann lauschen alle Tristans Worten, und mit stolzgeschwellter Brust blickt sie sich in den Reihen um: Ja, alle sind gebannt von seiner Zauberstimme, hören ihm scheinbar atemlos zu, obwohl sie die Geschichte gewiss bereits in- und auswendig kennen, im Gegensatz zu ihr. Sie selbst kann sich dem Zauber auch nicht mehr länger entziehen, zieht die Beine an und umschlingt die Knie mit den Armen, während sie sich seiner spannenden Erzählung hingibt. So also war es... ist die Geschichte wahr? Erfunden? In Teilen wahr und ausgeschmückt? Auf jeden Fall gibt sie eine Erklärung dafür, wie die Menschen hier wurden, was sie sind, warum sich ihre Sitten so von jenen auf dem Festland unterscheiden und wie sie sich selbst sehen. Und falls die Geschichte wirklich einen wahren Kern hat, kann Lîf nicht abstreiten, dass sie langsam ein gewisses Verständnis für sie bekommt. Ja, als "Alberich" seine Mannen zum Aufbruch sammelt, ertappt sie sich dabei, in das anfeuernde Jubeln der anderen Weiber einzufallen, als sei sie selbst eine Tochter der Inseln. Ganz perplex verstummt sie, als die Männer plötzlich allen Ernstes auf die Zuschauerinnen zulaufen, sich die ersten gar wie Mehlsäcke über die Schultern werfen. "Was tun sie denn da?!" fragt sie Sigrid und Gertrud verwirrt. Erst als die mollige Gertrud sie am Arm zieht, beginnt sie zu begreifen: Sie spielen es tatsächlich nach..!

Erst schüttelt sie ungläubig den Kopf, doch dann sieht sie alle übrigen Weiber kreischend und jammernd "flüchten", Gertrud sucht sie lachend mitzuziehen, sogar die sonst so ernste Sigrid spielt mit – und Lîf grinst übermütig. Die Anspannung, die heilige Stimmung des Ortes und des Anlasses, derer man sich würdig zu erweisen hat, fallen von ihr ab. Die Menschen hier, so rau sie auch sind, scheinen sich ein Stück kindlicher Unschuld bewahrt zu haben, wie sie so ganz und gar in ihrem spielerischen Nachempfinden der Geschichte aufgehen können. Und das junge Weib Tristans lässt sich anstecken: Mit den Armen wild herumfuchtelnd fängt auch sie an, kreischend davonzulaufen, um Hilfe zu rufen und wilde Haken zu schlagen, um den eifrigen Verfolgern zu entgehen. Hinter der schlanken, zierlich gebauten Lîf bleibt die füllige Gertrud bald japsend zurück und landet über der Schulter eines Mannes, der unter der Last seiner Beute heftig wankt, sich aber nicht davon abhalten lässt, das strampelnde Weib davonzuschleppen. Lîf, lachend, keuchend, mit gerötetem Gesicht, fühlt sich wie ein kleines Mädchen und beginnt das Spiel zu genießen. Leichtfüßig, das Kleid gerafft, jagt sie vor den Männern her, die den durch ihre Kleidung arg verlangsamten Frauen absichtlich nicht im vollen Tempo nachhetzen und ebenso ihren Spaß zu haben scheinen. Geschrei und Gelächter rundum...

Da fällt ihr Blick auf den Jarl, und in einem Anfall von Übermut beschließt sie: Wenn einer sie rauben soll, dann nur "Alberich" persönlich! Kreischend bricht sie zu der Seite aus, an der er läuft, täuscht ein Straucheln vor und wird langsamer. In fröhlicher Erwartung ihrer "Gefangennahme" blickt sie sich keuchend über die Schulter um – ihr Herz pocht mittlerweile ziemlich heftig von dem Lauf, und sie ist mehr als bereit, sich den Rückweg tragen zu lassen. Scheinbar bleibt ihr Fuß an einem Stein hängen, und sie lässt sich vornüber fallen[1]. Der Aufprall im weichen Gras ist zwar nicht schmerzhaft, treibt ihr aber die ohnehin knappe Luft aus den Lungen. Japsend und benommen liegt sie am Boden, bis sie endlich wieder bei Atem ist und sich erwartungsvoll umschaut: Wo sind die Männer jetzt?
 1. Akrobatikwurf ganz knapp mit einer 11 geschafft (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1034316#msg1034316)
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 07.09.2017, 00:14:43
Die Frage hat Lîf sich kaum gestellt, da ist "Alberich" auch schon heran und reißt sie erst auf die Beine, dann hebt er sie vom Boden auf wie den bereits erwähnten Mehlsack, doch anders als ein Mehlsack jauchzt Lîf dabei vor lauter Übermut. Ha, ihr Plan ist aufgegangen! Und schon geht's im wilden Laufschritt wieder auf den Hügel zu. Dabei richtet Lîf ihr ganzes Bestreben darauf, sich nicht wie ein Mehlsack hängen zu lassen. Es soll sie bloß niemand mit einem Mehlsack verwechseln! Also spannt sie alle Muskeln an und stützt sich mit den Armen auf Gisles breitem Rücken ab und tatsächlich gelingt es ihr, mit der majestätischen Würde einer Galeonsfigur durch die Landschaft getragen zu werden, mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass sie in die falsche Richtung blickt. (Allerdings lässt ihre unkooperativ aufrechte Haltung Gisle keine andere Wahl, als ihr mit einer Hand kräftig unters Hinterteil zu packen und sie dort zu stützen, denn sonst würde sie ja an ihm herabrutschen.)

Ihre Ankunft bei den "Schiffen" wird mit tosendem Beifall gewürdigt und der Jarl wirbelt sie einmal im Kreis herum und verkündet laut: "Seht her, dies soll meine dritte Frau werden, denn für die dritte Insel fehlt mir noch eine!" Worauf abermals Jubel an den beiden aufbrandet, bevor Gisle seines Skalden Weib wohlbehalten neben sich auf den Boden stellt und dafür ihren Arm in die Luft reißt und sich abermals mit ihr zusammen feiern lässt.

Doch dann springen hinter fünf, nein sechs, nein acht Bautasteinen Gegner hervor, Tristan allen voran, wieder mit der hölzernen Krone auf dem Kopf, aber jetzt mit Schild gewappnet und dazu sein Schwert schwingend. Sofort haben auch Alberich und seine Mannen die Waffen zur Hand, und die beiden Seiten treffen mit fürchterlichem Geschrei und Getöse aufeinander. Die Weiber weichen verängstigt zurück—Gertrud und Sigrid klammern sich schluchzend aneinander und ziehen auch Lîf ein Stückchen fort von dem wilden Stechen und Hauen. Etliche Frauen, besonders die jüngeren, nutzen die Gunst der Stunde und versuchen abermals zu fliehen, aber Lîf hat nur Augen für Tristan. Hoffentlich verletzt er sich nicht! Wie wild die beiden, der Jarl und er, "Alberich" und "Ingjold" aufeinander einhacken. Autsch, den Schild voll ins Gesicht, das muss doch wehtun! Und muss der Jarl wirklich mit voller Kraft ausholen, wenn das nur ein Spiel sein soll? Tock!—da trifft der Jarl mal wieder mit voller Kraft Tristans Schild, klatsch!—da erwischt Tristan den Jarl am linken Handgelenk (welcher darauf seinen Schild fallen lässt und die Hand im Ärmel versteckt und nur mit der Rechten weiterkämpft). Ingjold lacht schon triumphierend, doch halt! Jetzt hat Gisle ihn von hinten in den Kniekehlen erwischt, dass Tristan auf den Knieen landet. Und da holt der Jarl auch schon mit dem Schwert aus und zielt auf Tristans Hals... Zisch! schneidet die Klinge durch die Luft und die Krone fliegt fünf Schritt weit durch die Luft und landet im Schnee, im blutbespritzen Schnee! Und der Jarl hat plötzlich einen Speer in der Hand, den ihm jemand angereicht hat, und er eilt der Krone hinterher und rammt die Speerspitze da irgendwo hinein und hebt den Speer und hält ihn hoch, darauf steckt Ingjolds Kopf mitsamt der Krone...

Entweicht Lîf ein Schreckenslaut oder bleibt er ihr in der Kehle stecken? Erkennt sie rechtzeitig, dass es nicht der Kopf ihres Gatten ist, der dort unter der Krone auf der Speerspitze steckt? Es ist nämlich bloß, sie muss ein paarmal blinzeln—ja, tatsächlich, sie sieht recht—eine besonders dicke Rübe. Tristan aber liegt noch dort, wo er zu Boden gegangen ist, mitsamt seines Kopfes. Er zwinkert ihr kurz zu, dann stellt er sich wieder tot. Darauf werden die versprengten Weiber ein zweites Mal eingefangen, in die "Schiffe" verladen, und die ganze Gesellschaft sticht in See.

Als man die Inseln erreicht, darf auch Tristan sich wieder erheben und den Rest der Geschichte erzählen. Lîf erfährt, dass sie "Thordis" heißt und tatsächlich Alberichs dritte Frau wurde (und im Herzen seine liebste, so behauptet zumindest der Erzähler.) Die Hochzeit wird ausgespielt, das Paar bejubelt, wieder und wieder, doch am eifrigsten, als es sich in eindeutiger Absicht zurückzieht—Gaja sei Dank nur hinter den nächsten Bautastein, wo "Alberich" seiner "Thordis" auf die Schultern klopft und anmerkt: "Brav gespielt!" Dann legt er aber sofort einen Finger auf die Lippen, um anzuzeigen, dass er und sie jetzt still sein müssen. Eine Weile lang haben die beiden nämlich nichts weiter zu tun, als dort hinter dem Stein außer Sicht zu bleiben, während Tristan den Zuschauern so detailreich von der Hochzeitsnacht erzählt, dass er den versammelten Männer damit manch einen brünstigen Laut entlockt und hier und da ein Weib in entzücktem Schauer aufseufzt. Nun ja, beim Disenfest dreht sich alles um die Fruchtbarkeit—der Erde wie der Weiber. So viel hat Tristan seiner Lîf vorher erklärt (und wusste sie auch von daheim, selbst wenn sie dort noch nie hat teilnehmen dürfen).

"Drei Söhne und vier Töchter gebar Thordis ihrem Alberich"—bei diesem Stichwort dürfen die beiden wieder hervortreten, was ausgiebig bejubelt wird—"und herrschte, wenn der Gatte auf einer der anderen Inseln weilte, mit großer Klugheit und zu aller Zufriedenheit über Seeholm. Unn, sein Weib auf Albion, gebar ihm fünf Söhne und eine Tochter, Aud, auf Ingla, je zwei von beidem. Und auch sein erstes Weib, Hallgerd, holte er einige Jahre später nach, nebst des gemeinsamen Erstgeborenen, den sie zu einem anständigen jungen Mann erzogen hatte. Ihnen richtete Alberich ein Heim auf Jarlsö ein, wo Hallgerd ihm noch zwei Söhne und eine Tochter gebar. Enkelkinder aber hatte er so viele, dass man sie gar nicht mehr aufzählen könnte."

Es folgt eine Aufzählung der Kinder seiner Brüder und seines Vetters und sogar der Vater, Ole Langbrok, hatte noch vier Kinder mit einem jungen Weib. Diese Aufzählung wird Lîf aber schnell langweilig. Ihr ist natürlich klar, warum es für die anderen wichtig ist: offenbar verfolgt jeder zweite hier seinen Stammbaum auf Alberich, die Brüder, den Vater oder den Vetter—oder, wenn man den Zwischenrufen glauben will, dann ist wohl jeder hier ein Nachfahre von einem der Fünf.

Dann ist die Geschichte am Ende und die Menge jubelt und lacht und beklatscht den Erzähler, die Akteure und sich selbst. Dann ziehen sich all die geraubten Weiber nach und nach zu den Feuern zurück. Tristan steht nicht weit von Lîf, mit Ole, Sven Blutaxt und dem Jarl im Gespräch vertieft. Die Augen der Männer leuchten noch von der Aufregung, es wird gelacht und auf Schultern geklopft. Gertrud winkt Lîf zu, sie solle sich ihr doch wieder anschließen.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 07.09.2017, 17:35:34
Fasziniert erlebt Lîf das ganze Schauspiel mit, nunmehr selbst eine zentrale Rolle einnehmend, ohne dass sie das vorausahnen konnte oder gar geplant hätte. Dennoch macht ihr alles großen Spaß: Sie vergisst ihre Vorbehalte gegen die Gemeinschaft auf den Inseln, die ihr noch immer fremdartig erscheint, und wird vorübergehend wieder zum Kind. Sie lacht, schreit und jammert gemeinsam mit den anderen Weibern, versucht ihre leicht verständliche Rolle so gut zu spielen, wie es ihr möglich ist, und so vergeht die Zeit plötzlich wie im Fluge! Nur als es zum Kampf zwischen den Mannsleuten kommt, ist ihr doch wieder bange um Tristan. Bei der Szene, in der sie für einen Moment glaubt, der Jarl habe ihren Mann tatsächlich geköpft, wankt sie benommen – alles Blut scheint aus ihrem Kopf gewichen zu sein, und die Welt, eben noch so bunt und schön und spannend, beginnt sich um sie zu drehen. Da erst begreift sie, dass auch das nur ein Spiel war – ein reichlich direktes und brutales für ihren Geschmack – und beruhigt sich langsam wieder. Immerhin scheint niemand bemerkt zu haben, wie sie totenblass wurde und fast stürzte, so stark war der Schreck, der ihr in die Glieder fuhr. Allenfalls mag es vielleicht Tristan gesehen habe, der am Boden liegend kurz zu ihr hoch zwinkerte...[1]

Ein wenig benommen liegt sie in des Jarls Armen, der sie ein zweites Mal davonschleppt und die junge Frau diesmal insofern kooperativer findet, als sie nicht mehr in der Stimmung ist, sich keck in die Höhe zu recken. Ganz allmählich gewinnt sie jedoch ihre Fassung wieder, während Tristan den Rest der Geschichte erzählt, von Alberich, seinen Weibern und deren unzähligen Nachkommen berichtet. An der spielerischen Darstellung der Hochzeit und der Brautnacht hat sie schon wieder Gefallen gefunden und kichert irgendwo zwischen Verlegenheit und Wagemut angesichts ihrer fiktiven "Erlebnisse". Sie fühlt sich an ihr Beisammensein mit Tristan erinnert, und nun, im Rückblick, wollen ihr seltsamerweise eher die schönen Momente als die einfallen, derer sie sich im Zorn erinnerte. Sie hat ja nicht gewusst, dass diese brachiale Version des üblichen Weiberraubs hier eine so tiefe Bedeutung und so lang zurückreichende Wurzeln hat! Bislang hatte sie es als bloße Gier angesehen, dass die Männer von hier auf dem Festland Weiber wie Vieh und Güter rauben, ohne jegliche Motivation außer der des Besitzenwollens, wie simple Räuber und Diebe. Während sie beim Jarl hinter dem Stein kauert und Tristan lauscht, beginnt sie aber zu verstehen, was man hier mit alledem verbindet: Den Fortbestand der Gemeinschaft, die Vergeltung für begangenes Unrecht und, vielleicht, auch so etwas wie eine sehr wilde, raue Vorstellung von Romantik.

Zu gern würde sie während des Vortrags ihren Tristan sehen, doch sie muss in ihrem Versteck bleiben, wie ihr "Entführer" ihr bedeutet. So ist sie darauf beschränkt, seiner Stimme zuzuhören, die sich, scheinbar körperlos, umso tiefer in ihr Gemüt drängt. Feenblut, Feenstimme, Zauberstimme... es hat wahrhaftig etwas bannendes, wie er erzählt. Als alles vorüber ist und sich die Versammlung wieder in viele kleine Grüppchen auflöst, zieht es sie machtvoll zu ihrem Mann. Doch sie merkt wohl, dass sich Weiber und Männer momentan an getrennte Feuer setzen, und so folgt sie Gertruds Wink zu einem der Feuer, die etwas abseits liegen. Dort unterhalten sich einige Weiber angeregt über die Darbietung, machen mitunter recht derbe Scherze. Gerade als sie sich dazusetzt, bekommt sie mit, wie eine lacht: "Habt ihr gesehen, wie er sich zielsicher Gundis geschnappt hat? Den hat's in den Fingern gejuckt, das schwör' ich euch bei der Großen Mutter!" Dazu ahmt sie ein gieriges Zupacken mit beiden Armen nach. "Ach, red keinen Unsinn! Der ist ja froh, wenn er's seinem eignen Weib noch besorgen kann, der alte graue Wolf! Wie lange hat sie schon kein Balg mehr gehabt, hm? Ich sage euch, die würd' ihn mit der Pfanne durchs Dorf jagen, wenn er 'ne andre reitet, und bei ihr kommt er nicht mal mehr in den Sattel!" Kreischendes Gelächter, und Lîf fragt sich errötend, wie diese Leute dermaßen zotig sein können, wenn sie sich andererseits eine fast kindliche Frömmigkeit bei ihren Riten bewahrt haben.

~~~

Bei den Männern tritt der Jarl auf Tristan zu, schlägt ihm krachend auf die Schultern und dröhnt: "So gut wie du erzählt keiner die Geschichte, seit der krumme Torben bei der Fahrt gegen Bächlands Küste mit einem Speer im Wanst die Große Reise antreten musste!" Einige Männer nicken und rufen: "Das wohl! Hört, hört!" Ja, der krumme Torben, ein Mann, der schon alt war, als Jarl Gisle noch jung war. Ein Buckliger, ein wahrhaft hässlicher Mann, der jedoch ein großer, verehrter, ja, womöglich einer der größten Skalden überhaupt war, von denen er je hörte! Trotz seines verwachsenen Körpers soll der Bucklige ein gefürchteter Kämpfer gewesen sein, mit gewaltigen Kräften, unbändig im Kampf, gelegentlich einem Blutrausch erliegend, in dem er Freund nicht von Feind unterscheiden konnte und jedem den Tod brachte – einer der gefürchteten Berserkir, wie man sagt: Männer, die in sich die Kraft und Wut eines gereizten Bären vereinen, die rasend und taub gegen jeden Schmerz alles um sich herum niedermetzeln, wenn die Rote Wut sie packt, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrechen. Ein solcher Mann soll der krumme Torben gewesen sein, aber auch, wann immer seine Sinne nicht vom Blutrausch getrübt waren, ein listiger Berater, ein wagemutiger Seemann und ein mitreißender Sänger. Der krumme Torben, er ist bereits jetzt eine halbe Legende. Mit ihm auch nur annähernd verglichen zu werden, kann einem Mann schon zu Kopf steigen. Und so lachen die anderen auch mit ihm, füllen ihm das Methorn, heißen ihn immer wieder auszutrinken und mit ihnen erneut anzustoßen auf die wahrhaft denkwürdige Saga, die er vorgetragen hat.
 1. ...und dem daher von Rechts wegen eine Wahrnehmungsprobe gegen eine Schwierigkeit gegen, sagen wir 12, zusteht – wenn er möchte, mit seinem +2 "Mein eigen Weib"-Bonus ;-)
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 08.09.2017, 14:58:11
Lîf widersteht also der Versuchung, sich kurz zu ihrem Gatten zu gesellen, und hockt bald darauf wieder mit Gertrud, Sigrid und anderen Frauen um ein Feuer herum. Sie selbst ist nachdenklich und lässt die anderen reden, ohne mehr als das ein oder andere Wort einzuwerfen, wann immer die Blicke erwartungsvoll in ihre Richtung gehen. Wie sie gerade so sinniert, ob ihre Geschlechtsgenossinnen auf den Inseln die hier soeben gefeierte Art des Weiberraubes tatsächlich auf eine wild-urtümliche Weise romantisch finden, bemerkt sie ein halbes Dutzend kichernder Mädchen, welche das eigene Feuer verlassen und zielstrebig—hierher? oder wohin sonst?—steuern, unterwegs aber innehalten und die Köpfe zusammenstecken. Da wird aufgeregt gewispert und gestikuliert, da schubst man sich gegenseitig unter Kichern an, gefolgt von noch mehr Schubsen und noch mehr Kichern. Mädchen, denkt Lîf, obwohl die so Bezeichneten allesamt in ihrem eigenen Alter sind, ob ein paar Jährchen mehr oder weniger. Helga, Sigrids Tochter, befindet sich mitten unter ihnen, dazu eine der beiden Verlobten von der gemeinsamen Bootreise, der Rest ist Lîf unbekannt. Ihr fällt sehr wohl auf, dass etliche Mädchen verstohlene Blicke in Richtung Tristan schicken—gefolgt von, man glaubt es kaum, noch mehr Kichern.

Doch auch die älteren Weiber an Lîfs Feuer sind ähnlich vergnügt. Mit einiger Faszination lauscht Lîf den derben Scherzen und zunächst verwundert es sie sehr. Reden die Weiber hier auf den Inseln immer so? Warum ist ihr das noch nicht aufgefallen? Gut, sie hat noch nicht so richtig viel Kontakt zu ihnen gesucht, aber trotzdem... Ach, aber womöglich nutzen sie auch nur die Gelegenheit aus, einmal ganz unter sich zu sein, einmal ganz frei so daherreden dürfen, wie's ihnen einfällt? Ohne auf Kinder achtgeben zu müssen, ohne still lauschendes Gesinde ringsum, und auch die Männer sind dort drüben wunderbar mit sich selbst beschäftigt—das kommt selten genug vor. Und weil's das Disenfest ist, das ja irgendwie ein Weiberfest ist, und überhaupt ein Fest, darf's gern auch mal ausgelassen anzüglich sein? Dreht sich nicht alles um das Erwecken brach liegender Natur zu neuem Leben? Ist's da ein Wunder, dass die Weiber über genau dies reden und scherzen? Ihre Überlegungen, die Lîf zunächst beruhigen, nehmen an diesem Punkt eine Wende, die sie nun eher beunruhigt: wenn das Inselvolk Alberichs Weiberraub schon mit derart kindlichem Eifer, derart detailverliebt nachspielt, wie mögen dann erst die Riten am vierten und fünften Tag aussehen, bei denen die Fruchtbarkeit Gajas wie des Weiberschoßes beschworen wird? Anders als in Lîfs Heimat, so viel ist sicher, weshalb nichts, das die Mutter ihr über das Diseblót erzählt hat, sie auf das Kommende vorbereitet haben könnte.

Die Sorge um sich selbst verfliegt aber, als sie bemerkt, wie ungehemmt ihr Gatte dort drüben dem Met zuspricht. Schon wieder hat wer ihm das Horn nachgefüllt! Wollen sie ihn betrunken machen? Warum fällt's ihm selber nicht ein, dass er jetzt besser damit aufhören sollte? Dass schließlich noch ein Tag voller Verpflichtungen vor ihm liegt, die er betrunken schlecht wird ausüben können? Soll sie doch zu ihm rüber und ihm zureden? Doch wie sähe das aus, vor allen Leuten! Vielleicht weiß Gertrud Rat oder Sigrid? So zaudert Lîf und ringt mit sich und ahnt dabei nicht, welchem Denkfehler sie unterliegt. Für sie ist klar: was aus einem Methorn getrunken wird, muss Met sein. Hätte sie Tristans Erläuterungen in Vorbereitung auf das Disenthing nur aufmerksamer zugehört, dann wüsste sie aber, dass auf der Thingstätte weder Bier noch Met erlaubt sind, das heißt nicht vor dem Disenopfer am vierten Tag, genauer als Teil des anschließenden Opferschmauses. Ihre Sorge um Tristan ist also völlig überflüssig: sein Horn enthält nur Wasser, und das braucht er reichlich, um seine trocken geredete Kehle anzufeuchten.

Unbemerkt von ihr hat sich inzwischen die Mädchentraube wieder in Bewegung gesetzt. Deren Ziel ist tatsächlich Lîfs Feuer, oder vielmehr: Lîf selbst. Völlig überrascht schaut die junge Fersländerin auf und findet sich umdrängt von lauter jungen Weibern, die herumdrucksen und zu Erklärungen anheben, dann wieder verstummen, dafür von einer anderen angestubst werden, die ihrerseits dann aber errötet, wenn die Blicke ihrer Freundinnen sie spöttisch herausfordern: dann red' halt du! Schließlich ist es Helga, ein hübsches blondes Mädchen mit dicken Zöpfen, die sich vordrängt und endlich zur Sache kommt.

"War es wirklich so aufregend, so abenteuerlich von Tristan geraubt zu werden?" beginnt sie und, als sei ein Damm gebrochen, sprudelt es hinterdrein: "War es wirklich so berauschend, von ihm überwältigt zu werden, seiner Leidenschaft nicht mehr standhalten zu können, sich ihm nach langem Ringen lustvoll zu unterwerfen?"

Bei solch deutlichen Worten traut sich die junge Verlobte rasch noch anzuschließen: "Was er da erzählt hat von der Brautnacht, ist das wirklich so? Und für die Braut, ist es wirklich schön, wenn der Mann all diese Dinge mit ihr tut?" Allzu deutlich klingt hier die Sorge heraus, wie wohl die eigene Hochzeitsnacht geraten wird. Zwei Jahre jünger als Lîf ist das Mädchen gewiss.

Doch bevor Lîf antworten kann, wenn sie sich überhaupt schon gefangen hat, tönt irgendwo aus den Tiefen der immer weiter anwachsenden Menge ein herzzerreißender Seufzer: "Hach, von Tristan täte ich mich auch gern rauben lassen!"

Worauf Helga in den nachfolgenden Tumult (es wird zugestimmt, von Tristans Schönheit geschwärmt, man versucht einander zu übertreffen) keck einwirft: "Ach, mir ist der ja zu alt. Aber ein schöner Mann müsste es schon sein, der dies bei mir wagen dürfte! Und stark und wagemutig! Aber vor allem schön!"

"Ach, Helga, was redest du da für einen Unsinn!" schilt da Mutter Sigrid. "Ob ein Mann schön ist oder nicht, tut nicht's zur Sache. Gut muss er zu dir sein, verlässlich, umsichtig, tüchtig... Und von der nächsten Fahrt heimkehren, das ist das Wichtigste. Schönheit, wie? Als käme es darauf an! Das sind dumme Flausen, die kleine Mädchen sich leisten können, aber keine verheirateten Frauen!"

Helga stemmt beide Hände in die Hüften und ruft schnippisch: "So? Flausen? Warum sollt' eine Frau sich keinen schönen Mann wünschen? Der ihr schöne Kinder macht? Gut und tüchtig und treu darf er gerne auch noch sein und verrückt nach mir!" Dann wendet sie sich wieder an Lîf: "Jetzt komm schon, erzähl, wie war es bei dir?"

Und das runde Dutzend drängt noch ein Stückchen näher heran, mit erwartungsvoll glänzenden Augen und in abrupter, atemloser Stille. Auch die älteren Weiber horchen auf.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 08.09.2017, 18:26:30
Am Feuer der Männer geht es ähnlich laut und lustig zu wie bei den Weibern, wenn auch das Gespräch sich nicht um dieselben Themen dreht. Vielmehr erinnert man sich nun diverser Anekdoten um den krummen Torben, von denen wohl sicher die Hälfte erfunden oder doch übertrieben ist, wie Tristan vermutet – einen wahren Kern haben sie aber alle, das weiß er. Der Vorgänger Olavs muss wahrhaft ein außergewöhnlicher Mann gewesen sein: kühn, bärenstark, ein mächtiger Kämpfer und dennoch weise und charismatisch. Alles, was ein Anführer haben muss, vereinigte er wohl in sich. Bis auf das männlich-schöne Antlitz, das man sich bei einem solchen unwillkürlich vorstellt. So viele Geschichten wie um seine mutigen, manchmal auch listigen Taten drehen sich um seine beispiellose Hässlichkeit und die derbe Art, wie er Spöttern ihre bösen Worte heimzuzahlen pflegte. "Ich weiß noch" sinniert der Jarl "wie er einmal mit einem Schmied vom Festland in Streit geriet. Ich war damals noch ein junger Bursche." Seine Zuhörer drängen ihn, weiterzusprechen, als er einen tiefen Schluck nimmt und sich gemütlich zurechtsetzt. Grinsend schüttelt er den Kopf. "Ja, das waren noch Zeiten – so einen Witz wie der alte Torben, den hat heute keiner mehr...""So erzähl doch endlich!" wird ihm von mehreren Seiten zugerufen, und der Jarl hebt an: "Also: Es gab da mal einen Schmied, Torold wurd' er gerufen. Der war vom Festland – einer von den wenigen Männern, die freiwillig herzogen. Denn wir brauchten dringend einen Schmied und hatten keinen. Deshalb bot man ihm ein gutes Stück Land, und er willigte ein. Nahm sich hier ein Weib und machte seine Arbeit gut."

Er deutet ein paar breiter Schultern an und fährt fort: "Dieser Torold war ein großer Kerl, stark wie zwei, und er war ein braver Mann. Er hatte nur einen Fehler: Er wusste nie, wann's klüger war, sein Maul zu halten. Eines Tages also kommt Torben zu ihm in die Schmiede und will, dass er ihm ein Schwert macht, denn Torben kämpfte wie kein anderer, und seine alte Klinge war voller Scharten. Da lacht Torold und fragt, ob er eine gerade Klinge will oder ob nicht eine besser zu ihm passt, die so krumm sei wie er." Einer platzt in Gisles Rede: "Darauf hat er dem frechen Kerl vor Wut bestimmt den Schädel eingeschlagen, was?" Begeistertes Johlen. Doch der Jarl schüttelt den Kopf. "Nein. Mit keiner Wimper hat er gezuckt. Doch dem Schmied hat er gesagt, er soll ihm hinaus ins Freie folgen. Dort hat er ihn aufgefordert, ein großes Fass hochzuheben, das randvoll mit Wasser war. Na, der Schmied keucht und schnauft und kriegt einen roten Kopf, aber er hat's nicht einen Fingerbreit anheben können. Und er war ein Stier von einem Kerl, das könnt ihr mir glauben!" Wieder macht er eine Pause, um zu trinken, und Tristan als geübter Erzähler kommt der Verdacht, dass der Jarl das absichtlich tut, um die Wirkung seiner Geschichte zu steigern. Schließlich erzählt er weiter: "Endlich musste er aufgeben. Und Torben? Der nahm das volle Fass, brüllte wie ein angestochener Eber, stemmte es mit einem Mal hoch und stülpte es dem Schmied über den Schädel, dass es nur so krachte! Dann sagte er, ein Hemd aus Holz passe besser zu seinem Kopf." Nun wiehern die Männer und schlagen sich auf die Schenkel. Das ist Humor nach ihrem Geschmack!

~~~

Lîf, die inmitten der Weiber sitzt und gelegentlich zu den Männern hinüberspäht, fallen die Blicke der Mädchen erst reichlich spät auf. Sofort wandern ihre Mundwinkel nach unten, und eine steile Falte bildet sich auf ihrer Stirn. Was haben diese Weiber dauernd zu ihrem Tristan zu starren?! Sicherlich, die alte Esja selbst soll gesagt haben, dass er treu sei, und wer ist Lîf, die Worte einer Weisen Frau anzuzweifeln... aber ein Mann ist nun mal ein Mann, und den muss man nicht unnötig in Versuchung führen. Sie allein ist sein Weib, die anderen müssen eben zusehen, wem sie zufallen! Zum ersten Mal wird sie sich bewusst, dass sie Eifersucht verspürt. Einige unter diesen jungen Dingern sehen durchaus hübsch aus, haben stramme Formen, die sich unter ihren Kleidern abzeichnen und für Männeraugen wohl Anziehungskraft besitzen müssen. Kritisch blickt sie an sich selbst hinab und vergleicht missmutig: Die Flut ihrer roten Locken, an die kommt bestimmt keine andere heran, auf die war sie schon immer stolz. Doch ansonsten... schlank ist sie, fast schon zierlich, und sie weiß sehr gut, dass das nicht dem Geschmack der meisten Männer entspricht. Stramm sollen die Mädchen sein, mit einem mächtigen Busen und einem prallen Hintern, gesund, frisch und rotwangig, mit breiten, fruchtbaren Hüften. Und da hat, es lässt sich nicht leugnen, ein Großteil dieser kichernden, gackernden Hühner mehr zu bieten als sie. Halb misstrauisch, halb besorgt reckt sie den Hals, um zu sehen, ob Tristan etwa einer von denen schöne Augen macht..! Aber er ist nicht einmal richtig zu sehen, sitzt im Kreis seiner johlenden, offensichtlich ausgelassenen Kameraden. Sie scheinen mit irgendetwas anderem beschäftigt, ohne die Blicke der Mädchen auch nur zu spüren. Männer – Große Mutter, verstehe die nur einer..! Seufzend wendet sie sich wieder dem Feuer zu, wärmt ihre Hände über den Flammen und versucht, nicht mehr an den Stich zu denken, den ihr das offenkundige weibliche Interesse an Tristan versetzt hat.

Ratlos sieht sie auf und zwischen ihren unerwarteten Besucherinnen hin und her, als sie Bewegung rund um sich hört und sich von Weibern umlagert findet. "Was ist los – was wollt ihr?" fragt sie ein wenig kühl, hat sie ihnen diese Blicke doch noch nicht vergessen. Die Erklärungen und vor allem die Fragen, die daraufhin auf sie einstürmen, lassen sie aber vor Staunen Mund und Augen aufreißen. "Wa... was?!" stottert die junge Frau und sieht sich hilfesuchend zu den älteren Weibern am Feuer um. Das können diese albernen Dinger doch nicht wirklich ernst meinen! Sie soll über Tristan und sich selbst erzählen, hier, vor allen?! Ihre Wangen flammen rot auf, als sie den Mund wieder zuklappt und mehrmals heftig blinzelt. "Aber das könnt ihr doch nicht ernsthaft von mir..." beginnt sie, schluckt, verheddert sich und versucht noch einmal neu anzufangen. Fassungslos starrt sie nach oben, sieht in lauter gerötete, aufgeregte, erwartungsvolle Mädchengesichter. Gütige Mutter... sie glauben tatsächlich, er habe Lîf in einer Art romantischen Ringkampfs bezwungen oder dergleichen..! Wütend setzt sie an, ihnen zu erklären, dass es erstens nicht so spektakulär war, wie sie glauben, und dass es sie zweitens einen feuchten Kehricht angeht, wie Lîfs Hochzeitsnacht im Detail verlief. Da realisiert sie, dass sie damit womöglich die Träume und Hoffnungen von jungen Frauen zerstören würde, an deren Stelle sie selbst sehr wohl stehen könnte und die von der rauen Wirklichkeit des Lebens als Eheweib wohl noch früh genug eingeholt werden...

Wie lange ist es her, dass sie von zuhause fort ging, heimlich, mit vagen Ideen vom hübschen, kühnen und edlen Verwundeten, die ihr im Kopf herumspukten, von dem Mann ihrer Träume, den sie gesundpflegen, der sich in sie verlieben und mit sich nehmen würde? Von dem Heroen, auf dessen starken Armen sie davongetragen würde in eine Zukunft voller romantischer, naiver Nebelgebilde? Sie ist im Grunde eine von diesen unerfahrenen jungen Gänsen mit Wolken im Kopf – eine von ihnen. Und weil sie so sind, wie Lîf bis vor kurzem war, sagt sie sich resigniert, würden sie auch gar nicht glauben, wenn sie leugnet, dass es sich ganz exakt so abgespielt hat, wie ihre mädchenhaften Fantasien es ihnen vorschwärmen. "Nun..." meint sie zögerlich und lässt ihr langes Haar durch eine Hand gleiten, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Nein: Auch die alten Weiber schauen sie gespannt an und machen keine Anstalten, die jungen Dinger aufzuklären – obwohl sie es doch besser wissen müssen! Lîf seufzt lautlos. Oder doch: Sigrid, die äußerlich so raue Sigrid ist es, die ihr wieder einmal zu Hilfe kommt. Aber vergeblich, selbst die eigene Tochter glaubt ihr nicht. Also bleibt es an dem Rotschopf hängen. Nun denn... sie nickt mehrmals, um sich selbst Mut zu machen, und beschließt sich dieser Aufgabe zu stellen.

Vielleicht ist es auch der Hafer, der sie sticht, denn kaum hat sie zu sprechen begonnen, da wird sie keck und versucht es ihrem Tristan nachzutun, der sein Publikum stets in Bann zieht mit einer Mischung aus Wahrheit und Erfindung, aus ernsten Lehren und spannenden Abenteuern. "Oh, ihr dürft nicht glauben, dass es nur schön war..." beginnt sie mit gesenkter Stimme und sieht, wie alle rundum die Ohren spitzen. "Als ich ihn zum ersten Mal sah, blieb mir fast das Herz stehen vor Schreck – von Staub und Blut war er bedeckt und sah zum Fürchten aus! Und wie sein Auge auf mich fiel, mit einem kühnen, entschlossenen Glanz, da gaben meine Beine unter mir nach. Er trat auf mich zu, packte mich mit einer schrecklichen Kraft, riss mich zu sich empor..! Und sein Blick, sein Blick..! Er bannte mich auf der Stelle, und ich wusste, ich war in dieses Mannes Hand, ausgeliefert auf Gedeih und Verderb. Würde er mich töten, mich rauben..? Ich wusste es nicht..." Und je länger sie erzählt, desto mehr gestikuliert sie mit den Armen, hebt ihre Stimme an den kritischen Stellen, flüstert beinahe, wenn sie gespannte Erwartung beschreibt... Auf eine schwer zu beschreibende Weise geht die Geschichte, in der sie grundsätzlich die Wahrheit schildert, aber reich mit ihrer Fantasie ausgeschmückt, mit ihr durch: Sie reißt nicht nur ihrer Zuhörerinnen mit, sondern auch sich selbst, bis sie ganz atemlos ist und ihr Herz hämmert, als durchlebe sie genau jene Szenen, die sie beschreibt.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 09.09.2017, 21:26:52
Mit dem legendären Torben verglichen zu werden, ist einerseits die höchste Ehrbezeugung, die man als Skalde auf den Inseln sich erhoffen kann, was Tristan durchaus so empfindet und ihm entsprechend den Kamm schwillen lässt. Andererseits lässt es ihn auch ein wenig verzweifeln. Torben, soviel meint er aus dessen Schriften herauslesen, die in Olavs Haus, jetzt Tristans, eine ganze Truhe füllen, war ein kompetenter Gesetzessprecher, dagegen bestenfalls ein mittelmäßiger Dichter. Des Mannes Versepen—unerträglich. Die kürzeren Werke sind etwas besser, wenn man auf zotige Geschichten und Spottverse steht. Aber den Leuten hier gilt Torben als Leitstern, als Inbegriff der Sanges-, Dicht- und Erzählkunst, es ist kaum zu fassen! Und doch bleibt einem nichts übrig, als ihnen zuzustimmen und inbrünstig zu seufzen: "Ach, ich wünschte, ich hätte ihn noch erleben dürfen!" Aber da der gute Mann ungefähr zur selben Zeit starb, als Tristan selbst das Licht der Welt erblickte, ist ihm ein Zusammentreffen mit diesem derben Verseklopfer—Gaja sei Dank!—erspart geblieben.

Für Tristan ist es also eine schlechte Belohnung, dass er sich gleich nach seiner so perfekten Inszenierung der Alberich-Saga alte Geschichten von Torben anhören muss, aber er tut es natürlich brav und lacht an den richtigen Stellen oder klatscht sich auf die Schenkel. In Gedanken dagegen kann er nicht anders, als die erzählte Geschichte zu zerpflücken und dabei all die kleinen Unglaubwürdigkeiten bloßzustellen oder einfach nur, durch das ständige Hinterfragen, den Effekt gänzlich zu ruinieren—wie gesagt, für sich selbst, ganz still in seinem Kopf. Um nur ein Beispiel zu nennen: Hätte Torold tatsächlich ein solch schweres Fass auf den Kopf bekommen, wäre er umgefallen, und zwar tot. Oder hat Torben es ihm übergestülpt? Aber diese Bewegung hätte ganz andere Muskeln strapaziert, die einen solchen Kraftakt nicht gewöhnt sind, das hätte auch Torben nicht geschafft. Überhaupt, was Tristan an solchen Geschichten gerne einmal ärgert, sind die Vagheiten. Was hat Torben denn nun wirklich zu Torold, dem Schmied gesagt? Forderte er ihn auf: "Heb' dort einmal das große Fass mit Wasser auf!" oder zeigte er auf das Wasserfass und sagte: "Heb dort einmal das große Fass auf!" Dieser Unterschied ist nichts weniger als entscheidend. Wenn Tristan sich nämlich auf einen solchen Händel mit dem starken Schmied eingelassen hätte, so wären seine Worte letztere gewesen und die Wette, dass er es wohl stemmen wolle, falls Torold es nicht schaffe. Der Schmied hätte darauf vergeblich versucht, das schwere Fass mit dem Wasser hochzuheben. Tristan dagegen hätte das Fass umgekippt, auf dass alles Wasser abfließe, und es dann über den Kopf gehoben, denn: "Niemand hat gesagt, du sollst das Fass mitsamt dem Wasser hochheben! Wenn du dich recht erinnerst, ich sagte bloß: heb das Fass hoch! Wer nicht recht zuhört, ist halt der Dumme!"

Als junger Mann hat Tristan derlei Herausforderungen oder Wetten immer auf Finten in ihrem Wortlaut hin untersucht, rechnete stets mit pfiffigen Fallen—vergebens. Die Inselmänner meinten tatsächlich immer nur das Naheliegendste. Versteckte Bedeutungen, sprachliche Tricks, Doppeldeutigkeiten sind ihnen gänzlich unbekannt. Gewitztheit wird wohl geschätzt, aber wo Tristan sie als dünne, scharfe, wendige Klinge versteht, halten die Inselmänner sie für eine kraftvoll geschwungene Axt—man betrachte Torbens "Witz" in Gisles Erzählung. Mit diesem kann Tristan sich nicht messen, ja, er erkennt nicht einmal, was daran der "Witz" sein soll, was zuzugeben ihm natürlich nicht einfiele.

"Ach, ich wünschte, ich wär' dabei gewesen!" ruft er also und schüttelt betrübt den Kopf.

Dies ist vielleicht der größte Unterschied zwischen Tristan und den Inselmenschen, die Kluft, die sich einfach nicht überwinden lässt: die Bodenständigkeit hier, die Einfachheit im Denken, die kindliche Direktheit, während er die Feinheiten und Spitzfindigkeiten liebt, Finten und Spielerei, Nuancen und Subtilitäten. Wobei... nach sechzehn Jahren auf den Inseln, da er diesen Dingen nicht frönen durfte, da er sein diesbezügliches Interesse und Talent vielmehr verstecken und herunterspielen musste, ist er leider auf dem besten Weg, so stumpf, derb und durchschaubar, so wortwörtlich in der Rede zu werden wie das Inselvolk. Aber warum auch nicht. Er lebt hier, und er lebt hier gut, so muss es also sein, was will man machen.

Und außerdem hat er ja jetzt seine Lîf. Mit ihr kann er ganz anders reden. Freier zum einen, zum anderen versteht sie ihn besser. Am Tag nach der Hochzeit hat sie ihn zum Beispiel überrascht, als sie über eine von ihm so hingeworfene Bemerkung lachte. Also erstmal hat es ihn überrascht, dass sie lachte—es war das erste Mal und er hat sich gleich vorgenommen, sie möglichst oft zum Lachen zu bringen, denn es wärmte ihm das Herz. Als zweites aber hat es ihn erstaunt, dass sie den Scherz verstanden hat. Niemand auf den Inseln hätte ihn verstanden, allenfalls mit Ausnahme der alten Esja, die durchschaut jeden und weiß also auch, wann jemand scherzt, aber außer ihr hätte jeder, Ole eingeschlossen, es wortwörtlich verstanden und dumm nachgefragt, ob Tristan das jetzt ernst meine, oder aber ihn belehrt, dass was er da sage völliger Quatsch sei, in echt verhielte es sich damit nämlich so und so. Nicht Lîf. Sie sah ihn einen kurzen Moment verblüfft an, dann prustete sie los.

Er reckt den Kopf, um sie an ihrem Weiberfeuer zu erblicken, doch findet er sie so dicht umdrängt mit jungen Frauen ihres Alters, dass er nur hin und wieder ihr rotes Haar aufleuchten sieht zwischen wild gestikulierenden Händen.

Oh, das ist gut, dass sie hier Anschluss an ihresgleichen findet, freut er sich und beglückwunscht sich zu seinem Mut, sie schon zum diesjährigen Disenthing mitzubringen. Und wie fein sie vorhin mitgespielt hat! Als es nämlich losging mit dem Weiberraub, da bekam er plötzlich einen Schreck und dachte, oh weh, hoffentlich ist das nicht zu viel für sie, hoffentlich sieht sie sich nicht wieder mit ihren Heilerinnenschwestern unterwegs und erlebt unser harmloses Spiel wie den Überfall, der so schrecklich für sie war, keine sechs Monde ist er her. Oh, was hat ich Angst, dass sie vor Wut platzen würde und womöglich gar auf ihren Häscher einprügeln oder aber echte Furcht bekommt! Gejauchzt hat sie statt dessen... ganz rot vor Aufregung war ihr Gesicht... und wie stolz sie auf der 'Hochzeit' das Jarlsweib gab. Meine tapfere Thordis! Nein, Lîf. Kein anderer Name passt zu ihr. Meine Lîf.

Ein Schlag auf die Schulter reißt Tristan aus seinen Betrachtungen. Jarl Gisle hat sich bereits erhoben. "Ja, dann wollen wir mal. Tristan, auf." Sofort springt Tristan auf und folgt dem Jarl zur Gerichtsstätte.

~~~

Die Augen der Mädchen um Lîf werden immer größer, während sie erzählt. Junge Frauen, verbessert sie sich. Und die meisten von ihnen, zumindest aber die Hälfte, dürften verheiratet sein, obwohl dieses Mal wohl besonders viele Verlobte dabei sind, wie Tristan daheim stöhnte. Lîf hat nicht ganz begriffen, warum dieser Umstand ihren Mann stöhnen ließ, und daher etwas schnippisches erwidert, doch in ihrer jetzigen Lage kann sie ihm womöglich etwas leichter vergeben, dass er ihre Alters- und Geschlechtsgenossinnen als "eine ganze Horde junger dummer Dinger" bezeichnet hat. Sie selbst kann sich ja noch relativ leicht unter diese "Horde" mischen, als eine der ihren, doch welche Chance hätte ein Mann, sich dagegen durchzusetzen? Noch dazu einer, für den offenbar die Hälfte dieser Dinger schwärmt! Ein entsprechendes Bild drängt sich vor ihr inneres Auge. Armer Tristan!

In ihrer Erzählung ist sie inzwischen auf Jarlsö angekommen, wo ihr kühner Räuber ihr eine Kammer in seinem Haus zuweist, gleich vor der seinen...[1]

Ihre Zuhörerinnen kichern gehorsam und tuscheln wohl auch ein wenig und beugen sich noch ein wenig weiter vor, um auch ja nichts zu verpassen. Nur die Verlobte, die zuvor schon die ängstliche Frage gestellt hat, verliert die Nerven und will vorgreifen: "Aber wann wusstest du endlich, dass du keine Furcht vor ihm zu haben brauchst?"
 1. Wenn ich von "Kammer" spreche, muss nicht unbedingt ein abgetrennter Raum gemeint sein. Davon gibt es normalerweise ein oder zwei in jedem Langhaus, nämlich an den Stirnseiten (wenn die Tür in der Mitte ist), wovon die eine aber häufig der Stall ist, oder nur eine Kammer, wenn die Tür selbst an einer Stirnseite ist—wie bei Tristans Haus (und der Stall getrennt). Aber die breiten Schlafbänke auf der einen Seite des Hauses sind oft durch hohe Bretterwände voneinander getrennt, das mag schon als 'Kammer' durchgehen. s. Bilder "Tristans_Haus" und "Tristans_Haus4" im Info-Faden.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 11.09.2017, 14:28:27
Von den anderen Männern scheint in der Tat nicht einer Tristans gelegentliches Augenrollen zu bemerken. Sie lachen aus vollem Hals und amüsieren sich über den brillanten Humor des toten Skalden. Natürlich kommen die lobenden Worte seines jungen Nachnachfolgers gut an: Man klopft Tristan immer wieder in männlich-kerniger Art auf die Schultern, wünscht ihm ein langes Leben, stramme Söhne – meist in Verbindung mit mehr oder minder eindeutigen, wenn auch gutmütigen Anspielungen auf sein junges Weib – und natürlich dereinst einen Ruhm, wie Torben der Krumme ihn sich erwarb. Der Jarl sitzt breitbeinig inmitten seiner Männer, nickt immer wieder zufrieden und macht nicht den Eindruck, als seien ihm irgendwelche Ungereimtheiten in seiner Geschichte aufgefallen oder als wären solche in der Lage, ihm die Moral daran zu verderben. So sind die meisten Geschichten, die hier an den Feuern erzählt werden: Bildgewaltig müssen sie sein, Leidenschaften erwecken, ganz gleich, ob es sich nun um die detailverliebte, blutige Schilderung eines epischen Kampfes dreht, in dem man mit Genuss die Flugbahn jedes einzelnen Zahns, der Geräusch beim Herausreißen von Gedärmen und ähnliche Heldentaten schildert, bei denen Tristans Magen sich gelegentlich mit heftigen Bewegungen meldet, oder ob man eine echte Rûngard-Romanze schildert. Was in den Augen der Inselleute nichts anderes heißt, als dass irgendwo in der Geschichte ein Weibsbild vorkommt, nach Möglichkeit mit dicken, bodenlangen Zöpfen – denn schönes, dichtes und langes Haar gilt als ein überaus attraktives frauliches Attribut – einem Becken wie ein Pferd und einer Oberweite, bei der das Zupacken so richtig Freude macht. Und ebenso selbstverständlich ist, dass der Held das Frauenzimmer allen Bemühungen von Rivalen, uneinsichtigen Eltern oder lüsternen Riesen zum Trotz für sich erobert, es als gute Beute nach hause schleppt und dort die zunächst Widerstrebende am Ende auf sein Lager bettet, wo sie seiner Stärke erliegt und alsbald beginnt, ihm Kind auf Kind zu schenken.

Das sind die immer wieder beliebten Kernthemen, die in unzähligen Variationen begeistern. Derb und kernig, wenn es Tristan gelinde ausdrücken will. Wie realistisch die Handlung jeweils ist, tritt dagegen völlig in den Hintergrund. Da treten Figuren auf, die den krummen Torben noch in den Schatten stellen: Helden, die schiffsgroßen Seetrollen an den Hals springen, um sie mit bloßen Fäusten zu erwürgen, Jungfrauen, die in einer Nacht dem landlosen, armen Helden einhundert schöne Hemden nähen als Brautgeld, mit der sie sodann von den Eltern losgekauft werden (die natürlich nicht ahnen, dass die listige Tochter ihnen dafür die eigenen Stoffvorräte geplündert hat und der Bräutigam ihnen im Grunde nur ihr Eigentum zurückgibt)... "Wart's nur ab: Du wirst dir schon noch einen großen Namen machen" versichert der Jarl Tristan in einem ruhigeren Moment. "Jetzt, wo du ein Weib hast, das fleißig spinnt und webt, während du auf Fahrt bist, das auf deine Vorratskammer achtet, die faulen Mägde scheucht und dir die Bälger erzieht, da hast du alles, was ein Mann haben muss in der Heimat. Das andre, das kommt auch noch, glaube mir!" Grinsend stößt er ihn in die Seite und fügt, wohl in Erinnerung an das Schauspiel, leiser hinzu: "Und ein strammes Weibchen hast du da, schön und verständig. Glückspilz! Wenn sie erst mal noch ein wenig Fleisch ansetzt, wirst du sie eifersüchtig vor allen Schürzenjägern hüten müssen." Für Gisle steht klar fest, dass Tristans Lîf jene Rolle einnehmen wird, die allen Weibern auf den Inseln vorbestimmt ist: Die der Hausfrau, der Verwalterin der gemeinsamen Güter und der Mutter seiner Kinder. Wahrscheinlich wird sie als Weise Frau auch die Hebamme und das Kräuterweib des Ortes werden, auch das akzeptierte Weiberpflichten. Doch dass sie sich von ihren Geschlechtsgenossinnen in irgendeiner Weise unterscheiden könnte, kommt gewiss außer Tristan niemanden in den Sinn. Und, nun, vielleicht Esja, bei der man nie sicher sein kann, was sie sieht und was sie sich dazu denkt. Und das schlimmste ist, dass der Jarl und seine Männer es nicht einmal böse meinen: Für sie ist es nur eine Folge der Tatsache, dass Lîf nun als eine von ihnen akzeptiert ist. Sie soll so leben wie alle Weiber hier, was doch nur gottgefällig, recht und billig ist. So ihre einfachen Gedankengänge, die dem Skalden kein großes Geheimnis sein können.

Dann wird der Jarl übergangslos ernst, und es geht zur Gerichtsstätte.

~~~

Sie weiß selbst, dass es Eitelkeit ist, aber wenn man einem Weib einen Fehler mit einem Augenzwinkern verzeihen kann, dann doch wohl diesen? Lîf beginnt es zu genießen, wie die jungen Frauen ihr an den Lippen hängen, während ihre Geschichte ein Eigenleben zu entwickeln beginnt, in dem Tristan Dinge sagt und tut, die er nicht tat oder sagte, sondern die sie getan und gesagt hätte, wäre sie er gewesen. Aber das schadet der Stimmung nicht, weder ihrer noch der ihrer Zuhörerinnen. Im Gegenteil: Sie merkt, dass die anderen Weiber begeistert sind von diesem Mann, der so handelt, wie es sich ein Weib nur erträumen kann! Sicher glaubt sie im Blick mancher der Älteren ein nachsichtiges Schmunzeln zu sehen, einen Ausdruck, der zu besagen scheint: Ich durchschaue dich, honigzungige Schwindlerin. Doch will ich von Herzen gern so tun, als glaubte ich dir, erzählst du doch in einer Weise, die uns allen heut Nacht angenehme Träume bescheren wird. Die jungen Weiber dagegen machen ganz den Eindruck, als sei bei ihnen der Zweifel, die Lebenserfahrung, so viel geringer, dass sie es fertigbringen, ihr wirklich zu glauben, weil sie schlicht glauben wollen. Die Art, wie die eine begeistert lächelt, die andere die Hände andächtig faltet, die dritte ergriffen seufzt: Entweder sind diese Mädchen alle durchtriebene Schauspielerinnen – unwahrscheinlich bei den Menschen der Inseln und ihrer direkten Art – oder sie nehmen ihre Worte tatsächlich auch in den Details für bare Münze. Doch Lîfs schlechtes Gewissen hält sich in Grenzen. So etwas bezeichnet man hier nicht als Lügen, nicht einmal als Übertreiben. Es gehört einfach dazu!

Endlich hat sie ihre Ankunft auf Jarlsö erreicht, nachdem sie sich lange und mit allseitigem Genuss bei der Schilderung von Tristans herausragender Rolle unter den Männern aufgehalten hat – denn erträumt sich nicht jedes Weib, dass gerade der Ihre der kühnste, der stärkste und angesehenste unter den Männer ist? Und bei der Erzählung des heißblütigen Rotschopfs fällt es wohl keiner der Zuhörerinnen schwer, entweder ihren Mann anstelle Tristans zu sehen – oder aber sich an der Lîfs. Aufgeregtes Kichern, unterdrücktes Drängen nach Details, Getuschel, leuchtende Augen... die Stimmung in der kleinen Weiberrunde ist ausgelassen. Nur die Jungfrau, die bald verheiratet werden soll, dauert die angehende drudkvinde: Lîf spürt, dass es für dass andere Mädchen wirklich wichtig ist, zu erfahren, oder doch wenigstens einen Hinweis zu erhalten, was der Mann in der Hochzeitsnacht mit einem anstellt und ob es wehtut, ob das frischgebackene Eheweib in dieser Nacht Tränen der Freude oder des Schmerzes vergießt. Männer, erinnert sie sich, sind Wesen, von denen ein junges Weib erschreckend wenig weiß, ehe es zum ersten Mal das Lager des seinen geteilt hat. Und auch dann bleiben sie dem weiblichen Verstand oft ein Rätsel. Wie soll sie die junge Frau beruhigen, wo doch ihre begrenzten eigenen Erfahrungen kaum auf deren Lage anwendbar sind? Denn Lîf unterscheidet sich von allen anderen Weibern auf den Inseln, und Tristan erst recht von den anderen Männern, wie sie inzwischen immer mehr ahnt. Dieses Mädchen wird keinen Tristan heiraten, sie wird ihrem Mann wohl mehr untertan sein müssen, und wenn es Pech hat, mag es sein, dass es noch oft weinen wird... was Lîf ihr nicht wünscht, aber dennoch... "Nun ja" beginnt sie zögerlich und gibt vor, nachdenken zu müssen. "Ich glaube, es war an jenem Tag, als er mir sagte, dass er mich zum Weib begehrte. Ich war doch schon seine Magd und hätte ihm als solche zu Diensten sein müssen. Aber er wollte mich an seiner Seite. Wenn ein Mann ein Weib und nur dieses Weib begehrt, so muss sie keine Angst vor ihm haben" behauptet sie kühn. Ob sie da gerade blanken Unsinn erzählt? Vermutlich. Aber wenn es die Angst der jungen Frau lindern hilft, ist ihr jedes Mittel recht. Sanft fasst sie deren Hand, tätschelt sie und versichert: "Und wenn er nur dich will, wirst du es gewiss im Herzen spüren, dass er es aufrichtig meint, sobald er dich von deinen Eltern begehrt und für dich zu bieten beginnt."
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 12.09.2017, 18:32:34
Der Erzähler irrt, wenn er meint, die Gedankengänge des Skalden unterschieden sich arg von denen seiner Fahrtenbrüder betreffs der Rolle, die Lîf in seinem Heim spielen werde. Oh, Esjas Warnung, als Gatte einer drudkvinde würde er es nicht leicht haben, vernahm er wohl, aber entweder nimmt er sie nicht so ernst, wie er es besser täte, oder er verkennt die mögliche Tragweite. Dass sowohl Esja als auch die beiden drudkvinder von Ingla und Seeholm unverheiratet sind, weiß er zwar, aber da es diverse Töchter gibt—Esjas eigene ist bedauerlicherweise vor drei Jahren ertrunken—geht er naiv davon aus, dass es wohl einmal Gatten gegeben haben muss, diese aber längst verstorben seien. Diesbezüglich nachzufragen käme ihm niemals in den Sinn. Und so malt er sich seine Zukunft mit Lîf in denselben oder jedenfalls sehr ähnlichen Bildern aus wie jeder andere Inselmann. (Deshalb weiß er trotzdem, dass sie etwas besonderes ist, warum sollte sich das ausschließen?) Er erwartet wohl einfach, dass sie sich hier einleben und anpassen wird, genau wie er es tat, und sich also klaglos damit abfindet, eines Tages vielleicht sogar stolz darauf wäre, ein Inselweib zu sein.

Aber jetzt muss er sich erst einmal um all die anderen Inselweiber kümmern, vor allem um die ganz jungen. Sobald der Jarl den Thingfrieden ausgerufen und die Thingordnung in Erinnerung gerufen hat, ist Tristan nämlich dran. In welchem Sinne des Wortes, bleibt abzuwarten.

~~~

Die Miene der jungen Verlobten hellt sich bei Lîfs Worten auf. "Oh, dann wird wohl alles gut werden", seufzt sie erleichtert. "Vater war nämlich sehr zufrieden mit dem Handel. So viel, wie mein Ragnar für mich abzudrücken bereit sei, damit hätte er niemals zu rechnen gewagt, wo ich doch weder hinten noch vorne was hätte, das einen Mann zum Zupacken verlocken könnte. Und daherschnattern tät ich auch dümmer als eine Gänseschar!" Lîf kommt der plötzliche Verdacht, dass es der jungen Frau bei ihrem Ragnar vielleicht sogar besser ergehen könnte als daheim beim Vater. "Außerdem bist du fast genauso flach wie ich", plappert diese weiter, "und Tristan scheint es nichts auszumachen, so gern wie er da zupackt, jedes Mal wenn er dich kurz heranzieht, also wird mein Ragnar schon wissen, was er will, und deshalb auch nicht bitterlich enttäuscht sein, wie Mutter befürchtet, wenn ich das erste Mal nackt vor ihm stehe." Wie man einerseits so schüchtern sein kann, so nichtsahnend, und andererseits ohne zu erröten auf diese Weise daherreden, ist für Lîf ein Rätsel. Gleichzeitig geht ihr allmählich auf, wie genau sie (und Tristan) hier von allen Seiten beobachtet werden. "Und überhaupt habe ich gar keine Angst mehr, in Hóp leben zu müssen, so weit weg von daheim, wenn ich jetzt schon so viele von euch kenne!" Sie drückt Lîf beide Hände, dann Helga, welche darauf das plappernde Mädchen kurzerhand umarmt und ihr versichert, sie sei sehr willkommen in Hóp. Dabei fällt auch endlich der Name der jungen Verlobten, nach dem Lîf sich nicht zu fragen getraut hat, weil diese sich auf der Bootsfahrt bereits vorgestellt hat, aber Lîf konnte sich einfach nicht alle Namen merken—so, Elske heißt sie also.[1]

"Und falls Ragnar sich über deine flachen Brüste beschwert", fügt Helga hinzu, "dann sagst du ihm, er solle dir halt schnell ein Kind machen, davon würden sie bald hübsch genug anschwellen. Meine waren vorher auch bloß halb so schön", endet sie ein wenig eitel. Ihre Mutter Sigrid greift trotz dieser Rede diesmal nicht ein, vielmehr liegt ein gewisser Stolz in ihrem Blick—wohl, weil Helga die besorgte Elske so beherzt in Hóp willkommen heißt—und trotzdem weicht die nachdenkliche Sorge nicht gänzlich aus Sigrids Blick.

Als kurz darauf Jarl Gisles Stimme über die Thingstätte hallt, Stille und Aufmerksamkeit fordernd, ist Lîf jedenfalls nicht traurig über die Unterbrechung. Die Mädchen verabschieden sich rasch und ringen Lîf, bei aller Eile, aber noch das Versprechen ab, die Geschichte um Tristan und sie später zu Ende zu erzählen (oder versuchen es zumindest), bevor sie zu ihrem Feuer zurückhuschen. Auch Lîf wendet sich mit großer Spannung dem Jarl zu.

Dieser heißt erst einmal alle auf Wodland willkommen und ruft offiziell den Thingfrieden aus. Daran schließt er folgende Warnung an: "Wer innerhalb der Einfriedung oder der Palisaden eine Waffe gegen einen anderen zieht, wird mindestens auf ein Jahr friedlos, auch wenn er nicht einmal Blut zieht. Ein Frevler ist, wer der Hasel Frieden bricht! Doch gilt der Thingfriede auf ganz Wodland. Wer außerhalb der Thing- und Wohnstätte einen anderen verletzt, den erwartet ebenfalls eine hohe Strafe. Tötet er gar einen, droht ihm lebenslange Friedlosigkeit, im schlimmsten Fall unablösbare. Diese Stätte, an der wir uns zusammenfinden, steht für den Frieden, den wir miteinander zu halten gelobt haben, zu dem wir uns jedes Jahr aufs Neue hier verpflichten. Eine Gemeinschaft ist nur so stark, wie die Freundschaft und der Friede, der sie miteinander verbindet!"

Jubel erhebt sich ringsum, die Männer bezeugen ihre Zustimmung, indem sie mit flachen Schwertklingen oder Äxten auf ihre Schilde klopfen, die Frauen rufen bestätigend: "Friede!" oder "Freundschaft!" oder "Wir halten zusammen!" An Lîfs Feuer drängen alle Weiber zusammen, reichen sich die Hände, umarmen sich, auch Lîf wird mehrmals an völlig unbekannte Busen gedrückt. Sie sei ein gutes Weib, wird ihr mehrmals versichert, man freue sich sehr, dass sie nun eine von ihnen sei. "Mach dir keine Sorgen", sagt Gertrud nach einem feuchten Kuss auf die Wange. "Bei uns passt man recht aufeinander auf."

Als der Tumult sich legt, ruft Gisle die weiteren Thinggebote in Erinnerung: kein Bier, kein Met, kein Beiliegen vor dem Diseblót, nämlich: "Das Bier und das Met nicht, damit vor Gericht die Ordnung leichter zu wahren ist und niemand den Thingfrieden im Suff bricht, dem es sonst nicht eingefallen wäre und der auf diese Art völlig unnötigerweise zum Friedlosen würde. Dem jeweiligen Kläger und Beklagten steht allerdings, sollten sie sich einig werden, je ein Becher Bier zu, den sie miteinander leeren sollen, um zu zeigen, dass sie das Urteil anerkennen und sich daher wieder versöhnen wollen. Die Enthaltsamkeit nach Art der festländischen Mönchlein ist dagegen nötig, damit ihr alle, Mann und Weib, auf dem Diseblót Gaja und die Huldre von Wodland auch auf rechte Weise ehren könnt, wie Alberich es uns vorgemacht hat. Wer sich an das Verbot nicht hält, der soll daher auch am Fest nicht teilhaben, da kennen unsere drei weisen Weiber keinen Spaß, also seht euch vor!"

Gelächter, Johlen, klopfende Zustimmung. Lîf rutscht das Herz in den Magen und große Augen bekommt sie wohl auch. Was will der Jarl damit andeuten? Was passiert auf dem Diseblót? Rasch lenkt sie sich mit einer anderen Frage ab: Wer oder was sind die Huldre von Wodland? Diesen Ausdruck hat sie noch nie gehört. Ein anderer Name für die Disen? Aber die werden doch nicht geehrt, sondern vertrieben. Oder heißen so die Einwohner der Insel? Aber sagte Tristan nicht, sie sei gänzlich unbesiedelt?

"Und natürlich sind die Jagd und das Fischen auf Wodland strengstens verboten. Wer dies Gesetz übertritt, der büßt dafür vor einem höheren Gericht als dem unsrigen, einem Gericht, mit dem es kein Verhandeln gibt, kein Bußgeld, das auf keinerlei Ausflüchte hört noch sich von der Jugend rühren lässt. Merkt wohl auf, ihr jungen Burschen: wer diese Regel bricht, der kehrt nimmermehr heim."

Auch dies klingt sehr mysteriös, doch für weitere Überlegungen bleibt Lîf keine Zeit, denn nun winkt der Jarl Tristan herbei, stellt ihn als "mein getreuer Skalde und Lögmadhur" vor und überlässt ihm das Feld.

"Und wie jedes Jahr auf dem Disenthing, rufe ich als erstes die jungen Weiber zu mir", übernimmt Tristan nahtlos, "welche entweder verlobt sind oder im vergangenen Jahr geheiratet haben oder meine Gesetzesrede zu allem, was Ehe und Familie angeht, noch nicht oft genug gehört haben, um sich auch tatsächlich an all ihre Rechte und Pflichten zu erinnern, oder aber dass eine vor kurzem Witwe wurde und nun nicht so recht weiß, was ihr zusteht, welche Möglichkeiten ihr bleiben: all die Genannten mögen sich bitte vor diesen drei Feuerstellen einfinden", er deutet auf die ihm am nächstgelegenen, "und besonders aufmerken, was ich ihnen vorzutragen habe. Selbiges gilt für die jungen Ehegatten oder solche Burschen, die bereits ein Auge auf eine geworfen haben und sich nun fragen, was da auf sie zukommt, wie sie's anstellen müssen, was Recht und Sitte als nächsten Schritt von ihnen erwartet—ihr alle versammelt euch bitte hinter den drei Feuern. Auf, auf, keine falsche Schüchternheit!"

Danach wartet Tristan, dass sich alles sortiert, seinen Anweisungen entsprechend. Bemerkungen aus dem älteren Publikum, die ihm dazu raten, dieses Jahr müsse er selbst seiner Rede besonders aufmerksam lauschen, da er ja auch endlich Ehepflichten eingegangen sei—"Zeit wurde es aber auch, bei Gaja!"—überhört er geflissentlich. Wohl schweift sein Blick kurz in Lîfs Richtung, welche an einem entfernteren Feuer sitzt. Oder hat sie sich bereits erhoben, um sich einen näheren Platz zu suchen? Vielleicht gleich bei den jungen Frauen, die sie kurz zuvor umdrängten?
 1. Ich habe mal die weibliche Namensliste im Eingangspost der Schriftrollen aufgestockt...
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 13.09.2017, 13:41:50
Lîf erwidert das Lächeln der jungen Frau unwillkürlich. Sie hat das Gefühl, geholfen zu haben, und das hat sie schon immer gemocht. Das war es wohl auch erst, was sie bewogen hat, Heilerin zu werden und – gegen den Willen der Eltern – mit anderen, gleichgesinnten Weibern dorthin zu ziehen, wo die Männer für die Freiheit des Landes kämpften. Diese Entscheidung kam zwar auch ihrem Stolz entgegen, erlaubte sie es ihr doch, auf Weiberart der Heimat und den Menschen Ferslands zu dienen, wie es die Mannsleute mit Waffen taten. Doch der Rotschopf hatte neben dieser heißen, stolzen Ader auch schon immer eine sanfte und fürsorgliche Seite. Zwei Herzen schlagen in ihrer Brust, und Elskes dankbarer Blick träufelt gerade Balsam in eines der beiden. "Aber natürlich wird alles gut werden" versichert sie erleichtert. "Wie viele junge Weiber haben es vor dir schon überstanden – und bestimmt hatten sie auch alle zuvor Angst." Ihr Lächeln wird allerdings etwas gequält, als ihr Gegenüber zu einem etwas heiklen Thema übergeht und mit der Unbefangenheit eines Kindes über die Vorzüge weiblicher Körper und die dahingehende Neigung der Männer redet. "J... ja, da bin ich... auch sicher" stottert sie und fühlt Blut in ihre Wangen schießen. Ihr Ahnen, das kann doch nicht wahr sein..! Haben die Leute auf den Inseln denn gar keine Bedenken, so offen über derlei zu sprechen..?! Nicht einmal die Gegenwart der älteren Weiber – teilweise würdige Matronen – scheint Elskes Redefluss zu hemmen.

Und dann... wie kommt sie dazu, Lîf als flach zu bezeichnen?! Unauffällig schielt die angehende drudkvinde an sich hinunter und vergleicht mit den anderen Weibern. Gut, sie ist deutlich schmaler gebaut als die robusten, breithüftigen Inselweiber und dementsprechend auch nicht so üppig, aber... ach, verflixt! Ärgerlich über sich selbst und ihre Eitelkeit räuspert sie sich und wirft in einer charakteristischen Geste ihren Kopf zurück. "Tristan und ich, wir sind glücklich miteinander" behauptet sie in einem derart bestimmten Ton, des es schon an Flunkerei grenzt. Denn sie hat zwar Momente, in denen sein Anblick allein etwas in ihr zum Schmelzen bringen kann, aber oft genug zeigt sie sich ihm gegenüber auch kratzbürstig, um die Nähe nicht größer werden zu lassen, als ihre Eigenwilligkeit gebietet. Sie seufzt lautlos, erwidert den Händedruck der Glücklichen und sagt sich, dass die Sitten hier nun einmal so sind. Und richtig: Auch Helga fängt plötzlich vom selben Thema an, und Lîfs Ärger über sich selbst wächst, als ihre Augen ganz von allein zu wandern beginnen und wiederum vergleichen, was sich dort unter dem Kleid abzeichnet und was bei ihr selbst. Und so sehr sie sich bemüht, sich der einfachen, kindlichen Art dieser Weiber überlegen zu fühlen: Das Ergebnis des Vergleichs nagt an ihrem Selbstbewusstsein...

Und ehe sie sich's versieht, hat sie sich zu Helga geneigt und leise wispernd gefragt: "Werden sie denn mit einem Kind ganz sicher größer..?" Natürlich hat sie niemals die Absicht, diese Piratenbande auch noch aus ihrem eigenen Schoß vergrößern zu helfen, wo ihr als Esjas Schülerin bereits die Rolle der Hebamme zugedacht ist. Es ist nur so ein Gedanke, der sie aus reiner Neugier interessiert, mehr nicht, keinesfalls! Er beschäftigt sie aber, unabhängig von Helgas Antwort, auch noch, als der Jarl seine Stimme erhebt und die Mädchen eilig zu ihrem Feuer zurückhuschen. Er beschäftigt sie sogar so stark, dass sie unbesonnen das Versprechen abgegeben hat, ihre Geschichte zu Ende zu erzählen. "Na, das kann ja was werden..." hat sie nur kurz gemurmelt, ehe sie verstohlen die Hände unter die bescheidenen Rundungen unter ihrem Kleid gelegt und sie leicht angehoben hat – der Sichtvergleich mit den anderen Weibern am Feuer fiel jedoch noch immer nicht zur Zufriedenheit aus. So ist der Aufmerksamkeit heischende Ruf Gisles ihr eine willkommene Ablenkung von ihren trüben Schlussfolgerungen, und sie merkt auf. Für sie, die noch nie eine derartige Versammlung erlebt hat, sind alle seine Worte neu und spannend. Ohne nachzudenken, stimmt sie in die Rufe der Weiber ein und fühlt sich von allen Seiten geherzt, wenn auch etwas rau. Verlegen grinst sie, nachdem sie von Gertrud gar einen Kuss bekommen hat, und meint: "Dank dir, Gertrud!" Und zu ihrer Verwunderung stellt sie fest, dass es in diesem Moment ein Gefühl von Geborgenheit gibt, sich zu dieser Gemeinschaft zugehörig zu fühlen.

Daraufhin fällt es ihr leichter, sich bei den Umarmungen ungezwungener zu geben und ihrerseits einige – wenn auch eher vorsichtige – Freundschaftsküsse auf die Wangen von Weibern zu verteilen, die ihr nur vage oder dem Namen nach bekannt sind. Dann wird wieder alles still und hört aufmerksam dem Jarl zu, auch Lîf. Kurz fragt sie sich wegen dieser Huldre, von denen man zuhause in Fersland in ihrer Gegenwart nie sprach. Doch ehe sie sich dazu durchgerungen hat, die andächtige Stille zu stören und Gertrud oder Sigrid leise danach zu fragen, drängt sich wieder jene andere Frage in den Vordergrund: Was soll das heißen, Gaya und die Huldre ehren..? Doch nicht etwa..?! Nein, unmöglich! Mit einem klammen Gefühl im Magen lässt sie ihre Zöpfe durch die schmalen Hände gleiten, die unmerklich zittern, als sie die roten, seidigen Stränge wiederholt streichelt, um sich zu beruhigen. Nein, nein, das muss etwas anderes bedeuten. So weit gehen auch diese Menschen nicht, da geht ihre angeheizte Fantasie mit ihr durch, ganz gewiss! Nur... warum haben alle so gejohlt und gewiehert..? Da werden ihre Gedanken von Tristans Ansprache unterbrochen, und sie fühlt Wärme in sich aufsteigen. Natürlich ist es Unsinn, aber sie hat das Gefühl, er spräche nur für sie allein. Als Elske sie mit einem zögerlichen Lächeln ansieht und ihre Blicke sich treffen, streckt Lîf ihr eine Hand hin, und die beiden jungen Weiber gehen Hand in Hand, sich gegenseitig Mut machend, zu einem der Feuer, die Tristan bezeichnet hat.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 14.09.2017, 00:28:38
"Oh, ganz sicher! Das ist sogar das erste, was größer wird, lange vor deinem Bauch!" hat Helga noch kichernd geantwortet, dann war sie schon mit den anderen jungen Frauen davongehuscht. Elske aber, zu Lîfs Erstaunen, blieb zurück. Ob sie Lîfs Unbehagen bemerkte und nun andersherum ihre Trösterin trösten wollte? Zusammen eilen die zwei dann also, von Tristan aufgefordert, ebenfalls nach vorne. Nur kurz trifft sich Lîfs Blick mit dem ihres Gatten, kann er ihr kaum merklich zunicken, dann muss er sich schon um seinen Vortrag kümmern. Lîf bewundert seinen Mut, wie er so gänzlich unerschrocken vor die Meute tritt, bewaffnet mit nichts außer seiner Zauberstimme.

"Beginnen wir also mit der Brautwerbung: wann darf ein junger Bursche daran denken, sich ein Weib zu nehmen, und was muss er dazu tun? Nun, rechtlich gesehen darf jeder mündige Bursche, also der mindestens fünfzehn Jahre alt und waffenfähig ist, um eine Braut werben, doch auf dieser Grundlage allein braucht er sich keine Hoffnungen zu machen. Selbstverständlich wird erwartet, dass er zunächst ein eigenes Auskommen erwirbt, sprich: dass er in Besitz von Haus und Hof ist oder aber, als tüchtiger Handwerker, von Haus und Werkstatt, mindestens aber muss ihm dies oder jenes in Aussicht stehen, etwa dass der Vater versichert, in drei Jahren werde er sich auf das Altenteil zurückziehen, dann dürfe der Sohn übernehmen. Wie komme ich auf drei Jahre? So lange darf ein Verlöbnis höchstens dauern, länger kann nämlich von keinem Weib erwartet werden, dass es sich für einen Burschen freihält. Hat ein Bursche also ein Aug' auf eine bestimmte Maid geworfen und fürchtet, in drei Jahren kommt ihm gewiss einer zuvor, so möge er jetzt schon um sie werben. Im einen wie im anderen Falle geht er zu seinem Vater, so dieser noch lebt, oder dem ältesten Bruder und trägt sein Anliegen vor, worauf man sich gemeinsam zum Vater oder, ist dieser tot, zum Vormund des Mädchens begibt. Eine Ausnahme ist, der Heiratswillige ist bereits Witwer, als solcher mag er in eigener Sache verhandeln. Und dann beginnt das Feilschen.

Der Vater oder Vormund des Mädchens wird diese nur hergeben, wenn ihm eine Entschädigung für den Verlust ihrer Arbeitskraft geboten wird, also umso mehr, je tüchtiger sie ist, doch umso mehr hilft sie später ja auch dem Gatten, daher ist es so nur gerecht. Dies heißt man Ablöse. Als zweites wird der Vater aushandeln—und schon wird's auch für euch junge Weiber interessant, also merkt auf!—wie hoch nämlich der Erbteil seiner Tochter sein werde, sollte der Gatte vor ihr sterben, damit sie auch als Witwe versorgt sei. Dies ist der Brautschatz, welcher aus Vieh, Landbesitz oder Geld bestehen kann. Als drittes will eine Frau auch schöne und nützliche Dinge haben. Die nützlichen möge sie mit in die Ehe bringen, das sei ihre Heimsteuer—was also ihrem Erbteil am elterlichen Besitz entspricht, weshalb sie später den Geschwistern gegenüber keine weiteren Erbansprüche geltend machen kann—und besteht aus Hausrat, allerlei Dinge für ihren Gebrauch, möglich sind aber auch Vieh, Landgerät, Mägde oder Knechte. Die schönen Dinge aber soll ihr Bräutigam für sie bereithalten, um sie am Morgen nach der Hochzeit damit zu erfreuen: dies ist die Morgengabe. Schmuck mag dies sein, Pelze, schöne Stoffe, oder was immer das Weiberherz höherschlagen lässt. Diese drei Dinge: der Brautschatz, die Heimsteuer und die Morgengabe, gelten während der gesamten Ehe als Vermögen der Frau, das ihr Mann zwar nutzen und verwalten darf, nicht aber veräußern ohne ihre Zustimmung. Es macht gleichsam ihr Ehepfand aus, das sie als Witwe oder bei einer Scheidung auslösen kann, doch dazu kommen wir später. Wichtig ist hier nur: es ist ihr sicher, selbst wenn ihr Gatte Schulden macht, denn an das Vermögen der Frau dürfen seine Gläubiger nicht einmal in dem Fall, dass der Gatte bereits verstorben ist und also keine andere Hoffnung besteht, das Geld zurückzuerlangen als aus seinem Nachlass. Ihr seht, es ist alles gut und nützlich, was in diesem Vertrag ausgehandelt wird. Desweiteren verpflichtet sich darin der Vormund der Braut, sie zum ausgemachten Zeitpunkt herauszugeben, also seine Vormundschaft auf den Brautwerber zu übertragen, während der Brautwerber sich gleichermaßen verpflichtet, an diesem Tag zu erscheinen und sie abzuholen. Beide verpflichten sich natürlich, die ausgemachten Zahlungen und Schenkungen zu leisten. Besiegelt wird der Vertrag mit einem Abtrunk oder einem Gastmahl. Ab dann gilt es so und Gaja gnade dem, der diesen Vertrag brechen sollte. Das sicherste Rezept für eine blutige Sippenfehde wäre das! Also, Burschen, überlegt euch alles wohl, nehmt weder euer Maul zu voll, noch handelt vorschnell oder aus den falschen Gründen: sucht euch ein tüchtiges Mädchen, von dem ihr wohl glaubt, dass es euch brav zur Seite steht, euch Haus und Hof mit Fleiß und Verstand führt und euch viele prächtige Kinder wirft.

Der Verlöbnisvertrag ist aber nur der erste Rechtsakt, der eine gültige Ehe begründet und von denen man keinen auslassen sollte, will man jeglichen Zweifel an der Rechtsgültigkeit ausschließen. Der zweite Rechtsakt ist die Abholung der Braut durch den Bräutigam am vereinbarten Tag im Hause ihres Vormunds; der dritte, bei Ankunft auf seinem Hof, die Übergabe der Schlüssel und mit ihnen der Hausgewalt an seine Braut; der vierte das Hochzeitsmahl im Kreise der Verwandten und Freunde. Der fünfte und abschließende Rechtsakt ist nun der, den sowohl Braut als auch Bräutigam mit der größten Spannung oder auch banger Sorge erwarten: das Beilager. Erst hier wird, wie man sagt, die Ehe vollzogen. Wer von euch Weibern also bisweilen seufzt und sich fragt: 'Warum machen die Männer das alles unter sich aus, warum werde ich nicht oder allenfalls nebenbei nach meiner Meinung befragt?', denen möchte ich dies zum Trost sagen: nicht der Vertrag der Väter, den ich so lang und breit beschrieben habe, macht euch zum Weib eures Mannes, sondern ihr selbst tut dies in der Brautnacht. Indem ihr euch dem Mann unterwerft, tretet ihr in Wahrheit an seine Seite, erhebt euch zu seiner Rechtsgenossin. Ihr werdet Herrin über sein Haus, dürft in seinem Namen vielerlei Handel tätigen—zu den wenigen Ausnahmen kommen wir später—und ist er selbst auf Fahrt, verwaltet ihr Haus und Hof in eigener Person und ordnet dort alle Belange. In diesen wie auch in etlichen anderen Dingen dürft ihr im Namen eures Gatten sprechen, als hätte er es euch aufgetragen, und niemand wird es anzweifeln, auch nicht vor Gericht. Macht ihr einen Handel aus, der eurem Gatten missfällt, ist er dennoch daran gebunden. Im Privaten mag er euch die Leichtfertigkeit oder Eitelkeit oder was immer euch dazu verlockte mit einer zünftigen Tracht Prügel auszutreiben versuchen, auf dass sich dergleichen in Zukunft nicht wiederhole, nach außen hin muss er jedoch der von seiner Gattin in seinem Namen bereits eingegangenen Verpflichtung nachkommen. Ihr seht: wie euer Vater zuvor ist euer Mann nun der Hausherr, doch standet ihr als Tochter weit unter diesem, so steht ihr als Weib an seiner Seite. Damit sind eine Vielzahl Rechte verbunden, vor allem aber eine große Verantwortung und neue Pflichten. Über Sitte und Moral der Hausgenossen führt ab sofort ihr die Aufsicht, nicht mehr die Mutter, gibt es Streitigkeiten im Haus, habt ihr zu schlichten, dem Gesinde erteilt ihr die Weisungen, die Kinder schulden euch Gehorsam, und nur ein einziger kann euch selbst noch in eurem Hause befehlen, nämlich euer Mann. Ihm habt ihr zu gehorchen, denn er sorgt für euren Schutz und haftet vor Gericht für eure Vergehen wie zuvor der Vater. Als Eheweib sollt ihr ihm treu, fleißig, sparsam und zuverlässig zur Seite zu stehen, euch als seine Genossin in allen Mühen und Gefahren sehen, welche mit ihm zusammen die Stürme des Schicksals durchsteht und alle Klippen, die im aufgewühlten Meer lauern, sicher umschifft."


Diesen Vortrag kann Tristan tatsächlich an einem Stück vortragen, nicht ein einziger Zwischenruf unterbricht ihn dabei. Dass seine jungen Zuhörer diverse Gemütsbekundungen von sich geben, von Kichern bis hin zu erschrockenen Lauten, und an den übrigen zehn Feuern die Leute derweil eifrig untereinander, wenn auch murmelnd, konversieren, stört ja niemanden. Letzteres muss man sogar als Kompliment verstehen, bezeugt es doch das Vertrauen der Rechtsgemeinde in ihren Gesetzessprecher, dass niemand auf Fehler achtet oder mit Fehlern rechnet. Nun ja, immerhin hält Tristan diesen Vortrag auch bereits seit sechzehn Jahren. Zudem handelt es sich um kein kontroverses Thema, welches er da vorträgt, zumindest nicht bei den Alten, die nämlich wissen, dass Gesetze nur soviel festlegen, das Leben aber den Rest, und so ist es erst recht in der Ehe: das Zusammenspiel, das tatsächliche Kräfteverhältnis, das handelt jedes Ehepaar unter sich aus.

Doch erst einmal blickt Tristan, Stimme eines seit Jahrhunderten überlieferten Rechtes, mit strenger Autorität von einem jungen Weib zum nächsten und erkundigt sich dann: "Bevor wir als nächstes wieder zu den Burschen kommen: ist dies alles verständlich gewesen? Gibt es Fragen?"
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 14.09.2017, 16:34:19
Die jungen Weiber und Burschen hören äußerst aufmerksam zu, ganz im Gegensatz zu den Älteren an den weiter entfernten Feuern, die ja Tristans Vortrag bereits kennen und überdies selbst erlebt haben, was er den Jüngeren hier beschreibt. Gereckte Hälse, atemlose Stille, Augen, die gebannt an seinen Lippen hängen: Ein so andächtiges Publikum erlebt selbst der Skalde mit der Zauberstimme selten. Kein Wunder, sind doch vor allem die Mädchen und werdenden Weiber in banger Ungewissheit, was die Zukunft ihnen bringen wird, was ihre Rechte und Pflichten sein werden, wie ihr Leben aussehen soll. Sicherlich haben sie begonnen, ihre Mütter zu beobachten, seitdem es für eine nach der anderen von ihnen konkret wurde mit dem Bräutigam, mit dem Feilschen um die Braut, mit den Ansprachen und den Vorbereitungen für die Hochzeit. Sie haben alten Weibern, denen sie sonst kaum einen Blick gönnten, freiwillig im Haus geholfen, um sie vorsichtig auszuhorchen, wie das denn nun sei, wenn man von einem Mann heimgeführt wird, was zu beachten, was zu vermeiden sei. Meist allerdings haben sie für einen ganzen Tag Schweiß und Rückenschmerzen bei der großen Wäsche der Greisinnen lediglich ein zahnloses Grinsen und den weisen Rat geerntet, nur hübsch aufzupassen, wenn sie beim Thing all das erklärt bekämen – und waren so klug wie zuvor.

Nun hört ein jede hin, nicht ahnend, dass die anderen genauso ahnungslos sind, weil die Alten es als Verstoß gegen die Sitten betrachten, die Belehrung durch den Rechtsbewahrer vorweg zu nehmen, dessen Pflicht es zudem ist, all die Regularien im Kopf zu haben, wohingegen eine alte Frau wohl das eine oder andere vergessen oder nicht mehr ganz so genau nehmen mag... Auch Lîf hat, ohne das Wissen Tristans, die alte Hulda bedrängt, erst schüchtern und verlegen, indirekt, dann immer deutlicher, bis auch sie sich mit demselben kümmerlichen Erfolg zufrieden geben musste wie ihre Schicksalsgenossinnen: Die Magd hat ihr nur mit verschmitztem Grinsen vorgehalten, dass sie schließlich das Weib des Mannes sei, der in solchen Dingen bestens bescheid wisse – warum sie ihn denn nicht frage statt einer alten Dienerin, die ja nie einer zu seinem Weib gemacht habe. Wohl wissend, dass der Rotschopf sich eben gerade geniert, mit einem Mann über derlei zu reden, sind doch auch recht intime Weiberdinge unter den Fragen, die ihr unter den Nägeln brennen. So steht also auch sie angestrengt lauschend zwischen den jungen Weibern, während sie versucht, das Grinsen Helgas aus ihren Gedanken zu verbannen, die wahrscheinlich die Sorgen der zierlichen, eher flachbrüstigen Lîf besser durchschaut hat, als dieser recht ist. Hätte sie sich nur nicht zu dieser letzten Frage hinreißen lassen..!

Derweil also die Weiber lauschen, gelegentlich miteinander tuscheln und zu den jungen Burschen hinüber schielen, die sich bei diesem Teil noch zurückhaltend und überlegen geben – in Wahrheit aber ebenso die Ohren spitzen – trägt Tristan die Litanei vor, die ihm wie von allein über die Lippen fließt, ohne dass er sich nach den vielen Wiederholungen in den vergangenen Jahren noch sonderlich anstrengen müsste, sich den Wortlaut der Gesetze ins Gedächtnis zu rufen. Gleichmäßig, ruhig und gut verständlich klingt seine sonore Stimme über die Menschen, die ihn umstehen, untermalt vom Prasseln der Feuer, dem Knacken des Holzes. Schließlich beendet er den ersten Teil seiner Belehrung, und die Zuhörerinnen an dem einen Feuer sehen sich gegenseitig an. Leises Fußscharren, hier rückt eine ihr Kopftuch zurecht, da spielt eine andere an ihrer Schürze. Keine meldet sich zunächst zu Wort, und Tristan will bereits wieder anheben, als sich doch eine etwas zittrige, helle Stimme vernehmen lässt: "Was ist, wenn das Weib seinem Mann keinen Sohn schenkt? Darf er sie dann wieder heimschicken..?" Elske ist es, die sich nur schwer dazu durchgerungen hat, eine so peinliche Frage zu stellen. Lîf, die wohl bemerkt hat, dass etwas sie beschäftigt, hat sie leise flüsternd dazu ermutigt und drückt ihr auch nun leise die Hand. Die anderen Weiber sehen sie kurz an und schauen dann alle wieder zu Tristan – froh, nicht selbst diejenige zu sein, die zugegeben hat, von solchen Sorgen geplagt zu sein, aber ebenso froh, dass jemand eine solch heikle Frage stellte, auf die sie nun wohl eine Antwort erhalten werden. Dann das Gerücht hält sich hartnäckig, dass immer wieder unglückliche Weiber in Schimpf und Schande ins Haus ihrer Eltern zurückkehrten und auf immer als bessere Magd dort versauerten, weil keiner mehr eine will, die ihm nicht wenigstens einen strammen Erbfolger schenken kann.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 14.09.2017, 19:25:09
Bei Elskes Frage verzieht Tristan das Gesicht und beginnt unwillig: "Ob es Fragen zu meinen bisherigen Erklärungen gäbe, wollte ich wissen, statt dessen greifst du vor auf Scheidungsgründe, wo wir doch gerade erst bei der Eheschließung sind!"

Über die Rüge erschrickt Elske dann allerdings derart heftig, dass Tristan sie rasch zu beruhigen versucht: "Also schön, ein Vorgriff auf das Scheidungsrecht. Es gibt nur zwei Dinge, aus Sicht des Mannes, welche den Ehevertrag ungültig machen und ihn dazu berechtigen, sein Weib heimzuschicken, wie du es nennst: das wäre zum einen, dass er sie im Bett mit einem anderen Mann erwischt—und in diesem Fall muss sie froh sein, wenn er sie nur heimschickt, denn bei solch schändlichem Ehebruch hätte euer Gatte gar das Recht, nicht nur euren Geliebten totzuschlagen, sondern euch gleich mit, um seine Ehre wiederherzustellen. Eure väterliche Sippe wird dies ohne Wenn und Aber einsehen, sodass ihm dafür auch keine Blutrache droht. Voraussetzung ist—merkt wohl auf, ihr Burschen!—dass euer Gatte den Fehltritt mit eigenen Augen bezeugt hat. Burschen, ich warne euch, geb acht, dass ihr euch da niemals etwas einreden oder närrisch machen lasst, durch Neider und dergleichen bösen Zungen, die so etwas gerne einmal behaupten. Im Zweifelsfall glaubt an die Treue euer Frau und versucht die Sache zu klären. Und selbst wenn ihr einen fremden Mann im Bett eures Weibes erblickt, haltet euch wenigstens so lange zurück, bis ihr festgestellt habt, dass dieser nicht gegen ihren Willen dort ist, in welchem Fall ihr wohl daran tut, den Schuft auf der Stelle zu erschlagen, euer Weib hernach aber auf Knieen um Vergebung zu bitten, dass ihr sie nicht besser habt schützen können.

Zurück zu den Scheidungsgründen: Untreue wäre der eine, der zweite aber, dass ein Eheweib ihrem Gatten in sieben Jahren—dies ist die Zahl, die in den meisten Verträgen steht, fragt mich nicht wieso—gar kein Kind schenkt. Auch dies gibt ihm das Recht, den Ehevertrag für ungültig zu erklären. Schenkt sein Weib ihm in dieser Zeit aber eine Tochter, so ist der Vertrag damit erfüllt. Denn ein Mann, der nur eine Tochter hat, kann sie mit einem Burschen verheiraten, der wohl tüchtig ist, aber keinen eigenen Hof hat, etwa weil er ein jüngerer Sohn ist, und diesen beiden kann der Vater alles vererben und seine greisen Jahre bei ihnen verbringen. Aber da sind wir schon beim Erbrecht. Im übrigen wird ein Mann auch ein kinderloses Weib nicht leichtfertig verstoßen. Ist sie nämlich tüchtig und versteht sich mit ihrem Gatten gut, so holt er sich eher ein zweites Eheweib ins Haus als dass er sein erstes verstößt, doch zur Fridelehe sage ich später noch was. Und selbst wenn es zum ärgsten käme, hat das Weib unter gewissen Umständen die Möglichkeit zu widersprechen, sollte nämlich ihr Gatte das Ehelager vernachlässigt haben, in welchem Fall man die Kinderlosigkeit nicht ihr zu Last legen kann. Da gab es übrigens mal einen Fall, dass es zwei Nachbarn so ging, und sie beschlossen schlau, einfach die Weiber auszutauschen, und siehe da, schon das Jahr darauf hatten beide Kinder! In einem anderen Fall heiratete ein Mann einfach noch die jüngere Schwester seines Weibes hinzu und alle drei waren glücklich. Häufig dagegen kommt es vor, dass ein Mann, im Fall dass sein Weib ihm keine Kinder schenkt oder aber diese allesamt vor ihm sterben, ein oder mehrere Kinder, die er mit seinen Kebsen zeugte, nachträglich vor dem Recht anerkennt. Mit all dem will ich sagen: es geschieht sehr selten, dass ein Mann sein Weib einfach verstößt, weshalb es recht überflüssig ist, sich schon vor der Hochzeit darüber zu sorgen."


Nachdem Tristan dies alles sehr geduldig erklärt hat, endet er nun doch wieder leicht verstimmt: "Also bitte, wenn niemand hier tatsächlich eine Frage zu dem hat, was ich bisher vortrug, so fahre ich nun fort."

Die jungen Frauen schütteln betreten, teilweise verschüchtert die Köpfe, worauf Tristan sich also an die Burschen wendet, nicht ohne zuvor die Weiber zu ermahnen, dennoch gut zuzuhören.

"Nun also zu euch Burschen, das heißt zu euren Rechten und Pflichten als Hausherr und Ehegatte. Zunächst einmal: Auch wenn Gesetz und die gute Sitte vorsieht, dass euer Weib euch untertan sein soll, so habt ihr sie zu achten und zu ehren und für ihr Wohlergehen zu sorgen, denn es gäbe nichts schändlicheres, als dass ihr sie wie eine Magd behandeln wolltet. Als zweites müsst ihr wissen, dass ihr für euer Weib in vollem Maße buß- und rechtspflichtig seid. Das heißt ihr vertretet sie vor Gericht, haftet für ihre Taten oder macht ihre Ansprüche geltend. Außerdem gehört dazu, wie ich vorhin den Weibern erklärte, dass ihr einen Handel, den sie vereinbarte, nicht rückwirkend ausschlagen könnt, sondern für ihr Wort in gewisser Weise mit dem euren haftet. Drittens habt ihr für ihren Schutz zu sorgen und den der gemeinsamen Kinder, indem ihr zum einen mit allen Mitteln den Hausfrieden verteidigt, nämlich dass niemand auf eurem Grund und Boden es wagen soll, euren Hausgenossen Schaden zuzufügen, ob an Leib oder Ehre; zum anderen bedeutet dies, dass ihr nicht nur das Recht auf Blutrache habt, sollte jemand eurem Weib oder Kindern ein Leid gleich welcher Art antun, sondern geradezu die Pflicht. In diesen und auch sonst allen Dingen vertretet ihr eure Familie nach außen.

Eine weitere Pflicht des Hausherrn ist, sich um die Versorgung und Gesundheit aller Familienmitglieder zu kümmern sowie für die Erziehung der Kinder zu sorgen, also dafür, dass sie alles lernen, was sie zum Leben brauchen, die Töchter das Haushalten und Wirtschaften und auf sich acht geben, die Söhne Todesmut und Ehre, wie man Schild und Waffe führt, reitet, schwimmt und die See bezwingt, fischt, jagt und allerlei handwerkliche Dinge verrichtet, so ihr sie nicht gar mit zehn zum Lehrling nehmt oder einem Schmied, Bootsbauer, Tischler, Sattler oder Skalden in die Lehre gebt. Für eure Töchter wiederum gilt es, einen möglichst günstigen Ehevertrag auszuhandeln, dazu müssen sie mindestens zwölf sein, also auch bei einer geplanten Verlöbniszeit von drei Jahren.

Bei der Wahrung der häuslichen Ordnung habt ihr eurem Weib zur Hand zu gehen, damit das rechte Benehmen aller Hausgenossen untereinander gewährleistet ist. Zur Hand gehen will heißen: so euer Weib einen nachteiligen Vorfall dieser Art nicht allein in den Griff bekommt, bevor er euch auffällt. Also etwa, dass es Streit im Haus gibt, den die guten Worte der Hausfrau nicht zu schlichten vermochten, so sollen die Streithähne durch eure Hand angemessene Züchtigung erfahren, das wird sie dann wohl zur Vernunft bringen. Ein weiterer Fall, bei dem ihr einschreiten müsst, ist der, dass euer Weib diejenige ist, deren Fehlverhalten es zu maßregeln gilt, was sie ja schlechterdings an sich selbst verrichten kann, oder eins der Kinder, was eurem Weib vielleicht schwerfallen wird.

Wenn es bei einer Züchtigung um euer Weib oder die Kinder geht, möchte ich zwei Warnungen aussprechen: zum einen, dass euer Weib, solltet ihr sie im Übermaß prügeln, gar für den kleinsten Fehler, zu ihrem Vater oder Bruder gehen könnte und diesen um Schutz vor euch bitten. Sie bleibt nämlich trotz der Heirat ein Mitglied der väterlichen Sippe, und wenn sie auf diese Weise bittet, so haben ihre Verwandten das Recht, sie gegen den eigenen Mann zu schützen. Dazu wird der Vater oder Bruder sich anhören, für welche Vergehen ihr Gatte sie auf welche Weise gezüchtigt hat, und kommt er zu dem Schluss, dass ihre Missetat in keinem Verhältnis zu der Strafe stand, so mag er beschließen, den Gatten, der so gar kein Auge für das rechte Maß zu besitzen scheint, doch selbst einmal aufs prächtigste zu verprügeln, um ihm dieses zu demonstrieren. Dies ist einem Mann meiner Bekanntschaft passiert und es war nicht schön. Schlimmer ist nur noch der Fall, dass ihr als Gatte euch auch danach nicht bessert, dann kann das Weib euch nämlich verlassen und aus eigener Entscheidung zu den ihren zurückkehren. Ja, auch sie hat zwei gute Gründe vor dem Recht, den Ehevertrag für ungültig zu erklären: unmäßige Prügel ist einer davon. Also seht euch vor und lasst stets das rechte Maß walten—ein guter Rat in jeder Lebenslage!—vor allem aber, wenn es um die Züchtigung von Weib oder den Kindern geht, denn zu deren Schutze könnte euer Weib ebenfalls die Hilfe ihres Vaters oder Brüder erbeten und die meisten von ihnen täten es sogar noch eher aus diesem Grund als zum Selbstschutz, denn nichts auf der Welt ist stärker als der Instinkt einer Mutter, ihre Kinder zu schützen. Meine zweite Warnung hat nichts mit dem Gesetz zu tun, ich spreche sie aber trotzdem aus: schlagt euer Weib niemals in den Bauch, weder mit der Faust noch mit einem Fußtritt, und stoßt sie auch nicht zu Boden, egal ob ihr von einer Schwangerschaft wisst oder nicht, denn oft ist das Weib schon schwanger und weiß es selbst noch nicht oder hat den rechten Moment noch nicht gefunden, es dem Gatten zu sagen, und ein Tritt oder Hieb in den Magen oder auch ein Sturz wird ihr das Kind mit großer Gewissheit kaputtmachen. Auch diesen Fehler hat ein Mann, den ich vor langer Zeit kannte, wieder und wieder begangen und daher selbst das elendste und einsamste Leben verbracht, das man sich nur ausmalen kann, doch sehe ich nicht, dass man ihn dafür bedauern müsste, denn er hat es sich selbst so eingebrockt.

So, was bleibt noch zu sagen? Dass es eure Pflicht ist, eurem Weib regelmäßig beizuwohnen, erwähnte ich bereits, denn Kinder sind der vorrangige Zweck einer Ehe. Tut ihr dies nicht, so hat sie ihrerseits das Recht, den Ehevertrag für ungültig zu erklären und zu ihrer väterlichen Sippe zurückzukehren. Dies trauen sich, zugegeben, nur wenige, doch unterschätzt nicht die Entschlossenheit einer Frau, die sich Kinder wünscht, und ihr macht ihr keine.

Und damit wären wir bei der letzten Pflicht des Hausherrn oder auch dem letzten Recht, denn zumeist sind dies zwei Seiten derselben Münze: bei jedem Kind, das euer Weib euch gebiert, habt ihr zu entscheiden, ob ihr es annehmt, das heißt in den Rechtsschutz eurer Familie aufnehmen wollt, oder ob es ausgesetzt werden soll. Um als Vater ein Kind rechtskräftig anzunehmen, habt ihr drei Dinge zu tun: ihr nehmt es auf und legt es auf euer Knie; ihr benetzt es mit Wasser; ihr gebt ihm seinen Namen. Sobald dies getan ist, erlischt euer Recht, das Kind auszusetzen. Dies wäre dann eine Schandtat, für die ihr schlimm büßen müsst. Wollt ihr das Kind also nicht annehmen, weil es krank oder missgestaltet ist oder weil ihr euch in so großer Not befindet, dass ihr die anderen Familienmitglieder kaum ernähren könnt, so legt es namenlos bei Ebbe an den Strand, dass die Flut es holen möge und die Geister all eurer Vorfahren, die im Meer ihr Leben ließen, sich um seine Seele kümmern können.

In diesem Sinne: hat jemand Fragen zu dem, was ich soeben vorgetragen habe?"

Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 15.09.2017, 14:03:47
Die jungen Frauen senken alle die Köpfe, als Tristan so unwirsch antwortet und die Fragende rügt. Elske gar scheint im Boden versinken zu wollen, während die Burschen am anderen Feuer sich gegenseitig grinsend in die Seiten stoßen und etwas von Weibern und Neugier tuscheln. Lediglich ein Augenpaar sieht Tristan noch offen entgegen: Das seines eigenen Weibes. Lîf reckt trotzig das Kinn, hat Elske demonstrativ den Arm um die Schultern gelegt und sie an sich gezogen und funkelt ihn nun an, offenbar nicht bereit, durch ihr Verhalten auch nur ansatzweise zuzugeben, dass sie seinen Unmut für gerechtfertigt hält. Wär' er selbst ein junges Weib, so wüsste er wohl, welche Sorgen und Ängste ihre Kameradinnen erfüllen und wie sehr sie die Seele quälen und das Herz unruhig pochen lassen! Wie kann man es da der armen Elske verdenken, dass die Not ihr die Frage über die Lippen drängte?! Sie schießt auch einen wütenden Blick zu den jungen Burschen hinüber, die sich heimlich über die Zurechtweisung zu amüsieren scheinen, die eindeutig an das Weiberfeuer gerichtet war. Dann erst senkt auch sie den Blick, lässt aber ihre neue Bekannte nicht los, sondern streichelt ihr die Schulter und versucht sie zu trösten, indem sie sie sanft an sich drückt. Einige Hände aus dem Kreis der jungen Weiber um die beiden stehlen sich zu ihnen, um ihnen ebenfalls Hände oder Arme zu drücken, rückversichernd, auch wenn nicht eine es wagt, unter dem Blick des gestrengen Gesetzesverkünders offen ihre Solidarität auszudrücken. Immerhin brennen jeder Einzelnen von ihnen solche Fragen unter den Nägeln. Nur der Zufall wollte es, dass eben Elske als die Nasewaise erschien und keine andere.

Immerhin aber beweist Tristan aber so viel Einfühlungsvermögen und Verständnis wie wohl kaum sonst je ein Mann auf den Inseln: Er lenkt ein und erläutert den künftigen Eheweibern, was sie so dringend interessiert. Das fassen auch die Burschen am anderen Feuer als Mahnung auf, dass der Zwischenfall von eben vergeben und vergessen sein soll, und wenden sich dem Skalden wieder lauschend zu. Lîf hebt den Blick wieder, und diesmal scheint das Funkeln in ihren Augen, umrahmt von den roten Zöpfen, von einem sanfteren, tiefgrünen Feuer zu stammen. Ihre Lippen zeigen ein kaum merkliches Lächeln. Die Mädchen, werdenden Frauen, hören ihm wieder andächtig zu, und ihre männlichen Gegenstücke widmen seinen Worten nun anscheinend immer mehr Aufmerksamkeit, beginnt es sich doch hier auch um Fragen zu drehen, in denen sie selbst noch im Nebel des Ungewissen umherirren. Wie ist das nun zwischen Mann und Weib? Was sind denn die Rechte des Mannes, des Familienoberhaupts? Dass Weib und Kinder zu gehorchen haben, widrigenfalls ihnen, den Männern, das Recht der Züchtigung zusteht, lässt sie alle befriedigt nicken. So haben sie sich das auch vorgestellt, so soll's sein! Als Tristan jedoch beginnt, die Pflichten des Mannes aufzuzählen, die Verantwortung, die er für alle die hat, die ihm derart untertan sind, beginnen die Mienen länger zu werden. Was denn, geradestehen müssen sie auch für die losen Mundwerke ihrer Weiber, zu sorgen haben sie für alle, und wenn sie es gar zu arg treiben, steht dem Weibe gar zu, sich zu den Seinen zu flüchten..?! Eijeijei... so mancher kratzt sich betreten am Kopf und tauscht ratlose Blicke mit den Nachbarn.

Sollt' es wohl sein, dass ihre alten Herren ihnen doch keinen Bären aufgebunden haben, als sie sagten, der Mann sei zwar der uneingeschränkte Herrscher über die Seinen, doch mit der Macht komme auch die Verantwortung? Als sie behaupteten, Weiber und Kinder, altersschwache Greise wohl auch, die alle könnten sich erlauben, unvernünftig zu sein, aus dem Bauch heraus zu urteilen, Dummheiten zu begehen – niemals aber der Mann, von dessen klugen Entscheidungen das Wohl und Wehe der Familie abhänge..? Das klingt nun nicht ganz nach dem lustigen, sorglosen Herrenleben, das sich die halbstarken Burschen bei einem Becher Met in lustiger Runde oft so gern ausgemalt haben... Fast scheint es, als seien Rechte und Pflichten zwischen den Geschlechtern zwar höchst ungleich, aber mitnichten ungerecht verteilt. In dem einen oder anderen Kopf beginnt sich schwerfällig der Gedanke zu regen, dass die Altvorderen Gesetze und Sitten wohl durchdacht haben müssen, um den Frieden in den Familien auf lange Sicht zu sichern. Indes, es ist unangenehm zu erfahren, dass ein Fehltritt einem jungen Weib zwar einen hübschen Tanz der Rute auf ihrem Hinterteil einbringen mag, einem jungen Mann jedoch fast ebenso leicht eine Tracht Prügel vom Schwiegervater, ein kaltes Eisen in den Bauch gar in schweren Fällen. Die Mienen der Mädchen am anderen Feuer, die das betretene Schweigen durchaus wahrgenommen haben, sind nicht direkt schadenfroh, aber ihre Blicke scheinen doch ein stummes "Aha! Seht ihr wohl, ihr Burschen..." zum Ausdruck zu bringen. Das gibt dem Übermut der jungen Männer einen spürbaren Dämpfer, und da die Ermahnung Elskes noch nicht vergessen ist, erntet Tristan auf seine Erkundigung nach weiteren Fragen von den Herren der Schöpfung diesmal nur eiliges Kopfschütteln und das eine oder andere gemurmelte: "Nein, nein, 's ist ja alles ganz klar..." Auch die Weiber bleiben stumm. Lîfs Blick ruht jetzt mit einem unergründlichen Ausdruck auf ihrem Gemahl.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 16.09.2017, 01:12:53
Tristan entgehen weder die Blicke der jungen Weiber in Richtung der Burschen noch die betretenen (getretenen?) Mienen letzterer und er fragt sich, ob er in seiner Rede womöglich einseitig den Weibern zuviel zugestanden hat, den Burschen aber zuviel auferlegt? Dabei hat er sich so bemüht, ein ausbalanciertes Bild zu zeichnen, welches beide Seiten gerecht darstellt! Um den kecken Weibern also wieder ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen, den Burschen dagegen Rückendeckung zu geben[1], mahnt er erstere: "Nicht wahr, das habe ich deutlich gemacht, dass ein Eheweib bei allem, was sie tut, ob Haushalten, Wirtschaften oder einen Handel eingehen, klug und vernünftig vorgehen soll, sich niemals übernehmen, vielmehr stets überlegen, ob was sie tut auch im Sinne ihres Gatten wäre? Was seinem Ansehen schadet, schadet auch eurem, was seinem Geldbeutel schadet, ebenso, und muss er vor Gericht büßen, büßt die ganze Familie mit. Daher muss das Weib wie der Mann bei allem, was sie tut, stets an das Wohl der Familie denken."

Darauf nimmt Tristan sich kurz Zeit, sich den Einstieg ins neue Thema zu überlegen, denn es ist erfahrungsgemäß ein etwas heikleres, zudem eins, auf dass die Eltern ihre Töchter in den seltensten Fällen vorbereiten, sodass eigentlich nur solche, die etwas frechere Brüder haben, welche nämlich vor den Schwestern damit prahlen, überhaupt wissen, wer sich da alles nachts in die Betten der Mägde verirrt. Derweil Tristan überlegt, geht er vor den drei Feuern auf und ab und räuspert sich mehrmals; so allmählich wird er doch ein wenig heiser. Gut, dass der erste Teil bald geschafft ist. Nein, gut, wenn dieser Teil endlich geschafft ist! Längst hat Tristan sich die Worte zurechtgelegt und trotzdem noch nicht begonnen. Da erst erkennt er den eigentlichen Grund: es ist ihm unangenehm, vor seinem eigenen Weib davon zu sprechen. Heiser ist er überhaupt auch nicht, da sitzt ihm bloß ein Kloß im Hals. So ist das also! Da wette ich doch, die anderen Kerle sind heilfroh, dass sie das Thema fein ihrem Gesetzessprecher überlassen dürfen! Schließlich bleibt er aber doch mit einem Ruck vor dem mittleren Feuer stehen (ist es das, an welchem Lîf sich wärmt oder hat er Glück?)[2]

"Bisher habe ich nur die reguläre, also die Vertragsehe besprochen. Es gibt noch drei weitere Formen. Zunächst einmal die Kebsehe. Damit ist nun nicht die Ehe zwischen einer Magd und einem Knecht gemeint, auch handelt es sich recht eigentlich nicht einmal um eine Ehe, daher ist der Ausdruck unglücklich gewählt. Gemeint ist, dass auch ein verheirateter Mann das Recht hat, seine Kebsen zu begatten, allerdings unter mehreren Bedingungen. Erstens, dass er dies außerhalb des Hauses tue, vor allem niemals in seinem Ehebett, und auch niemals so, dass sein Weib es mitansehen muss. Zweitens darf er es ihr aber auch nicht verheimlichen, denn Heimlichkeit ist die Schwester der Feigheit. Was beim unverheirateten Burschen niemanden interessiert, kann beim verheirateten Grund für viel Aufgewühltheit, Eifersucht, Verdächtigungen oder gar Nachstellen beim Eheweib führen. Daher hat ein verheirateter Mann sich unter seinen Mägden nicht mehr als drei herauszusuchen und sie zu seinen Kebsfrauen zu erklären, damit sein Weib wenigstens nicht herumrätseln muss: tut er...? mit welcher...? wann... wie oft... wo...? Und die dritte Bedingung ist die bereits genannte: euer Weib darf darüber nicht zu kurz kommen. Wie gesagt, mit der Kebsehe verbinden sich in keinster Weise eheliche Pflichten oder Rechte. Fünf Vorteile aber hat die Sache: für euch Burschen erstens, dass eure Ehre so gewahrt bleibt, um die es bei jeder Heimlichkeit geschehen wäre; zweitens stellt ihr auf diese Weise sicher, dass nur ihr der Magd beiliegen dürft und keiner eurer Söhne, Brüder oder Gäste, und wenn's doch einer tut, dürft ihr Bußgeld fordern; drittens für die Magd, dass sie vor Besuchen besagter Personen geschützt ist; viertens aber auch für das Eheweib, dass sie nicht in Ungewissheit verharren muss, vermuten, verdächtigen, und doch wieder hoffen, derlei Herzeleid bleibt ihr so erspart! Fünftens solltet ihr Weiber die Alternative bedenken, die wahrlich schrecklich wäre."

Tristan blickt nun doch die Weiberriege mahnend an, der Reihe nach, auch Lîf, diese aber nur ganz kurz.

"Denn es ist nun einmal so", erklärt er, sich innerlich windend, "dass Männer einen viel größeren Drang verspüren als die Weiber. Also, bei den meisten Männern ist das so"—Huch, diese Einschränkung ist neu!—"und deshalb ist es für alle das Beste, die Ehegatten erleichtern diesen gelegentlich an den Mägden und nicht an anderen Weibern, also etwa, dass er unverheirateten Mädchen nachstellt. In ständiger Sorge um eure Töchter wärt ihr! Eher noch schlimmer aber wäre es, er tät sich unter den verheirateten Frauen umschauen, dann müsstet ihr nicht nur um sein Leben bangen, sondern auch um das eurer Freundinnen, denn stellt euch vor, euer Mann steigt eurer besten Freundin ins Bett, worauf deren Gatte die beiden erwischt und rechtmäßig erschlägt! Also ist's doch besser—nicht wahr, das seht ihr ein?—er geht ab und zu einer Magd unter den Rock. Die Herrin des Hauses seid ihr, da braucht man auf so ein Geschöpf nicht neidisch sein. Und eurem Gatten seht es nach, so wie er euch eure ganzen Weibermarotten nachsieht, das Tratschen und die Neugier und die Schmucksucht."

Nein, bei den letzten Worten schaut er Lîf nicht an. Er will nicht, dass sie denkt, er habe sie in dieser Hinsicht bereits um Verständnis zu bitten, wo er doch, seit er sie heimgeführt hat, für keine Magd ein Auge hatte, für kein Weib, außer für sie.

"Die Fridelehe dagegen ist tatsächlich eine Ehe, doch einer minderen Art. Was der Vertragsehe gleichbleibt betrifft lediglich die Kinder, die aus dieser Beziehung hervorgehen. Der Vater hat das Recht, sie anzuerkennen oder nicht. Lehnt er sie ab, entscheidet das Weib selbst, was sie damit tut. Wenn er sie aber anerkennt, sind sie seinem Schutz unterstellt und gelten als seine Erben, ganz so, als wären sie aus einer Vertragsehe hervorgegangen. Das Weib aber, oder auch fridla genannt, gelangt nicht in seinen Rechtsschutz, das heißt er erhält nicht die Vormundschaft über sie und muss sie nicht vor dem Gesetz vertreten, auch wird keinerlei Brautschatz oder sonst etwas verhandelt. An ihrem Rechtsstatus ändert sich nichts. Die Fridelehe wird oft als Zweitehe geschlossen, unter einer Voraussetzung: die Erstfrau muss zustimmen. Dies geschieht eigentlich nur dann, wenn sie ihrem Mann keine Kinder schenken konnte und nun Angst hat, er könnte sie verstoßen, oder sich aber sorgt, was aus ihm und ihr im Alter werden solle. Was aber bewegt die fridla dazu, sich auf so etwas einzulassen? Nun, den Fall mit der jüngeren Schwester, die der älteren helfen und diese auch nicht missen wollte, erwähnte ich bereits. Oder die fridla ist eine junge Witwe, die ihren eigenen Hof hat und Kinder aus der ersten Ehe und dies erbrechtlich nicht durcheinander bringen will. Der dritte Fall ist das noch unverheiratete junge Weib, das sich hat verführen lassen und nun bereits ein Kind unter dem Herzen trägt. Für ein solch leichtfertiges Ding die Verantwortung zu übernehmen, da würden die meisten Männer sich scheuen, daher ist eine Fridelehe ihre beste Hoffnung. Wenn sie sich ihrem Mann beweist, kann dieser später immer noch mit dem Vater oder Vormund einen Vertrag aushandeln, sodass sie sein rechtmäßiges Weib wird. Die Kinder, in jedem Fall, sind rechtmäßig, so der Vater sie annimmt."

Trotz der erschütternden Dinge, die Tristan da vorträgt, werden seine Zuhörer immer unruhiger. Er spürt, dass sie sich den Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit nähern und dringend eine Verschnaufpause benötigen. Doch eine letzte Sache muss er noch loswerden—in eigener Sache.

"Die vierte und letzte Form der Ehe, die ich übrigens in diesem Jahr aus gegebenen Anlass zum ersten Mal aufführe, ist die Raubehe."

Plötzlich werden auch etliche der Leute an den anderen Feuern hellhörig. Ein neues Thema? Nach sechzehn Jahren? Ringsum verstummen Gespräche und bestimmt zehnmal so viel Augenpaare wie zuvor heften sich gebannt auf ihren Gesetzessprecher.

"Um überhaupt herauszufinden, was es damit auf sich hat, musste ich tief in Torbens Aufzeichnungen stöbern, aber ich wurde fündig. Und weil man ja nicht wissen kann, ob sich der ein oder andere meiner Fahrtenbrüder nicht eines Tages in derselben Lage wiederfindet wie ich mich vor wenigen Monaten, möchte ich ihnen meinen Fund nicht vorenthalten. Die Alten, die sich an entsprechende Fälle noch erinnern, dürfen gerne aufmerken und mich verbessern oder aber mir zustimmen, ob das alles seine Richtigkeit hat, was ich hier vortrage.

Die Raubehe also ist der Vertragsehe, die ich als erstes beschrieb, in jeder Hinsicht vor dem Recht ebenbürtig. Einzig die fünf Rechtsakte, durch welche sie ihre Rechtsgültigkeit erlangt, unterscheiden sich teilweise. Der erste Rechtsakt ist, wenig überraschend, der Raub und die Heimführung der Braut. Der Raub ist hierbei ein zweifacher: erstens raubt man ihrer Sippe ein Mitglied und zweitens ihrem Vater die Vormundschaft. Dabei ist zu beachten, dass ein Raub von Jarlsö, Ingla oder Seeholm nicht rechtmäßig wäre, denn dies würde gegen den Frieden verstoßen, den wir einander geschworen haben. Hier bleibt einzig der Vertragsweg, im selteneren Fall auch die Fridelehe. Hat man sich aber entweder von Albion oder dem Festland oder auch aus Frankia ein Weib heimgeführt, so ist der zweite Rechtsakt ihre Zustimmung zu der Ehe. Ihr habt richtig gehört: ohne die Zustimmung der Braut kann eine Raubehe nicht rechtsgültig sein. Warum ist dies so? Nun, man hat ja schon ihrem Vater das Recht geraubt, über die Tochter zu bestimmen, aber jemand muss zustimmen aus ihrer Sippe, das kann also in diesem Fall nur sie selbst sein. Die restlichen drei Rechtsakte sind dann dieselben wie bei der Vertragsehe: Schlüsselübergabe, Hochzeitsmahl und Beilager.
[3]

Die Alten bestätigten Tristans Rede tatsächlich mit Klopfen oder mit Zwischenrufen: "Ja, so war's damals beim langen Knut!", worauf ein anderer kicherte: "Und seine Gerda war bloß halb so groß wie er, aber er wollt' sie unbedingt haben! Aus Frankia hatte er sie." Und derlei obskure Bemerkungen, die Tristan aber mehrere Steine vom Herzen fallen lassen. Während der gesamten Rede zur Raubehe ruht sein Blick auf Lîf; halb hoffnungsvoll, halb besorgt achtet ihr Gatte auf jede noch so kleine Regung auf ihrem Gesicht. Endlich gelangt er zum Schluss.

"An dieser Stelle kämen jetzt eigentlich die vier Scheidungsgründe, welche wir schon erledigt haben. Witwer und Witwe handele ich gern zusammen mit dem Erbrecht ab, für das es jetzt aber recht spät geworden ist. Daher würde ich sagen, wir begeben uns jetzt erst einmal auf einen wohlverdienten Rübeneintopf zu den Langhäusern hinüber. Das heißt, ich versuch's doch noch einmal: Hat jemand noch Fragen zu meinem Vortrag?"
 1. Tristan, anders als meine bisherigen Barden, hat leider keinerlei Konzept von "mixed metaphors"...
Sense Motive = 16 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1034639#msg1034639) fürs richtige Deuten der Weiberblicke.
 2. Lîf darf gern auf sense motive würfeln, mit Gattenbonus, gegen DC 12 (= Es ist Tristan schrecklich peinlich, von dem nächsten Thema zu sprechen) bzw. bei erreichtem DC 15 (= Es ist Tristan peinlich vor ihr davon zu sprechen).
 3. Hier hätte ich einen Vorschlag für Fersland, von dem Lîf vielleicht weiß, vielleicht auch nicht: auch in Fersland gibt es die "Raubehe", die eigentlich genauso funktioniert wie die Inselvariante, nur dass die Reihenfolge der ersten beiden Rechtsakte vertauscht ist. Trotzdem zählt der Raub hier auch als Gewalttat, da die Rechte des Vaters/Vormundes der Frau und die ihrer Sippe verletzt werden. Frauenraub in Fersland ist gesetzlich verboten und strafbar. Die Sippe der Frau könnte den betreffenden Herren erschlagen, wenn sie seiner nur habhaft wird. Allerdings sieht das Gesetz ebenfalls die Möglichkeit einer friedlichen Einigung vor, ggf. vor Gericht, vorausgesetzt, dem Raub folgte eine rechtsgültige Eheschließung.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 16.09.2017, 19:22:46
Das unterdrückte Kichern der jungen Weiber verstummt rasch wieder, als auch sie ihren Dämpfer von Tristan bekommen. Sie nicken alle pflichtschuldig. Es war ja nicht bös gemeint, sie wissen schließlich, dass Mann und Weib eine Schicksalsgemeinschaft sind, wollen ihren künftigen Männer gewiss gute Weiber sein... doch eine kleine Neckerei hier und dort, der ist schwer zu widerstehen, lassen sich doch auch die jungen Burschen selten zweimal bitten, auf ihre Kosten zu scherzen. Der Ernst, mit dem Tristan seinen Vortrag hält, löst wohl bei den Zuhörern immer wieder unwillkürliche Anstrengungen aus, es ihm gleichzutun, doch es bleibt dem Skalden der Eindruck, dass die jungen Leute in ihrer Unbekümmertheit wohl erst noch durch die harsche Schule des Lebens werden gehen müssen, ehe sie die volle Tragweite all seiner Worte recht erfassen können. Selbst bei seiner Lîf kann er sich nicht sicher sein, wie reif sie wirklich schon ist. Gewiss, sie ist nach gültigem Brauch allemal alt genug, einem Mann beizuwohnen, ihm Kinder zu schenken und seine Güter zu verwalten. Indes, sie ist noch nicht lange dem Mädchenalter entwachsen, und wie sie so inmitten der jungen Weiber steht und sich offenbar immer besser mit ihnen zu verstehen beginnt, nun... vielleicht ist es ja auch ihre jugendliche, frische Art, die ihn anzieht: ein wenig unbedarft, ungestüm, naiv sicherlich, aber auch unverdorben und weit entfernt von der oft mürrischen Art alter Matronen. Nur so wankelmütig und hitzköpfig...

Er bleibt, zu seinem Ungemach, ausgerechnet vor jenem Feuer stehen, an dem sich die Weiber versammelt haben, und schaut beim Aufblicken Lîf fast direkt in die Augen. Sie sieht ihn aufmerksam an, runzelt die Stirn leicht, als er sich merklich windet[1] – ist ihm etwa peinlich, was nun folgt? ...ihretwegen?! Sie wundert sich zunächst nicht wenig, hat er diesen Vortrag doch nach ihrem Wissen schon viele Male gehalten. Doch je länger er redet, desto deutlicher glaubt sie zu wissen, warum er zögert. Natürlich: Hier verkündet er Regeln, die nur von Männern ersonnen und zu Gesetzen erhoben worden sein können! Alle möglichen Formen von Rechten, die ihnen erlauben, ihr Vergnügen bei vielen Weibern zugleich zu suchen! Sie schnaubt wütend, als sie sich umsieht. Die anderen Weiber schweigen, blicken zum großen Teil zu Boden, wohingegen die Burschen am Nachbarfeuer wieder grinsen wie die Honigkuchenpferde – natürlich! Der Rotschopf verschränkt die Arme und schürzt unwillig die Lippen. Kebsehe – ha! Eine legale Möglichkeit für den Mann, unter viele Röcke zu kriechen! Und sein Weib?! Das muss natürlich zufrieden und dankbar sein, wenn es davon Mitteilung erhält, denn mehr steht ihr ja nicht zu! Obwohl sie geahnt hat, dass diese Sitte, die es auch in Fersland gibt, unter den raubeinigen Piraten hier auf den Inseln kaum gerechter geregelt sein konnte, fühlt sie doch Enttäuschung.

Vielleicht, weil ihr bewusst wird, dass auch für sie nun derlei gilt: Wenn es Tristan einfällt, dass er Bedürfnisse hat, die sie nicht befriedigen kann, so muss sie ihn schweigend gewähren lassen, falls er ihr verkünden sollte, dass er sich zwei oder auch drei Kebsen nimmt. Ungerecht! Ungerecht und dreimal ungerecht! Hat die Große Mutter den Weibern nicht die heilige und wichtige Pflicht auferlegt, das junge Leben in ihrem Leib auszutragen, hat ihnen damit Schmerzen und Ungemach aufgebürdet, die ein Mann niemals kennenlernt?! Und fügen sich die Weiber nicht dieser Pflicht willig, werden sie nicht wieder und wieder geschwängert, verbringen ihr halbes Erwachsenenleben mit einem dicken Bauch, Rückenschmerzen, Übelkeit, um dabei umso rascher zu altern? Und dann sollen sie auch noch friedlich mit ansehen, wie die Mannsleute, frei und schlank wie zuvor, anderen Röcken nachsteigen?! Sie zieht einen Schmollmund wie ein kleines Kind – fast sieht die heißblütige Lîf aus, als wolle sie mit dem Fuß aufstampfen. Oh, und gewiss ist es gerecht, wenn man dem Manne solches nachsieht, verzeiht er einem doch das gelegentliche Klatschen mit der Nachbarin, wenn er monatelang auf Raubfahrt unterwegs ist, und den – warum wohl? – typisch weiblichen Wunsch, neues zu erfahren aus der weiten Welt, von welcher die Haus und Hof Hütende, meist Schwangere ja stets nur aus zweiter Hand erfahren kann.

Das sind sicherlich gleichwertige Fehler, ja, ja..! Wieder schnaubt sie, und Elske fasst besorgt ihre Hand. Der Blick der jungen Frau ruht starr auf Tristan, während er über die Raubehe zu sprechen beginnt. Sie weiß genau, dass sich in diesem Augenblick die Augen der jungen Weiber auf sie richten, und dass ihre Wangen rot aufflammen, beschreibt er doch da ganz exakt, was ihr widerfuhr. Nun, fein, dann ist ja alles rechtens! geht es ihr mit bitterem Sarkasmus durch den Kopf. In diesem Moment vergisst sie, dass er sie weit anständiger behandelt hat, als sie, einfache Magd und Kriegsbeute, hoffen durfte. Sie vergisst auch, dass sie ihre notwendige Zustimmung gab, wie er ausführte, weil sie... oh, welche Empfindungen für ihn sie realisierte, schiebt sie in Gedanken auch gleich beiseite, es stört nur ihren Zorn, ihre Empörung! Sie will jetzt empört sein! Da hilft auch Elskes sanftes Drücken der Hand nichts, hilft das verständnisvolle Nicken der umstehenden Jungweiber nicht. Wieso bloß hat sie all dem zugestimmt, ist sie sein Weib geworden? Er hat sie schließlich geraubt. gemeinsam mit seinen liederlichen Kumpanen! Wenn sie nur an ihrer Gefährtinnen denkt, die angstvollen Augen unter den hässlich geschorenen Schädeln... Was hat sie dazu gebracht – seine Stimme? Hat er sie verzaubert..? Nein, Lîf weiß tief in ihrem Inneren sehr wohl, was sie veranlasst hat, ja zu sagen. Denn es lässt sich auch jetzt nicht wirklich leugnen, als er sie anschaut. Sie kann seinem Blick nicht standhalten und senkt mit tiefrotem Gesicht den Kopf. Elske schaut zwischen ihr und Tristan hin und her, besorgt, ratlos.[2]

Auf Tristans Frage meldet sich auch diesmal niemand von den jungen Leuten, obwohl zumindest die Burschen nichts von den stummen Blicken bemerkt zu haben scheinen, die da zwischen dem Weiberfeuer und dem Rechtsverkünder hin und her gehen.
 1. Motiv erkennen mit einem Ergebnis von 14 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1034674#msg1034674) +2 "Gattenbonus" = 16.
 2. Den Vorschlag zur Variante der Raubehe in Fersland finde ich gut. Den können wir gern so übernehmen.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 16.09.2017, 22:32:27
Da Tristan, als er die Kebsehe erklärte, gezielt überallhin nur nicht auf seine Lîf geschaut hat und erst zum Thema Raubehe wieder ihren Blick sucht, ist er recht erschrocken, welche Veränderungen sich inzwischen dort ereignet haben. Und das wird nicht besser, sondern eher schlimmer, als er sie der Rechtmäßigkeit ihrer Ehe zu versichern sucht, deren Gleichwertigkeit zur Vertragsehe. Kann Lîf nicht einfach erleichtert sein über die Belege, die er gefunden hat, dass tatsächlich alles rechtens ist mit ihrer Ehe? Dass niemand an ihrem Rechtsstatus rütteln kann, indem er etwa behaupten wollte, sie sei ja wohl eher eine fridla denn ein rechtes, also ein geschütztes wie auch erbberechtigtes Eheweib? Dass Lîf, sollte Tristan von der nächsten Fahrt nicht heimkehren, in jedem Fall versorgt sei, denn sie würde sein Hab und Gut erben, außer es gäbe bis dahin einen Sohn, jedenfalls dass niemand sonst sich seinen Besitz unter den Nagel reißen könnte? Aber man schaue sich das Weib an: wie zornig funkelt sie ihn an, wie empört bläst sie die Backen auf! Überhaupt, er trägt hier doch bloß die Gesetze vor, was straft sie ihn mit Blicken, als sei er allein dafür verantwortlich, dass die Welt ist, wie sie ist? Ein wenig ermüdend ist das ja schon, ihr ständiger Gemütswechsel, die sich aus heiterem Himmel zusammenbrauenden Gewitterstürme! So sehr er sich auch um sie bemüht, ihr Sicherheit geben will, eine Freude machen, und das hier ist doch meist sein Lohn dafür![1]

Aber manchmal ist sein Lohn eben auch, dass sie sich an ihn kuschelt wie heute morgen oder auch gestern abend, dass sie lacht und ihm plappernd etwas erzählt und er kann sich nicht satthören am Klang ihrer Stimme, dass sie eine Hand unter sein Wams gleiten lässt, seine Brust zu streicheln...

"Gut, also dann, wenn alles klar ist..." Tristan schaut sich nach Jarl Gisle um, welcher bereits herannaht und dabei laut über dem Kopf in die Hände klatscht, um die letzten Unaufmerksamen unter den Anwesenden zu alarmieren, dass sich hier jetzt etwas tut, nämlich:

"Ihr habt meinen Skalden gehört, auf zum wohlverdienten Mahl. Und danach hören wir uns dann Thorsteins Klage gegen seinen Vetter Björn bezüglich Rike, des ersteren Weib an. Tristan—dank für deinen Vortrag. Besonders aufschlussreich, diesmal!" Dazu gibt's einen kräftigen Schlag auf die Schulter. Die nächsten Worte des Jarls gehen an Tristan persönlich, gegen die vorige Lautstärke sind sie fast schon geflüstert, sodass die Weiber am nahen Feuer nur hier und da ein Wort verstehen, die sich in der Summe aber zu keinem Sinn verknüpfen lassen. Der Jarl zieht Tristan mit sich fort, immer noch plaudernd, da treten Ole und der einäugige Ansgar hinzu und mischen sich ein, und bald ist Lîfs Gatte der Mittelpunkt einer bewegten Männertraube. Seine Schulter wird noch mehrmals geklopft, es wird grob gelacht, und ein etwas lauterer Ausruf des Jarls dringt zu Lîf hinüber: "Keiner erklärt den Weibern die Sache so gut wie du!"

Darauf gerät die Menge jedoch in Unruhe. Deren Urheber bleibt Lîf zunächst verborgen, bis Tristan sich endlich einen Weg durch die geschlossenen Reihen ins Freie erkämpft hat. Er hebt die Rechte zu einem allgemeinen Abschiedsgruß, setzt noch ein "Bis nachher!" hinzu, ist schon fast davon, da fasst ihn jemand am Arm und redet wieder auf ihn ein.

Unentschlossen schaut Tristan zwischen Lîf und dem Mann hin und her, scheint zu zögern—trotz des Versprechens, das er ihr gab! Geht Lîf dieser Gedanke durch den Kopf? Wird ihre Miene deshalb noch finsterer? Oder bildet Tristan sich beides nur ein? Indes, wäre er ein weiserer Mann, als er ist, würde Instinkt ihm nun raten, seinem braven Eheweib erst einmal Zeit zu geben, sich zu beruhigen, Abstand zu gewinnen, statt sofort ihre Nähe (oder gar Meinung) zu suchen. Aber ein weiser Mann ist Tristan wahrlich nicht, dafür einer, der zu seinem Wort steht. Und er hat ihr sein Wort gegeben; dass zu dem Zeitpunkt eitler Sonnenschein herrschte, jetzt aber der Sturm die Wellen peitscht, rüttelt daran nichts.[2] Also reißt er sich los und geht zu Lîf hinüber—fieberrot im Gesicht.

"Mutiger Kerl!" ruft ihm jemand noch hinterher und erntet dafür Gelächter. Tristans Gesichtsfarbe wechselt zu Purpur.

Vor seinem Weib bleibt er stehen und, als sie keine Anstalten macht zu ihm zu treten oder sich auch nur von Elske zu lösen, räuspert er sich.

"Wollen wir zusammen zurückgehen, Liebes?" fragt er bemüht jovial.
 1. Nebenbei: eine Mehrehe, wie Tristan sie hier im Zusammenhang Fridelehe beschrieb, dürfte es in Fersland dann doch nicht geben, das ist eine Spezialität hier auf den Inseln (ggf. noch Albion), getreu Alberichs Motto: ein Weib auf jeder Insel.
 2. will save gg. Furcht geschafft (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1034688#msg1034688) mit einer 15 vs. 12.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 17.09.2017, 12:55:53
Der Ruf und die kurze Ansprache des Jarls lassen die ohnehin nur oberflächlich feierliche Atmosphäre sofort in ein ausgelassenes Gemurmel und tausend fröhliche Gesichter umschlagen. Bis auf die jungen Weiber und Burschen, deren Gedanken noch mit all den Regeln und Gesetzen beschäftigt sind, die künftig für sie gelten werden und die man sich in ihrer Vielzahl so schwer merken kann – wie macht dieser Skalde das bloß?! – sind alle Anwesenden mit einem Mal in Feierlaune. Das Mahl ist immer eine angenehme Angelegenheit, und der angekündigte Rechtsstreit verspricht spannende Unterhaltung zur Verdauung. Zumindest für jene, die nicht selbst zu den Involvierten in diesem Fall gehören oder eng genug mit ihnen verwandt sind, um persönlich Anteil zu nehmen. Daher zerstreuen sich die kleinen Gruppen um die Feuer zusehends, wimmeln durcheinander und bewegen sich fröhlich plaudernd dem wartenden Genuss entgegen. So mancher diskutiert eifrig mit dem Nachbarn des Skalden Neuerung am altbekannten Vortrag – dieses Thema erhitzt die Gemüter durchaus, und man sieht interessanterweise Weiber und Männer sich jeweils Gesprächspartner desselben Geschlechts suchen, um sich darüber auszutauschen.

Die Gruppe um Lîf hat ebenfalls begonnen, der allgemeinen Marschrichtung zu folgen, nur Elske ist noch bei dem empörten Rotschopf geblieben und hat nun ihrerseits den Arm sanft um die neue Freundin gelegt, redet beruhigend auf sie ein, fast wie auf ein trotziges Kind. Das wenige, das sie gerade noch an Worten vom Jarl aufschnappen konnte, hat Lîf nämlich die Zornesröte gleich wieder ins Gesicht getrieben. Und kaum weniger regt sie sich darüber auf, wie ruhig die Weiber die von Tristan verkündeten Gesetze aufgenommen haben. Sicher: Sie reden untereinander leise darüber, und bei der einen oder anderen sieht man dabei gelegentlich einen leicht mürrischen Gesichtsausdruck. Doch zu Lîfs Entsetzen scheint das wartende Mahl die Weiber weit mehr zu beschäftigen, ganz wie ihre Männer. Sie presst die Lippen zusammen, die Arme noch immer verschränkt, und starrt auf den Boden zu ihren Füßen. Dies alles kommt ihr so ungerecht vor – wo ist Gayas Zorn darüber, dass Ihre Töchter, die Ihr doch gewiss genauso lieb sind wie die Söhne und noch zudem ähnlicher, von diesen so behandelt werden?! Es ist ihr natürlich auch vage bewusst, dass es ebenso wenig gerecht ist, alles Tristan anzulasten, der die Gesetze immerhin nur verkündet und sie nicht gemacht hat.

Doch wie so oft in solchen Situationen kommt die Zeit des Bedauerns bei ihr erst später. Jetzt im Moment ist ihr Zorn entflammt! Daher sieht sie auf, als er sie anspricht, und sagt nur ziemlich kühl: "Natürlich." Für einen Moment drängt es sie danach, sich Elske zuzuwenden und etwas zu ihr zu sagen, das Tristan beschämt, in der Art von "Entschuldige bitte, aber mein Herr und Gebieter ruft..." Aber dann beißt sie sich auf die Lippen und unterlässt es. Sie kann von ihrer Erregung nicht so rasch lassen, ihr Blut erhitzt sich schnell und braucht eine Weile, um wieder kühler und ruhiger zu fließen – doch ihn derart gehässig zu treffen, daran hindert sie etwas: eine unsichtbare Hemmschwelle, die ihr sagt, dass es gemein und niederträchtig wäre, so zu handeln. Wütend, dass sie ihm ihre Empörung zeigen will, es aber nicht kann, ohne womöglich die Kontrolle zu verlieren und übers Ziel hinauszuschießen, flammen ihre Wangen wieder auf. Elske, die nicht allzu viel Einfühlungsvermögen benötigt, um das drohende Gewitter zu ahnen, lächelte Lîfs Mann an, als wolle sie sich für sein Weib stellvertretend entschuldigen.

Sie öffnet schon den Mund, um die beiden mit einem diplomatischen Abschiedswort allein zu lassen, als hinter Tristan eine Männerstimme ertönt: "Skalde! He, Tristan – ich hab' da eine Frage zu dieser Raubehe, von der du sprachst. Du weißt doch sicher, die Torhild, die Mutter meines Weibes, die kam so in ihres Vaters Haus, damals. Da wollt' ich dich fragen, wie das nun ist, wenn meine Jessa als ihre Tochter..." Der Mann, ein Fischer namens Snorri von Ingla, soweit sich Tristan erinnert, ist bei diesen Worten an den Skalden herangetreten und will ihn in ein Gespräch verwickeln. Elske, in diesem Moment besonnener als Lîf, sieht Ruf und Liebe Tristans und seines Weibes in Gefahr, so der Rotschopf hier vor Zeugen gegen ihren Mann womöglich in der Erregung Dinge sagt, die ihn wiederum zwingen würden, sie zu züchtigen, will er nicht als Schwächling gelten... Elske also zieht Lîf mit sich und nickt Tristan zu, als wolle sie ihm sagen: "Es ist gut, widme dich dem Manne, ich passe solange auf dein Weib auf." Und Lîf lässt sich von ihr wegführen, wütend, verwirrt, bestürzt auch über die Macht, mit der die Leidenschaft sie wieder einmal gepackt hat.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 17.09.2017, 22:54:35
"Ja, was soll sie schon... Lîf, halt, warte, ich... ja Moment, ich muss nur rasch, du siehst doch, mein Weib... kann das nicht warten...", stammelt Tristan, hin- und hergerissen zwischen Pflicht und dem Wunsch, Lîf zu beruhigen. Aber dann mischt Elske sich einfach rein und zieht ihre neue Freundin mit sich, auf eine Weise, dass man denken könnte, diese sei in akuter Gefahr, von ihrem Gatten verprügelt zu werden und man müsse sie daher rasch aus seiner Reichweite schaffen, bis er sich abgeregt hätte. Verwirrt den Kopf schüttelnd, blickt er den beiden nach, bevor er das einzige tut, was ihm übrig bleibt: er wendet sich dem Fragesteller zu.

"Snorri, jetzt, worum geht's denn? Was ist mit deiner Jessa? Was plagt dich? Hast du Sorge, eure Ehe könnte nicht rechtmäßig sein? Weil Torhild deinem Schwiegervater damals ihre Zustimmung vielleicht nicht gab oder keine Schlüsselübergabe stattfand, kein Hochzeitsmahl? Das Beilager dürfen wir ja wohl als gegeben ansehen. Also schön, nehmen wir an, es wäre nicht alles rechtens gelaufen mit der Torhild, was dann? Im schlimmsten Fall könnte jemand, der es auf ihr Erbteil abgesehen hat, vor Gericht erstreiten, dass sie als seine fridla zu gelten hätte. Aber das beträfe doch deine Jessa nicht! Denn auch in einer Fridelehe sind die Kinder, die der Gatte annimmt, rechtmäßig, also jenen Kindern, die aus einer Vertragsehe hervorgehen, in allem völlig gleichgestellt. Das heißt, es war in jedem Fall deines Schwiegervaters gutes Recht, mit dir und deinem Vater für Jessa einen Verlöbnisvertrag auszuhandeln. Eure Ehe ist also auf jeden Fall rechtens. Oder war es etwas anderes, das dich sorgt?"

~~~

Elske und Lîf schlendern also gemeinsam den Weg zurück, den sie am Morgen getrennt gekommen sind. Nachdem man die Männer und vor allem Tristan weit hinter sich gelassen hat, spricht Elske spricht als erste.

"Ganz schön viel, das man sich da merken muss, nicht wahr? Du hast es gut, Lîf, dass du jederzeit nachfragen kannst, wenn du etwas vergessen hast!"

Das stimmt und es stimmt wiederum nicht. Elske müsste sich nur trauen, dann könnte sie es nämlich auch. Jeder, der eine Frage zu den Gesetzen hat, darf jederzeit den Gesetzessprecher um einen Rat angehen. Also selbstverständlich auch die Weiber, nur tun sie es selten. Seit Lîf in Tristans Haus wohnt, hat es ein Dutzend ratsuchender Besucher gegeben, wenn nicht gar zwei, davon ein einziges Weib. Dabei hat der Gesetzesvortrag Lîf eines ganz deutlich gezeigt: dass die Weiber gewiss nicht weniger Rechtsfragen als die Männer haben. Warum also trauen sich nicht mehr von ihnen, diese zu stellen? Jeden seiner Besucher hat Lîf ihrem Mann das Versprechen abnehmen hören, die Anfrage auch bestimmt ganz im Vertrauen zu behandeln, welches Tristan bereitwillig gab, denn nichts anderes käme ihm in den Sinn. Es gehe schließlich darum, Frieden zu stiften, erklärte Tristan seinem Weib wiederholt, wie wäre es da wohl drum bestellt, wenn der Gesetzessprecher das Tratschen anfinge! Und einmal hat Tristan ein wenig vor Lîf geprahlt, dass er auf diese Weise bestimmt die Hälfte aller Rechtsfälle verhindere, indem er die Leute vorher zur Vernunft brächte.

Was Tristan allerdings 'einen Kerl zur Vernunft bringen' nannte, klang für sie verdächtig nach 'ihm drohen', wie in den beiden Gesprächen, die Lîf, unabsichtlich, in Teilen mitangehört hat: 'Ha, damit kommst du vor Gericht niemals durch, da müsstest du dich noch glücklich schätzen, die Versammlung dreht den Spieß nicht herum und am Ende musst du dem Beklagten eine Sühne zahlen!' oder auch: 'Ja, natürlich kannst du das versuchen—wenn du dich unbedingt vor allen Leuten lächerlich machen willst!' Jedenfalls nimmt er da keinerlei Blatt vor den Mund und ein Weib könnte bei solch grober Rede vielleicht tatsächlich erschrecken.[1] Aber gewiss ist sein Rat dabei ehrlich, ob auch ein Mann oder Weib ihn darum bäte? Sie versucht sich vorzustellen, dass er einem Weib einen schlechten Rat gäbe, nur um einen Mann, den sie vielleicht verklagen wollte, zu decken... oder einfach nur, damit sie Ruhe gäbe und sich brav füge... Kann Lîf sich von Tristan so etwas vorstellen? Selbst jetzt, in ihrem Zorn?

"Ich finde jedenfalls, er hat das alles sehr gut erklärt", fährt Elske fort, als ihre Begleiterin nicht auf die Ansprache reagiert. "Ein wenig hat er mir sogar Mut gemacht! Nicht, dass ich mich jemals trauen würde, beim Vater anzukriechen, er möchte mich doch vor meinem Mann beschützen, aber die Sache mit der Brautnacht... das hat noch keiner so beschrieben! Egal, wen ich gefragt habe, ob Mutter, Tante, Schwester oder Freundin, alle haben mir bloß gesagt: Da musst du als Weib halt durch. Dass man selbst aber dabei nicht nur still erduldet, sondern etwas tut, nämlich seinen rechtmäßigen Platz einnimmt, an die Seite seines Mannes tritt, eine eigene Rechtsperson wird... das ist doch irgendwie ein sehr ermutigender Gedanke, nicht wahr?" Sie kichert plötzlich. "Und wie verdattert die Burschen aus der Wäsche geguckt haben, als er ihnen all ihre Pflichten aufzählte! Dazu die ganzen Warnungen, es nicht zu toll zu treiben, sich nicht zuviel mit uns Weibern herauszunehmen! Ich hab' die ganze Zeit immer wieder zu meinem Ragnar rübergelugt: schreckensweit waren seine Augen und der Mund stand ihm offen!"
 1. Tristan hat nun einmal kein diplomacy, nur intimidate. Wobei, mit +4 Charisma erreicht man ja auch schon einiges ohne einen Rang.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 18.09.2017, 15:04:33
Snorri, der Tristan endlich am Ärmel zurückhalten konnte und erleichtert scheint, dass Elske dessen Weib mit sich zieht, sieht sich zunächst noch einmal um, ehe er mit gesenkter Stimme erklärt: "Nein, nein, das ist's nicht. Nur kränkelt Jessas alter Vater jetzt schon eine ganze Weile – da ist es abzusehen, wann er den Löffel ab... hrm. Ich meine, wann er in den Schoß der Großen Mutter zurückkehrt. Der Alte ist ein zäher Knochen, der immer seine Schäfchen beisammen gehalten hat. Da lauern natürlich schon so einige liebe Verwandte darauf, dass es soweit ist" meint er dann mit einer Selbstverständlichkeit, die recht unklar bleiben lässt, was den Fischer denn nun von den erwähnten "lieben Verwandten" unterscheiden soll.

"Deshalb wollt' ich wissen, wie das nun ist, wenn sich rausstellt, dass es mit Torhild damals nicht ganz astrein war... Heißt das, dass meine Jessa dann leer ausgeht? Ihre beiden älteren Halbschwestern haben so was behauptet. Zwei selten dumme Gänse, die der Alte noch von seinem ersten Weib hatte. Der hatte auch ein Pech: erst keinen Sohn, sondern nur Töchter, und dann auch noch so blöde Exemplare mit losen Mäulern, die dafür im Monat kein Tagewerk von meiner emsigen Jessa zu spinnen wissen!" schnappt Snorri erbost, wenn auch immer noch vorsichtig leise. "Na, auf jeden Fall haben sie schon ihre Schandmäuler aufgerissen, dass alles ihnen gehört, das heißt also ihren sauberen Männern, und die sind erst recht zwei Blödköpfe, die zu ihren Weibern passen! Das wär' doch nicht recht, oder? Wir wollen ja gar nicht viel, aber ich bin nur ein Fischer und kann meiner Jessa kaum den Stoff für ein neues Kleid kaufen – und der Alte hat doch Äcker über Äcker!"

~~~

Die junge Frau wirkt abwesend, als sie sich von Elske mitziehen lässt. Sie schwankt noch immer zwischen dem Zorn, der so hell aufgeflammt ist, und jenen anderen Gefühlen für Tristan. Dabei ist sie, ganz gemäß ihrer Natur, sogar so trotzig, dass sie sich gegen das langsame Abebben ihrer Empörung zu stemmen versucht. Wie ihr so immer mehr Argumente einfallen, die zu seinen Gunsten sprechen, kommt sie sich vor, als ob ihre schöne Wut, ihre Tatkraft und Entschlossenheit, ihr zwischen den krampfhaft geschlossenen Händen hervor rinnt wie feiner Sand. "Ich hab's gut?! So, meinst du..." murrt sie missmutig zu Elskes Worten. Es muss ein Zauber sein, mit dem er sie von einer wilden Bärin in eine sanfte Ricke verwandelt! Nicht dass sie in jenen Momenten ihre entflammbare, voreilige Art nicht ebenso verdammen würde wie jetzt ihre vermeintliche Schwäche, dass ihr dann nicht das falsch erschiene, was jetzt richtig ist, und umgekehrt. Aber es gibt ihr doch ein Gefühl der Stärke und Würde, wenn sie den Eindruck hat, selbst Herrin über ihre wechselhaften Gefühle zu sein.

Tristan ist bislang der einzige Mensch gewesen, dem es gelang – wenn auch erst einige Male, viel öfter scheiterte er daran wohl – ihre Wut im höchsten Zenit zu besänftigen, ihren Herzschlag zu beruhigen und sie einlenken zu lassen[1]. Sie hat es ihm zu verbergen gesucht und ist auch noch davon überzeugt, dass er nichts ahnt – aber diese unheimliche Fähigkeit macht ihr manchmal Angst. Die Angst einer überaus stolzen jungen Frau, hier ihren Meister gefunden zu haben. Hat sie nicht schon dem Schluss der Raubehe zugestimmt, und war es nicht so, dass es nicht seine Argumente waren, die sie dazu brachten, sondern... er selbst?

Sie beißt sich auf die Lippen, spürt Elskes verwunderten Blick auf sich ruhen. Am liebsten würde sie sich umdrehen und zu ihm zurück spähen – schaut er ihr nach? Was tut er gerade? Aber sie verbeißt sich den Drang dazu und bemüht sich um eine Antwort auf die Frage, die unausgesprochen zwischen den beiden jungen Weibern hängt. "Ja... Er kann gut erklären" sagt sie leise, als Elske munter fortfährt. Oh ja, das kann er: Er kann erklären, mit seiner Feenstimme, die einem ins Ohr dringt wie eine sanfte Berührung, und er kann einen dabei so intensiv anschauen, dass man Zorn und Aufbegehren vergisst, um in diesem Blick zu ertrinken... Wieder beißt sie sich auf die Lippen und fühlt ihre Wangen glühen. Ob Elske merkt, was ihre bewundernden Worte für Tristan Lîf bedeuten? Sie fühlt sich wie eine, die man mit Stricken fest angebunden hat und der man nun die nackten Fußsohlen mit Gänsefedern kitzelt: Es ist eine Folter, eine süße zwar, aber eine Folter, sich da noch beherrschen zu wollen.

Es kostet sie unendliche Anstrengung, Elske nicht entweder über den Mund zu fahren oder ihr aus vollem Hals zuzustimmen! Doch der Rotschopf glaubt es aus irgendeinem Grund ihrer Selbstachtung schuldig zu sein, dass sie die Unerschütterliche mimt. Schon als Mädchen war sie stolz, hat selten Hilfe angenommen, überall versucht, ihren Kopf durchzusetzen und sich allein zu behaupten. Jetzt, in ihrer neuen und immer noch recht fremd wirkenden Heimat, ist die Furcht noch viel größer, sich zu öffnen und womöglich anderen zu zeigen, dass sie auch verletzbar ist. Wie soll sie sich nur verhalten?! Alle Vorsicht über Bord werfen, sich Tristan anvertrauen, ihm vertrauen? Oder vorsichtig sein, menschliche Wärme meiden, um nicht hernach plötzlich einsam und allein ganz im Kalten zu sitzen, falls sie sich täuscht? "Ach, Elske..!" seufzt sie so tief bei der Erwähnung von deren Ragnar, dass es fast so übertrieben wirkt wie die gespielten Gefühle bei dem Spektakel um die Ahnen der Inselleute. Nur dass ihr Stoßseufzer nicht gespielt ist.
 1. Ich sage einfach mal, dass ein derart hoher Charismabonus wie seiner sich im Alltag trotz fehlender Diplomatie deutlich bemerkbar macht. Und ich glaube deinem Post entnehmen zu können, dass Tristan ihr gegenüber mit Geduld und Friedfertigkeit auftritt, nicht wie gegenüber anderen Männern (?)
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 18.09.2017, 19:38:11
Ja, natürlich geht es ums Erben. Es geht immer ums Erben. Tristan seufzt innerlich. "Aber genau da haben deine beiden Schwägerinnen unrecht, wie ich bereits sagte", erklärt er geduldig. "Deine Frau ist ihres Vaters vor dem Gesetz anerkannte Tochter, genau wie die beiden, daran gibt es nichts zu rütteln. Schließlich hat er sie in seinem Haus großgezogen; andernfalls hätte er sie nach der Geburt ausgesetzt. Dazwischen gibt es nichts. Und ob die Torhild nun als sein Eheweib oder seine fridla zu gelten hat, tut absolut nichts zur Sache, da können Jessas Halbschwestern gern vor Gericht ziehen, wenn sie sich lächerlich machen wollen. Die Frage, die dich, lieber Snorri, vielmehr interessieren müsste, ist dagegen die: hat dein Schwiegervater noch Brüder? Diese hätten nämlich auch einen Anspruch auf das Erbteil. Wenn du also sagst, er hatte keine, oder diese sind tot und haben auch keine Söhne, so ist die Sache einfach: die Schwestern bekommen jede ein Drittel. Gibt es aber noch andere Ansprüche, so wird's komplizierter. Dennoch kann ich dich schon einmal beruhigen: leer ausgehen wirst du nicht. Bei uns gilt schließlich das Gebot: Unter Brüdern nimmt sich jeder nur das, was er braucht! Haben Jessa und du denn Söhne? Das könnte deiner Sache auch noch einmal helfen. Aber ich sag' dir was: Hör' gleich genau zu, wenn ich nach Thorsteins Klage über das Erbrecht vortrage, und sollten sich deine Fragen dadurch nicht klären, kommst du später noch einmal zu mir. Machen wir es so?"

~~~

"Ja, gut hast du's", bekräftigt Elske. "Ich meine, es klingt schon tröstlich, dass man beim Vater Schutz suchen kann, wenn's der Gatte zu arg mit einem meint, und vielleicht meinst du deshalb, dass du weniger geschützt bist, aber wie oft traut sich ein Weib das wohl, was meinst du? Ich tät's nicht. Also werde ich meinem Mann genauso ausgeliefert sein wie du deinem und ich kann nur hoffen, dass er so geduldig und liebevoll mit mir ist wie der deine mit dir!"

Lîfs Eingeständnis, so mühsam sie es sich auch abringt, nimmt Elske mit einem zufriedenen Nicken auf. "Siehst du, das meinst du doch auch!" Lîfs Stoßseufzer lässt sie dann allerdings die Stirn runzeln.[1]

"Ich, ach, darf ich was sagen? Ich versteh' dich nicht. Du hast doch vorhin erst gesagt, du und Tristan, ihr wäret glücklich miteinander, sprachst gar von eurem ersten Kind, das du dir bald wünschst. Was du von ihm erzählt hast, das klingt so, als könnte ein Weib sich keinen Besseren wünschen, und heute morgen hat man auch gesehen, wie glücklich ihr miteinander seid! Was ist jetzt plötzlich anders? Worüber genau ärgerst du dich? Dass unsere Männer den Mägden unter die Röcke dürfen, aber untreue Weiber verstoßen oder gar erschlagen werden dürfen? Oder ärgert dich, dass Tristan dich geraubt hat? Entscheide dich! Denn beides zugleich, das geht nicht. Entweder du bist eifersüchtig, dass er einer anderen ins Bett steigen könnte—könnte, wohl gemerkt! Getan hat er's ja offenbar noch nicht und ob er's je tun wird, das weißt du doch gar nicht!—dann jedenfalls liebst du ihn und es müsste dir egal sein, ob er dich von deiner Sippe geraubt oder gekauft hat. Oder aber bist du wütend über deinen Räuber, der dich zwingt, ihm zu Willen zu sein? Müsstest du dann nicht erleichtert sein über jedes Mal, das er seinen Kebsen nachstellt, weil er dann einmal weniger dich bedrängt? Ach, ich kann doch sehen, wie es dich mal in die eine, mal in die andere Richtung zieht! Du weißt gar nicht recht, was du willst, nicht wahr? Was besser wäre?"

Nun seufzt Elske selbst, nicht minder herzzerreißend als Lîf zuvor. "Gerade so geht's mir doch auch! Freu ich mich auf die Hochzeit oder habe ich Angst davor? Wird's mir besser oder schlechter gehen? Wird mein Ragnar so gut zu mir sein wie dein Tristan zu dir? Oder wird er mich schlagen? Ständig betrügen? Saufen und alles Geld verspielen? So wär's dir auch gegangen, wenn der Vater einen für dich ausgesucht hätte! Denn ein Vater achtet auf ganz andere Dinge bei der Wahl seines Schwiegersohn, als ein Weib beachtet, wenn sie sich träumend überlegt, welchen sie wohl gerne hätte. Weißt du, ich bin sogar ein wenig neidisch auf dich! Du hast dir deinen Tristan selbst ausgesucht. Ohne deine Zustimmung hätte er dich nicht haben können." Ihre Augen werden plötzlich groß, als begriffe sie endlich etwas. "Hast du deshalb solche Angst, dass es vielleicht die falsche Entscheidung war: weil es deine Entscheidung war? Deine Verantwortung? Also nicht die des Vaters, von dem man gern denken will, er wird schon alles recht bedacht haben... Als Weib aber denkt man mit dem Herzen und wie gern verleitet einen das zu Dummheiten. Da weiß man einfach nie, ob man ihm trauen darf!"

Ein wenig naiv plappert das junge Weib daher—einerseits. Andererseits hat sie Lîf ziemlich gut durchschaut.

Inzwischen nähert man sich den Palisaden, von woher Tristans Stimme ertönt. Wann hat er die Frauen überholt? "Also bis nachher!" oder etwas ähnlich Banales ruft er irgendwem zu und doch schlägt Lîfs Herz auf einmal schneller.
 1. Sense Motive = 21 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1034764#msg1034764) – Wow, Elske, voll den Durchblick!
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 19.09.2017, 13:31:14
Der Fischer wirkt ehrlich erleichtert, als er Tristan mit jovialem Grinsen auf die Schulter schlägt, dass es nur so kracht. "Ah, hab ich's doch gewusst" erklärt er, nun wieder in gewohnter Lautstärke der Inselmänner – also irgendwo zwischen Brüllen und normalem Sprechen. "Jessa, hab' ich gesagt, Weib, sei unbesorgt, der Gesetzesverkünder ist ein kluger Mann, ein Mann mit was im Kopf! Der zerpflückt diesen dummen fetten Gänsen ihren Blödsinn in der Luft!" Nunmehr offenbar völlig beruhigt, winkt er ab und meint: "Ah was, hat sich was mit Brüdern – ich sag' doch, das Schicksal hat's nicht gut gemeint mit dem armen Kerl: Kein einziger Sohn, nur lauter Mädchen hat ihm seine Alte geworfen. Der tritt im eigenen Haus bei jedem Schritt auf einen Weiberrock. Kann einem direkt leid tun."

Bei Tristans Gegenfrage hellt sich der Blick Snorris weiter auf. Erfreut erwidert er: "Was, wirklich?! Ja, darauf kannst du wohl zählen – mein Weib hat einen gesegneten Schoß, einen strammen Bengel hat sie mir schon geschenkt, erst im Frühling war's. Na, ich hab' ihr aber auch den Acker ordentlich gepflügt, da musste es ja was werden, wie?" Wiehernd lacht er, verspricht sich den Vortrag des Skalden über das Erbrecht aufmerksam anzuhören und scheint Tristan zum Abschied noch einmal alle Knochen im Leib durcheinander bringen zu wollen, so schüttelt er ihm die Hand. "Bist du jemals in der Nähe meiner Hütte, so komm mich besuchen. An einem Humpen Met soll's nie fehlen, und mein Weib bereitet dir eine Scholle mit Kräutern, dafür könnt' man glatt morden!" ruft er ihm noch nach.

~~~

Ohne es zu ahnen, versetzt Elske mit ihren Worten Lîfs Stolz schwere Schläge. Gut hat sie es, und dankbar muss sie sein... Sie presst die Lippen zusammen, doch den Worten des jungen Weibes an ihrer Seite ist kaum zu widersprechen, so gerne sie es würde. Welche andere auf den Inseln hat wohl einen Mann wie Tristan, der sich ihre Tiraden geduldig anhört und sie mit seinen Worten wieder besänftigt, statt einfach die Geduld zu verlieren und das streitlustige Weib übers Knie zu legen? Wohl so gut wie keine. Und dass die baldige Braut in all ihrer Naivität die Gefühle des Rotschopfs so hellsichtig durchschaut und offen ausspricht, entwaffnet Lîf noch mehr. Sie öffnet zwei, drei Male den Mund, um Elske zu unterbrechen, muss ihn aber jedes Mal wieder schließen, weil ihre Begleiterin regelrecht vorherzusehen scheint, was sie sagen will, und ihr vorweg schon den Wind aus den Segeln nimmt. Noch zudem ist ihr ohne große Schwierigkeiten anzumerken, dass sie nur helfen will – was es noch schwerer macht, die Wut von Tristan, vielmehr von den gemeinen Gesetzen, die er verkündet hat, auf die unschuldige Elske zu übertragen.

Leise seufzt Lîf abermals, während ihre Wut weiter verraucht. Gerade scheint sich alles gegen ihr stolzes Aufbegehren verschworen zu haben! Es beginnt sogar schon so etwas wie ein böses Gewissen sich in ihrem Busen zu regen. Hat Tristan das verdient? Ihre bösen Blicke, ihr zorniges Zähneknirschen? Die Antwort fällt nicht gerade zu einem Ehrenmal für die junge Frau aus. Sie schämt sich nun regelrecht und senkt den Blick, während Elske ihr mit klaren Worten vor Augen führt, was sie ja eigentlich schon weiß: Dass sie sich selbst widerspricht. Man kann nicht einerseits darauf beharren, eine geraubte Maid zu sein, eine, die nur widerwillig von der Magd zum Weib eines der Räuber sich hat machen lassen, und andererseits in Eifersucht entflammen, wenn man hört, dass es hier als sein gutes Recht gilt, sich auch andere Weibsleute zu nehmen.

Erstaunt sieht sie auf, als Elske ihr nunmehr auch ein Geständnis macht. "Was denn, du fühlst ebenso?!" entfährt es ihr überrascht. Dann flammen ihre Wangen auf, denn das junge Weib neben ihr trifft noch einmal ins Schwarze. "Ja, ich... ich glaube, das ist es" murmelt sie bedrückt. "Ich habe Angst, dass ich etwas dummes tue, das ich später bedauern werde. Egal, wie ich mich entscheide. Ich traue meinem Herzen nicht recht. Verstehst du?" In diesem Moment hört man die Stimme ihres Mannes, und sie fährt erschrocken auf. "Elske – kein Wort davon zu irgendjemanden! Willst du mir das versprechen?" fragt sie hastig, während sie das junge Weib kurz zurückhält. Denn sie sind ja schon auf dem Weg zu ihm, der offenbar schneller gewesen ist und bereits auf sie wartet.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 19.09.2017, 17:27:19
"Nein, Brüder, er selbst, der Alte... dein Schwiegervater, mein ich", versucht Tristan noch zu korrigieren—obwohl er Snorri ja eigentlich loswerden will, er kann nicht anders—aber Snorri hört schon nicht mehr zu und rüttelt Tristan auch gleichzeitig ziemlich durch, was diesem die deutliche Aussprache ein wenig erschwert. Man verabschiedet sich also und endlich kann Tristan sich umschauen, ob er in dem Gewühl sein Weib entdeckt.

Sobald er sie entdeckt, bahnt er sich einen Weg auf sie zu, wobei er voller Sorge ihre Miene prüft: ist sie noch immer zornentbrannt oder hat sie sich inzwischen beruhigt? Ist sie vielleicht gar gut gelaunt? Das schlägt bei ihr manchmal so schnell um, dass man eigentlich immer hoffen darf. Bei guter Laune würde er sie einfach in den Arm ziehen und küssen und dann, während man zusammen in Richtung Feuerstellen schlendert, für ihr Mitwirken an der Alberich-Saga loben und ihr nicht verhehlen, wie stolz er auf sie ist. Im Fall, dass man die Wetterlage nicht so genau bestimmen kann, erwähnt er die Saga lieber nicht, wegen des Weiberraubes, der sie abermals erzürnen könnte, und beginnt statt dessen gleich mit den Freundinnen. "Ich bin so froh, dass du endlich einige der anderen Weiber kennenlernst und dich mit ihnen anfreundest." Im ersten Fall aber, sollte sie also noch zornig blicken, wird er nur ganz vorsichtig fragen, ob sie auch bis unter beide Arme Hunger habe.

~~~

"Und wie gut ich das verstehe!" ruft Elske, dann senkt auch sie die Stimme und verfällt, wie Lîf, ins Flüstern. "Und ich bin so froh, eine getroffen zu haben, die mich dafür nicht triezt oder auslacht oder bei anderen über mich lästert! Du, lass uns einen Handel schließen, nur wir beide: dass wir ab jetzt mutig sein wollen, die eine, solange die andere es ist. Ich will mich darauf freuen, dass mein Ragnar mich in drei Wochen zu sich heimführt, sogar die Brautnacht will ich mit Spannung erwarten und mir sagen, das Herz klopft vor Aufregung, nicht vor Angst! Und du, du traust dich, auf dein Herz zu hören und es Tristan ganz zu schenken und bangst nicht jetzt schon, er könne dir vielleicht irgendwann einmal wehtun. Wir beide machen uns einfach viel zu viele Gedanken, was wohl werden wird, statt uns darüber zu freuen, wie gut wir es heute haben! Aber das ist doch ganz schön dumm, nicht wahr? Was kommt, das kommt, wir ändern's doch nicht."

Auf Lîfs Bitte hin bleibt Elske erschrocken stehen und fasst ihre Hände. "Wie, du glaubst ich könnte... ich dächte daran...!" wispert sie. "Niemals! Nicht ein Sterbenswort... zu niemandem... versprochen! Eher hätte Bjarni Drachensänger seinen færsischen Folterern das Geheimnis verraten, wie er seine Schiffe baut!"

Auf einmal bekommt sie rote Flecken im Gesicht und zuckt mit dem Kopf hierhin und dorthin wie ein aufgeregtes Huhn und druckst herum und schluckt und schluckt nochmal, dann bricht es endlich aus ihr hervor: "Du, wollen wir vielleicht... ach, du wirst mich gleich schelten und laut schimpfen: 'Ja, was sind wir denn, Weiber oder kleine Mädchen?' Aber als kleines Mädchen hatte ich keine, und auch keine Schwester, nur vier Brüder, und deshalb hätte ich so gern... und mir ist's auch gleich, dass wir uns gerade erst kennengelernt haben und noch kaum etwas voneinander wissen, ich hab' einfach das Gefühl, ich muss dich lieb haben! Lîf, willst du vielleicht... bitte, bitte lach mich nicht aus!... meine Busenfreundin sein?" Kaum aber hat sie ihren Wunsch endlich ausgesprochen, da stutzt sie und kichert prustend. "Busenfreundinnen, ausgerechnet wir beide...!" Doch sofort wird sie ernst und schaut Lîf in banger Hoffnung an.

Falls die Antwort so ausfällt, wie Elske es sich ersehnt, so wird sie Lîf darauf mit einem Juchzer an sich drücken und ihr einen Kuss auf die Wange geben. Sofort aber gibt sie Lîf wieder frei, denn da eilt Tristan herbei, nicht jedoch ohne eine dringende Bitte zum Abschied auszusprechen: "Du und dein Mann, ihr müsst unbedingt zu meinem Hochzeitsmahl kommen, ich will gleich mit Ragnar darüber sprechen. In drei Wochen, ja?"
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 20.09.2017, 13:49:27
Nein, Tristan hat keinen Erfolg mehr mit dem Versuch, Snorri auf das Missverständnis hinzuweisen: Der Fischer ist bereits auf dem Wege, die frohe Botschaft seinem Weib zu bringen, das wahrscheinlich schon zwischen Bangen und Hoffen auf seine Auskunft wartet, was der Kenner der Gesetze wohl gesagt haben mag. Von weitem winkt er dem Skalden noch ein letztes Mal zu, ehe er fröhlichen Mutes davon stapft – ein Bild der Erleichterung.

~~~

Lîf derweil hat Elskes Hände in ihre genommen und impulsiv gedrückt. "Ach, hätt' ich das nur gewusst..!" ruft sie unterdrückt. Also geht es nicht nur ihr so! Erstaunen mischen sich mit Erleichterung und schließlich auch Neugier. Tausend Fragen liegen ihr auf der Zunge. Wie gut, dass sie und Elske sich heute näher gekommen sind, sonst hätte die junge Frau womöglich nie erfahren, dass sie Leidensgenossinnen hat! "Ja, das wollen wir tun!" nickt sie auf die Idee Elskes, einen Handel abzuschließen. Es wäre bestimmt gut, ein andres Weib in ihrer Nähe zu wissen, mit dem sie sozusagen verbündet ist. Sie kam den Inselweibern bislang so wenig nah, hat immer noch mit ihnen gefremdelt, die zwar nicht gar so rau sind wie ihre Mannsleute, aber doch ihr Lebtag nach den Sitten hier lebten, die Lîf nach wie vor befremden. "Vielleicht hast du wirklich recht, Elske" meint sie nachdenklich, ohne deren Hände loszulassen. Ja, ewig zu jammern und zu klagen ist gewiss nicht die weiseste Entscheidung.

Indes, zu wissen, dass es ihr eigentlich wirklich sehr gut geht, und es zu empfinden, sind zwei unterschiedliche Dinge. Verstand und Gefühl... so drückte es einmal Janne aus, ein Weib aus dem Osten, das in ihrem Dorf zu Gast war. Gerade will sie der neugewonnenen Freundin ihr Herz vorsichtig weiter ausschütten, als es aus der hervorbricht und sie einen Wunsch vorbringt, der Lîf erst ganz erstaunt schauen lässt. Dann muss sie auf den kindlichen Scherz hin schmunzeln und unterdrückt mit leichtem Kopfschütteln mühevoll auch ein Kichern. "Also Elske..!" tadelt sie diese sanft, wie es eine größere Schwester tun würde, fühlt aber ihre Wangen brennen und hofft, dass Elske nicht davon mitbekommen hat, wie sie sich danach erkundigt hat, ob wohl eine Schwangerschaft ihren Busen tüchtig schwellen lassen würde. Das Anliegen des jungen Inselweibs selbst ist in solch rührender Naivität und Offenheit vorgebracht, dass sie nicht anders kann, als ihr zuzunicken und einfach zu sagen: "Mein Herz sagt mir, dass ich dich auch lieb haben muss." Und schon wird sie ein weiteres Mal in der herzlichen, etwas ungestümen Art der Inselleute an die Brust gezogen und bekommt einen schmatzenden Kuss, den sie diesmal mit einem Lächeln erwidert.

Da Tristan naht, drückt sie schnell noch einmal die Hand Elskes – nein, ihrer neuen Busenfreundin – und wispert: "Ganz gewiss. Ich bin sicher, Tristan wird auch ja sagen. Ich frag' ihn heut Abend, wenn wir beieinander unter den Fellen liegen – dann ist er meist gut gelaunt und schlägt mir keine Bitte ab" verrät sie noch rasch zwinkernd einen guten Rat unter Eheweibern, den sie durch Einfühlungsvermögen und Beobachtungsgabe selbst erst mühselig herausfinden musste. Als sie sich ihrem Mann dann zuwendet, ist von ihrem Zorn nicht mehr viel übrig. Tristan, der eben erst dazukam, kann kaum ahnen, wie sehr ihm Elske den Boden bereitet hat. Mit ihrer unschuldigen Zuneigung hat sie Lîfs weicher Seite wieder die Oberhand verschafft, so dass er von seinem jungen Weib eine Erwiderung seiner Umarmung und auch – auf den Zehenspitzen stehend – des Kusses erhält. Sie lächelt leise, als er ihren Auftritt in der Saga lobt und dabei nicht die geringste Spur von Eifersucht zeigt, obgleich sie sich doch absichtlich von einem anderen entführen ließ. "Es war sehr schön. Ich wusste nicht, dass man die alten Geschichten auch selbst erleben kann, statt sie nur am prasselnden Feuer zu erzählen wie zuhause" gesteht sie ein, ungewöhnlich selbstkritisch gestimmt ob seines offenkundigen Vertrauens in ihre Treue.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 20.09.2017, 23:40:03
Kaum hat Elske sie losgelassen und ist davon, nicht ohne sich noch einmal glückstrahlend nach Lîf umzublicken, da zieht Tristan sein Weib bereits, nach besorgt prüfendem Blick, in die Arme und küsst sie zunächst auch ganz behutsam. "Oh!" entfährt es ihm allerdings, als Lîf seinen Kuss so beherzt erwidert. "Oh", sagt er und holt sich erst einmal einen ordentlichen Nachschlag. "Das...", stammelt er ihr, nachdem er doch einmal Luft holen musste, atemlos ins Ohr, "ist schön, wenn du so forsch und von dir aus... oder auch wie gestern abend, das war... als du mir unters Hemd... oh, Gaja, volltrunken denkt man noch klarer! Aber dass es dir ausgerechnet auf dem Disenthing einfällt, so kess zu werden, wo ich ohnehin schon nur mit Mühe... Oh weh, zwei Nächte noch ohne, Alberich steh' mir bei!"[1]

So rasch gibt Tristan also Lîf diesmal nicht frei, wofür er so manches Weibergekicher und etliche neckende Zurufe vorbeidrängender Fahrtenbrüder erträgt. Erst Karls Zuruf: "Hey, ihr beiden, hebt euch das fürs Diseblót auf!" lässt Tristan zur Besinnung kommen. "Oh", sagt er abschließend. Es klingt erstaunt.

Und wieder hat Lîf etwas dazugelernt über ihr Leben als Eheweib, falls Einfühlungsvermögen und Beobachtungsgabe sie nicht gänzlich im Stich lassen, nämlich mit welch einfachen Mitteln sie ihren Gatten um den kleinen Finger wickeln kann.

Während Mann und Weib sich gemeinsam einen Weg Richtung Hóper Langhaus bahnen, unterhalten sie sich über die Alberich-Saga. "Ja wie, gibt es das bei euch in Fersland nicht, dass ihr eure Ahnen feiert, als lebten sie noch mitten unter euch? Geschichten sind schön und gut, aber so erlebt man es selbst, fast wie am eigenen Leib, und die Sache prägt sich auch viel besser ein. Und falls der alte Seeräuber tatsächlich zuguckt, wird's ihm wohl gefallen, das Spiel zu seinen Ehren! Natürlich machen wir so etwas auch nur zu den Jahresfesten, nicht jedes Mal, wenn wir eine Geschichte erzählen wollen."

Auf seine Rolle in dem Spiel angesprochen, lacht Tristan: "Ja, ich muss jedes Jahr den Ingjold spielen. Das hat weniger damit zu tun, dass ich vom Festland bin, sondern liegt hauptsächlich daran, dass den Ingjold jemand spielen muss, der mit dem Jarl einen Zweikampf nachstellen kann, ohne dass es zu Missverständnissen kommen könnte. Du hast unseren Kampf ja gesehen, da geht's richtig zur Sache. Stell dir nun vor, der Sven oder der Eyvind würde so auf den Jarl einprügeln, da müsste man jeden Augenblick damit rechnen, dass der Kampf plötzlich in eine ernsthafte Herausforderung um Gisles Posten umschlägt. Und selbst wenn nicht, es könnten dabei Verdachtsmomente aufkommen, Zweifel, die sich danach nicht so leicht wieder aus der Welt schaffen lassen und den Frieden bedrohen. Als Gesetzessprecher aber bin ich der einzige, der den Jarl gar nicht herausfordern dürfte, selbst wenn er wollte, wobei ich mir auch gern einbilden will, dass Gisle sich bei mir einfach auch sicher sein kann, dass ich seinen Posten gewiss nicht haben mag. Na ja, mir als 'Festländer' täte auch niemand folgen wollen, selbst wenn ich derlei Ambitionen im Herzen trüge."

Inzwischen haben sie das Langhaus betreten und ihren Platz auf der langen Bank gefunden, vor der noch die Tische vom Frühmahl stehen. Tristan wartet so lange, bis sie beide eine dampfende Schüssel Rübeneintopf vor sich stehen haben und daraus schon etliche Löffel entwendet, bis er das heikle Thema anschneidet.

"Ich hätte dich vorwarnen sollen", beginnt er zerknirscht und nur zu ihr[2]; wenige Sätze aber lassen ihn bereits zu alter Zuversicht gelangen. "Von der Raubehe, da musste ich vortragen, damit erst gar keine Zweifel daran aufkommen, dass unsere Ehe ganz und gar rechtens ist. Denn stell dir nur vor, ich kehrte von der nächsten Fahrt nicht zurück, da fände sich ganz sicherlich ein frecher Kerl, der behaupten wollte, du seist ja bloß meine fridla, nicht mein Eheweib vor dem Recht, und könntest deshalb meinen Besitz nicht erben! Außer, du wärst bis dahin schwanger mit meinem Kind, das würde in jeden Fall erben, und du als Mutter tätest ihm alles so lange verwalten, bis er mündig würde, falls es ein Knabe wäre, oder sie heiratet, falls ein Mädchen. Ohne Kind aber stünde dir als fridla gar nichts zu und was sollte dann aus dir werden! Als Zweitfrau täte dich wohl jemand nehmen, ohne Besitz... und du müsstest ihm dafür noch dankbar sein... welch unerträglicher Gedanke! Solange dir aber mein Besitz zufällt, wirst du frei wählen können, was du tun willst, ob dich neu vermählen und mit wem, du wirst nahezu die freie Auswahl haben, oder aber du könntest den Besitz verkaufen und in die Heimat zurückkehren... Was schaust du so, natürlich muss man an derlei Dinge im voraus denken, muss für diesen Fall vorgesorgt haben als guter Ehegatte! Nicht, dass ich damit rechne, dass mir auf der nächsten Fahrt etwas zustößt, so arg habe ich die Große Mutter gewiss niemals erzürnt noch das Schicksal frech herausgefordert, dass sie mich endlich doch mein Glück finden ließen, nur damit ich gleich das Jahr darauf stürbe..."
 1. will save = 6 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1034834#msg1034834) vs. DC 12
 2. ich gehe jetzt mal davon aus, dass sich alles momentan so weit verteilt, dass er leise genug sprechen kann, dass die Erklärung hier wirklich nur an Lîf geht
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 21.09.2017, 12:33:12
Erstaunt erst, dann ratlos und schließlich fast ein wenig erschrocken sieht die junge Frau zu ihrem Mann hoch. Es ist das erste Mal, dass sie ihren inneren Widerstand für einen Moment so vollkommen vergessen und aufgegeben hat – und nun erst realisiert sie auch, wie heftig Tristan auf ihre Nähe reagiert. Das ist ihr einerseits unangenehm, vor den Augen aller. Schließlich hat sie ja bislang jedem, der es nur hören wollte, recht klar gesagt, dass sie es für ein himmelschreiendes Unrecht hält, wie man unschuldige, wehrlose Heilerinnen – freie Weiber! – entführt und sie zu Mägden gemacht hat, und dass sie ganz gewiss niemals ein Inselweib werden oder auch nur daran denken wird. Und nun grinsen die anderen Weiber wissend, machen die Mannsleute Scherze, die ihre Wangen rot aufflammen lassen... Andererseits wollen sich in ihr auch Gefühle regen, die durchaus wärmer sind, nachdem sie die erste Überraschung verdaut hat jedenfalls. Es ist natürlich für ein junges Weib zunächst einmal schmeichelhaft und tut dem Selbstbewusstsein gut, wenn es sich als schön und begehrenswert behandelt fühlt, das lässt sich nicht leugnen. Und dann ist auch das, was sie da eben zugelassen hat, noch zu stark in ihr, als dass sie sich dagegen stemmen könnte. "Diese zwei Nächte werden dir wirklich lang werden? Du begehrst mi... begehrst... es... so sehr..?!" fragt sie im Flüsterton und verbessert sich hastig, damit man ihr nicht allzu deutlich anhört, wie wichtig ihr auf einmal seine Antwort scheint[1].

Es fühlt sich nämlich gut an, hier in seinen Armen. Sie legt den Kopf in den Nacken, schaut ihm in die Augen, legt ihre Hände flach auf seine Brust. Der Rotschopf glaubt seinen Herzschlag spüren zu können, durch das dicke Wams hindurch – oder ist es am Ende ihr eigener, der sie narrt? –und fühlt sich sogar fast in der Lage, das neckende Gekicher in ihrem Rücken zu überhören, ja... als Karl mit seinem Ruf den Bann bricht und Tristan sie wieder entlässt. Irgendwo zwischen Geschmeicheltsein und zorniger Verlegenheit über ihre Unfähigkeit, mehr zu sagen, ehe sie gestört wurden, streicht Lîf ihr Kleid glatt und tritt einen halben Schritt zurück. Dann, was bleibt andres übrig, folgt sie ihrem Mann zum Langhaus, wobei sich das Gespräch wieder Themen wie der Saga zuwendet, die jedes Ohr hören darf. "Nein" antwortet sie ihm auf seine Frage. "Es gibt bei uns Geschichtenerzähler, die schmücken manchmal noch aus, was sie berichten. Mancher spielt dazu ein Lied oder singt an den rechten Stellen, und einige vermögen auch, allein mit ihrer Stimme die Figuren in den Sagas lebendig werden zu lassen." Sie lächelte bei der Erinnerung. "Als ich noch ein kleines Mädchen war, übernachtete einmal ein alter Mann auf unsrem Hof. Er konnte jeden nachahmen, dass man meinte, man hörte die Leute selbst reden: betrunkene Seefahrer, lustige Burschen, sogar keifende alte Weiber... alle! Mein Vater gab ihm dafür gern eine warme Suppe und einen Schlafplatz über Nacht, und am andern Morgen sogar noch einen halben Laib Brot und ein Stück Käse für den Weg obendrein."

Auf seine Erklärung meint sie dagegen verwundert: "Das heißt, dass sie dich nicht als Ihresgleichen ansehen? Aber ich dachte, du lebst schon so lange unter ihnen, du verkündest sogar ihre Gesetze..." Dass ihm die Männer nicht folgen würden, kann sie nur schwer glauben. Und es verletzt, ganz unabhängig von seiner Person, Lîfs ziemlich ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie runzelt daher die Stirn und schüttelte unmutig den Kopf zu seinen Worten. "Das ist doch nicht recht..!" murmelt sie. Was er ihr hingegen über die Raubehe sagt, lässt sie erst unwirsch schauen. Doch dann wird ihre Miene wieder weicher, und sie erkundigt sich leise: "Du hast dabei an mich gedacht? Nur an mich und unsere..." Halt! War das nicht etwas, von dem sie sich auch fest geschworen hatte, es würde niemals ein Thema für sie sein? Sie würde es ihm verweigern, wenn sie sich schon nicht selbst verweigern kann..?! Doch dann rutscht es ihr doch über die Lippen: "...unsere Kinder?" Es... fühlt sich irgendwie gar nicht so falsch und schlecht an, das zu sagen, wie sie gedacht hatte, stellte sie verwundert fest. Was geschieht da gerade mit ihr..?
 1. So viel Selbstbeherrschung ist bei einem Willenskraftwurf von 16 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1034884#msg1034884) denke ich gerechtfertigt.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 21.09.2017, 22:09:06
"Ja, Lîf, ach, was glaubst du denn?" antwortet Tristan auf ihre naive Frage, ob die beiden Nächte erzwungener Keuschheit (eigentlich ja drei, mit der gestrigen) ihm wohl schwerfallen würden. Manchmal überrascht sie ihn doch. Ach, spürst du's denn nicht, ahnst es nicht einmal, wie sehr du mein kaltes Herz erwärmst? Meine verdorrte Seele nährst? Licht und Leben in meine stille Einsamkeit bringst, mich Nacht für Nacht aus endloser, rastloser Wacht erlöst? Doch auch er kommt dank Karl nicht mehr dazu, das auszusprechen, und ehrlich gesagt kann man nicht wissen, ob er mit etwas mehr Zeit den Mut dazu gefunden hätte, denn es ist schon ungewöhnlich genug für einen Inselmann, derlei Gedanken zu hegen—sie auszusprechen, gar vor Zeugen, wäre heroisch.

(Wobei, wenn man einmal darauf achtet, benehmen die Leute sich hier schon ganz anders als daheim, und ähnliche Szenen wie zwischen Lîf und ihrem Tristan spielen sich allerorts ab, wenn auch weniger zärtlich, wie sie meinen möchte. Karl zum Beispiel, kaum ist er seine freche Bemerkung losgeworden, tritt hinter seine Gertrud, die beim Herdfeuer in einem der Töpfe rührt, und packt ihr mit beiden Händen an die Oberweite, was ihm einen überraschten Aufschrei, gespielte Empörung, lachende Schelte und zuletzt einen Hieb mit dem Kochlöffel einbringt. Nein, so ausgelassen und frivol gestimmt hat Lîf das Inselvolk noch nicht erlebt.)

Lîfs Bericht über den alten Geschichtenerzähler und seine besondere Erzählweise saugt Tristan begierig auf. "Ich habe einmal gehört, in Kromdag gäbe es alle drei Jahre ein großes Sängertreffen, wo Sänger, Erzähler und Ependichter aus dem ganzen Land anreisten und sich eine Art Wettkampf liefern. Dass überall in Fersland, wo ein großer Markt abgehalten wird, fahrende Geschichtenerzähler zusammenkämen und ebenfalls miteinander wetteiferten um die Gunst und die Münze ihrer Zuhörer. Stimmt das? Erzähl' mir mehr!"

Als sie sich darüber empört, wie ungerecht es sei, dass er als einziger Gisle nicht herausfordern dürfe, schmunzelt er. "Wie, unterschätze ich da etwa, wie gern du ein Jarlsweib sein möchtest? Reicht dir ein einfacher Skalde nicht?" Aber dann beruhigt er sie. "Nein, schau, das habe ich vielleicht nicht gut erklärt. Als Gesetzessprecher kann man nicht gleichzeitig Jarl sein. Würde ich also Jarl, wem übergäbe ich mein voriges Amt, dem ich zutrauen könnt', es auch nur halb so gut zu erfüllen? Und die Sache mit dem Ansehen... doch, natürlich bin ich einer von ihnen, das stellt niemand in Frage. Nur, wie soll ich sagen, ich habe hier halt keine Sippe, verstehst du? Keine Brüder, Schwager, Vettern, derlei Verbindungen... nicht einmal ein Weib habe ich mir von den Inseln genommen. Aber genau das ist es wiederum, warum ich ein so guter Gesetzessprecher bin: weil mich keine Sippengebote an den einen oder anderen binden, sodass ich allen Leuten guten Rat geben und in jeder Sache neutral bleiben kann. Niemand braucht sich zu sorgen, ich könnte ihn benachteiligen, den Gegner aber vorziehen und die Sache verzerrt darstellen. Glaube mir, das wissen die Leute sehr zu schätzen. Nur für mich ist's manchmal recht einsam gewesen, bevor du kamst."

Das letzte ist ihm so rausgerutscht, aber leid tut's ihm nicht, dass es heraus ist. Und vielleicht wird Lîf an dieser Stelle neugierig und fragt ihn, warum er sich denn nicht, um die Einsamkeit zu bannen, schon vor vielen Jahren ein Weib genommen hätte, oder aber er kommt von selbst auf die Idee, diese Frage zu beantworten, die er ja quasi in den Raum geworfen hat. Zudem entdeckt er da gerade Ole, welcher mit einer vollen Schüssel auf dem Weg zu ihnen ist.

"Einmal hätte ich wohl fast geheiratet", erklärt er daher in aller Hast. "Es war schon alles ausgehandelt mit dem Verlöbnis. Sie war ein liebes Mädchen, die Mette, etwas still, aber sehr klug und fleißig. Drei Wochen vor dem Sejrsblót wollte ich sie heimführen, das war vor sieben Jahren. Einen schrecklich kalten Winter hatten wir, dass die Leute heute noch davon sprechen, und am dritten Hurna, keine zwei Monate vor unserer Hochzeit, starb Mette an einer Schwäche in der Brust. Oles Tochter war sie, sein einziges Kind. Deshalb sieht er mich heute noch wie seinen Schwiegersohn an und ich ihn als Schwiegervater."

Tristan rückt ein Stück zu Lîf hin, um Ole Platz zu machen, doch dieser hat sich zwei Tische weiter in ein Gespräch verwickeln und dadurch aufhalten lassen. Und so bleibt Tristan und Lîf noch Zeit, ein offenbar großes Missverständnis zu klären. "An dich? Natürlich habe ich an dich gedacht. Seit sechs Monaten denke ich nur an dich. Wie schön du bist, wie sehr ich dich will, wie gern ich deine Stimme höre, wie schwer es zu erwarten ist, bis wir endlich unser erstes Kind in den Armen halten—das ist nur das eine, das andere aber ist, und war vom ersten Moment: wie schütze ich dich!"

Da kann Ole sich endlich losreißen und kommt weiter auf die beiden zu.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 22.09.2017, 12:42:18
Ein wenig beschämt senkt die junge Frau bei Tristans Antwort den Blick. Dass er so uneigennützige Gedanken für sie hegt, ist ihr wirklich noch nicht in den Sinn gekommen! Und sie hat gedacht, die Mannsleute hier seien alle miteinander gleich... Da ist es nicht gerade ein Grund zum Stolz, was sie sich bislang so alles dabei dachte, wenn sie bemerkte, wie er sie manchmal ansah. Denn natürlich kann es einem Weib nicht lange entgehen, wenn ein Mann es so begehrt, wie Tristan offenbar Lîf. Abgesehen von ihrer gestreichelten Eitelkeit – wer fühlt sich schon ungern schön und begehrenswert – hat sie dem jedoch keine positive Seite abgewinnen können. Stets ging sie davon aus, es ginge ihm nur darum, sie zu besitzen, wahrscheinlich auch, sie zu schwängern, damit sie ihm Nachwuchs gebären würde. Und nicht zuletzt um eine zuverlässige Arbeitskraft in seinem Haus. Doch sein Tonfall, als er sie so fragt, was sie denn wohl glaube, der kann einfach nicht vorgetäuscht sein, der zeugt von einem anderen Gesinnung, als sie hier auf den Inseln üblich ist. Und sie hat das unwahrscheinliche Glück, der unfassbare Segen der Göttin getroffen, von dem einen Mann geraubt zu werden, der so ist... Stumm leistet sie der Großen Mutter Abbitte, die sie so oft um Erlösung angefleht hat, wenn sie in der ersten Zeit nach ihrer Entführung nachts weinend wach lag. Ja, sogar den törichten Gedanken daran, sich von einer hohen Klippe zu stürzen, sich zu ertränken, hatte sie in einer besonders verzweifelten Nacht... welche Undankbarkeit..! Sie beißt sich auf die Lippen.

Was heißt denn das Lebensglück, das sie sich als Mädchen erträumte? Vollkommene Freiheit? Ihren Dickschädel immer und überall durchsetzen zu können, zu dem Preis, allein zu bleiben, ledig, kinderlos – eine heimatlose Heilerin bis an ihr Ende..? Nach und nach beginnt sie zu ahnen, wie naiv, wie kurzsichtig ihre Träume waren. Und wie gut es womöglich ist, dass die Große Mutter ihr die Entscheidung aus der Hand nahm, ehe sie sich nichtsahnend selbst unglücklich machen konnte. Ohne dass sie es in Worte fassen könnte, beginnt sie zu spüren, dass auch sie sich nach einem Platz in einer Gemeinschaft sehnt – und dass in einer solchen nur Platz hat, wer am eigenen Willen nicht ohne Rücksicht auf andere festhält. Zurückstecken, Einsicht zeigen, manchmal auch den stolzen Nacken beugen, um aller willen: Das ist nicht so verabscheuenswert und ungerecht, wie sie immer meinte. Es ist ein Teil des Lebens als Mensch unter Menschen. Lîf kommt sich mit einem Mal viel weiser und reifer vor – nicht ahnend, dass sie damit schon wieder in ihren Fehler der Kurzsichtigkeit verfällt. Aber immerhin kann sie nun sogar lächeln, als sie sieht, wie Karl mit seiner molligen Gertrud schäkert. Vielleicht... vielleicht ist es ja doch ganz gut so, wie es ist zwischen Männer und Weibern. Sie scheinen beide glücklich und unbeschwert, wie Lîf sie so heimlich beobachtet. Und wenn es Ihren Kindern gut geht, hat die Große Mutter gewiss nichts dagegen.

Lange kann sie ihren Gedanken aber nicht nachhängen, denn schließlich sitzt sie bei ihrem eigenen Mann, und der zeigt sich überraschenderweise an ihren Worten höchst interessiert. "Nun... ja, das stimmt" erwidert sie ihm unsicher und überlegt. Dann erklärt sie: "In Kromdag selbst war ich noch nie. Ganz ehrlich gesagt war ich noch nie weiter als einen halben Tagesmarsch von Vaters Hof weg, ehe ich mit den Heilerinnen loszog. Aber auf dem Markt, da waren wir regelmäßig." Sie beginnt bei der Erinnerung zu lächeln. "Dort waren immer Geschichtenerzähler. Die hören nämlich alle Leute auf dem Markt gern und geben ihnen ab von ihren Waren oder aus ihrer Börse, wenn sie gute Geschichten zu hören bekommen. Da gibt's so viele! Als kleines Mädchen hab' ich mich dazugestellt, wann immer es ging – sogar wenn ich die Geschichten schon auswendig kannte." Die junge Frau kichert unbeschwert. "Als Kind durfte man das, ohne etwas zu geben. Oh, so manche Geschichte hätte ich fast schon selbst erzählen können: Das Märchen vom Holzfäller und seinem Weib, die Halfdan-Saga oder das Rurik-Lied..." Ihre Augen glänzen sogar ein wenig, als sie sich auf die Markttage besinnt.

Genauso aber hat auch Tristan einiges zu erzählen, und sie lauscht ihm, gegen seine Schulter gelehnt, mit ihren Zöpfen spielend, sehr aufmerksam. So also ist das... sie hat sich bislang wohl viel zu wenig um die Sitten und Gesetze derer gekümmert, in deren Mitte sie lebt. Vielleicht, weil sie innerlich noch immer davon ausging, dass sie nicht zu ihnen gehört, nie zu ihnen gehören würde, eines Tages – ja, was denn? Befreit? Zurückgeholt in ihr geliebtes Fersland? Lîf seufzt leise, aber es ist kein schwermütiger Seufzer. Eher ein wenig verwundert darüber, wie sich ihre Ansichten heute so plötzlich und scheinbar unmotiviert ändern konnten. Ist es am Ende gar das Wirken der Göttin, eine Art minderer Eingebung an Ihre künftige Dienerin? "Einsam warst du also, eh' ich kam..." wiederholt sie leise, und die Worte klingen gut in ihren Ohren. Dann öffnet er ihr sein Herz noch weiter, und sie atmet tief aus. "War sie sehr schön, deine Mette?" kommt es ihr wie von allein über die Lippen. "War sie gut zu dir? War sie sanftmütig oder... so wie ich?" Dabei kichert sie nun doch wieder leicht, obwohl sein erstes Weib, sein Verlust, sie sehr beschäftigt. Oles Tochter also... der arme alte Mann..! So hat sie ihn noch nie gesehen: Als einen Vater, fast so wie ihren eigenen.

Ohne zu bemerken, dass Ole sich in höchsteigener Gestalt nähert, linst sie zu Tristan hoch und kuschelt sich enger an ihn. "Das ist schön, wie du das so sagst" murmelt sie leise. "Unser erstes Kind..." Was nichts anderes heißt, als dass er davon ausgeht, es werden noch weitere folgen. Sie werden lange miteinander leben, miteinander alt werden... glücklich sein? "Sag mal..." Ihre Hand wandert streichelnd über seine Brust, und sie linst wieder nach oben. "... wie viele... Kinder würdest du wohl haben wollen..?" Lîfs Stimme klingt nachdenklich, als sie ihre Frage fast beiläufig stellt, als handele es sich um eine bloße Vorstellung ohne praktische Bedeutung, oder um einen anderen Mann, ein anderes Weib als ihn und sie. Nur ihr Blick ruht sehr intensiv auf ihm, und ihre Wangen sind kaum merklich gerötet.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 23.09.2017, 19:15:08
Auch Tristans Augen glänzen, als Lîf von den Markttagen ihrer Kindheit berichtet. "Oh, diese Geschichten kenne ich alle noch nicht, die musst du mir dringend erzählen, sobald wir wieder daheim sind. Seit bestimmt zehn Jahren habe ich keine Geschichte mehr gehört, die ich nicht wortwörtlich hätte aufsagen können oder bei der ich zumindest gleich zu Beginn schon wusste, wie sie ausgeht."

Wie Lîf hier auf einmal auflebt! Liegt das einfach daran, dass sie sich allmählich einlebt oder hat das etwas mit dem zu tun, was da gestern abend in Esjas Hütte stattfand? Ob sie das Wichtige gefunden hat, das sie laut der alten drudkvinde suchte?

So lange Jahre hat Tristan allein gelebt, dass es ihm erst, nachdem er bereits eine geraume Weile still bei sich über diese Dinge nachdachte, überhaupt in den Sinn kommt, Lîf danach zu fragen.

"Du bist auf einmal so gelöst, so unbefangen! Nicht wahr, so allmählich lebst du dich ein bei uns? Bei mir? Oder hat Esja dir gestern abend helfen können? Sie meinte, du seist auf der Suche nach etwas Wichtigem. Ich hoffe, du hast es gefunden. Ich wäre sehr glücklich, wenn du alles wichtige, das du suchst, hier bei uns fändest. Hier bei mir."

Die halb geleerte Suppenschüssel steht vergessen vor ihm, als Lîf sich gegen ihn lehnt und ihn ausfragt. "Mette?" beginnt er ein wenig zögernd. "Oh, sie war eine ganz sanfte. Manchmal denke ich, sie könnte noch leben, wenn sie weniger sanft gewesen wäre, dafür kämpferischer. Sie ist einfach ganz still verloschen, keine zwei Wochen hat es gedauert, ohne sichtbare Gegenwehr. Ob sie schön war? Nun, viele lobten ihr glänzendes blondes Haar, aber mir gefiel am besten ihr Lächeln. Sie strahlte dabei von innen heraus und es wurde einem ganz warm ums Herz. Wir wären wohl gut miteinander ausgekommen, will ich meinen. Aber eines, das hatte sie mit dir gemein, was die anderen Weiber, die ich bisher traf, nicht haben: sie war, wenn wir uns im selben Raum befanden, tatsächlich bei mir, nicht bloß in der Nähe. Weißt du, wie ich das meine? Man kann unter ganz vielen Leuten stehen und sich trotzdem allein fühlen, mit niemandem richtig verbunden, aber wenn du bei mir bist, bin ich nicht alleine. Wenn wir miteinander sprechen, dann sind die Worte nicht austauschbar, sondern bedeuten etwas, dann ist es dem einen tatsächlich wichtig zu erfahren, was der andere denkt. Das war bei Mette auch so, und wenn sie sonst ganz anders war als du. Ich kann es nicht richtig erklären."

Auf die Frage, wieviele Kinder er wohl haben wolle, lacht er erst einmal. "Oh, am liebsten einen ganzen Stall voll!" gibt er unüberlegt zur Antwort, was üblicherweise erwartet wird. Dann erst denkt er darüber nach. "Das klingt ein wenig gierig, nicht wahr? Eigentlich bin ich kein gieriger Mensch. Überhaupt hat da ja wohl die Große Mutter mitzureden. Ich hoffe aber, sie gewährt uns doch so viele, wie es braucht, um unser stilles Haus mit Leben zu füllen." Dann fallen ihm Esjas Worte ein: 'Es ist nicht leicht, eine Dienerin Gajas dein Weib zu nennen!' Ja, richtig. Wenn Esja einmal nicht mehr ist und Lîf ihr als drudkvinde nachfolgt, dann wird sie noch andere Pflichten haben, als nur für ihn, sein Haus, seine Kinder (und noch mehr Kinder) zu sorgen. "Und damit fangen wir besser bald an, denn ich weiß sehr wohl, dass du, wenn du erst einmal Esjas Amt übernimmst, deine Kraft auf deine vielen Pflichten wirst einteilen müssen. Als drudkvinde wirst du mir kein Blag nach dem anderen werfen können, das leuchtet mir ein." Er blinzelt ein wenig verwirrt, weil er sich gerade nicht mehr daran erinnert, wie sie eigentlich auf dies Thema gekommen sind. "Lassen wir die Sache einfach auf uns zukommen, ja? Frag' mich einfach nach dem ersten Kind noch einmal: willst du ein zweites? Und nach dem zweitem: willst du ein drittes? Und nach dem dritten: bist du dir auch ganz sicher, dass du ein viertes möchtest?"[1]

"Ha!" ruft Ole triumphierend, als er seine Schüssel auf den Tisch knallt und sich neben Tristan setzt. "Plant ihr hier etwa die Zahl der Enkelkinder, die ihr mir schenken wollt? Um einen ganzen Stall voll bitte ich doch!"
 1. sense motive = 6 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1034994#msg1034994); nicht erkannt, wie dringend Lîf die Frage ist und was sie sich als Antwort erhofft.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 24.09.2017, 14:56:30
Die junge Frau ist sichtlich überrascht, dass ihr Tristan auf dem Gebiet der Sagen, Märchen und Geschichten tatsächlich noch nicht alles kennen soll. Sie lächelt daher, natürlich auch leicht geschmeichelt, und verspricht: "Ich will gern versuchen, sie dir nachzuerzählen. Ich bin aber nicht so gut darin wie ein richtiger Erzähler. Und Stimmen kann ich schon gleich gar nicht nachmachen" warnt sie ihn schon einmal vor, wenn auch nicht ganz im Ernst sprechend, wie ihr Schmunzeln beweist. Als er sie aber nach ihrem plötzlichen Aufleben befragt, huscht kurz eine feine Röte über ihre Wangen, als fühlte sie sich ertappt. "Oh, wirklich..?" fragt sie zögerlich, eher um Zeit zu gewinnen, denn leugnen lässt sich seine Beobachtung ja nun wirklich kaum. Da sie aber trotz angestrengten Nachdenkens nicht auf eine Erwiderung kommen kann, die sich in ihren Ohren richtig anhört, legt sie anstelle einer Antwort nur schweigend ihre Hand auf seine und streichelt, da sie Tristans größere Hand mit ihren Fingern nicht umschließen kann, mit dem Daumen sanft über seinen Handrücken.

Darauf lauscht sie seiner Erzählung über die arme Mette und seufzt leise. "Manchmal wünschte ich, ich wäre auch so... Ich weiß, Weiber sollten sanftmütig sein. Aber die Große Mutter hat mich nun mal so gemacht" murmelt sie halb zu sich selbst, ehe ihr auffällt, was für ein Geständnis sie da gerade abgelegt hat. Ihre Wangen flammen in tieferem Rot auf, und sie senkt den Kopf so weit, dass ihre dicken Zöpfe Großteile des Gesichts verdecken sollten. "Meine Mutter hat mir sogar mal gedroht, wenn ich mich nicht ändere, würde sie mich noch in Hosen stecken und mir die Haare schneiden" versucht sie ihre Verlegenheit mit einem Scherz zu überspielen. Tristans abschließende Worte lassen sie aber wieder verstummen. Ob er überhaupt ahnt, wie sehr sie davon berührt ist..? "Ich kann deine Mette niemals ersetzen, aber ich will versuchen, dass du dich niemals mehr allein fühlen musst" sagt sie impulsiv und drückt seine Hand. Ein wenig durcheinander gerät ihr wohliges, warmes Gefühl der Geborgenheit an seiner Seite erst beim Thema der Kinder.

Es überrascht sie, dass er anscheinend noch gar keine genaueren Pläne hat, was die Familie angeht, die zu gründen von ihnen erwartet wird. Andererseits, vielleicht gar nicht so überraschend... was hat ihr doch die alte Esja gesagt: "Für die Mannsleute ist das einfach mit dem Kindermachen: Sie besteigen ein Weib und haben ihren Spaß, und damit ist's gut für sie. Den dicken Bauch, die Übelkeit und die Rückenschmerzen, die haben wir allein. Und wenn das Kleine da ist, wer legt es dann an die Brust, wer füttert es später, wer wechselt ihm die Windeln und tröstet es, wenn es nachts weint? Wieder die Weiber! Darum sei dir gewahr: Auch du musst uns Kinder schenken, damit wir stark bleiben – doch als drudkvinde musst du auch darauf achten, dass dir dein Mann nicht jahrein, jahraus einen dicken Bauch macht und du ständig drei am Rockzipfel und zwei an der Brust hängen hast. Denn wenn du der Großen Mutter dienst, hast du auch noch andere Pflichten..." Diese Erinnerung lässt Lîf doch ein wenig schlucken, ist sie doch so viel jünger als ihr Mann und muss wohl dennoch diejenige sein, die mit Vernunft in die Zukunft blickt und weise entscheidet – was doch für gewöhnlich als schwacher Punkt der Weiber angesehen wird.

Sie überlegt gerade, was sie auf seine recht unbeschwert wirkende Antwort zurückgeben soll – Himmel, nach dem dritten wird er vielleicht noch ein viertes von ihr wollen, ein fünftes und sechstes womöglich gar..? – da tritt Ole auf die beiden zu. Und was er, ganz typisch nach Männerart eben, ganz unbedarft und ohne Scheu bei diesem Thema, so laut herausposaunt, lässt Lîf erneut erröten. "Aber keinen zu großen Stall" wirft sie rasch ein, um dann etwas versöhnlicher hinzuzufügen: "Ein kleiner Stall voll wird es doch hoffentlich auch tun?" Und auf einmal fällt ihr auf, dass sie sich bislang geschworen hatte, diesen Piraten gar keine Kinder zu schenken. Und nun verhandelt sie schon ohne nachzudenken darüber, wie viele sie gebären wird?! Na, das kann ja noch heiter werden, wenn sie den ungestümen Tristan bei der Familienplanung bremsen soll...
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 25.09.2017, 13:25:04
Lîfs Schwur lässt Tristans Augen aufleuchten, doch eine passende Erwiderung will ihm nicht einfallen. Das mit Mette und mir war eine ganz leise Zuneigung, unsere Ehe hätte wohl Vertrauen und Geborgenheit gekannt, aber da war niemals so ein Gefühlstaumel wie es mir mit dir ergeht, kein solcher Rausch, kein Höhenflug, kein Herz, das bis in die Kehle schlägt vor lauter Verlangen... Nein, das sagt er dann doch lieber nicht laut und schon gar nicht hier, wo jederzeit und überall gespitzte Ohren Zeuge werden könnten.

"Ich mag dich ganz genau so, wie du bist", wispert er ihr deshalb wenig einfallsreich und nicht ganz wahrheitsgemäß zu: ein wenig sanftmütiger dürfte sie schon werden. Doch Lîfs gute Laune, ihre Bekundungen der Zuneigung, wenn auch noch ein wenig scheu, lassen in ihm die Hoffnung wachsen, das Disenthing vielleicht doch zu überstehen, ohne dass sein Weib ihm vor allen Leuten eine Szene macht, wie sie's daheim in den vergangenen Wochen mehrfach tat. Aus heiterem Himmel beginnt sie dann über die hiesigen Sitten zu spotten oder ruft seine Fahrtenbrüder unschmeichelhafte Namen oder zetert ganz allgemein herum über dies oder jenes, was ihr gerade nicht passt. (Da fiel Tristan die Geduld manches Mal schwer, obwohl er sich gut daran erinnert, dass er derlei Dinge in seiner ersten Zeit auf den Inseln auch oft gedacht hat. Gedacht, wohlgemerkt, nicht ausgesprochen. Was sollte das auch bringen außer Kummer?) Aber wenn Lîf jetzt echte Einsicht zeigt, dann wird sie ihr stürmisches Temperament ja wohl noch drei Tage zügeln können.

Derweil hat Ole sich zu ihnen gesetzt und die Aufzucht der noch ungeborenen Kinder übernommen. Tristans beiden Söhne haben bereits, wenn er das richtig sieht, ihre Ausbildung mit Schwert und Schild begonnen. Fischen können sie längst, Kaninchenfallen aufstellen, schwimmen, reiten, mit dem Boot umgehen...

"Und was mache ich in der Zeit, wo du ihnen das alles beibringst?" ruft Tristan in gespielter Empörung. "Meinen vier Töchtern das Kochen und Spinnen beibringen?"

Während die beiden weiter im Scherz sich um die wachsende Kinderschar kümmern, fällt Lîf vielleicht doch auch der ein oder andere Scherz dazu ein oder sie bemüht sich wenigstens, in das Lachen der Männer einzustimmen, und so wird es zumindest nach außen hin eine recht fröhliche Mittagsrunde—bis Lîf auffällt, dass sie beobachtet wird. Inga sitzt ihnen auf der Bank gegenüber, etwas weiter in Richtung Mitte des Langhauses, und stillt ihr Kleines. Neben ihr sitzen Helga und ein junges Weib, das Lîf nicht kennt, ebenfalls mit entblößten Brüsten und jede hat ein Kind daran hängen. Helga und die Unbekannte plaudern fröhlich, aber Inga—auf einer zusammengefaltenen Felldecke sitzend, wodurch sie die anderen beiden um einen halben Kopf überragt, was sie irgendwie hoheitsvoll wirken lässt—beteiligt sich nicht am Gespräch. Ihre Miene verrät, dass unschöne Gedanken sie beschäftigen. Und zwischendurch schießt sie immer mal wieder einen missgelaunten Blick in Richtung des Skaldenweibes.

Schließlich ruft Jarl Gisle Tristan zu: "Kommst du, Skalde? Es geht weiter."

Tristan legt die Hand auf Lîfs Schulter. "Ich muss los. Gehst du wieder mit den Weibern oder kommst du mit mir?"
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 26.09.2017, 10:31:35
Obwohl seine Worte nicht sehr originell sein mögen und vielleicht auch zum Teil geschwindelt: In Lîf hat Tristan eine Zuhörerin, die erstens als Bauerntochter keine wortgewaltigen Redner gewohnt ist und sich gern mit einer recht einfachen Schmeichelei zufrieden gibt und zweitens just in diesem Moment besonders empfänglich dafür ist. Weshalb sie gar nicht weiter nachfragt, ob er es denn auch wirklich ganz exakt so gemeint hat, wie er es sagt. Sie lehnt sich weiter gegen ihn, schließt die Augen und überlässt sich den wohligen Gefühlen, die sie gerade erfüllen. Jetzt gerade würde sie sich sogar Tristans – reichlich optimistischer – Einschätzung anschließen, dass sie in diesen drei Tagen noch gut miteinander auskommen werden. Es ist wie meist, wenn ihr Zorn schlummert: Sie versteht gar nicht, warum sie sich manchmal so erregt, und blickt zuversichtlich in die Zukunft. Die Große Mutter wird es schon richten!

Noch nicht einmal Oles eifrige Schilderungen über die Erziehung der Kinder, die schließlich Lîf in die Welt setzen soll, können sie so einfach aus ihrem friedlichen Zustand reißen. "Die Mädchen werdet ihr schön mir überlassen" wirft sie nur ein, halb im Scherz. "Wer würde sie noch heiraten wollen, nachdem ihr sie in euren ungeschickten Tatzen hattet? Danach wüssten sie wahrscheinlich ein Schwert besser zu halten als eine Nadel!" Darüber hinaus beteiligt sie sich nur mit einigen wenigen Einwürfen an der Diskussion, die zu eindeutig Männervisionen zum Inhalt hat, und lässt ihren Blick schweifen, während sie sich dem Gefühl der Geborgenheit in Tristans Arm überlässt.

Als sie jedoch neben Helga Inga sieht, wird sie aus ihrer wohligen Trägheit herausgerissen. Unbehaglich beobachtet sie das junge Weib, das ihr so ungünstig gesonnen scheint. Warum nur... was hat sie gegen mich? fragt sie sich, nicht eingedenk der Tatsache, dass sie ihren hiesigen Geschlechtsgenossinnen gegenüber wohl so manches mal eine kühle Würde an den Tag gelegt hat, die die eine oder andere dem Rotschopf als Arroganz ausgelegt hat. Nicht alle Weiber waren so alt und erfahren, dass sie hinter Lîfs Kälte die Angst und die Verzweiflung erkannt haben, die eine entführte Jungfrau Abstand halten lassen. Und Inga, die sich gern ihr Mundwerk über andere zerreißt, gehört gewiss nicht zu diesen. Ihre Missgunst ist deutlich zu spüren. "Ich will mit dir kommen" sagt die junge Frau daher impulsiv, als Tristan sie fragt und Ingas Blick sie im selben Moment trifft.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 15.10.2017, 13:05:30
Kurz darauf marschieren Tristan und Lîf also den Jarl begleitend zur Thingstätte zurück, umgeben natürlich von weiteren Grüppchen mit nämlichem Ziel. Nachdem der Jarl einen scherzenden Kommentar zu dem Bild von Eheglück, welches das junge Paar vor und während des Mahls geboten hat, loswurde—"Wir feiern ja schließlich das Fruchtbarkeitsfest, da ist es gut, wenn der Gesetzessprecher und sein Weib in allem, was Recht und gute Sitte ist, mit gutem Beispiel vorausgehen!"—richtet er sein Augenmerk auf den kommenden Gerichtsfall.

"Hat Thorstein noch mit dir gesprochen? Bei mir war er ziemlich vage. Was genau ist denn nun vorgefallen zwischen seinem Weib und Vetter Björn? Hat er die beiden im Vollzug erwischt? Will er sich von ihr scheiden lassen oder den Vetter zum Holmgang fordern? Ich weiß überhaupt nicht, womit zu rechnen ist."

Tristan schüttelt bedauernd den Kopf. "Nein, er hat mich nicht weiter um meinem Rat gebeten, ich weiß so viel wie du. Aber sicherlich, wenn er die beiden zusammen erwischt hätte, hätte er den frechen Kerl gleich seiner gerechten Strafe zugeführt und müsste nicht das Thinggericht bemühen? Ich denke eher, es läuft auf Scheidung hinaus. Oder vielmehr darauf, dass er dabei einen möglichst großen Anteil des gemeinsam erwirtschafteten Zugewinns für sich behalten will. Es geht bei sowas immer ums Geld, Gisle. Alles andere hätte er als Mann längst ohne Gericht erledigt."

Der Jarl seufzt. "Scheidung meinst du also. Da weiß ich nicht, was mir lieber wäre. Besser ein ehrlicher Holmgang unter Männern, das bringt die Gemeinschaft weniger durcheinander als eine Scheidung und das ganze hässliche Theater davor und danach. Aber gut, schauen wir uns die Sache mal an, vielleicht lässt sich ja doch noch etwas retten. Sie ist ja eigentlich ein tüchtiges Weib, seine Rike. Bin mir nicht sicher, dass er den Hof ohne sie überhaupt hätte halten können. Verspielt hätte er ihn wohl längst. Ich kann mich noch erinnern, wie er vor der Hochzeit war und auch in den ersten Jahren danach, bis sie ihm den Kopf gerade gerückt hat. Hast du ihn da schon gekannt? Nein, ach, das ist ja zwanzig Jahre her."

"Ja, du hast recht", pflichtet Tristan ihm pflichtschuldigst bei (allerdings mit einem Augenzwinkern in Lîfs Richtung). "Es wird alles gleich viel komplizierter, sobald Weibsbilder mit im Spiel sind."

"Und doch vermisst man sie bisweilen auf der Fahrt und freut sich, wenn man heimkehrt und sie am Ufer warten sieht!"

Auf diese Art geht die Rede zwischen den beiden noch leichtfüßig hin und her, bis die Thingstätte in Sicht kommt. Oder vielleicht fällt Lîf noch etwas zum Thema ein? Der Blick beider Männer geht wohl mehrmals in ihre Richtung, der des Jarls fast wie eine Herausforderung, der ihres Mannes dagegen eher, wie um sich der Wetterlage zu vergewissern, ob diese noch so mild bis heiter aussähe wie zum Zeitpunkt des Aufbruchs.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 16.10.2017, 16:36:09
Es ist wohl für die meisten, die Tristan und Lîf kennen, ein recht ungewohnter Anblick, den Skalden und sein Weib so eng beieinander und offenbar friedlich vereint zu sehen. Für gewöhnlich gibt sich der Rotschopf außerhalb des Hauses deutlich kühler. Doch noch nicht einmal die neckenden Worte des Jarls können ihr heute das seelische Gleichgewicht rauben, so aufbrausend sie sonst auch ist. "Dass ihr Mannsleute solche Feste immer sehr eifrig feiern wollt, ist ja nichts neues" hat sie seine Worte nur schnippisch kommentiert – ohne von Tristans Seite zu weichen. Dann jedoch haben die Männer begonnen, sich über den anstehenden Rechtsstreit zu unterhalten, und Lîf, die von der Rechtsprechung herzlich wenig Ahnung hat, spitzt unmerklich die Ohren. Sie verzieht das Gesicht, als ihr klar zu werden beginnt, worum es anscheinend geht: letztlich Besitz, wie so oft. Wären die Menschen nur für die Gaben der Großen Mutter, Gesundheit, Fruchtbarkeit und Liebe, so dankbar wie für klingende Münzen, viele Leibeigene, fettes Vieh oder große Äcker! Ihr Mienenspiel verrät viel von den Gedanken der jungen drudkvinde, während sie so ihrem Mann und dem Jarl lauscht.

"Scheidung" schnaubt sie nur irgendwann und speit das Wort regelrecht aus. "Mann und Weib gehören zusammen, aber bei der kleinsten Wolke am Himmel streben sie gleich wieder auseinander!" Und ohne es auszusprechen, billigt sie den Hauptteil der Schuld hierbei den Männern zu. Denn sie fühlt sich Rike nach der Schilderung des Jarls gleich verbunden, obwohl sie sie nicht näher kennt. Erinnert sie das nicht an die vielen Weiber, die treu und brav arbeiten, um Haus und Hof zu erhalten, während die Männer oftmals komplizierte Pläne entwerfen, aber so viel weniger praktischen Verstand beweisen? Mag sein, dass der Drang des männlichen Geschlechts nach Freiheit, nach Abenteuern und der lockenden Ferne größer ist, sind es die Männer doch nicht, die sich zur einen Hälfte des Jahres mit einem dicken Bauch mühsam umherquälen und die andre Hälfte durch Pflicht und Liebe an den Nachwuchs gefesselt sind wie die Weiber. Ihr Horizont ist weiter, nicht beschränkt auf den häuslichen Kreis. Aber gerade deswegen sind es doch oftmals die Weiber, welche mit Leib und Seele schuften und wirken, um den großen Hof oder auch die ärmliche Hütte zu einem wahren Heim zu machen!

Andererseits... so töricht die Mannsleute sein können, so schlecht geht es doch auch ohne sie. Und so lächelt sie nur und lehnt sich im Gehen gegen Tristan, als die beiden Männer zugeben, dass eines nicht ohne das andere bestehen kann. Erst als beide sie ansehen, meint sie: "Genau das kann man von Mannsbildern auch sagen: Solange sie auf Fahrt sind und die Herrin im Haus die Fäden in der Hand hält, da spuren Knechte und Mägde, und es läuft alles wie ein Spinnrad munter vor sich hin. Aber wenn die Herren heimkehren, dann wird's laut und wirr, alles muss springen, und man hat seine liebe Müh und Not, ehe der Haushalt wieder so ist, wie er sein soll." Dabei grinst sie den Jarl herausfordernd an. Ängstlich war sie noch nie veranlagt, und jetzt, in ihrer ungewöhnlich gelösten Stimmung, ist sie einmal dazu aufgelegt, seine Neckereien ohne ihren üblichen flammenden Zorn zurückzugeben. "Allein seid ihr doch allesamt wie die Kinder. Ihr braucht jemanden, der euch den Kopf von zeit zu zeit zurechtrückt, das ist's!" behauptet sie kühn.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 18.10.2017, 22:28:50
"Einmal im Jahr feiern wir unsere Weiber, sollen wir das etwa mit weniger Eifer tun?" fragt der Jarl gutgelaunt, als Lîf ihm ihr sehr eng gefasstes Männerverständnis vorführt. "Du wärst jedenfalls die erste, die sich das nicht mit größtem Vergnügen gefallen ließe!"

Lîfs Meinung zum Thema Scheidung lässt ihn dagegen zuerst verdutzt schauen, dann laut auflachen. Sie begreift nicht sofort, warum, doch da beugt der Jarl sich zu Tristan hinüber und sagt ihm wie vertraulich ins Ohr, ohne allerdings die Stimme zu senken: "Tristan, du Tausendsassa, wie machst du das bloß? Vor zwei Wochen hat dein holdes Weib noch hitzig geschworen, du sollest sie niemals mit ihrem Einverständnis besitzen, nun aber hängt sie glückstrahlend an deinem Arm und schwört mit nämlicher Inbrunst, dass sie dir in Sturm und Not unverzagt als treues Weib zur Seite stehen will!"

Wer dem Jarl das wohl zugetragen hat? rätselt Lîf, die sich nicht erinnern kann, in seiner Gegenwart je so dahergeredet zu haben. Derweil versucht ihr Mann sich brav, wenn auch ein wenig stotternd, an einer Erklärung: "Ja, was glaubt ihr denn alle, wie flugs und ohne Aufbegehren ein junges Mädchen sich in eine solche Lage fügen soll, in die meine Lîf so plötzlich geraten ist: geraubt und allein unter Fremden, Feinden zunächst, in Sorge um Leib und Leben? Wundert es da irgendwen, wenn sie bisweilen Zähne und Klauen zeigt oder uns alle—mich vorneweg, weil in ihren Augen ich ihr Räuber bin—beschimpft und kein gutes Haar an uns finden will? Und überhaupt hatte sie ja bereits, wie jeder von euch wusste, ihr Einverständnis gegeben, laut und deutlich am Hochzeitstag, und der Ausspruch, den du ihr hier vorhältst, war bloß wütendes Gefauche, weil sie sich über dieses oder jenes, was ich getan oder nicht getan habe, wohl geärgert hat."

Und wie Tristan sein Weib so in Schutz nimmt, kichert der Jarl in sich hinein (halb überdeckt von einem Husten), und ruft zum Schluss: "Lass gut sein, es war doch ein Lob! Ein prächtiges Weibsbild hast du dir da ausgewählt und dir will ich wohl zutrauen, dass du ein derart temperamentvolles Ross zugeritten bekommst!"

Bekräftigt wird diese Rede durch einen Schmetterschlag auf die Schulter, der Tristan erst einmal die Luft aus den Lungen treibt, sodass er nicht gleich zu einer Antwort kommt, und wahrscheinlich ist es gut, dass der Jarl auf ein neues Thema zu sprechen kommt, bevor Tristan wieder bei Atem ist. Er scheint Lîf ganz rot vor Verlegenheit geworden zu sein. Oder ist's nur der eisige Wind, der seine Wangen und Nasenspitze rötet? Für Lîfs erste Vermutung aber spricht, dass Tristan nicht einmal einen kurzen Blick in ihre Richtung wagt, dafür aber ganz fest ihre Hand drückt, wie um sich für Gisles Worte zu entschuldigen.

Auch Lîfs halb scherzende, halb ernst gemeinte Tirade, wie Mannsbilder den ganzen Haushalt bloß durcheinander bringen, nimmt der Jarl breit grinsend auf, sichtlich erfreut über ihr Kontern. Allmählich gewinnt Lîf aber den Eindruck, dass der Jarl kein einziges Wort, das sie spricht, so recht ernst nimmt, weil sie eben ein Weib ist, und ein besonders junges noch dazu. Ha, da würde es sie ja fast interessieren, was sie sonst noch so alles sagen dürfte, wie weit sie gehen dürfte... Ach, aber das kann sie Tristan nicht antun, nicht wahr? Das probiert sie lieber nicht aus... Aber ärgern tut es sie doch, so gar nicht ernst genommen zu werden... Wie ein Kind behandelt sie der Jarl!

Mit ihrem Vorwurf aber, ohne die Frauen seien die Männer doch alle wie die Kinder, hat sie sich des Jarls Antwort selbst verdient, ist quasi sehendes Auges hineingelaufen, dafür kann sie wirklich niemandem außer sich selbst die Schuld geben: "Allein? Nein, nur in Gegenwart der Frauen, denn dort wollen wir schließlich das gleiche wie die Kinder: an ihren Zitzen saugen...!"

Tristan zieht sein Weib dicht an seine Seite und beschleunigt seinen Gang. Ein paar dutzend Schritt noch bis zu den Feuern, welche die Gerichtstätte umringen und an denen sich bereits vereinzelte Zuschauer eingefunden haben. Von Lîfs neuen Bekannten ist noch keine dabei, wohl aber sieht sie Gertrud und Sigrid eintreffen.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 20.10.2017, 14:16:36
Die Art des Jarls bringt Lîf auf – nicht so sehr, weil er jede ihrer Bemerkungen kontert. Es ist die gutmütig-nachsichtige Art, mit der er ihr begegnet, wie er es wohl bei einem kleinen Kind tun würde, das mit seinen Fäustchen wütend gegen seine Beine trommelt. Ihr Zorn wächst langsam aber sicher an, und sie merkt, wie ihr die Röte in die Wangen steigt, während er immer noch mehr amüsiert als angegriffen wirkt. "Ich achte den Bund, den wir im Namen der Großen Mutter geschlossen haben" schnappt sie, um nur ja nicht zuzugeben, dass ihre Zuneigung zu Tristan sich allmählich nicht einmal mehr vor den Augen der anderen leugnen lässt. Es wurmt sie ungemein, dass keines ihrer Worte den Jarl zu treffen scheint. Während Tristan sie in Schutz nimmt, wenn auch nicht in seiner gewohnt wortgewandten Art, starrt sie schmollend zu Boden. In ihrer Heimat werden ja weiß Göttin die Weiber von den Männern oftmals auch nicht als Gleichwertige behandelt, aber wie sie hier auf eine Stufe mit unreifen Kindern gestellt zu werden scheinen..! Auf die Bemerkung mit dem Ross, das zugeritten werden soll, schnaubt sie wütend und wirft dem Jarl einen Blick zu, der ihn erdolchen könnte. In diesem Moment muss sie sich ernstlich beherrschen, um ihn nicht mit Fingernägeln und Zähnen anzugehen!

Leider demonstriert der Übeltäter mit dem gewaltigen Schlag auf Tristans Schulter, der sogar ihren Mann in die Knie gegen lässt, dass die körperlichen Kräfteverhältnisse sie tatsächlich mehr oder minder in die Position eines Kindes rücken. Sie würde sich nur lächerlich machen, griffe sie ihn an. Wahrscheinlich könnte sie ihm allenfalls einen einzigen Kratzer verpassen, wenn sie ihn überraschte. Und wer kann schon wissen, was ihr dann droht. Strafe? Oder, noch viel schlimmer für sie, Spott? Wieder kämpft der Rotschopf gegen die Wut an, als sie fühlt, wie ihre Hand gedrückt wird, und langsam ausatmet. Ihrem Tristan zuliebe, um ihn nicht bloßzustellen, will sie ihre Wildheit einstweilen bezähmen. Doch Kraft kostet es, viel Kraft, so brodelt die heiße Flamme in ihrem Bauch. Und sie schießt noch einmal in die Höhe, da der Jarl ihren spitzen Vorwurf ins Gegenteil verkehrt. Lîf beißt sich auf die Zunge und glaubt an der Wut fast zu ersticken, als ihr von unerwarteter Seite Hilfe geleistet wird: Ein paar Weiber haben sich im allgemeinen Streben zu den Feuern der Gerichtsstätte etwas näher an die kleine Dreiergruppe heranbegeben, hat doch die dröhnende Stimme des Jarls zumindest seinen Teil der Unterhaltung für die nähere Umgebung recht gut hörbar gemacht. Sie sind natürlich schon neugierig, wie sich das junge Weib des Skalden gegen den Jarl schlägt. Für ihre spitze Zunge ist sie ja mittlerweile bekannt.

Und die junge drudkvinde hat ihnen mit ihren wütenden Ausfällen ein so schönes Schauspiel geboten, dass trotz Lîfs unkluger, abweisender Art eine gewisse Sympathie für sie aufgekommen zu sein scheint. Immerhin geht es hier um den uralten Streit Weib gegen Mann. So kommt es, dass einige, kichernd und tuschelnd, eher auf der Seite ihrer Geschlechtsgenossin sind. Und bei der letzten Bemerkung des Jarls tritt die dicke Merle, das vierschrötig wirkende Weib eines Jarlsöer Zimmermannes, ein wenig aus der Gruppe hervor. Sie kräht in Richtung des Jarls: "Nun hört euch nur den an..! Der will nuckeln und würd' doch Milch nicht mal mit dem Hinterteil ansehen! Aber vielleicht kommt er ja zu mir, denn mich hat letzthin die Göttin gesegnet: Ich geb' nur noch Bier!" Sie hebt ihren mächtigen Busen auf einer Seite mit der Hand an und reckt ihn dem Jarl entgegen. Unter dem kreischenden Gelächter der anderen Weiber schrillt sie: "Jaaaa, das wär' doch genau das richtige für dich, mein Liebling, was? Komm mich doch mal besuchen!" Dann haben die anderen Weiber sie wieder eingeholt und johlen wild. Lîf ist völlig perplex und begreift erst mit einiger Verzögerung, wie sich Merle die Sitten der Inselleute zunutze gemacht hat: Gerade weil die Weiber hier als kaum mündig angesehen werden, wird der Jarl den derben Scherz wohl ungesühnt lassen müssen, will er ihn nicht noch aufbauschen. Er hat weitaus mehr Ruf zu verlieren als die dicke Zimmermannsfrau. Ein wenig versöhnt, aber auch beschämt, dass ihr in ihrer blinden Wut keine so wirksame Attacke eingefallen ist, weist sie Tristan auf Gertrud und Sigrid hin – auch, um das schadenfrohe Grinsen vor dem Jarl zu verbergen, das sich auf ihre Lippen stiehlt.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 21.10.2017, 21:14:24
Tristan atmet auf, als man sich der Thingstätte nähert. Wenn er geahnt hätte, dass der Jarl seine Lîf derart reizen würde, hätte er sie nicht gefragt, ob sie ihn begleiten wolle. Wie wütend sie schon wieder ausschaut! Das geht aber auch einfach viel zu leicht und zu schnell bei ihr. Sie muss dringend lernen, ihren Zorn wenn schon nicht zu unterdrücken, so doch wenigstens zu verbergen. Man kann ihr die Gedanken ja fast an der mal schmollenden, mal wutentbrannten Miene Wort für Wort ablesen![1]

Zum Beispiel, dass sie es gar nicht erträgt, wenn sich jemand über sie amüsiert oder ihre Worte nicht richtig ernst nimmt oder, in der letzten Steigerung, sie gar wie ein Kind behandelt. Nun ist ihr Benehmen ja bisweilen auch noch sehr kindisch und Tristan sieht wohl, warum der Jarl meint, ihr da ein wenig auf den Zahn fühlen zu müssen. Sie ist nun einmal Esjas einzige Schülerin und damit ziemlich sicher die zukünftige drudkvinde von Jarlsö. (Esjas leibliche Tochter ertrank nämlich vor dreieinhalb Jahren, die Enkelin aber ist ganze fünf Jahre alt und man weiß noch nicht, ob sie sich überhaupt für diese Aufgabe eignet.) Er sieht also sehr wohl ein, dass viel an seiner Lîf hängt. So, wie sie sich jetzt benimmt, darf eine drudkvinde sich nicht aufführen, etwa wie unüberlegt sie daherredet in aller Öffentlichkeit. Und sich später dann wundert, dass, bloß weil sie die Sache inzwischen längst vergessen hat, die Leute sich noch daran erinnern. Tristan will also gar nicht leugnen, dass sein Weib noch einen Haufen zu lernen hat und sich damit auch noch eilen sollte, denn allzu viele Winter wird Esja nicht mehr überstehen, aber bei Gaja, etwas Zeit muss man seiner Lîf schon geben, um sich einzufinden! Und überhaupt ist es ja wohl seine Aufgabe als ihr Gatte, dafür zu sorgen, dass sie sich einfügt und zurechtfindet. Er allein, oder allenfalls noch Esja, darf sie ermahnen. Was mischt der Jarl sich da ein? Entgegen seiner Worte traut er es Tristan also offenbar nicht zu, das Temperament des eigenen Weibes gezügelt zu bekommen. Oder mahnt es zumindest an: Tu du's nur recht bald, sonst kümmere ich mich darum!

Bin ich vielleicht doch zu nachsichtig mit ihr, zu geduldig? nagt das Gewissen an ihm. Aber ich meine halt, derlei Einsichten muss ein jeder selbst gewinnen, die entsprechenden Lektionen selbst lernen, und sie ist ja auch noch sehr jung, sie wird das alles wohl schon noch erkennen. Willens ist sie ja, bemühen tut sie sich ganz arg, was will man mehr? Vor allem aber meine ich, dass man sie, indem man sie wie ein Kind behandelt, gewiss nicht dazu bringt, sich erwachsener zu benehmen. Bei mir hat man damals ja auch nicht lange herumüberlegt, ob ich denn überhaupt zum Gesetzessprecher tauge mit meinen nicht ganz siebzehn Jahren, sondern der Olav war tot, also musste ich es sein. Jemand, der auf diese Weise ins Wasser gestoßen wird, lernt das Schwimmen rasch! Esja jedenfalls scheint nicht daran zu zweifeln, dass Lîf mit der Aufgabe wachsen wird, warum sollte ich es da oder Gisle?

Nur zwei Dinge sollte er wohl doch einmal ansprechen. Erstens nämlich auf den Denkfehler hinweisen, der ihr unterläuft, wenn sie das Leben und die Sitten auf den Inseln immer damit vergleicht, wie es ihr daheim im Kreise ihrer Familie erging. Äpfen und Birnen! So wie bei ihr daheim müsse es in ganz Fersland zugehen, scheint sie zu meinen oder vielmehr denkt sie wohl, so würde es ihr in ganz Fersland ergehen, weil die Leute dort viel freundlicher und gescheiter und was nicht alle seien als hier auf den Inseln. Die Fremden vergleicht sie also mit der Familie und anderen vertrauten Gesichtern. Dabei hätte sie es in Fersland, auf sich selbst gestellt unter Fremden, auch nicht leichter als hier. Da würde ein Mann in Gisles Position auch erst einmal nichts auf ihre Meinung geben, da müsste sie sich auch erst einmal beweisen. Zweitens, so herzensgut seine Lîf ist, sie teilt dennoch die Welt allzu rasch ihren Vorurteilen nach auf: so und so sind bei ihr die Männer, bloß weil einer sich gerade so benimmt, die Weiber aber, die sind so und so, weil sie es so halten würde und sie ist ja eines, also muss sie es wissen. Statt den einzelnen Menschen zu sehen, ihn erst einmal zu beobachten und kennenzulernen, meint sie gleich zu durchschauen, was für eine "Sorte" er sei. Wenn sie jemanden aber gleich von Anfang an in einem bestimmte Licht betrachtet, wird sie alles, was er tut, auf diese Weise deuten und sich in ihrem ersten Urteil stets bestätigt sehen. Nein, also das muss sie sich wirklich abgewöhnen, bevor sie drudkvinde wird, das geht wirklich nicht, dass sie immer zu den Weibern hält und den Männern alles zutraut, oder vielmehr nichts rechtes. Das denkt sie nicht wirklich, so ahnt er wohl, aber eine drudkvinde, die so daherredet, könnte doch argen Unfrieden stiften.

Das beweist ihm auch gleich, kaum dass er dies gedacht hat, der Spott des Zimmermannsweibes.

"Oh weh, Merle, glaubst du wirklich, dass die Göttin es als Segen gemeint hat?" entgegnet Tristan ihr laut, keinen Weiberspott fürchtend, oder zumindest weniger als den Zorn des Jarls. "Deinen Morten wirst du von jetzt an keine Stund' nüchtern erleben und deine ganze Arbeit wird wohl liegen bleiben, weil er gar nicht mehr ablassen wird von dir. Bei Gaja, ich will gar nicht wissen, was du angestellt hast, dass die Göttin zu solchen Mitteln greifen muss, um dich wieder auf den rechten Weg zu bringen!"

Dann bleibt ihm gerade noch Zeit, sich zu seinem Weib vorzubeugen und ihr hastig einen Rat zuzuraunen—"Lass dich nicht so einfach von Gisle oder von irgendwem reizen! Die wollen doch nur austesten, wie du reagierst. Was du für eine bist, die ihnen hier so plötzlich als zukünftige drudkvinde vorgesetzt wurde. Mancher will sich vielleicht auch nur seinen Spaß mit mir machen, indem er mein Weib triezt, aber du musst nicht meinen, dass das bös' gemeint wäre. Es wird auch bald vorüber gehen, wenn dich erst alle kennen und du dazugehörst."

Dann drückt er ihr noch einen flüchtigen Kuss auf und eilt dem Jarl hinterher, der soeben bei den Bautasteinen anlangt, just an der Stelle, wo er am Vormittag den Gesetzesvortrag eröffnete. Zwei Männer mittleren Alters warten bereits dort—sie erkennt Thorstein, welcher beim Spiel am Morgen Alberichs Bruder Flake mimte—und eine nur wenig jüngere, aber noch recht ansprechend aussehendes Weib—angetan in ihrem besten Kleid, schätzt Lîf—mit dicken braunen Zöpfen, die ihr, obwohl unterm Schal eingeklemmt, bis zur Brust herunterreichen. Ihre Miene ist recht verdrossen. Angst scheint sie nicht zu haben, oder will sich bloß keine anmerken lassen. Während Lîf sie so beobachtet, zupft sie sich wohl ein paarmal an den Zöpfen.
 1. Mit einem erstaunlichen Sense Motive = 20 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1035952#msg1035952) kann Tristan seiner Lîf die im vorausgehenden Beitrag beschriebenen Gedanken recht genau ansehen.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 22.10.2017, 13:28:06
Lîf fühlt sich einmal mehr beschämt, als Tristan Merle schlagfertig antwortet und darauf von den Weibern ebenso wieherndes Gelächter erntet. Die Gespräche hier springen so rasch hin und her zwischen direkten, ja, fast schon groben Worten einerseits und dann wiederum Scherzen und Augenzwinkern andererseits! Sie kommt gar nicht so rasch mit, zu merken, wer nun gerade in vollem Ernst spricht und wer im Scherz... Ihr schwant so langsam, dass die Inselleute bei all ihrem Verzicht auf feine Sitten doch mehr Seiten haben als nur die der grölenden Barbaren, die sie bisher in ihnen sah. Sie fühlt ihre Wangen rot glühen, als sie den Blick senkt und sich auf die Lippen beißt. Ihr Mann hat ihr mit seinen Worten klar gemacht, wie kurzsichtig sie sich verhält – und es ärgert sie noch mehr, dass sie die Schuld dafür nur bei sich selbst suchen kann. Wie sehr wünscht sie sich, als vollwertig, als erwachsen akzeptiert zu sein, trotz ihrer gerade mal siebzehn Sommer. Immerhin haben andere Weiber in diesem Alter schon ihr erstes Kind, sind Hausfrau, Mutter, Herrin über die Schlüssel ihres Mannes, über Mägde und Knechte. Prüfen also will sie der Jarl..! Und sie hat es nicht gesehen, hat sich gereizt auf seine Worte geworfen, während er sie mit gutmütigem Spott hat wüten lassen wie ein unreifes Kind! Ohrfeigen könnte sie sich!

Und noch mehr tut ihr weh, dass sie das Gefühl hat, ihren Tristan damit blamiert zu haben. Der Skalde, seht nur: Er hat sich mit einem halben Kind vermählt, das sich nicht zu beherrschen weiß! So werden sie wohl über ihn reden. Schuldbewusst sucht sie seine Hand, um sie leicht zu drücken. "Es tut mir leid" wispert sie ihm zu, während sie sich der Thingstätte nähern. "Ich will mich bessern, wirklich!" kann sie ihm gerade noch leise versichern, ehe er sie noch einmal küsst und dann dem Jarl folgt. Lîf bleibt allein zurück und fühlt sich, als starrten alle sie an. Nicht einmal feindselig, eher mit demselben sanften Spott, den der Jarl zeigte – und das tut der stolzen jungen Frau noch mehr weh, als es offene Ablehnung könnte. Doch das Feuer in ihr, das ihr so oft zum Nachteil gereicht, wenn sie ihre Zunge nicht im Zaum halten kann, es hilft ihr diesmal. Entschlossen schiebt sie den Unterkiefer vor und schwört sich stumm: Sie wird Tristan keine Schande mehr machen, wird sich den Respekt aller verdienen, bis niemand mehr auf den Gedanken kommt, sie zu necken! Er wird zufrieden mit ihr sein und überall mit Stolz von seinem Weib sprechen können. Und auch Esja soll niemals sagen müssen, sie habe sich bei der Wahl ihrer Schülerin geirrt! Stark wird sie sein, stark und geduldig!

Mit einer energischen Geste zieht sie ihr Kopftuch straff – das bunte mit den kurzen Fransen, ihr bestes – richtet es über dem flammend roten Haar, zupft noch einmal an den schönen Fibeln, die ihre Schürze halten, und legt die letzten Schritte hoch aufgerichtet und – wie sie hofft – würdevoll zurück. Dann tritt sie zu Gertrud und Sigrid, nickt den beiden Weibern zu und bleibt neben ihnen stehen. "Gayas Segen mit euch" sagt sie leise. Dabei bemüht sich die junge drudkvinde um ein freundliches Lächeln, trotzdem sie, ganz nach ihrer Art, noch immer recht aufgewühlt von ihrem heftigen Gefühlsausbruch ist.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 10.11.2017, 21:47:51
Kurz nachdem Tristan seinen Posten an Gisles Seite eingenommen hat, ruft dieser auch schon den Beginn der Verhandlung aus und erbittet sich von allen Anwesenden Ruhe, Aufmerksamkeit und kühle Köpfe. Die Männer versammeln sich in einem Halbrund vor dem Jarl und den beiden Streitparteien, die Frauen bilden Grüppchen zu beiden Seiten. Und dann geht's auch schon los. Unumwunden kommt der Jarl zur Sache: Thorstein, ein guter Mann von Seeholm, seit über zwanzig Jahren verheiratet mit Rike, einem tüchtigen Weib, klagt gegen seinen Vetter Björn, weil dieser besagter Rike mehrmals und einvernehmlich beigelegen habe. Thorstein habe die beiden zwar nicht mit eigenen Augen beim Akt erwischt, doch sowohl Rike als auch Björn seien geständig.

"Und deshalb landet die Sache hier vor Gericht", sagt der Jarl. "Rat wurde zuvor keiner gesucht, aber ich hoffe doch, dass die Beteiligten vor diesem Schritt alles unternommen haben, um die Sache unter sich zu klären. So etwas betrifft ja doch außer dem Ehepaar immer noch eine Vielzahl an Leuten, womit ich jetzt nicht nur die drei bald erwachsenen Kinder meine, sondern alle Menschen um das Paar herum. Eine solche Trennung kann ein ganzes Dorf durcheinanderbringen. Und auch für den Besitz ist es nicht gut, auseinandergerissen zu werden. Thorstein, Du bist dir doch im Klaren, wie tüchtig deine Rike ist, in welchem Maße du es ihr zu verdanken hast, dass du heute so gut dastehst? Von dem Zugewinn, den sie erwirtschaftet hat, wird ihr bei einer Scheidung ein guter Teil zustehen, bedenke dies wohl! Sagt also beide, und geht zuvor in euch: seid ihr euch auch ganz gewiss, dass eine Versöhnung nicht in Frage kommt?"

Darauf tritt Thorstein vor und kratzt sich am Kopf. "Scheidung? Wovon redest du, Jarl? Darum geht es hier doch gar nicht."

"Wie, um was denn dann? Aber du sagtest doch, dein Vetter habe mit deiner Rike...?"

"Ja, das hat er wohl, wie er dir bestätigen wird, wenn du ihn fragst, und die Rike auch, wobei man bei ihr vielleicht den Gürtel rausholen muss, bis sie's eingesteht. Und schließlich habe ich's ja auch mit eigenen Augen gesehen, wie er mit ihr in die Haseln ist. Das ist's wohl, was du falsch verstanden hast. Zugeschaut habe ich, unbemerkt, bis die beiden mit ihrem Werke fertig waren. Dann bin nach Hause gegangen und habe mir überlegt, was zu tun sei. Nur ein Hitzkopf rächt sich auf der Stelle, denn das tut selten gut. Besser, man bedenkt die Dinge zunächst mit kühlem Verstand, überlegt sich geduldig einen Plan und führt diesen dann aus."

Zustimmendes Gemurmel hebt sich aus der Menge, einige Männer klopfen mit dem Knauf ihrer Waffe auf ihren Schild. Der Jarl schaut noch immer recht erstaunt—verdattert wäre nun wirklich nicht die passende Beschreibung für einen solch wichtigen Mann, auch wenn Lîf genau dies denkt—und ringt sich dann doch auch ein: "Ja, das war sehr löblich von dir" ab, um gleich darauf zu fordern: "Aber jetzt sag' schon: wenn es dir nicht um Scheidung geht, worum dann? Einen Holmgang mit dem Vetter? Wahrlich, das hättet ihr zwei doch untereinander ausmachen können, ohne uns alle da hereinzuziehen!"

"Nein, auch keinen Holmgang. Ich verklage meinen Vetter auf Gebrauchsdiebstahl."

Nach diesen Worten ist Gisle nicht mehr der einzige, der verdattert blickt. Vielmehr ist er derjenige, der sich gerade wieder einkriegt, denn man kann nur eine gewisse Zeit lang am Stück verdattert blicken. Während die Umstehenden also mit offenen Mündern gaffen, ungläubig schnauben oder die Köpfe schütteln, vereinzelt auch lachen, hat Gisle sich wieder im Griff.

"Gebrauchsdiebstahl", wiederholt er. "Thorstein, wie denkst du dir das? Dein Weib ist doch kein Vieh."

"Ja, aber..."

"Nimmt dein Vetter sie vielleicht zu Zeiten in Beschlag, wo du sie dringend bräuchtest?"

"Nein, die beiden schauen schon immer, dass sie zu Zeiten zusammenfinden, in denen sie mich anderweitig beschäftigt wähnen."

"Hält Björn etwa deine Rike so sehr von der Arbeit ab, dass eure Geschäfte leiden?"

"Unsere Geschäfte, leiden? Nein, die hat Rike fest im Griff. Ein so fleißiges Weib wie sie findet man auf den drei Inseln nicht wieder!"

"Nutzt der Vetter dein Weib also ab? Ist sie durch seinen Nutzen zu erschöpft, um es dir abends noch zu besorgen?"

"Wie? Nein, ach was. Meine Rike mag es so oft, da kommt man gar nicht nach. Am liebsten jeden Tag oder gleich mehrmals. Damit hat sie mich in den vergangenen zwanzig Jahren abgenutzt."

Johlendes Gelächter, diesmal besonders laut von den Weibergruppen. Rike selbst hebt das Kinn ein wenig an und schaut halb stolz, halb trotzig.

"Vorsicht, damit gibst du ihr gerade einen Scheidungsgrund!" warnt der Jarl den abgenutzten Ehemann.

"Ja, jetzt komme mir doch nicht schon wieder mit Scheidung, Jarl! Ich sag' dir doch, wir wollen uns nicht scheiden lassen, weder ich noch meine Rike, da steht sie, frag' sie selbst! Aber es kann auch nicht sein, dass der Björn sich da einfach so an dem bedienen kann, was mir gehört. Dafür schuldet er mir was."

"Thorstein, jetzt sieh du es doch ein! Du kannst dein Weib nicht für Geld an einen anderen Mann verleihen als wäre sie ein Ochse oder Gaul! Wo kämen wir denn da hin? Scheidung oder Holmgang, etwas anderes kann das Gericht dir nicht als Lösung anbieten, außer, du ziehst die Klage ganz einfach zurück und ihr macht die Sache doch unter euch aus."

Doch natürlich sieht Thorstein es nicht ein und hebt vielmehr an zu einer Erklärung, warum der Vetter ihm ja wohl für die Rike sogar viel mehr Pacht schulden täte als für einen bloßen Ackergaul, eben weil ein Weib—und seine Rike erst recht!—so viel mehr wert sei als ein dummes Stück Vieh.

Tristan steht derweil ein wenig abseits, einen Schritt hinter dem Jarl und zu dessen rechten Seite, und hat das ganze Hin und Her aufmerksam verfolgt, dabei ohne jegliche Gemütsbekundung. Also weder hat er zustimmend geklopft noch verdattert geguckt noch gelacht oder geschnaubt. Hier und da hat er wohl die Stirn gerunzelt und gerade jetzt vertieft sich sein Stirnrunzeln, als denke er angestrengt nach.

"Nein, also wirklich, Thorstein!" platzt da der Jarl. "Jetzt gib' halt Ruhe! Dafür ist ein Gericht nun wirklich nicht da!"
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 11.11.2017, 19:47:26
Lîf, die sich zu Gertrud und Sigrid gesellt hat, verschränkt die Arme vor der Brust, indem sie fröstelnd die Hände unter die Schürze steckt. Während rundum die Wölkchen weißen Dampfs von den Mündern der Zuschauer aufsteigen, verfolgt auch der Rotschopf die beginnende Verhandlung mit sichtlicher Neugier. Eingedenk der gerade erst erhaltenen Lektion tut sie aber den stummen Schwur, sich keinesfalls von ihren Gefühlen mitreißen zu lassen und das Thing irgendwie zu stören. Immerhin hat man ihr die Ehre zugestanden, diesem wichtigen Treffen beizuwohnen, und nicht nur ihre, auch Tristans Ehre stünde auf dem Spiel, sollte sie sich hier einen öffentlichen Fehlgriff leisten. Ihre Gedanken schweifen zurück zu dem kleinen Hof ihrer Eltern, und sie beginnt zum ersten Mal in ihrem Leben zu ahnen, wie sie die beiden mit ihrer Eigensinnigkeit geplagt haben muss. Dabei liebt Lîf ihre Eltern von ganzem Herzen. Nur die Selbstbeherrschung, die war schon immer ein Problem für sie, und ihr Dickschädel. Heute aber soll es ihr nicht mehr passieren, dass sie sich vorschnell erregt!

Als der Jarl bereit ist, den ersten Fall zu hören – und direkt neben ihm, am Platz des wichtigsten Mannes nach ihm, ihr Tristan, wie sie stolz bemerkt – reckt sie sich unwillkürlich etwas, um die Streithähne genauer zu sehen, die vor Gisle treten. Der Fall wird geschildert, und Lîf geht ganz selbstverständlich davon aus, dass die beiden Männer sich um das Weib des einen streiten, dass der gehörnte Ehemann Scheidung und Genugtuung fordern wird. Nichts ganz außergewöhnliches, von solchen Vorkommnissen hat man wohl überall in der Welt schon gehört. Kaum ist jedoch das Anliegen Thorsteins heraus, runzelt sie verwirrt die Stirn. "Was meint er damit, Gebrauchsdiebstahl?" wispert sie ihren Nachbarinnen zu, in Rechtsfragen nicht erfahren genug, um die genaue Bedeutung dieser Anklage zu erahnen. Die allgemeine Reaktion scheint ihr doch darauf hinzudeuten, dass sie recht ungewöhnlich sein muss. Und nachdem die Fragen des Jarls, der sich rückversichert, ihre Augen geöffnet haben, steht auch sie mit offenem Mund da.

Das kann doch wohl nicht wahr sein..! Ihre Blicke wandern zwischen den Männern hin und her, bleiben endlich auf Rike haften. Welche Miene macht das Weib, um das es da letztlich geht? Ist sie beschämt, beleidigt..?[1] Dass ein Mädchen, das als Weib eines Mannes aus dem Haus geht, natürlich eine Arbeitskraft im Haus und auf dem Hof darstellt, ist klar. Ihre alte Familie verliert diese Arbeitskraft, ihr Mann gewinnt sie. Aber dass man sie darum in Geld aufwiegen will wie eine leibeigene Magd, die man kauft oder verkauft... das verschlägt Lîf dann doch die Sprache. "Das kann dieser Kerl doch nicht ernst meinen" murmelt sie kopfschüttelnd, gefühlsmäßig gegen Thorstein eingenommen, der sein eigenes Weib so herabwürdigt. Andererseits kann sie sich aber auch nicht recht mit Rike und ihrem Geliebten anfreunden, denn diese beiden haben immerhin den Mann gehörnt, dem Rike durch einen von der Göttin gesegneten Bund zugehört. Wo käme man hin, sprängen Männlein und Weiblein bei jeder Gelegenheit den eignen Gelüsten folgend gemeinsam ins Heu, wild durcheinander? Die Treue ist eine Tugend, welche der Großen Mutter heilig ist.

Unwillkürlich schaut Lîf zu ihrem eigenen Mann, um in dessen Miene zu lesen, was er wohl zu dieser eigenartigen Klage meint[2]. Der Jarl jedenfalls scheint mit ihr einer Meinung zu sein, dass Thorstein vielleicht das Recht zur Klage haben mag – aber nicht zu eben dieser, die er vorgebracht hat.
 1. Motiv erkennen mit einem Ergebnis von 14 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1036999#msg1036999)
 2. Dabei gehe ich davon aus, dass sie, anhand deiner Beschreibung, aus dieser Entfernung gar nichts erkennen kann. Falls doch, würde ich den obigen Wurf vielleicht gerade mit zählen
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 16.11.2017, 19:33:06
"Na, Gebrauchsdiebstahl", antwortet Gertrud bereitwillig. "Wenn der Nachbar sich ohne zu fragen dein Werkzeug, Wagen oder Boot ausleiht oder den Ochsen oder das Pferd und damit Arbeit verrichtet, und dir fehlt es in der Zeit und du kannst die deine nicht verrichten, oder aber er bringt die Sachen in einem schlechterem Zustand zurück, als er sie vorfand. In beiden Fällen schuldet er dir einen Ausgleich für die Abnutzung oder deine Ausfälle."

Gleichzeitig klärt auch der weitere Wortwechsel zwischen Jarl und Kläger, was damit gemeint ist, oder vielmehr: was normalerweise darunter verstanden wird. Thorstein scheint das ganz anders zu sehen.

"Jetzt hört mir auf, Björn und mich zu einem Holmgang drängen zu wollen", protestiert er gerade. "Wollt ihr unbedingt, dass ich meinen Vetter erschlage? So würde der Kampf nämlich ausgehen, schließlich hat er unser beider Lebtag lang noch kein Raufen gegen mich gewonnen und das wird heute nicht besser sein, wo er seit drei Jahren nicht mehr mit auf Fahrt kommt wegen der kaputten Schulter, den Arm kann er kaum heben! Und zweitens, wenn er nicht mehr wäre, täte Rike sich am Ende bloß mit einem anderen einlassen, na ich danke auch schön! Bei Björn bleibt die Sache wenigstens in der Familie und ich weiß, woran ich bin!"

Nur noch vereinzelt können die Zuhörer sich hier ein Lachen abringen, die meisten scheinen das müßige Hin und Her inzwischen doch leid zu sein. Rike, auf der Lîfs beobachtender Blick liegt, steht fast wie unbeteiligt da und verzieht keine Miene. Lîf wird nicht schlau aus ihr. Stünde sie selbst dort vorn—hätte also ihr Tristan sie vors Gericht gezerrt—und müsste sich solche Dinge anhören, sie bliebe gewiss nicht derart ruhig! Aber ihr könnte es ja auch gar nicht erst passieren, wegen so etwas vor Gericht gezerrt zu werden, weil sie ihren Mann niemals mit einem anderen hintergehen würde. So kann sie die eine Seite kaum besser verstehen als die andere.

Jarl Gisle, der sich immer sichtlicher zusammenreißen muss, appelliert schließlich an den Vetter selbst, von Thorsteins Weib abzulassen, doch dieser wirft sich in die Brust: "Es haben doch alle gehört, was Thorstein sagte: lieber ist's ihm, sein Weib geht mit mir in die Haseln als mit sonst einem Dahergelaufenen. Und das geschähe ja wohl, wenn ich damit aufhörte, ob freiwillig oder weil der Vetter mich erschlägt."

Ein entsprechender Appell an Rike lässt diese energisch verkünden, dass sie als lebendige Frau auch lebendige Wärme spüren wolle, denn "Kalt und allein lieg' ich noch früh genug in meinem Grab!" Dann solle sie sich halt vom Thorstein scheiden lassen und den Björn ehelichen, fordert der Jarl, doch da ist sie sich mit ihrem Mann einig: Nein, eine Scheidung käme nicht in Frage. Man habe sich in allen anderen Dingen das Leben gut eingerichtet und auch den Kindern wolle man das nicht antun und überhaupt. Worauf auch Björn, ungefragt, einwirft: Wie, was, auf Dauer? Ne, auf Dauer wolle er kein Weib im Haus haben, die ihm alles durcheinander brächte und nach ihren Vorstellungen umräumen wolle und auch über ihn bestimmen, ihm etwa sein Bier am Abend verbieten, wo käme man denn da hin! Aber für den Beischlaf zahlen, ha, soweit käme es noch! "Warum sollte ich für etwas bezahlen, das bereitwillig hergegeben wird und dazu dem anderen genauso viel nützt wie mir!"

Der Jarl rauft sich die Haare (zumindest in Lîfs Vorstellung, in echt steht er lediglich ganz kurz davor) und in der Menge mehrt sich das Murren, das Tuscheln und Füßescharren. Die Aufmerksamkeit lässt nach.

Da tritt Tristan vor und erbittet das Wort, welches der Jarl um nur allzugerne gewährt.

"Mir scheint doch, Thorstein", wendet Tristan sich an den Kläger, "dass du mit der Situation, wie sie ist, eigentlich ganz zufrieden bist—lass mich ausreden!—genau wie dein Vetter und dein Weib. Da stellt sich mir nur noch die Frage: geht es dir bei deiner Klage um Geld oder ums Prinzip? Wenn es dir ums Geld geht, kann das Gericht dir nicht helfen, denn es gibt kein Gesetz, das hier etwas vorsähe. Geht's dir aber um's Prinzip, dass, wie du sagst, dein Vetter sich nicht einfach nehmen solle, was dein ist, dann wüsst' ich eine Lösung vorzuschlagen. Also?"

"Ja, was, das habe ich doch schon gesagt: ums Prinzip! Er kann mir nicht einfach Hörner aufsetzen und meinen, das gibt kein Nachspiel! Soll ich mir in einer solchen Lage Untätigkeit nachreden lassen? Kommt nicht in Frage!"

"Wunderbar. Also, keiner will den Holmgang, keiner eine Scheidung, und Björn tät Rike auch gar nicht auf Dauer in seinem Haus haben wollen. Andererseits haben Rike und Björn nicht vor, voneinander abzulassen, und dir, Thorstein, ist es sogar lieber, du weißt deine Rike in den Armen des Vetters, als dass du fürchten müsstest, sie ließe sich mit wer-weiß-wem ein. Das heißt: keiner, nicht einmal du, will tatsächlich etwas ändern. Die 'Hörner' sind das einzige, was dich stört, und die Nachrede, wenn du sie untätig auf dir sitzen ließest. Jetzt sage ich aber: die Hörner, die kann man aus dem Weg räumen. Dazu müsstest du nur einer Fridelehe zwischen deinem Vetter und deinem Weib zustimmen. Damit hätte jeder von euch das, was er haben will, und rechtlich wäre auf einen Schlag alles geklärt."

Jetzt steht zur Abwechslung einmal Thorsteins Mund in sichtlicher Verdatterung offen. Dass Tristans Vorschlag offenbar aber von einiger Ungeheuerlichkeit ist, zeigt die Totenstille, die plötzlich herrscht—für einen kurzen Moment. Dann hagelt es Proteste. Fridelehe, das hieße doch nicht, dass ein Weib sich einen Liebhaber nehmen dürfe! Die sei doch nur für Männer gedacht, die ihre Lust am eigenen Weib nicht gestillt bekämen und sich dazu eine fridla nähmen, meist eine junge Witwe oder ein unverheiratetes Weib von weit über zwanzig, das bislang keinen Gatten abbekommen hätte, weil es auf den Inseln nun einmal mehr Frauen gäbe! Und so geht es eine ganze Weile. Tristan lässt sie Leute ausreden, dann kontert er ihre Einwände Punkt für Punkt: Es ginge doch genau darum, dass Rike ihre Lust nicht an einem Mann gestillt bekäme, und nähme sie sich den Björn als fridleif, so seien die Verhältnisse wenigstens ordentlich geregelt. Das Einverständnis des ersten Mannes habe sie ja offenbar—so wie der Mann, der sich eine fridla nehme, ja auch die Einwilligung seiner Erstfrau benötige—und alle rechtlichen Dinge wie Erbschaft, Unterstützung, und dergleichen mehr, seien damit auf einen Schlag geklärt.

"Mit einer Ausnahme", fügt Tristan an. "Sollte die Rike noch einmal Mutter werden—das Jüngste ist elf Jahre, nicht wahr? Also vielleicht nicht sehr wahrscheinlich, aber auszuschließen ist es nicht—dann müsst ihr beide, Thorstein und Vetter Björn, zuvor vertraglich geklärt haben, wer sich für das Blag verantwortlich fühlt, wer von euch es anzuerkennen oder abzulehnen hat. Denn das darf nicht passieren, dass sich am Ende keiner dafür verantworten will. Also, was sagt ihr? Thorstein, du zuerst? Von deiner Zustimmung hinge es ab."

Doch Thorsteins Antwort wird übertönt von abermaligem Protest aus der Menge. So etwas könne man doch nicht einführen! Was für Vorbild setze das denn? Am Ende käme da jedes Eheweib an und will sich einen Liebhaber nehmen! Wo würde das hinführen! Derart unordentliche Verhältnisse... da täte ja bald keiner mehr durchschauen! Ha, da wisse man in kürzester Zeit ja gar nicht mehr, wessen Vaters die Kinder des eigenen Weibes seien!

"Nun, das weiß man auch heute schon nicht ganz so recht, nicht wahr?" hält Tristan ihnen entgegen. "Dazu muss man seinem Weib schon vertrauen. Und es bräuchte ja die Zustimmung des ersten Ehemannes, könnte gegen seinen Willen also niemals geschehen. Außerdem: habt ihr schon jemals von einem solchen Fall gehört? Also nicht nur vor Gericht, sondern ganz allgemein?" Dabei blickt er eine Gruppe von älteren Männern an, welche nach kurzem Zögern den Kopf schütteln. Einer versichert gar, nicht einmal sein Großvater hätte von einer solchen Sache erzählt. "Gut, also sind wir uns doch eigentlich einig, dass es ein sehr seltener Fall ist? Wie sehen das unsere Frauen?" Tristan blickt in Richtung der Weiberfeuer. "Hätte eine von euch es eilig, sich nach Rikes Beispiel einen fridleif anzulachen, weil ihr mit einem Mann nicht schon Arbeit genug habt?"
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 19.11.2017, 11:23:45
Lîfs Gesicht wirkt in diesem Moment wohl alles andere als intelligent. Doch Gertruds Antwort, so naheliegend sie ist, verblüfft den Rotschopf gar zu sehr. Ein Weib – als Gebrauchsgegenstand wie ein Werkzeug, eine Schüssel oder ein Webstuhl..?! Ungläubig schüttelt sie den Kopf, bis die Reden, die weiter vorn geschwungen werden, ihr schließlich keine Wahl mehr lassen, als einzusehen: Dieser Kerl namens Thorstein will sein eigenes Weib tatsächlich behandelt wissen wie eine Sache oder eine Stute oder Kuh in seinem Stall! Sie schnaubt nochmals empört, verfolgt den Fortgang der Verhandlung aber eingedenk ihres Schwurs schweigend. Nur gelegentlich stößt sie ihre Nachbarin an und wispert: "Das ist doch unglaublich, so ein Halunke!" oder: "Da schafft er's nicht, ihren Hunger selbst zu stillen, und dann will er auch noch einen Verlust anmelden, weil sie sich anderswo einen Mann sucht!", wenn es sie gerade gegen ihn mitreißt. Das Verhalten der beiden Ehebrecher allerdings lässt sie wiederum flüstern: "Die zwei schämen sich nicht mal – wenn ich ihr Mann wär', ich würde den lüsternen Bock ordentlich verprügeln, und auf ihrem Hinterteil würd' ich ein halb' Dutzend Ruten zerschlagen!" Offenkundig schwankt sie in ihren Sympathien – oder eher in ihrer Antipathie – mal auf die eine, mal auf die andere Seite.

Letztlich aber sagt sie sich, dass in ihren Augen alle drei Strafe verdienten. Immer klarer wird der jungen Frau, dass sie die Menschen hier noch immer nicht recht versteht. Lîfs Eltern haben ihre Tochter in dem Glauben erzogen, dass die Sittsamkeit eine wichtige Tugend sei, und diese drei zerren hier ihre intimen Angelegenheiten vor ein öffentliches Gericht, um sich quasi noch ihrer jeweiligen Wollust zu brüsten! Die Große Mutter segnet die Verbindung zwischen Mann und Weib. Fruchtbarkeit, Kindersegen und die Lust, die beide einander bereiten können, sind Ihr Segen. Doch das heißt nicht, es wäre im Sinne der Göttin, wenn die Männer sich wie lüsterne Ziegenböcke gebärden oder die Weiber sich wie rollige Katzen aufführen. "Wie können Sie nur..!" lautet ihr abschließendes Urteil, das allerdings außer Gertrud und Sigrid niemand hört. Lîfs einziger Trost ist, dass dieser groteske Streit auch die anderen eher zu irritieren scheint. Nein, solche Schamlosigkeit..! Dabei war sie selbst nie ein Kind von Traurigkeit, hat gern mit den jungen Kerlen harmlos geschäkert, die sie rund um den elterlichen Hof traf. Jetzt allerdings, als Weib eines Mannes, wäre für sie nicht mehr angemessen, was man jungen, ledigen Mädchen und Burschen noch nachsehen mag. Und erst recht nicht für gestandene Eheleute wie jene beiden dort vorn und den sauberen Herrn Vetter Thorsteins!

Neugierig reckt die junge Frau den Hals, als Tristan sich zu Wort meldet (und sie schaut dabei unauffällig nach, ob die Weiber rundum auch alle mitbekommen, dass ihr Mann da spricht – jawohl, der ihre! Ihr Tristan ist es, dem nun alle lauschen, merkt nur gut auf!). Gespannt wie wohl alle wartet sie auf die Lösung, die er vorzuschlagen hat, und Lîf hat zusätzlich die Befriedigung, jenen leisen, bewundernden Glanz in den Augen der nächststehenden Weiber zu sehen. Ja, ihr Tristan ist ein schöner Mann, aber nicht nur das: Er ist auch sehr weise, und sein Rat offenkundig hoch angesehen. Das lässt den Rotschopf stolz das Kinn recken, während er vorn spricht. Ein wenig konsterniert hört sie dann aber, was er schließlich vorschlägt. Um sie herum wird es schlagartig ruhig. Dann beginnen die Männer lautstark zu protestieren. Die Weiber dagegen stecken die Köpfe zusammen und tuscheln erregt. "Unerhört!""Undenkbar!""Da könnt' ja jede..!""Ja, selbst ich, denkt euch, ich könnt' meinem Alten zum Trotz jederzeit..." So in etwa verlaufen die hastig gewisperten Unterhaltungen, und in etwa bei dem letzten Punkt verstummen sie dann auch alle wieder, während die Weiber sich gegenseitig anstarren und jede in Gedanken für sich durchgeht, was das für sie persönlich hieße.

Und als sich Tristan plötzlich an die Weiber wendet, um sie nach ihrer Meinung zu fragen, fallen die Antworten ganz und gar nicht so einmütig aus, wie es ihre Männer wohl gerne sähen: Alle schreien durcheinander – die einen verdammen eine derartige Idee ganz und gar, andere halten ihr einiges zugute, während verschiedenes ihrer Meinung nach aber auch gegen sie spricht. Wieder andere – vor allem jüngere Weiber – stimmen dem Skalden gar zu. Ganz und gar recht habe er, und von ihnen käme keine auf den Gedanken, da am Ende gar selbst... aber nein, woher denn! Braucht ein Weib, das tagtäglich seine liebe Müh und Not hat, alle Pflichten im Haus, auf dem Gut, beim Nachwuchs, bei der Aufsicht über Knechte und Mägde zu erfüllen, braucht ein solches Weib noch ständig einen Reiter im Sattel, um müde geritten zu werden wie eine feurige Stute? Wirklich nicht, nein! Tristans eigenes Weib, obwohl unter den jüngeren, beteiligt sich allerdings nicht an dem Geschrei. Sie wirkt nun wieder sehr jung und fast ein wenig verloren inmitten der eifrig streitenden Weiber.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 20.11.2017, 20:44:30
Die Reaktion an den Weiberfeuern ist nun nicht ganz so, wie Tristan erwartet hätte. So viel Uneinigkeit! Das gibt's bei den Männern nicht, zumindest an der Geschlechterfront, da hält man zusammen. Aber die Weiber...! Und richtig zugehört haben sie auch mal wieder nicht, wie man an dem Kommentar von—das müsste Snorris Weib Jessa sein, wenn Tristan sich nicht völlig irrt—sieht: "...meinem Alten zum Trotz jederzeit...", das eben nicht! Sondern nur mit dessen Einverständnis, so wie es ja umgekehrt bei den Männern ist: nur mit dem Einverständnis ihres ersten Eheweibes können sie mit ihrer fridla eine Zweitehe eingehen...

An dieser Stelle setzt Tristan dann auch an und versucht die Sachlage zu klären, nämlich dass, wollte man seinem Vorschlag folgen, den Weibern nur dasselbe Recht zustünde wie ihren Ehemännern.

"Heißen unsere Weiber nicht 'freie Frauen', so wie wir uns 'freie Männer nennen, und sind wir nicht alle stolz auf unsere Freiheit, die es nur hier bei uns auf den Inseln gibt? Sollte das Wort 'frei' dann nicht auch für Mann und Weib dasselbe bedeuten?" so fragt der Gesetzessprecher in die Runde.

Den Tumult vermögen seine vernünftigen Worte indes nicht zu beruhigen. Ein wenig redet er wohl auch an seinem Publikum vorbei, denn für die meisten ist dies nun gerade kein Thema, bei dem die Vernunft den Ton angibt—oder den Weibern gerne gleiches Recht zugestanden wird. Dabei scheint Thorstein die Lösung sogar zu gefallen. "Ja, du hast recht, damit wäre alles auf einen Schlag geregelt!" ruft er, als er endlich begreift, was der Skalde vorschlägt und warum.

Doch aus den Reihen der Männer, die zu entscheiden haben, kommt nur vereinzelt zustimmendes Klopfen, es überwiegt das Murren und Protestieren.[1]

Tristan nimmt einen letzten Anlauf, indem er noch einmal darauf hinweist, wie selten der geschilderte Fall sei, dass die Gesetze dafür eben nicht geschaffen seien, man aber trotzdem eine Lösung finden müsse, wofür ein neues Gesetz sich nicht lohne, weshalb das Gericht eben ein schon bestehendes mit ein wenig Schläue auf den vorliegenden Ausnahmefall ausweiten müsse...

Doch nein. Die Sorge der Männer, ihre Weiber könnten, wenn man ihnen in dieser Hinsicht die Tür auch nur einen winzigen Spalt öffnen täte, völlig wild werden und bald mit jedem ins Heu springen, der zufällig daherläuft, ist zu groß. Tristan schüttelt ebenso verzweifelt wie verständnislos den Kopf.

Wie kann man so wenig Vertrauen zu seinem Weib haben, fragt er sich still, so an ihrem Verstand zweifeln, ihrer Sittsamkeit, ihrem Stolz, ihrer Ehre...? Das halbe Jahr, wenn ihre Männer auf See sind, können die Weiber tun und lassen, was sie wollen, man würd's doch nie erfahren, also bitte, ein wenig mehr sollte man ihnen schon zutrauen...!

"Du siehst, Thorstein", reißt Jarl Gisle das Ruder wieder an sich, "ein solches Durcheinander ist bei uns nicht erwünscht. Gesetze, die weibliche Untreue ahnden, besitzen wir ausreichend, An sie müssen auch du und deine Rike und dein Vetter Björn sich halten. Also sag, ob Du die Scheidung oder den Holmgang wünschst oder zieh deine Klage zurück und gib' Ruh'."

Ein paarmal setzt Thorstein noch zu einem Protest an, dann denkt er grimmig nach, und seine Miene wird immer grimmiger dabei, bis er schließlich wütend ausstößt: "Na schön, dann wird's halt ein Holmgang!"[2]

Während der Jarl und die meisten Männer zufrieden nicken, auf ihre Schilde klopfen und teils erleichtert aufseufzen, weil dieses sinnlose Tauziehen endlich ein Ende hat, kreuzt Lîfs Blick sich mit dem ihres Mannes. Er schaut ernst, enttäuscht, frustriert.

Ein Holmgang wird's also. Das Wann und Wo und mit welchen Waffen ist schnell ausgehandelt: zum Ende des heutigen Gerichtes, denn zuvor gebe es ja noch einen zweiten Fall zu verhandeln, vor welchem der Gesetzessprecher ihnen allen dazu noch die nötigen Details zum Erbrecht in Erinnerung zu rufen habe.

Die Wahl der Waffen: Axt und Schild.
 1. Tristan diplomacy = 11 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1037374#msg1037374) vs. 20, misslungen.
 2. Ausgang 2 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1037381#msg1037381), mit gewürfelten 58%.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 21.11.2017, 13:40:33
Lîf verfolgt den Fortgang mit sehr gemischten Gefühlen. Sie sieht, wie die Uneinigkeit der Weiber die Männer grinsen lässt, sich gegenseitig in die Seiten stoßen, gemurmelte Bemerkungen austauschen. Wie könnte ein derart kopfloser Haufen von Hühnern ihnen jemals ebenbürtig sein..! Ja, sie kann die Gedanken von den Gesichtern ablesen, und es ärgert sie gewaltig, dass ihre Geschlechtsgenossinnen ein so uneiniges Bild abgeben. Dabei wäre es doch gerade jetzt darauf angekommen, den Mannsleuten zu zeigen, wie vernünftig die Weiber sein können, wenn es nur darauf ankommt! Aber sie, als Fremde, noch zudem eine der Jüngsten, die noch nicht einmal Kinder vorzeigen könnte, welche ihren Status heben würden, hat hier leider allzu wenig zu sagen. Wenn sie nur mit der Autorität einer echten, vollen drudkvinde sprechen könnte..!

Mit schwerem Herzen muss sie zusehen, wie Tristan seine Beredsamkeit aufbietet, ohne noch großen Erfolg zu haben. Und es ist nicht nur, dass sie stolz gewesen wäre, wenn alle ihrem Mann gefolgt wären, nein: Es tut ihr auch weh, wie er so vergeblich gegen die Halsstarrigkeit dieser Leute ankämpft wie gegen den Wind... Beschämt senkt sie den Kopf, als sie sich daran erinnert, wie oft sie ihm schon halsstarrig die Zustimmung verweigert hat, in vielen kleinen Dingen des Alltags – aus purem Stolz, wegen der gefühlten Beleidigung, von ihm und seinen Kumpanen gegen ihren Willen entführt worden zu sein. Er hat es wohl nicht leicht gehabt mit ihr...

Diejenigen unter den Weibern, die für Tristans Vorschlag reden, können sich nicht durchsetzen gegen die zumeist älteren, welche von einem Wechsel in den Traditionen nichts hören wollen. Sie haben nicht dieselben Rechte gehabt wie ihre Männer, warum soll es da den jungen Weibern besser gehen? Das scheint ihre trotzige Haltung zu sein, die sie hinter sittlichen Bedenken, althergebrachten Gesetzen und dem angeblichen Willen der Göttin verstecken, so kommt es ihr vor. Statt sich mit den jüngeren eins zu sein, wenn schon einmal ein Mannsbild zu ihren Gunsten spricht, missgönnen sie lieber anderen, was für sie selbst keine große Bedeutung mehr hätte. Sie seufzt leise und lässt den Kopf hängen. Armer Tristan... jetzt stünde sie gern an seiner Seite und drückte ihm die Hand, damit er weiß, dass sie ihn... dass sie ihn liebt, jawohl! Verstohlen wischt sie sich über die feuchten Augen, während sie vorgibt, ihr Kopftuch zu richten. Dann schaut sie wieder auf.

Und hält den Atem an. Ein Holmgang?! Das heißt Blutvergießen, heißt mehr Leid, heißt vielleicht gar einen Toten – sie weiß ja nicht, wie streng die Sitten hierzulande sind. Unter den Bauern in ihrer Heimat wäre keiner auf die Idee gekommen, um einer solchen Sache wie der Ehre willen Gesundheit oder Leben aufs Spiel zu setzen. Eine deftige Prügelei, das ja, doch Waffen..?! Entsetzt starrt sie zu Tristan, während ihre Lippen leise Worte formen: "Gnädige Göttin – das ist es doch nicht wert!" Gertrud oder Sigrid allenfalls mögen sie gehört haben. Lîf hat jedoch nur Augen für Tristan und seine Reaktion auf diesen Ausgang der Sache.

Sie ringt die Hände und wünscht sich nun noch mehr als zuvor, sie verfügte über das Ansehen und den Einfluss einer Weisen Frau. Einhalt würde sie dem gebieten, die Mannsleute daran erinnern, dass die Göttin zwar Herrin über die Natur ist, in der der Tod ebenso zum ewigen Kreislauf gehört wie die Geburt – doch dass es nicht Ihr Wille ist, zu sehen, wie Ihre Kinder sich gegenseitig erschlagen! Sie macht einen halben Schritt nach vorn, als wolle sie zu ihrem Mann eilen, erinnert sich aber gerade noch rechtzeitig daran, dass sie dort bei ihm im Moment nichts zu suchen hat und ihm wohl mehr schaden als nutzen würde. Ihr heißes Blut bezwingen, nachdenken, wie sie vielleicht irgendetwas tun kann, das muss sie!
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 28.11.2017, 20:16:59
Kaum ist der Holmgang beschlossen, zerrt Thorstein sein schimpfendes Weib davon. Ja, jetzt auf einmal ist Rike gar nicht mehr still, sondern flucht und fleht und keift in einem fort. Vorhaltungen macht sie ihrem Thorstein: warum hat er die Sache nur vor Gericht gezerrt? Sie habe ihn ja gleich gewarnt! Wolle er tatsächlich mit Björn...? Einen Holmgang...? Das kann er doch nicht ernst meinen! Da hätte er den Vetter doch besser gleich daheim erschlagen. Gerade das wollte er aber doch nicht, warum hat er sich nun also dazu verleiten lassen?—"Ha!" hält Thorsten dagegen, "du hast bloß Angst um Deinen fridleif!"—Nein, um beide Männer sorge sie sich gleichermaßen, einen werde es ja gewiss erwischen, also verliere sie auf jeden Fall einen geliebten Menschen. Und er selbst? Ganz schrecklich vermissen werde er den Vetter, wenn er ihn heute abend erschlüge! Es sei doch alles gut so gewesen, wie es war, aber nein, er musste die Sache ja unbedingt vor das Thinggericht zerren. Das Thinggericht! "Was geht es denn die Leute an, wie wir uns daheim in unseren Betten arrangieren?" hört Lîf sie noch keifen, dann sind die beiden außer Hörweite.

Auf der Thingstätte atmet alles auf—außer Tristan. Mit einem Blick vergewissert er sich beim Jarl, dass er nun wieder an der Reihe ist, und auf das entsprechende Nicken hin wendet er sich abermals den Weiberfeuern zu. Ein wenig blass scheint er Lîf, die Lippen schmal verkniffen, doch findet er sich rasch in seinen Vortrag ein und ist bald wieder ganz die neutrale Stimme des Gesetzes.

"Jetzt zum Erbrecht. Die Witwen bitte besonders aufmerken und auch die Töchter, denen der Vater jüngst starb." Und zu den Männern hinüber: "Gleiches gilt für die Witwer und die Söhne. Und für jeden, der sich sonst noch Hoffnungen auf eine Erbschaft macht!" Doch während der folgenden Rede hat er mehr das Augenmerk auf die Frauen, denn auf die Männer, vor allem auf die vier, die seinem Ruf folgend nach vorne drängen und ihm besonders genau zuhören.

"Wenn es heißt, ein Eheweib sei nicht die Erbin ihres Mannes, so lasst euch davon erst einmal nicht erschrecken, das ist allenfalls die halbe Wahrheit. Die Sache mit der Erberei ist ein wenig kompliziert, weil da so viele Interessen—oder soll ich sagen: Interessenten!—zusammenkommen. Nun ist es so, dass sich das Hab und Gut eines Mannes grundsätzlich aus drei Teilen zusammensetzt: dem, was er bereits von den Eltern erbte, das nennt sich Allod, dazu das, was er selbst erwarb, und zwar vor seiner Ehe, drittens nämlich das Teil, welches die Ehegatten gemeinsam erwirtschaftet haben. Wie das Allod vererbt wird ist dabei besonders streng geregelt, für alle gleich, da kann der Einzelne nicht dran drehen. Das Allod—was in den allermeisten Fällen den Hof und einen Großteil des Landes umfasst— geht an den ältesten Sohn, fertig. Die weiteren Söhne bekommen das, was der Vater ihnen zuvor zubestimmt hat, was aber nicht vom Allod gehen darf, oder, hat er nicht vorgesorgt, so mögen sie sich den väterlichen Anteil des Zugewinns teilen, also brüderlich im wahrsten Wortsinn. Dieser väterliche Anteil umfasst alles, was der Vater vor der Ehe allein erwarb, und die Hälfte dessen, was er mit dem Eheweib gemeinsam erwirtschaftete. Was ist mit den Töchtern? Die verheirateten haben ja jeglichen Erbanspruch auf das elterliche Hab und Gut aufgegeben, als sie ihren Brautschatz empfingen; die noch unverheirateten stehen von nun an unter der Vormundschaft des ältesten Bruders, dem damit also auch die Aufgabe zukommt, sie anständig zu vermählen. Auch um seine Mutter hat er sich zu kümmern, in diesem Fall muss sie sich also keine Sorgen machen.

Nun kommen wir zu dem Fall, dass ein Mann kinderlos stirbt oder nur Töchter hinterlässt. Nun wendet sich der Blick auf seine Brüder. Gibt es unter ihnen einen, der noch keinen Hof besitzt? Hat der Verstorbene den seinen von den Eltern geerbt? In diesem Fall erbt der Bruder das Allod, also den elterlichen Hof, und übernimmt auch die Vormundschaft für die unverheirateten Nichten, für deren anständige Verheiratung er zu sorgen hat.

Der Witwe des Verstorbenen steht in beiden Fällen ihr Ehepfand zu, welches ich bereits erwähnte, bestehend aus: ihrem Brautschatz, also dem, was ihr Vater mit dem Gatten im Ehevertrag als Witwenerbe ausgehandelt hat, der Heimsteuer, also was der Vater der Tochter mit in die Ehe gegeben hat, und der Morgengabe, was da sind die Geschenke, die der Gatte seinem Weib am Morgen nach der Hochzeitsnacht überreichte. Das heißt also, ich sehe bestürzte Blicke: Nein, es steht euch nicht jeglicher Schmuck zu, den euer Gatte euch irgendwann einmal überreicht hat und den ihr so viele Jahre mit Stolz getragen habt. Dieser zählt erst einmal zur Gesamterbmasse, und ob euch davon etwas zusteht, muss erst noch berechnet werden. An dieser Stelle höre ich oft den Zuruf: Ja, aber... aber... wenn der Schmuck, den ich am Leibe trage, nicht mir gehören soll, wie steht's dann mit meinen Kleidern, wie? Gehören die auch zur 'Gesamterbmasse'? Natürlich nicht. Aber der Schmuck, ausgenommen die Morgengabe, und das habt ihr ja eigentlich stets gewusst, war niemals Geschenk, sondern ein Symbol für euren Stand, eure soliden finanziellen Verhältnisse. Nach außen eure Zahlungsfähigkeit beweisen sollte der Schmuck, in all euren Geschäften als Pfand dienen, in schlechten Zeiten als Notgroschen. So, nach diesen strengen Worten die gute Nachricht: von allem, was während eure Ehe erwirtschaftet oder erworben wurde—Land ist dabei die einzige Ausnahme!—steht euch die Hälfte zu.

Außerdem, stirbt der Mann auf Fahrt, erhält sie von seinen Fahrtenbrüdern den Anteil an der Beute, der ihm zugestanden wäre, zu ihrem Erbgut dazu. Das Eheweib, wohlgemerkt, ganz und gar unabhängig von der Existenz anderer Erben. Niemand außer ihr hat Anspruch hierherauf.

So, nun sind wir fast am Ende. Lasst mich nur rasch noch einige Sonderfälle erwähnen.

Nun kann es nämlich sein, der Verstorbene hat Schulden hinterlassen. Diese können die Gläubiger zurückverlangen, allerdings nicht vom Allod und nicht vom Ehepfand; auf den Zugewinn aber, dem ehelichen wie dem vorehelichen, darauf dürfen Gläubiger Ansprüche erheben.

Oder aber eine Ehe ist kinderlos geblieben und der Verstorbene hat auch keine Brüder. In diesem Fall erbt das Eheweib allein.

Ist zwar ein Sohn vorhanden, dieser aber noch kein Mann, so erbt der Sohn trotzdem, aber die Mutter verwaltet ihm alles, bis er das Mannesalter erreicht.

Eine Möglichkeit der Witwe, ihr Los zu verbessern, will ich noch erwähnen. Sie kann einen der Brüder ihres Mannes heiraten. Dieser erbt dann, so er selbst keinen Hof besitzt, das Allod, ob er nun der nächstälteste Bruder ist oder der jüngste von sieben. Im Fall, dass der Verstorbene Schulden gemacht hat, gehen diese allerdings in seine Verantwortung über, doch die Gläubiger dürfen sie nicht sofort verlangen, sondern müssen ihm eine angemessene Zeit gewähren, die Summe aufzubringen.

So, ich hoffe, ich habe nichts vergessen. Hat jemand noch Fragen?"

Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 29.11.2017, 11:07:44
Während Rike lautstark zetert, herrscht an den Weiberfeuern eher beklommenes Schweigen. Ein Holmgang... es weiß eine jede, was das bedeutet: Einer der beiden Männer wird nicht überleben. Da reicht die Vorstellung, es könnte der eigene Mann sein, um jede Sensationslust im Keim zu ersticken und kein heiteres Geschnatter aufkommen zu lassen, wie es sonst der Fall wäre, wenn man bei einem Thing ein wichtiges Schauspiel geboten bekommt. Die Weiber wechseln Blicke untereinander und beginnen Thorsteins bessere Hälfte zu bedauern, die eine mehr, die andere weniger. Auch Lîf musste schwer schlucken, als ihr alle Konsequenzen der Entscheidung klar wurden. Traurig schüttelt sie den Kopf. Wäre doch wenigstens einer der drei vernünftiger gewesen und hätte nachgegeben! Ein Verzicht hätte womöglich ein Leben gerettet.

Die junge Frau wirkt ein wenig blass. Mit den rauen Sitten der Inselbewohner kann sie ja vielleicht noch irgendwann ihren Frieden machen, was ihre eigene Entführung angeht – man ist hier eben noch in sehr alten Traditionen verwurzelt. Doch dass Blut fließen muss, weil ein Mann dem Weib eines anderen beigewohnt hat... das kann doch nicht der Wille der Großen Mutter sein! Die Göttin gebiert und liebt alles Lebende. Es ist ein Frevel wider Sie, ein Leben so leichtfertig auszulöschen. Denn worum geht es letztlich? Um den verletzten Stolz zweier Hähne, die sich vor derselben Henne aufplustern! Und, womöglich, auch um den albernen Stolz der Henne. Bitter schürzt die junge drudkvinde die Lippen und hadert damit, dass niemand auf sie hört. Ja, wäre sie schon von der alten Esja vor Zeugen mit höheren Weihen geehrt worden, sie hätte vielleicht ihr Wort in die Waagschale werfen können, um Tristan zu unterstützen. Doch so...

Sie unterdrückt ein Seufzen, als sie erkennt, dass auch sein Gesicht von Blässe überzogen ist, wohingegen die anderen hauptsächlich froh scheinen, dass das öffentliche Gezerre um Bettgeschichten vorüber ist und es nicht an ihr eigenes Leben (oder, aus Sicht der Weiber, an das des eigenen Mannes) geht. Fast erleichtert wendet sich alles dem Skalden zu, als er wieder vorzutragen beginnt. An Lîf allerdings zieht seine Rede nun vorüber, denn immer wieder wandern ihre Gedanken zurück zu Thorstein, Rike und ihrem fridleif. In ihrem Kopf wirbeln Mitgefühl, Empörung, hilflose Enttäuschung, Ratlosigkeit durcheinander und lassen einfach zu wenig Platz für die nüchtern erklärten Gesetze, die sie ohnehin nicht betreffen, wie sie meint. Dann irgendwann kommt Tristan zu einem Ende und sieht sich nach Zuhörern um, die noch Fragen haben. Doch bis auf zwei oder drei, die sich kurz noch einmal versichern, ob sie gewisse, für sie interessante Passagen richtig verstanden haben, scheinen alle zufrieden.

Gerade will sie sich an den einsetzenden leisen Gesprächen unter den Weibern beteiligen, als sie ihren Namen hört, der halblaut die Runde unter den Nächststehenden macht. Sie reckt, ihren Nachbarinnen gleich, den Hals, um mehr zu erkennen. Endlich fühlt sie sich am Ärmel gezogen, und Ulla, ein hochgewachsenes Weib mit derben Gesichtszügen, raunt ihr zu: "Die drudkvinde hat eine Magd nach dir geschickt. Sie will dich sehen, also lauf rasch, Mädel!" Erstaunt sieht sie sich noch einmal zu ihrem Mann um, fühlt die neugierigen Blicke der Weiber auf sich ruhen, sogar einige Männer stirnrunzelnd Ausschau halten, was wohl diesen Hühnerhaufen schon wieder in solche Unruhe versetzt haben mag – und tut wie ihr geheißen, um möglichst schnell wieder aus dem Mittelpunkt des Interesses zu rücken.

Die Magd, kaum älter als Lîf selbst, in einem einfachen Wollkleid mit einer groben Schürze und einem ungefärbten Kopftuch um den kahlgeschorenen Schädel, winkt ihr. "Die Herrin Esja hat befohlen, dass du zu ihr kommst, junge Herrin" wispert sie leise, und Lîf nickt, bemüht, ihre Verwirrung und Unsicherheit zu verbergen. Was mag die Alte von ihr wollen, das so wichtig ist? Warten jedenfalls lässt man die Weise Frau nicht. Daher eilen die beiden jungen Frauen in Richtung der Hütte, in der die Greisin während des Things untergekommen ist. Im Gehen dreht sich Lîf noch einmal um und hält nach Tristan Ausschau.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 11.12.2017, 20:24:51
Wie Lîf also dem Ruf ihrer Lehrmeisterin folgt und sich auf den Weg zurück zu den Langhäusern, oder vielmehr der abseits stehenden Priesterhütte, macht, befindet Tristan sich gerade mittendrin in weiteren Erklärungen, welche Möglichkeiten eine junge Witwe noch so alles offenstünden im Fall, dass sie doch die Alleinerbin sei oder aber das Erbe für ihren noch sehr kleinen Sohn zu verwalten habe. Für beide zählte er die Vor- und Nachteile einer neuen Ehe wie auch einer Friedelehe auf. Seine Stimme begann schon in der Ferne zu verschwinden, da vernahm Lîf noch, sehr zu ihrer Überraschung, dass die Fridelehe tatsächlich Vorteile für die junge Witwe haben kann. Bislang dachte sie, das hätten die Männer sich bloß ganz fein für sich so zurecht gelegt, damit sie in möglichst vielen Betten liegen dürften. Doch wenn sie ihrem Mann glauben will, so gab es für die Fridelehe recht praktische Gründe. (Gab es so etwas eigentlich bei ihr daheim? Sie jedenfalls hat noch nie davon gehört.) Gelingt es nämlich einer jungen Witwe nicht, einen neuen Mann zu finden, steht es ihr frei, sich einen fridleif nehmen und auf diese Weise doch noch, und zwar ohne Ehrverlust, zu Kindern kommen, zu einem Erben für ihr Hab und Gut, zu Familie, die im Alter für sie sorgt. (Das war Lîf auch noch nicht so bewusst gewesen: wie hoch heutzutage auf den Inseln der Frauenüberschuss ist, wegen der verfluchten Raubfahrten und den dabei erlittenen Verlusten.) Eine Witwe mit kleinem Kind dagegen wird vielleicht diese Art der Zweitehe vorziehen, um die Erbdinge für das Kind aus erster Ehe nicht durcheinander zu bringen.

"Pass auf!" reißt die Magd[1] Lîf aus ihren Gedanken. Dann eilt sie Lîf den Rest des Weges schweigend voraus und weist, an der Heilerhütte angekommen, mit einer Hand auf den Eingang, während sie selbst im Stall verschwindet.

Lîf tritt ein. Esja erwartet sie bereits.[2]

"Komm rein, Kind, und mach schnell die Tür zu. Und dann setz dich zu mir und erzähl: wie hast du bisher dein erstes Disenthing erlebt?"


 1. Kjersti, aus Ingla. Lîf kennt sie nicht. Es sind ja nur DREI Mägde hier auf Wodland mit dabei, zwei davon ehemalige Heilerinnenschwestern Lîfs—aber Kjersti eben nicht.
 2. Nachfolgend Esjas aktuelles Facebook-Profilbild, sprich: so sah sie vor etwa zwanzig Jahren aus.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 12.12.2017, 11:03:58
Als die Magd sie anspricht, taucht Lîf unvermittelt wieder aus ihren Gedanken auf. Verwirrt und ein wenig fahrig bedankt sie sich bei Kjersti – wohl ein wenig herzlicher, als es gegenüber einer Leibeigenen üblich ist. Dann beeilt sie sich, in die Hütte zu treten und die Tür hinter sich zu schließen. Ehrerbietig nähert sie sich der Alten und neigt den Kopf vor ihr. "Danke, mor." Dann setzt sie sich wie geheißen neben Esja, nimmt ihr Kopftuch ab, wärmt sich die Hände am Feuer und überlegt. "Es ist alles sehr aufregend, aber auch verwirrend" gibt sie schließlich zu. "Ich bin mir nicht sicher, ob ich alle die Gesetze verstanden habe, die Tristan uns erklärte. Wie kann er sich das alles nur merken, mor?" Der Blick des Rotschopfs ruht mit einer kindlich anmutenden Verwunderung auf der alten drudkvinde. Lîf hat für den Moment ihre übliche Reserviertheit, die fühlbare Bemühtheit um ein neutrales Gesicht bei jeder Erwähnung ihres ehemaligen Herrn und jetzigen Mannes, vergessen. "Er hat den jungen Mannsleuten erzählt, was ihre Rechte und Pflichten sind und worauf sie achten müssen, aber auch uns Weibern. Und sogar als ein Streit zwischen zwei Verwandten ausbrach, da wusste er auch Rat..!"

Dann sieht sie auf ihre Hände, die nunmehr in ihrem Schoß liegen und am rauen Stoff ihrer Schürze herumspielen. "Aber gehört haben sie nicht auf ihn..." murmelt sie leise. "Nun werden sie sich schlagen – ein Holmgang!" Einige feuerrote Strähnen fallen ihr über die Augen, als sie sich zu Esja dreht und dabei den Kopf in aufflammendem Ärger herumwirft. "Warum tun sie das, mor?" fragt sie heftig. "Vorhin, da ist mir klargeworden, dass es hier an Mannsleuten mangelt. So viele bleiben auf dem Meer zurück oder weil sie anderer Menschen Hab und Gut rauben wollten... wie können sie sich da auch noch untereinander bekriegen?!" Dumpf schaut sie in die Flammen und murmelt: "Wenn es erst einmal so weit ist, dass auf den Inseln nur noch Weiber, Kinder und Greise sind..." Sie lässt den Satz in der Luft hängen. Der Alten mit ihrer Erfahrung fällt es nicht schwer, zu erraten, was die junge Frau bewegt[1]: Es ist der bittere Gedanke, wie lange es wohl dauern wird, bis sie selbst eine Witwe ist, da Männer hier auf den Inseln so gefährlich leben. Lîf hat Angst um Tristan, auch wenn sie sich sicherlich lieber die Zunge abbeißen würde, als das zuzugeben. Noch jedenfalls. "Kannst du denn nichts dagegen tun? Auf dich müssen sie doch hören!" sagt sie schließlich zaghaft und gesteht: "Wenn ich könnte, ich würde es ihnen verbieten, im Namen der Großen Mutter."
 1. Mit einer gewürfelten 14 und einem angemessenen Weise Frau-Bonus :)
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 23.12.2017, 23:05:01
Lîfs aufgeregtem Wortschwall lauschend, muss die alte Esja zunächst schmunzeln. "Wie er sich das alles merkt? Nicht anders als du dir all die Kräuter und Heilmittel merkst! Woran erkennt man dieses Kraut, mit was ist es leicht zu verwechseln, wann sucht man am besten danach und wo, macht man einen Tee daraus, einen Wickel, eine Salbe, und welche Menge ist heilend, welche giftig, welche gar tödlich, in frischem oder getrocknetem Zustand? Als drudkvinde wirst du dazu noch viel mehr als nur die Heilkunde lernen und behalten müssen: so viel nur in den Kopf hineingeht an Wissen über Gajas Leib, auf dem wir leben, über all ihre Kinder und Geschöpfe, ihre Geheimnisse, die sie nur mit wenigen teilt... Als Gesetzessprecher wie als weise Frau kommt man ohne gutes Gedächtnis nicht weit." Und wie man es von einer weisen Frau erwarten würde, hat sie auch einen Rat für Lîf: "Versuch also gar nicht erst, dir auch noch all die Rechtsbelange oder die Historie merken zu wollen, etwa deinem Mann zuliebe. Du wirst genug daran zu tun haben, dir die Dinge zu merken, die für deine Aufgabe wichtig sind!"

Dann hört sie erst einmal weiter zu. Mal hebt sich eine Augenbraue—wegen des Holmgangs selbst oder Lîfs schäumender Wut darob?—mal lächelt sie still in sich hinein, vielleicht aus Freude über die Zuneigung zum Gatten, welche Lîf in ihren Worten eingesteht. Und vielleicht vermeint die Alte—oder wäre das schon zu viel erhofft?—in Lîfs entrüsteter Rede gar die ersten Anzeichen zu entdecken, dass die junge Frau sich auch den anderen Inselbewohnern nicht mehr gänzlich verschließt, dass sie im Herzen bereits einige Schritte auf diese zugetan hat, auch wenn prompt der rügende Hinweis auf die Raubfahrten folgt. Ihr Schlussappell aber lässt die Alte aufseufzen.

"Verbieten? Wie, den Männern das Kämpfen? Den Weibern ihren Ungehorsam? Beiden den Sprung in fremde Betten? Wenn verbieten etwas nutzen täte, bräuchten wir kein Thinggericht! Überhaupt, mit direkten Verboten erreicht man gar nichts, bei den Männern schon mal gar nicht, aber auch bei den Weibern erweckt dies am ehesten ihren Widersinn, und wenn sie sich auch dem Scheine nach zunächst fügen. Nein, da muss man schlau sein, geduldig, gerade als Frau! Hat dir deine Mutter das nicht beigebracht? Dass man behutsam einwirken muss, in kleinen Schritten, auf eine Weise, dass die Männer dein eigentliches Ziel gar nicht erahnen, auf das du zwar nicht geradewegs, wohl aber unbeirrbar zustrebst? Am einfachsten wird die Sache, wenn sie zum Schluss gar meinen, es sei ihre eigene Idee, auf die sie da kommen! Aber nein, auch eine drudkvinde kann den Männern nichts verbieten. Gerichtssachen entscheiden nun einmal sie."

Darauf wird die Alte still und scheint nachzudenken, weshalb Lîf sich nicht getraut, sie in ihren Gedanken zu stören. Vielleicht streift ihr Blick dabei durch die Hütte auf der Suche nach der kleinen Robbe, die sie am Vortag gerettet hat? Tatsächlich, aus dem Verschlag neben der Tür lugt ein neugieriges Köpfchen um die Ecke; ein zweites folgt—Bard oder Aasa—und gleich ein drittes. Eine kleine Rangelei lässt sich darüber nicht vermeiden, wenn drei dasselbe wollen. Schließlich lugen nur noch zwei Köpfe um die Ecke, der dritte aber über das Brett hinweg: offenbar ist einer der Lunde auf die Robbe geklettert, um so weit hinaufzureichen. Jedenfalls scheinen die drei sich prächtig zu verstehen.

"Aber ich sehe, dass ich dich nicht einen Moment zu früh dort weggerufen habe", fährt Esja schließlich fort. "Nicht auf Tristans Gesetze sollst du deinen Kopf verwenden, sondern auf Gajas, damit hast du genug zu tun. Außerdem habe ich mir schon gedacht, dass es dir allmählich zu viel wird mit der ganzen Streiterei vor Gericht. Du bist jemand, der sehr genaue Vorstellungen davon hat, wie das Leben geordnet sein sollte, wie alles besser und gerechter sein könnte, und willst wohl gerne das deine dazu tun, damit es so kommt! Aber weder können wir als Heilerin die Leute vor Leid und Verletzungen schützen, noch als Weise Frau davor, dass sie Dummheiten begehen. Zum einen ist das nicht unsere Aufgabe, an der wir schon genug zu tun haben, zum anderen sind wir nicht allwissend. Dummheiten begehen wir selbst gerade so gern wie andere Leute, meinst du nicht auch?"

Doch sie lässt Lîf gar keine Zeit zur Antwort. "Was würdest du den Männern denn gerne verbieten, wenn du erst ihre drudkvinde bist: die Raubfahrten? Ja, glaubst du, die machen wir ohne Not? Die Inseln sind karg, so karg wie das Festland es nur ganz weit im Norden ist. Ein kalter Strom geht hier im Meer vorbei, aus Nordnordost, an der südlichen Ostküste Albions streift er entlang, Wodland liegt mittendrin, aber auch Jarlsö und die anderen Inseln hat der harsche Gesell noch fest in seinem Griff. Unsere Sommer sind kurz, das Wetter nass, die Felder steinig, und Höfe hat es schon mal gar nicht genug für all die jungen Männer, die ein Auskommen bräuchten. Und die letzten Jahre waren besonders kalt. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da sind die Männer nicht jedes Jahr los, sondern jedes dritte oder fünfte. Aber Tristan, dein Mann, hat es gar nicht anders erlebt, als dass er jedes Jahr losmuss, so lange geht das schon so! Jahr für Jahr verhallen unsere Bitten an die Große Mutter, sie möchte uns doch einen milderen Sommer schenken, ungehört... Ich glaube, wenn sie es könnte, würde sie es uns erhören, denn so viel Bitten kann sie nicht kalt lassen! Manchmal frage ich mich, ob sie auch so bitter friert im Winter..."

Ein Schauer schüttelt die Alte, die mit ihren Gedanken etwas abgedriftet zu sein scheint.

"Aber weshalb ich dich eigentlich gerufen habe: möchtest du noch ein wenig über die Reise zu deinen Ahninnen sprechen? Hast du noch Fragen zu dem, was deine Großmutter und die anderen zwei dir erzählten und ich hernach? Das war alles wohl sehr viel auf einmal, aber inzwischen hast du bestimmt noch ein wenig darüber nachgedacht, was das alles bedeuten könnte."
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 25.12.2017, 13:39:01
Obwohl es dem impulsiven Rotschopf schwerfällt, hört Lîf der Alten doch aufmerksam zu. Viel Weisheit und Erfahrung sprechen aus Esjas Worten, gepaart mit der Gelassenheit, die selbige bringen. Ein Punkt, in dem sie noch weit von der alten drudkvinde entfernt ist. "Ich sehe ja ein, dass du recht hast, Mor" seufzt sie schließlich. "Aber es ist so schwer, das zu akzeptieren. Glaubst du denn, das könnte mir gelingen?" Unschlüssig spielt sie an ihrer roten Mähne herum. Sie glaubt nun, mit dem Wissen aus Esjas Lektionen, zu verstehen, dass es ihre eigene Mutter beim Vater genauso machte: Stets war allen völlig klar, dass er der Herr im Hause und auf dem Hof war, dem alle zu gehorchen hatten. Aber wenn sie es genau bedenkt, so hat es die Mutter doch recht oft dahin gebracht, dass er befahl, worum sie bat oder was sie – mit einem leisen Seufzen – manchmal wünschte. Wie hat sie das geschafft..?! "Dazu muss man gewiss sehr geduldig sein, und das fällt mir so schwer, Mor..!" gesteht Lîf schweren Herzens.

Während sie respektvoll schweigend darauf wartet, was die alte Frau ihr noch zu sagen hat, entdeckt sie die drei kleinen Begleiter Esjas und muss unwillkürlich lächeln. Ohne nachzudenken, wird sie wieder zum jungen Mädchen, beugt sich hinunter und versucht die drei herbeizulocken, indem sie auf ihren Schoß klopft und leise nach ihnen ruft. Wie sie ganz plötzlich in Zorn entflammen kann, so ist es ihr offenbar auch gegeben, ihre Sorgen vorübergehend zu vergessen und wieder so unbeschwert zu werden wie in ihren Kindertagen. Ihre Erinnerung versetzt sie zurück an den Tag, als die Mutter ihr erlaubt hat, ein kleines Lamm selbst zu versorgen. Wie schrecklich war der Tag, an dem es davonlief und der Vater loszog, vom Geheul der Tochter entnervt, um die Überreste des Tiers zu finden, von Wölfen gerissen! Freude und Schmerz, beide durchlebt sie in wenigen Momenten noch einmal, und so intensiv wie nur wenige Menschen.

Erst Esjas Stimme holt Lîf wieder zurück ins Hier und Jetzt. Mit ihren Worten beschreibt die drudkvinde recht gut, was in der jungen Frau vorgeht, wenn sie an die Versammlung und die Streitereien dort denkt. Auf Esjas Fragen, was sie denn wohl tun würde, hätte sie die Macht, öffnet sie schon ihren Mund, doch die Alte überfährt sie, noch ehe sie antworten kann. Betroffen blickt sie zu Boden und murmelt schließlich: "Vielleicht könnten sie ja Handel treiben oder sich auf den Höfen des Festlands verdingen..?" Dass die Böden hier nicht fruchtbar sind, weiß sie als Bauerntochter sehr gut. Dennoch widerstrebt ihr die kriegerische Art der Inselleute, sich ihren Lebensunterhalt zu verschaffen. "Ich meine, wenn sie die Menschen nicht angreifen würden, dann würde man nach und nach lernen, ihnen zu vertrauen, und... und es würden nicht mehr so viele junge Männer sterben und Weiber zu Witwen werden." Sie klingt alles andere als überzeugt, aber sie kann einfach nicht zugeben, dass die Raubfahrten unumgänglich sein sollen. Es muss doch eine andere Lösung geben – eine, mit der alle in Frieden leben können, wie es der Wunsch der Großen Mutter ist!

Angesteckt von Esjas düsteren Gedanken, fragt sie sehr zaghaft: "Glaubst du, dass der Winter machtvoller ist als Sie..?" Die Vorstellung ist entmutigend, aber die Argumentation der Alten bestechend: Wie kann eine Mutter ihre Kinder leiden lassen – es sei denn, ihr seien die Hände gebunden? Die junge Frau schluckt und nagt an ihrer Unterlippe. Und wieder ruft Esja sie mit ihren Fragen zurück in die Realität. "Oh ja!" sagt sie rasch. "Ich habe viel darüber nachgedacht, und noch immer frage ich mich, was es bedeutet, dass ich den kleinen Kerl dort gefunden habe." Sie weist auf die Robbe, mit einem weichen Lächeln, aber auch einem Seufzen. "Auch über Tristan habe ich nachgedacht. Über ihn... und mich" sagt sie zögerlich. "Ich glaube, du hast recht: Er ist ein guter Mann, trotz allem. Und ich glaube, es ist der Wunsch der Großen Mutter, dass wir beide, er und ich..." Mit einem leisen Erröten verstummt sie und schaut zur Seite. Sie kann nicht recht leugnen, dass es nicht das Gefühl einer heiligen Pflicht allein ist, das sie zu ihrer Einsicht treibt. Beileibe nicht...

So dauert es eine ganze Weile, ehe sie wieder anhebt: "Mor? Du hast gesagt, dass die Ulmentöchter sanftmütig seien, dass sie trösten und versöhnen. Ich möchte der Großen Mutter so gern gehorchen, aber ich habe Angst, dass es mir nicht gelingt." Verlegen blickt sie Esja an. Der Alten muss nach Lîfs bisheriger Lehrzeit bei ihr ebenso klar sein, wie wild und aufbrausend der Rotschopf sein kann. "Es ist nicht so, dass ich es mit Absicht tu', aber manchmal, da reißt mich der Zorn einfach mit, auch wenn's mir hernach noch so leid tut." Dieses Geständnis fällt ihr aus zwei Gründen besonders schwer: Erstens ist Esja der erste Mensch, dem sie ihre Schwäche offen eingesteht. Und zweitens erinnerte sie sich an die Mahnungen ihrer Eltern, die sich auch schon darin einig waren, wie schlecht ihr Jähzorn und ihre sprunghafte Art einem jungen Mädchen ansteht. "Bitte, Mor, erzähl mir mehr von den Dryaden! Ich möchte von meinem Erbe wissen, damit ich meinen Weg erkennen kann."
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 29.12.2017, 22:10:29
"Ungeduldig ist die Jugend", erklärt die Alte, worauf sie nachsichtig lächelt. "Bis du mein Alter erreicht hast, wirst du schon ein wenig Geduld gelernt haben. Obwohl, ich kenne auch ungeduldige Alte. Und solche, die jung schon geduldig waren, dein Tristan zum Beispiel. Für gleichgültig, gefühllos haben ihn viele zu Anfang gehalten, andere für abwesend oder einfältig, dabei hat er es vielmehr schlau gemacht: indem er uns alle nämlich ganz genau beobachtete, sich selbst in allem zurückhaltend, bis er wusste, wie hier bei uns die Regeln sind, und in diese hat er sich dann eingefügt, reibungsloser als so mancher, der auf den Inseln geboren ist. Ja, so viel Geduld und Umsicht ist selten. Kind, du schaust zweifelnd. Hältst du sein Vorgehen nicht für umsichtig? Etwa für unterwürfig, charakterlos, weich, formbar, wechselhaft? Ah, aber er hat nicht in allem nachgegeben. In einer Sache blieb er fest, über all die Jahre hin, trotzdem man ihn von allen Seiten bedrängte... zum Weib wolle er nur eine, deren Stimme er gerne höre. Das war die einzige Begründung, die er je gab, stell dir nur vor! Damit erntete er natürlich reichlich gut gemeinte Ermahnungen und einiges an Hohn, aber er blieb stur. Und auch in anderen Dingen, vor allem in Gesetzesfragen, lässt er sich nicht so leicht beirren oder von irgendwem etwas einreden, wie du selbst erlebt hast. Also ich bleibe dabei, dass es Geduld und Umsicht sind, die ihn von so vielen anderen Männern unterscheiden. Alles, was er tut, hat er sich normalerweise gut überlegt."

Darauf schweigt die Alte, vielleicht um Lîf Zeit zu geben, ihre Worte aufzunehmen und zu bedenken, doch diese lässt sich von den Kaprizen der drei putzigen Tiere ablenken. Ihr Versuch, die drei anzulocken[1], hat immerhin den Erfolg, dass der von ihr gerettete kleine Kerl eifrig losrobben will, womit er den Lund, der zwecks besseren Ausguckpostens auf ihn geklettert war, hintenüberpurzeln lässt, was wiederum dazu führt, dass der zweite Lund, gewiss das Weibchen, aufgeregt im Verschlag verschwindet, wohl um zu schauen, wie's dem anderen geht, was diesem offenbar gar nicht passt, denn es folgt ein lautes Gekäbbel. Darüber vergisst auch die Robbe ihre Absicht und wendet sich lieber den beiden gefiederten Gefährten zu, in deren Gezänk gleich miteinstimmend, auch wenn Lîf sich einbilden will, dass das ungeschickte Kerlchen mit seinen energisch fordernden Gluckslauten die beiden Vögel zu Ordnung und Versöhnung aufruft.

Da ihre Schülerin also offenbar nicht über den Gatten sprechen möchte, greift Esja das Thema von Verboten und deren äußerst fragliche Wirksamkeit auf. Lîfs darauffolgender Vorschlag, die jungen Inselmänner könnten sich doch auf den Höfen des Festlandes verdingen, kommtiert Esja dagegen mit einem verächtlichen Schnaufen. "Wie, als Knechte? Das wird einem freien Mann nicht einfallen! Und mehr als einen Hungerlohn würde ihm auch keiner dafür bieten. Handel? Mit was, Robbenfellen, Räucherfisch, Werkzeug aus Walbein? Oder verdingen als Söldner in fernen Kriegen? Da wäre der Sold kärger als die Beute, und die Heimkehr noch unsicherer. Und bereit, die Inselheimat ganz aufzugeben und zu versuchen, am Festland Fuß zu fassen—ganz so verzweifelt sind wir noch nicht. Die Freiheit, Lîf, wiegt manche Not auf. Die Gemeinschaft, die wir hier haben, jeder freie Mann und jedes freie Weib gleichgestellt, nur die Tüchtigkeit zählt und der Charakter—vor keinem hohen Herren wird gebuckelt, alles wichtige entscheiden wir zusammen. Wie anders ist das in Albion, auf dem Festland gar!"

"Machtvoller?" sinniert sie auf Lîfs Frage hin. "Die Winterkälte? Nun, es heißt ja, Zu Beginn war das Eis...[2] Was war zuerst da, Gaja oder die Kälte oder gab es beide schon immer? Jedenfalls hat Gaja erst die Wärme und das Leben erschaffen, hat beides der Kälte und der Ödnis, dem Nichts, dem Tod abgerungen. Dieser Kampf, vor Urzeiten begonnen, währt heute noch an. Es ist ein immerwährendes Ringen. Mal haben Gaja und das Leben die Oberhand, dann wieder der Tod und die Wintergeister. In diesen argen Zeiten ist es besonders wichtig, dass alle Kinder Gajas, alle Diener des Lebens, der Großen Mutter zur Seite stehen und für das Leben kämpfen."

Lîfs Ängste, vonwegen ob sie wohl die nötige Charakterstärke besäße, kann die alte drudkvinde dieser nicht ganz nehmen, vielmehr liegt während der folgenden Erklärungen ein mahnender Ton in ihren Worten, als wolle sie sagen: Nun, ein wenig bemühen musst du dich schon darum; niemand hat je behauptet, dass es einfach würde: "Die Ulme, ja, die will trösten und schlichten, die ihren beschützen. Selbstlos ist die Ulme, maßvoll, sparsam, alles teilt sie gerecht, niemals käme sie auf den Gedanken, von einem anderen zu nehmen, was dieser dringend braucht, gar etwas zu rauben—undenkbar! Wann fühlt eine Ulme sich so richtig wohl? Wenn sie eine ganze Schar um sich herum versammelt hat, Familie, Freunde, Gäste, die eigene glücklich lachende Brut. Unermüdlich umsorgt sie alle, hilft jedem, spendet Kraft. Was ihr aber gegen jeden Sinn geht, was sie auch einmal aus der Haut fahren lassen kann, dass man sie kaum wieder erkennt, ist Ungerechtigkeit. Die nämlich geht ihr gegen jeden Sinn. Überhaupt, wenn es darum geht, die Ihren zu verteidigen, zeigt sie auf einmal Krallen und Zähne! Du siehst, auch eine Ulme ist nicht immer sanft und gelassen. Und bei dir steckt nun ja auch noch der Satyr darin, das ist zum einen ein lebensfroher, verspielter Geselle, der gewiss auch niemandem etwas Böses will, aber ach, ein wenig gedankenlos ist er schon, zu sehr auf sich bezogen, und ganz im Augenblick gefangen, das Hier und Jetzt genießend! An die Folgen dessen, was er da gerade tut, denkt er selten, oder an die Hintergründe! Im Leben fliegt ihm vieles zu, weil er so offen und fröhlich daherkommt, dass ihm kaum einer das Herz verwehren kann. Wie ansteckend ist seine kindliche Begeisterung, wie wohl räkelt es sich im sonnigen Schein seiner Aufmerksamkeit, was wärmen seine lieben Worte die Seele! Ist es da ein Wunder, dass man ihm kaum etwas ausschlagen kann, das er haben möchte? Ach, und wie gerne nimmt er all die Gaben an, welche die Leute ihm anbieten, von sich aus oder auf sein Bitten hin, und er denkt gar nicht darüber nach, ob es diese später nicht arg reuen wird, ihm so viel geschenkt zu haben, vielleicht gar mehr, als sie eigentlich hätten entbehren können. Selbst, wenn er sieht, wie sie darüber Scherereien bekommen, sieht er die Schuld nicht bei sich. Freiwillig hat das Mädchen ihre Unschuld hergegeben, lieb und zärtlich war er zu ihr, gejauchzt hat sie vor Glück! Die anderen sind das Problem, die das liebe Ding nun schief ansehen! Richtig zornig kann er werden, wenn man ihm seinen Spaß verbieten will oder ihn zu mehr Umsicht mahnt. Sieht er aber doch einmal einen Fehler ein, so plagt sein Gewissen ihn nicht lang. Und dann zieht der Satyr auch schon weiter und denkt sowieso nicht mehr zurück, der vergessliche Gesell!

Ja, das sind schon zwei ganz verschiedene Herzen, die du da in einer Brust vereinst. Dass sie nicht immer im Einklang schlagen, will ich gerne glauben. Wenigstens sind beide Kinder des Waldes und des Tags, sodass sie sich doch in den meisten Dingen miteinander versöhnen lassen sollten."


Kinder des Waldes und des Tags. Bei diesen Andeutungen wird Lîfs Miene fragend, auch wenn sie ihre Bitte nicht zu wiederholen wagt. Hoffentlich fährt Esja von selbst fort und diesmal in die richtige Richtung! Zumindest scheint die alte drudkvinde sich für eine lange Erzählung einzurichten, so wie die sich die Felldecke um ihre Schultern zieht, eine Weile lang mit entrücktem Blick ins Feuer starrt, um sich endlich aufseufzend gegen die Wand zurückzulehnen.

"Viele Wesen werden die ersten Kinder Gajas genannt. Die Elben etwa nennen sich selbst so und manche von ihnen meinen wohl, dieser Titel besage, dass sie auch von allen die besten seien. Nun, zunächst heißt es doch erst einmal, dass man vor allen andere da war, und während die Elben, soweit sich noch feststellen lässt, tatsächlich lange vor uns Menschen da waren, womöglich auch noch vor den Zwergen, so gibt es die Feen doch noch viel länger. Waren sie die ersten? Wer weiß das schon. Sie behaupten es von sich, aber das heißt nicht viel, wie man an den Elben sieht. Auf ein Feenwort darf man sich nämlich ebensowenig blind verlassen wie auf ein Elben- oder Menschenwort. Im Gegenteil, behaupte ich gar: noch viel genauer muss man es abwägen. Zum einen sind die Feen listige Kreaturen, die gerne zu Tricks und Täuschung greifen, viel lieber als zur offenen Konfrontation, zum anderen sind sie uns so fremd in ihrem Denken, ihrer Logik, ihrem Wesen, dass wir also ihre Worte zusätzlich noch ganz anders deuten, als sie gemeint sind."

Ein wenig anstrengend ist schon, der Alten zuzuhören, die sich immer wieder in Umwegen zu verlieren scheint, doch allmählich erkennt Lîf, dass auf diesen Umwegen viel Wissen verborgen liegt, welches für den weiteren Weg notwendig oder zumindest hilfreich ist. So scheint ihr die Frage, wer denn nun der erste war, die Elben oder die Feen, völlig nebensächlich, ja, uninteressant, doch dann zeigt die Alte genau daran, dass man den Feen nicht so einfach aufs Wort glauben darf, obwohl sie doch so viel älter und weiser sind, so viel mehr erlebt haben und gewiss ganz furchtbar viel von der Welt wissen, mehr als man selbst...

Auch Lîf setzt sich also zurecht und macht sich auf einen langen Vortrag gefasst.[3]
 1. Tierempathie = 11 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1040117#msg1040117)
 2. s. Tristans Erzählung (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8884.msg1023744#msg1023744)
 3. So, an dieser Stelle unterbreche ich nur noch einmal, obwohl es sich eigentlich nicht zur Unterbrechung anbietet (und ich zu Lîfs eigentlichen Frage noch gar nicht gekommen bin), aber der Post ist schon lang genug und der Vortrag wird bestimmt noch einmal genauso lang. Vielleicht hat Lîf ja auch noch den ein oder anderen Kommentar zu Esjas bisherigen Erläuterungen und Behauptungen...
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 31.12.2017, 11:35:07
Was sie da über ihren Mann erfährt, ist der jungen Lîf neu. "Deren Stimme er gerne hörte..?" murmelt sie leise. Gewiss, wie die meisten jungen Weiber besitzt auch sie eine schöne Stimme, kann singen – doch an Tristans zauberische Kunst reicht sie bei weitem nicht heran, und sie mag auch nicht recht glauben, dass die Worte der Alten so direkt zu verstehen sind. "Und da hat er mich gewählt?" Fast klingt sie ein wenig ungläubig, als sie nachdenklich ihre Stirn runzelt. Sie hatte zunächst angenommen, er habe sie als seine Beute beansprucht, weil er mit ihr tun wollte, was die Männer nun einmal mit den Weibern tun, und weil sie ihm gefiel. Mehr als genug seiner Kameraden stand ebendiese Absicht sehr deutlich in den Augen, damals, als sie Lîf und ihre Freundinnen raubten. Doch später stellte sich heraus, dass Tristan anders ist, und sie glaubte, er habe sie einfach als Dienstmagd begehrt, um für ihn zu arbeiten, vielleicht auch, um sie als Tochter des Festlands zu erniedrigen. Auch das erwies sich als falsch, musste sie in seinem Haus doch keine anderen Arbeiten verrichten als auf dem Hof ihrer Eltern, ihr langes Haar durfte sie behalten, und geschlagen hat er sie auch nicht. Ratlos geworden, machte sie sich irgendwann keine Gedanken mehr darum, was ihn wirklich dazu trieb, sie zu sich zu nehmen und ihr schließlich gar die Freiheit zu schenken.

Und nun hört sie eine solch seltsame Begründung. Sie... das Weib, dessen Stimme er gern hört..?! "Hat es etwas mit seinem und meinem Erbe zu tun, Mor?" fragt sie die alte Frau. "Hört er es an meiner Stimme?" Sind sie, meint Lîf mit anderen Worten, füreinander bestimmt, und er weiß es im Gegensatz zu ihr bereits? Der Gedanke lässt ihr Herz heftiger klopfen, und ihre Wangen röten sich leicht. Auf ihre Frage sieht sie sogleich verlegen zu Boden. Klang das etwa zu impulsiv – zu hoffnungsvoll? Denn wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst ist, kann sie nicht leugnen, dass es eine hochwillkommene Fügung wäre: Ihre Gefühle für den gutaussehenden Mann mit der Zauberstimme eingestehen zu können, ohne ihre stolzen Worte zurücknehmen zu müssen, nach denen er sie raubte und sie ihm niemals ohne Zwang zu willen sein würde. Denn wenn es der Wille der Großen Mutter wäre, gehorchte Lîf ja nur Ihr, was keine Schwäche, sondern vielmehr Glaubensstärke zeigte. Und es wäre sehr leicht zu leugnen, dass sie ihm die Entführung innerlich schon verziehen hat und sich zu ihm hingezogen fühlt, sich einzureden, es sei die lenkende Hand der Göttin, die Lîfs Herz in einem höheren Interesse rührte, ihr sanftere Gefühle einhauchte anstelle des trotzigen Aufbegehrens. Doch wäre dann nicht zu befürchten, dass die alte Esja mit ihrer Erfahrung sie durchschaut?

Das Bewusstsein nagt an ihr, dass sie den Kampf gegen ihre Liebe so oder so verlieren wird, auch wenn sie weiterhin auf ihrem Trotz beharrt. Und das fällt dem stolzen jungen Weib sehr schwer... Da helfen auch die possierlichen Tiere nicht, die vor ihr ein Schauspiel aufführen, das sie an einem anderen Tag zum Lachen reizen würde. Und auch ihre Ideen, wie sich die Männer der Inseln den Lebensunterhalt für sich, ihre Weiber und Kinder auf friedliche Art verdienen könnten, fallen auf wenig fruchtbaren Boden. "Freiheit," seufzt sie leise, "da haben die Mannsbilder leicht reden..." Ja, die Männer wollen ihren Nacken vor niemandem beugen – sie fahren übers Meer, erkennen keinen Herrn über sich an und tun, wie ihnen beliebt! Aber gibt es im Leben der Weiber Platz für solchen Stolz, selbst für die hier auf den Inseln? Wer zuhause bleiben muss, um die Kinder zu hüten, die Vorräte und Leibeigenen, um den Haushalt zu besorgen und bange auf die Rückkehr der Männer zu warten – ist der meine unverletzt, ist er's nicht, oder gar tot? – dem wäre es wohl eher ein Gewinn, auf diese Angst verzichten zu können und den Mann auf dem Feld zu wissen statt im Kampf. Denn die Herrin mag in Abwesenheit ihres Gemahls befehlen, doch ihren Alltag bestimmt dieselbe Arbeit wie den einer Magd. Die Weiber auf dem Festland leben nicht so viel anders als die auf den Inseln. Nur haben sie nicht ständig Angst um ihre Männer, solange die nicht in den Krieg ziehen müssen. Und wenn ihre Mannsleute die Arbeit von Knechten verrichten, so sind sie doch auch Männer mit Ehre. Welche Seite ist da glücklicher zu nennen?

Indes, sie glaubt zu hören, dass Esja es ähnlich sieht wie die Männer auf den Inseln. Schweigend hört sie daher die Worte der Alten an, bis die zum Erbe der Ulme und des Satyrs kommt. "Ja, ganz genau so ist es, so fühle ich manchmal" nickt sie verblüfft über die treffende Schilderung ihres Seelenlebens. Als Esja sich schließlich den Elben und Feen zuwendet, kommt Lîf näher und setzt sich zu ihren Füßen wie eine Enkeltochter zur Großmutter. Vergessen sind wiederum ihre Sorgen und Ängste, als sie mit leuchtenden Augen zuhört. Ja, von den Wesen des Waldes hat sie schon immer gern gehört! Zwar erzählt Esja recht umständlich, doch das junge Weib bettelt mehr als einmal: "Erzähl mir mehr, Mor!" und legt ihre Hände auf die Knie der Alten. Ist es das Blut der unbeschwerten Satyrn? In Lîfs Augen brennt ein heller Schein, wie man ihn sonst nur bei begeisterten Kindern sieht. Man glaubt ihr anzusehen, wie die Dinge vor ihren Augen vorüberziehen, von welchen die Alte berichtet. Als sie merkt, dass die Erzählung länger wären wird, rückt sie näher an Esja heran, legt einige Falten ihres Kleids um die Beine der drudkvinde, die ja bei alten Leuten ewig kalt sind, stützt ihr Kinn auf die Hände und lächelt erwartungsvoll zu ihr hinauf.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 01.01.2018, 19:38:45
"Warum er dich gewählt hat und was er in deiner Stimme hört, das musst du ihn schon selbst fragen", erwidert Esja. "Die erwähnten Worte lassen sich nicht unbedingt auf dich beziehen, wenn er sie vor einigen Jahren sprach und vorsätzlich zu dem Zweck, dass man ihn danach mit heiratswilligen Töchtern in Ruhe lasse. So wie ich es damals verstanden habe, erträgt er das Geschnatter der meisten Weiber einfach nicht und wollte sich keine in sein Heim holen, die ihm den ganzen Tag einfältig die Ohren vollquatscht, mit Tratsch über die Nachbarn oder mit Lästereien den Frieden stört, ohne dass ein gescheites Wort ihrem Mund entschlüpft, oder schlimmer noch eine, die mit nichts je zufrieden ist und deshalb pausenlos stichelt, schimpft oder zankt[1]. Ich versuche mir gerade Egils Inga an Tristans Seite vorzustellen oder Sigrids Tochter Helga... kannst du es? Selbst ein liebes Ding wie Elske würde ihn nicht glücklich machen können oder er sie, da bin ich mir sicher. Dazu ist das Mädchen doch zu schlicht von Gemüt, zu schwerfällig in ihrem Denken, zu begrenzt in ihrem Horizont. Wie pries dein Tristan dich stolz auf eurer Hochzeitsfeier? 'Mein schönes, kluges Weib!' Ja, ich glaube, er hat wirklich all die Jahre auf eine gewartet, die nicht nur hübsch und lieb ist, sondern ihm auch an geistiger Wendigkeit ebenbürtig."

Damit hat die alte Esja ihrer Schülerin natürlich die schöne Theorie von der lenkenden Hand der Göttin, mit der sich alles erklären ließe, gründlich ausgetrieben.

"Wobei", fügt die drudkvinde hinzu, mit dem Zeigefinger nachdenklich auf ihre Unterlippe klopfend, "vielleicht hast du auch recht und es steckt mehr dahinter, dass er dich und keine andere haben wollte. Ein andermal erklärte er mir nämlich, für ihn besäße alles um ihn herum eine eigene Melodie: jeder Mensch, jedes Tier, jeder Baum, jeder Strauch, die Wellen, der Wind, der einzelne Sonnenstrahl. Ist das die Sängerseele, die aus ihm spricht, oder sein Feenerbe? Dazu müsste man zunächst wissen, ob er's wörtlich gemeint hat oder nur als schwelgende Umschreibung. Auch das fragst du ihn besser selbst."

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Als Lîf sich zu ihren Füßen setzt wie ein kleines Kind zur Großmutter, lächelt die alte Esja, sagt aber nichts dazu.

"Gut, nun also zu den Dryaden", hebt sie lieber sogleich mit ihren Erklärungen an. "Kinder des Waldes und des Tags sind sie, und damit du das verstehst, muss ich dir die Feenwesen rasch noch in ihrer Gesamtheit vorstellen. Weit über hundert verschiedene Arten gibt es, vielleicht gar zwei- oder dreihundert, und sie sind sehr unterschiedlich, teils zerstritten. Ob nun Gajas erste Kinder oder nicht, jedenfalls sind sie ihre eifrigsten Diener. Überall in Dalaran gibt es sie. Versteckt vor uns Kurzlebigen wohnen sie an abgelegenen, stillen oder schwer erreichbaren Orten, im Einklang mit der Natur, die sie vor allzu frechen Eingriffen von uns oder anderen böswilligen Kreaturen schützen. Ganz unterschiedlicher Mittel und Strategien bedienen sie sich dabei, wie sie überhaupt ganz unterschiedliche und immer wieder überraschende Fähigkeiten besitzen. Anders als in den Sagen sind sie aber nicht unsterblich, weshalb sie uns auch die Kurzlebigen und nicht, wie in den Geschichten, Sterbliche nennen, weil sie selbst eben nur langlebig, aber nicht unsterblich sind. Ihre Lebensspanne misst sich in Jahrhunderten, bei einigen auch in Jahrtausenden. Die Zeit erleben sie daher ganz anders als wir, nehmen überhaupt die Welt mit ganz anderen Sinnen wahr. Das führt dazu, dass sie uns so schwer verstehen wie wir sie, und über den Weg trauen sie uns erst recht nicht. In den seltenen Fällen, da sie einem von uns Kurzlebigen ihre Anwesenheit offenbaren, hat man entweder etwas falsch gemacht oder sie brauchen unsere Hilfe. In beiden Fällen darf man froh sein, wenn man unbeschadet an Geist und Körper davonkommt und oft ist es so, dass derjenige sich hinterher an die Begegnung nicht mehr erinnert.

Die meisten Feen sind Einzelgänger oder leben in kleinen Gruppen, zu zweit, dritt, viert oder fünft; nur wenige Arten bilden größere Gemeinschaften wie wir es tun. Manche von ihnen ziehen rastlos umher, andere bewachen einzelne, besonders heilige Orte. Heilig, so nennen wir Menschen jene Orte, die von Feen bewacht werden, also drehen wir uns bei dieser Erklärung einmal im Kreis. Warum aber die Feen nun genau jenen Ort für wichtig halten, dass sie ihn bewachen, wissen wir nun einmal nicht. Vielleicht erzählen sie so etwas elbischen Druiden, die ihnen doch noch etwas näher stehen, uns menschlichen jedenfalls nicht.

Dass sich die einzelnen Arten sehr von einander unterscheiden, sagte ich ja schon. Die ganze Formenvielfalt der Natur findet man in ihnen wieder, dazu die verschiedensten Kräfte und Charaktereigenschaften. Noch viel mehr als wir sind sie von diesen geprägt. Ein Mensch kämpft bisweilen gegen seine Natur an und vollbringt mit schierer Willenskraft etwas, das gegen seinen Charakter ist, oder er beugt sich äußerem Druck, etwa dem seiner Familie oder der Gemeinschaft, oder er verändert sich im Laufe der Jahre unter all den verschiedenen Einflüssen, denen er ausgesetzt ist, all den gemachten Erfahrungen. Ein Feenwesen dagegen kann nicht aus seiner Haut. Jede Art hat ihre besonderen Charaktereigenschaften, die keiner ihrer Vertreter verleugnen kann. Nun sind sie nicht ganz ohne Individualität und wohl auch nicht völlig unwandelbar, denn das widerspräche Gajas grundlegendsten Prinzipien, aber diese Unterschiede und Veränderungen sind doch für das menschliche Erleben kaum erkennbar. Oh weh, das habe ich jetzt aber alles sehr umständlich ausgedrückt, wenn ich doch eigentlich nur hervorheben wollte: eine Fee kann niemals gegen ihre Natur handeln, unter keinem Zwang, keiner Drohung, und nicht einmal in der höchsten Not. Man könnte auch sagen, sie ist weniger frei in ihrem Willen als wir.

Kinder des Waldes nannte ich den Satyr und die Dryade, nun sind wir fast dort angelangt. Fünf Völker gibt es nämlich unter den Feen, genau wie unter uns Kurzlebigen. Was bei uns die Riesen, Zwerge, Menschen, Elben und die spurlos verschwundenen Akadier sind, welche zu Urzeiten auf Albion lebten, das sind bei den Feen das Hügelvölk, das Höhlenvolk, das Flussvolk, das Meervolk und das Waldvolk. Ersteres lebt auf den sanft gewellten Ebenen, unter Hügeln oder auf Inseln, die ja auch nichts anderes als Hügel sind, um die sich zufällig Wasser angesammelt hat; das zweite in den hohen Bergen oder dunklen Höhlen; das dritte an oder in den Flüssen, Bächen und Quellen, in See oder Teich, in tiefen Brunnen oder hinter Wasserfällen; das vierte auf, im oder unter dem Meer, in seinen tiefsten Tiefen, wo kein Sonnenstrahl hinreicht; das letzte schließlich lebt versteckt in den Wäldern.

Freiheitsliebend ist das Hügelvolk, es braucht den Blick in die Ferne, die Weite des Horizontes, den gräserduftenden Wind im Gesicht; schroff und unnahbar wie die Berge selbst ist das Höhlenvolk, genügsam, zäh und standhaft, durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Das Flussvolk dagegen ist heiter und verspielt, impulsiv bis zur Leichtsinnigkeit, frivol, leidenschaftlich, dabei sehr launenhaft; das Meervolk ist stürmisch und aufbrausend oder im Gegenteil kalt und gefühllos, je nachdem, ob es auf dem Meer oder in dessen Tiefen haust, in jedem Fall mächtig und uns im Denken und Fühlen von allen Feenwesen wohl am fremdesten, weil ihre Welt unter Wasser so ganz anders ist als die unsrige an Land. Das Waldvolk endlich fühlt sich den Pflanzen aufs engste verbunden, es teilt deren stille, geduldige Kraft, im Wechsel der Jahreszeiten wachsend und vergehend und doch auch den ärgsten Winter im Verborgenen überdauernd. Lauschige Plätze sind ihnen Heim oder laden zur Rast: stille Waldseen, verschlungene Pfade, sonnenwarme Lichtungen und tiefe Haine, knorrige alte Bäume, die von früher erzählen. Auf leisen Sohlen schleichen sie umher, ohne dass der Wanderer sie je bemerkt, schützen und wachen unentdeckt. Eine Unart haben sie allerdings auch, sie sind sehr neugierig. Kaum etwas lieben sie so sehr wie Geheimnisse, Rätsel, Tarn- oder Versteckspiele, Verkleidungen oder Masken. Und zu dieser letzten Sorte gehören die Dryaden und auch der Satyr.

Kinder des Tages seien sie beide, was meinte ich damit? Nun, es ist so, dass die Feen seit grauer Vorzeit zerstritten sind. Quer durch alle fünf Völker zieht sich der Graben und derart spinnefeind sind sich die beiden Seiten, dass man sich die Zeit und den Raum aufgeteilt hat, um sich leichter aus dem Weg gehen zu können. Die Tagfeen sind des tags unterwegs, bevorzugen den Sommer und warme oder sonnendurchflutete Orte, den Nachtfeen gehört die Nacht, der Winter mit seiner Kälte und alle finsteren Orte. Begegnungen der beiden sind auf die Zeit der Dämmerung und auf Orte des Zwielichts beschränkt. Und bevor es dir jetzt einfällt zu fragen: worum es in dem Streit damals ging, das weiß kein Mensch. Am Ende wissen die Feen es selbst nicht mehr. Das einzige, was man sich vorstellen könnte, dass sie sich vielleicht nicht über die Methoden einig wurden, mit denen man die Natur verteidigt: die Nachtfeen neigen zu direkten und drastischen, auch zu gnadenlosen und tödlichen, während die Tagfeen ihr Werk so unauffällig wie möglich verrichten. Eine Nachtfee würde einen Störenfried umbringen oder unter den eigenen Willen zwingen, eine Tagfee würde ihn weglocken oder ablenken, vielleicht gar umgarnen.

Das führt mich zu einem letzten Punkt, bevor ich dann endlich zu den Dryaden und ihren Bäumen kommen kann, nämlich vonwegen 'umgarnen'. Warum tun Feen das, uns Kurzlebige verführen? Nun, ganz einfach: weil sie uns zur Fortpflanzung brauchen. Fast alle Feenarten sind eingeschlechtlich—so sind alle Dryaden weiblich und alle Satyre männlich—und die Vertreter zweier verschiedener Arten können miteinander keinen Nachwuchs zeugen. Das geht nur mit uns Kurzlebigen. Eine Handvoll Arten gibt es wohl, die zwei Geschlechter besitzen, welche sich ganz normal miteinander paaren können, Selkies seien hier als Beispiel genannt oder auch Zentauren, welches dieselben sind, die nämlich auch größere Gemeinschaften bilden, so wie wir. Aber sie sind die große Ausnahme. Fast alle Feen sind auf uns Kurzlebige angewiesen. Du erinnerst dich an die Worte der ältesten Vorfahrin, die dir erschien, die Bitte, welche ihr geliebter Satyr an sie richtete? So wie die Ulme sich dreimal von demselben Mann, nämlich dem Vater deiner Vorfahrin, hätte begatten lassen und nur das dritte Kind für sich behielt, so bat er sie um das dritte Kind ihres Leibes, wenn es denn ein Sohn würde, was es ja tat. Beim Satyr und der Dryade ist es nämlich so, dass die ersten beiden Kinder eines kurzlebigen Partners von dessen Art sind, mit ein wenig Feenblut dreingemischt, und nur das dritte—mit demselben Partner gezeugt, wohlgemerkt!—von der eigenen. Bei anderen Feenarten gestaltet die Sache sich eher noch schwieriger, als leichter, weshalb es viel mehr Feenbälger als echten Feennachwuchs gibt, zumindest wenn man die Tagfeen betrachtet.

So, bevor ich nun aber wirklich zu den Dryaden und ihren Bäumen komme, möchte ich doch erst einmal hören, ob du zu all dem schon Fragen hast."

 1. So ähnlich hat Tristan es Lîf selbst gesagt, als sie ihn fragte, wie denn seine Mette gewesen sei, und er zur Antwort gab, dass sie in einem Punkt Lîf ähnlich gewesen sei: dass es ihm, im gemeinsamen Gespräch, tatsächlich interessierte, was sie sagte—anders als bei anderen Weibern und auch allgemein anderen Leuten (s. hier (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8988.msg1035081#msg1035081)).
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 03.01.2018, 19:55:35
Die Gefühle Lîfs streiten wider. Einerseits ist es natürlich eine herbe Enttäuschung, so klar gesagt zu bekommen, dass der – zugegebenermaßen etwas anmaßende – Traum vom Willen der Göttin, vom Schicksal als Mutter eines ganz besonderen Kindes, eben nur ein Traum ist. Wie stolz wäre sie gewesen, hätte sie den Eltern sagen können: "Vater! Mutter! Seht her: Dass ich geraubt wurde, geschah nur aus höheren Gründen, weil mir eine wichtige Rolle zugedacht ist." Das nun vor ihren Augen zur Fantasie eines eingebildeten Mädchens degradiert zu sehen, schmerzt. Doch auf der anderen Seite enthalten die Worte Esjas auch etwas Tröstliches: Sie, ausgerechnet sie soll es sein, auf die Tristan gewartet und um deretwillen er andere Weiber verschmäht hat! Schön hat er sie genannt: Ja, das ist wahr, so sagte er. Und welches Weib würde solche Worte nicht gern gören? Und klug... Eine plötzliche Röte überzieht die Wangen des Rotschopfs. Der Mann mit der Zauberstimme war der Erste, dem es einfiel, es so zu nennen. Die Eltern und viele andere von den umliegenden Gehöften nannten sie vorlaut. Dickköpfig, rechthaberisch. Einem jungen Weib unangemessen, töricht. Griesgrämig, kratzbürstig wie eine Wildkatze und dergleichen mehr. Und auch wenn es halb im Scherz gewesen sein mag, hat es ihr Selbstvertrauen nicht gerade gestärkt.

Tristans Worte, die die Alte ihr wieder ins Gedächtnis ruft, tun da wohl wie Balsam. Und dann deutet ihre Lehrmeisterin gar noch an, er könne womöglich doch mehr damit gemeint haben... "Das werde ich gewiss tun, Mor: Ich frage ihn" nickt sie eifrig. Darauf hört sie den Erzählungen Esjas über die Dryaden zu und fühlt sich tatsächlich in die Zeit zurückversetzt, in der sie noch klein war. Gebannt hängt sie an den Lippen der alten Frau, den Mund ganz leicht geöffnet, die Augen groß und rund. Sie ist sichtlich fasziniert. "So ist das also" oder ähnliches murmelt sie dann und wann. Als die alte drudkvinde eine Pause einlegt, nagt Lîf an ihrer Unterlippe und schaut vor sich hin. Schließlich sieht sie wieder auf und fragt: "Mor, wenn sie so viel mehr durch ihre Geburt bestimmt sind als wir, dann stehen sie vielleicht zwischen uns, den Menschen und Elben und allen meine ich, und den Dingen der Natur wie Tieren, Bäumen oder Blitzen. Sie haben ja von beiden etwas in sich." Nachdenklich spielt sie an ihren langen Zöpfen herum. "Die Dryaden und Satyre gehören zum Waldvolk" wiederholt sie leise. Verlegen grinst sie: "Ich bin wohl manches Mal auch ein klein wenig neugierig – dann hab ich das sicher daher."
   
Sehr interessiert wird sie, als sie davon hört, wie besonders die Tagfeen gern Menschenkinder verführen. Einiges aus ihrer Traumvision klärt sich mit einem Mal, und sie nickt stumm vor sich hin. Schließlich errötet sie etwas tiefer, druckst ein wenig herum und meint vorsichtig: "Ist es denn auch bei den besonderen Nachkommen der Feen so, dass stets im dritten Kind das Erbe sich fortsetzt, wenn sie beieinander liegen?" Mit einem verschämten Husten starrt sie auf ihre angezogenen Knie. Nicht dass drei Kinder eine besonders große Anzahl wären, die sie erschreckte. Aber sie muss sich doch erst an den Gedanken gewöhnen, dass sie womöglich mit Tristan, all ihren gegenteiligen Schwüren und Verwünschungen zum Trotz... und das nicht nur einmal, sondern drei, ja vielleicht gar viele Male...
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 07.01.2018, 18:19:59
"Ja, sie als Naturgewalten zu verstehen ist vielleicht das klügste", pflichtet Esja ihrer Schülerin bei[1]. "Damit unterschätzt man ihre Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit nicht so leicht und wappnet sich hoffentlich gegen die Versuchung, ihnen menschliche Denkweisen, Motivationen und Gefühle anzudichten. Denn egal wie sehr manche von ihnen uns rein äußerlich ähneln, oder auch in einigen Verhaltensweisen, oberflächlich betrachtet, sie sind doch ganz anders als wir. Sie denken anders, fühlen anders, handeln anders. Das darf man niemals vergessen, wenn man einem der Naturkinder begegnet, damit erspart man sich einiges. Es käme ja auch niemand auf die Idee, sich einer Flutwelle in den Weg zu stellen oder mit einem Sturm verhandeln zu wollen, er möge sich doch bitte beruhigen, oder einen hungrigen Bären bitten, ob er einen nicht doch verschonen könnte, man brächte ihm dafür gerne am nächsten Tag ein Schaf vorbei. Mit einer Fee lässt sich ebensowenig räsonieren, man versucht es besser gar nicht erst."

Als Lîf sich dann errötend erkundigt, ob sich bei den Nachkommen der Feen deren Erbe auch jeweils erst beim dritten Spross zeige, traut die junge Frau sich erst nach einer geraumen Weile zu ihrer Lehrmeisterin, die gewiss über die so ungeschickt versteckte eigentliche Frage schmunzeln muss, aufzublicken. Doch Esja schaut ernst.[2]

"Natürlich machst du dir derlei Gedanken, Kind. Jedes junge Mädchen, welches erfährt, dass sie nicht ganz Mensch ist, dass eine zweite Seele in ihrem Herzen sitzt—so anders, fremd, vielleicht gefährlich—sorgt sich auch gleich um die eigene Brut. In vielen Dingen kann ich dich da beruhigen, aber ich will auch nichts beschönigen. Erst einmal: unser Feenerbe wird in jedem unserer Kinder weitergetragen. Wie sich dieses in ihnen manifestiert, wie ausgeprägt also etwa das Talent, die Naturliebe, wie stark das Feenblut ihre Persönlichkeit bestimmt, lässt sich genausowenig vorhersagen wie bei allen anderen Eigenschaften, die sie von uns übernehmen. Wird dein erstes, zweites oder drittes Kind rotes Haar besitzen? So stark sein wie du? So ungeduldig? So fröhlich? So hilfsbereit? Zum zweiten haben wir Menschen stets die Wahl, was wir aus unseren angeborenen Talenten machen. Von allein wird niemand zur drudkvinde, das erfordert eine bewusste Entscheidung und eine lange, mühsame Ausbildung.

Halt, das ist nur die halbe Wahrheit. Ja, Menschen haben stets die Wahl, aber wir Baumtöchter und –söhne haben eine freiere als andere Feensprösse. Uns fällt es recht leicht, das Erbe zu ignorieren, wenn uns niemand draufstößt oder wir uns ihm verwehren. So wie eine Dryade ganz im Inneren ihres Baumes verschwinden kann, dass der menschliche Betrachter nichts als einen gewöhnlichen Baum vor sich sieht, genau so kann auch ihr Erbe für immer unentdeckt im Inneren eines Menschen schlummern oder den Mitgliedern einer langen Blutlinie, bis endlich einer von ihnen auf einen geeigneten Lehrmeister stößt oder seinerseits einen ausfindig macht, der ihm hilft, sein Erbe zu entwickeln. Ein Satyr als Vorfahr zeigt sich da schon deutlich ungenierter, drängt sich doch gern einmal von allein in den Vordergrund. Dass du mit einer Berührung einen Verletzten von der Schwelle des Todes zurückholen kannst, wie deine Mutter vor dir, dafür danke dem Satyr in deinem Blut, denn der ist gar nicht gern allein. So leicht er seine kurzlebigen Liebschaften verlässt, wenn ihm der Sinn nach neuen Abenteuern steht, so ist doch seine größte Angst, dass andere ihn verlassen, er gar allein zurückbleibt! Droht ihm also eine, ihn zu verlassen, so klammert er sich fest an sie—erst recht, wenn der Tod sie holen will! Du siehst, selbst dieser frech-frivole Kerl hat dir so manches Gute hinterlassen!

In Taglingen also, so heißt man die Nachtkommen einer Tagfee, wirkt das Feenerbe so wie nämlich diese selbst: versteckt, unauffällig, indirekt. Nachtlingen dagegen fällt es wesentlich schwerer, ihre Erbschaft zu verleugnen, die nun einmal mehr als die unsrige darauf drängt, hervorzubrechen. Nachtlinge entwickeln ihre Talente oft intuitiv, ohne dass ein Lehrmeister sie ihnen beibringen muss, oft sogar ohne bewusste Anstrengung ihrerseits. Nicht gegen ihren Willen, niemals das, aber es reicht schon der leiseste Wunsch, das leiseste Nachgeben, ein Hauch Neugier, und ihre wahre Natur gelangt an die Oberfläche. Oft sind sie auch äußerlich auffällig, etwa dass sie 'Wolfsaugen' besäßen oder einen ungewöhnlichen Hautton, grünliches Haar oder spitze Ohren, lange Finger mit je vier Gliedern oder dergleichen. Deshalb werden viele von ihnen, wenn nicht gar die meisten, von ihren Vätern nicht anerkannt, das heißt je nach Sitte, dass man sie aussetzt, erstickt oder ertränkt. Das ist einer der Gründe, warum es so viel mehr Taglinge als Nachtlinge gibt.

Kommen wir zu dir und Tristan. Ach Kind, deine Augen sind ja plötzlich schreckensweit! Warum, weil deine Kinder nicht ein, nicht zwei, sondern gleich drei Feenblutlinien in sich vereinen werden? Dryade, Satyr und Sirene? Macht dir das Angst? Denkst du darüber nach, wie schwierig es sein wird, diese drei Naturen in einer Brust zu vereinen, sie mit einander zu versöhnen? Wovon noch dazu zwei Kinder des Waldes sind, eines vom Hügelvolk? Letzteres dazu mit ersteren beiden im Widerstreit wie Nacht und Tag? Nun, leicht wird das gewiss nicht, aber von allen dreien bekommt es ja auch Stärken mit auf den Weg, die ihm wohl dabei helfen werden. Du hast gerade erst erfahren, dass Du von Feen abstammst[3], es ist alles so neu, so eigenartig, so befremdlich, wohl auch furchteinflößend. Halte dir nur immer vor Augen, dass es etwas ganz natürliches ist. Gaja hat es so eingerichtet, dass die Feen uns brauchen und wir sie und die Mutter selbst braucht uns beide."


Esja lauschend, kehrt Lîf mit ihren Gedanken immer wieder zum Gatten zurück und zu der Geschichte, die er ihr vor gut drei Monden in der Hochzeitsnacht erzählte, deren Sinn und Wahrheit sich ihr erst jetzt offenbaren. Sie hatte es damals für ein hübsches Märchen gehalten! Als Esja ihre Rede beendet und erst einmal schweigend sinniert, versucht Lîf sich möglichst genau daran zu erinnern, was Tristan ihr über seinen Vorfahren erzählte, der angeblich mit einem Kind von einer Insel auf dem Loch Leskos zurückkehrte, der 'Insel der Schwestern' (von der seit Menschengedenken noch keiner je zurückgekehrt sei, mit oder ohne Kind), und an die Prophezeiung, welche die Feenmutter ihrem Menschensohn mit auf den Weg gegeben hat, die man seither an jede Generation weitergibt: dass ihre Linie fortbestehen solle, solange der Erstgeborene jeder Generation das Lied der Schwestern erlerne, bei einem Versäumnis aber werde sie enden. Dazu eine zweite Vorhersage: in drei mal drei Generationen werde ihrer Linie ein Kind entspringen, dem die Feenmutter einen kleinen Teil ihrer Kräfte vermachen wolle. Aus seiner Kehle nämlich solle ein Gesang entsteigen so schön, wie die Menschheit ihn noch nicht gehört habe. Mit seinem Sang bezaubern werde er die Menschen von Dalaran, sie an den Herzen rühren, sie ausrufen lassen: 'Bei Gaja! Dass es so etwas schönes auf Erden gibt!'[4]

So, Sirenen sind das also, die drei Schwestern auf ihrer Insel im Nebel, und Tristan ihr Nachfahre! Der prophezeite? Ist er, und nicht die Mutter, das Kind, von dem seine Feenvorfahrin sprach?

Und klang das, was meine drei Ahnenfrauen mir erklärten, nicht auch wie eine Prophezeiung? Wie waren ihre genauen Worte? 'Du bist die, von der verlangt wird, dass sie der Ulme Versprechen einlöst.
Du bist die Sonne, von der die Große Mutter will, dass sie dem Mond Kinder gebiert.
Du bist der Tag, dein Bezwinger die Nacht. Doch so wie am Abend er dich verschlingt, verschlingst am Morgen du ihn du ihn du ihn.'


Also hat doch Gaja ihre Hand im Spiel, dass Lîf ihrem Tristan über den Weg und in die Arme lief, hat die Große Mutter ihr doch eine wichtige Rolle zugedacht? Wie, dem Gatten ein Kind zu gebären, mehr nicht?

'Also eigentlich ganz einfach, wie du siehst: mach weiterhin brav die Beine breit und lass dein finsteres Kraut weg—mehr verlangt niemand von dir.
Das kann man so ausdrücken, ich tät's aber nicht. Zwei Geschlechter sollt ihr vereinen, du mit ihm, die sich vor langer Zeit stritten und nun nicht mehr zueinander finden. Erst war es der Zorn, der sie trennte, dann der Stolz, dann der Hass, zum Schluss war's einfach so.
Aber muss es so bleiben so bleiben so bleiben?'


"Wieviele Kinder du in die Welt setzen möchtest, ist deine Entscheidung", rettet Esja ihre Schülerin aus diesen unschönen Gedanken. "Ich beispielsweise habe mich mit einer Tochter begnügt, was sich im Nachhinein als zu wenig erwies. Hätte Tristan dich nicht nach Jarlsö geholt und zu seinem Weib gemacht, hätte ich keine Nachfolgerin gehabt. Wir hier auf den Inseln tun uns schwer, jede Generation und jede Insel—jedes Dorf kannst du gleich vergessen!—mit einer drudkvinde oder einem drudmand zu versorgen, geschweige denn, dass wir wie auf Albion richtige Zirkel bilden können. Anders als dort oder auch dem Festland lebt bei uns nämlich keine einzige Dryade, die unsere Linien auffrischen könnte. Das, was wir auf Jarlsö Wald nennen, ist halt doch nur ein winziges Wäldchen, zu klein, als dass es einer scheuen Baumfee ein sicheres Versteck verspräche. Lebten hier Elben, sähe die Lage vielleicht anders aus. In deren Nähe fühlen Dryaden sich nämlich deutlich wohler als in der Nähe von Menschen, von denen sie sich möglichst fernhalten. Das liegt daran, dass Elben die Natur wesentlich besser verstehen als die meisten Menschen, oder vielleicht ist's auch ihre Langlebigkeit, die den Feen das Gefühl einer entfernten Seelenverwandtschaft gibt, obwohl auch die Elben bei weitem kein Feenalter erreichen. Jedenfalls fällen sie nicht allerorts und massenweise Bäume, zwecks Feuerholzes, und schon gar nicht alte, ehrwürdige, magische. Einem Elben könnte eine Dryade offen begegnen, mit dem Finger zeigen und sagen: 'Den Baum da lasst ihr mir in Ruh' und den und den und diesen hier auch!' und sich darauf sicher sein, dass er und ein jeder der seinen einen großen Bogen um die Genannten machen wird. In Nähe einer Menschensiedlung aber muss eine Dryade stets Angst um ihren Baum haben und um ihre Setzlinge."

An dieser Stelle unterbricht Esja ihre Rede mit offensichtlicher Mühe. Sie hätte wohl gerne noch weiter über die Elben erzählt und warum diese besser mit den Dryaden auskommen. Stattdessen holt sie tief Luft und kehrt zu Lîfs Ausgangsfrage zurück.

"Zu den Dryaden also. Dass sie in Bäumen leben, in einem der fünf mal fünf heiligen Arten, erzählte ich bereits gestern, auch dass zwölf von ihnen einem Kurzlebigen nur Töchter gebären, zwölf aber stets einen Sohn, während die Mistel macht, was sie will: mal wird's ein Sohn, mal eine Tochter, mal so recht keines von beidem, mal beides zugleich.

In einem Baum leben, wie muss man sich das vorstellen? Nun, die Dryaden verbringen nicht die ganze Zeit in ihrem Baum, das soll es nicht heißen. Sie können ihn jederzeit verlassen. Wenn sie zu ihm zurückkehren, verschmilzt ihr Körper mit ihrem Baum, vermischen sich seine Sinne mit den ihren, sein Empfinden mit dem ihren, und umgekehrt. Des einen Leben hängt von dem des anderen ab, so eng ist die Verbindung zwischen ihr und ihrem Baum. Fünfhunderfünfundfünzig Schritt und nicht einen mehr kann sie sich von ihm entfernen, ohne dass ihr furchtbar schlecht wird; fünf Tage getrennt von ihm und sie stirbt gewiss und er bald darauf. Du siehst, die Zahl fünf ist den Feen eine wichtige Zahl, genau wie bei uns, die zweitwichtigste aber ist, hier wie dort, die drei. Ein Zufall? Nein, uns sind diese Zahlen wichtig, weil sie den Feen wichtig sind, denn wir alle—also, Menschen mit unseren Kräften, die Gaja dienen—stammen von den Feen ab, genauer den Dryaden. Du als Ulmentochter stammst von einer Dryade ab, die in einer mächtigen alten Ulme lebte oder vielleicht dort noch lebt, denn eine Dryade wird so alt wie ihr Baum und ein Dryadenbaum etwas älter als ein Baum ohne Dryade. Ich dagegen bin eine Buchentochter, weil meine Vorfahrin in einer Buche lebte. Holundertochter, Lindentochter, Haseltochter, Lärchentochter... oder auch Eichensohn, Efeusohn, Fichtensohn, Eschensohn. Fünf mal fünf verschiedene Bäume gibt es—halt, nein, das sagte ich ja schon. Zwölf mit Töchtern... nein, das auch schon. Viele bleiben unentdeckt... das auch schon, herrje... die Kräfte müssen entwickelt werden, wozu man einen Lehrmeister braucht... davon war auch schon die Rede! Siehst du, das kommt davon, wenn man die Dinge nicht in der Reihe erzählt, in die sie gehören, sich von Zwischenfragen ablenken lässt, so wie Tristan sich in seiner Gesetzesrede von Elskes Frage hat ablenken lassen, dass er ganz durcheinander kam und seine Rede mit der Fridelehe enden musste statt, wie gewohnt, mit den Scheidungsgründen, wodurch der ganze Vortrag eine völlig andere Wirkung erzielte als sonst! So gingen die jungen Burschen mit geschwellter Brust davon, im Glauben, sie dürften sich alles herausnehmen, wie's ihnen gefällt, das Gesetz sei schon irgendwie auf ihrer Seite. Endet die Rede aber mit den Scheidungsgründen, von denen Mann wie Weib jeweils zwei zustehen, dann jagt dies den Burschen einen gehörigen Schrecken ein, der sie hoffentlich vor einigem Übermut wahrt... wie völlig anders schleichen sie sich dann vom Platz!"


Dies ist nun ein ungewöhnlich weiter Abweg, auf den Esja sich verirrt, und sie scheint von allein auch nicht so leicht auf den rechten Pfad zurückzufinden. Verblüfft blinzelnd hält sie daher inne und überlegt erst einmal, wo sie sein könnte, wie es sie dahin verschlug, in welche Richtung sie sich nun wenden müsse. Deutlich dunkler ist es in der Hütte geworden, fällt Lîf in der folgenden Stille auf. Nicht nur brennt das Feuer allmählich nieder, auch der Himmel, der sich lediglich in der geöffnete Dachluke über der Feuerstelle zeigt, eilt nächtlicher Schwärze entgegen. Esja blinzelt und reibt sich müde die Augen. Halb erwartet Lîf, nun hinausgeschickt zu werden, allenfalls mit dem Versprechen ausgestattet, dass Esja ihr morgen mehr erzähle, doch reißt sich die alte Heilerin noch einmal mit Macht zusammen und fährt fort, wenn auch nicht mehr so zusammenhängend und verständlich wie zuvor. Ihre Gedanken scheinen mal hierhin, mal dorthin zu springen.

Scheue, stille Wesen seien die Dryaden, die sich nach Möglichkeit versteckten, den nichts ahnenden Wanderer geschickt umleiteten. Auf den Geschlechtsakt ließen sie sich nur mit menschlichen oder elbischen Männern ein, niemals mit Zwergen, Riesen oder gar Kolkar. Weniger wählerisch seien sie, wenn es darum ginge, sich kurzlebige Helfer in der Nähe zu halten, welche, ihr gänzlich verfallen, alles für sie tun würden, vor allem natürlich sie bei ihrer Aufgabe unterstützen, mit roher Kampfkraft etwa, als zusätzliche Augen und Ohren, oder am Rande ihres Gebietes und darüber hinaus. Wie lange diese ihr dienen müssten, hinge normalerweise von der Schwere des Frevels ab, den sie selbst hatten begehen wollen, außer, die Dryade befände sich in einer derart bedrohten Lage, dass sie keinen ihrer Helfer entbehren könne und darum auch jenen, der sich seine Freiheit eigentlich schon verdient habe, noch nicht in diese entlassen könne. Von ihrem Baum—seltener als von Menschen oder Elben—ließen Dryaden sich auch bisweilen befruchten. In ihrem Haar wüchsen dann entsprechende Früchte heran, von der Art ihres Baumes, welche sie bis zur Reife und darüber hinaus, nämlich bis zur Keimung trüge. Dann suche sie für ihre Setzlinge günstige Standorte am äußersten Rand ihres Gebietes, oder wage sich gar kurzzeitig aus diesem heraus, und pflanze sie ein. Gingen die Setzlinge an und entwickelten sich zu jungen, kräftigen Bäumen, so seien sie die idealen Gefährten für ihre heranwachsende Tochter oder Töchter.

An dieser Stelle muss Esja wieder eine kurze Pause einlegen und zu Atem kommen. Nachtschwarz ist der Himmel inzwischen und draußen hört man erst vereinzelt, dann in Grüppchen, die Leute von der Thingstätte zu den Langhäusern zurückkehren. Einen letzten Punkt will Esja noch loswerden, nachdem sie eine ganze Weile stirnrunzelnd danach gesucht hat.

"Ach, genau. Auf dem Festland, wo du herkommst, nennt man unsereins genau wie auf Albion, nicht wahr? Druiden. Habe ich das schon so deutlich erwähnt? Dass alle Druiden von Dryaden abstammen? Falls du dich nun also fragst, ob die beiden Wörter, wenn sie einander schon so ähneln, auch etwas miteinander zu tun hätten. so kann ich dir dies leicht beantworten. Das Wort Druiden stammt ursprünglich aus der elbischen Sprache—auch wenn es dort und vor so vielen Jahrtausenden wohl noch etwas anders klang—und hieß tatsächlich nichts anderes als 'Dryadenkinder'. Als dann ein paar Jahrtausende später die ersten menschlichen Dryadenkinder auftauchten, wurden sie zunächst von den Elben ausgebildet und übernahmen auch deren Bezeichnung für sich. Die genaue Bedeutung ging verloren, wie sicherlich auch der ursprüngliche Klang, und deswegen heißt Druide für uns heute dasselbe, was wir auf den Inseln drudkvinde oder drudmand nennen: Weise Frau oder auch Weiser Mann."

Nachdem sie diesen wenig spektakulären Schlusspunkt gesetzt hat, sinkt die Alte erschöpft in sich zusammen und schließt die Augen.
 1. Das Värangsksche Wort für Fee, das Esja bislang auch benutzt hat, ist übrigens (en) huldre im Singular bzw. huldrer im Plural.
 2. Begriffsklärung zur Unterscheidung von echtem Feennachwuchs vs. solchem, die mehr von der Art des verwendeten Kurzlebigen sind:
echte Fee: Feenbrut, Feennachwuchs, Feenkind
Das braucht man eher selten, meistens sind die folgenden im Gespräch:
ein Teil Fee, ein oder x Teile Kurzlebiger, allgemein: Feenbalg; umschrieben: jemand mit Feenblut, Nachkomme einer Fee; ein Nachkomme, der seinem Erbe entsprechende übernatürliche Fähigkeiten manifestiert: Tagling bzw. Nachtling
Nachkommen von Dryaden: Baumtöchter/-söhne/-kinder; wenn ausgebildet auch: Druiden
Nachkommen von <Feenart>: <...>-spross, z.B. Satyrspross, Sirenenspross
 3. Oder hat die alten Heilerin in Fersland so etwas schon verlauten lassen? Wenn ja, dann wird sie sicherlich sehr davor gewarnt haben, so nahe der Bächländschen Grenze irgendetwas darüber verlauten zu lassen, dass man Druide sei/Baumtochter/magisch begabt/Feenspross...
 4. s. Tristans HG (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8983.msg1033374#msg1033374), "IV Das junge Glück", ab 5. Absatz.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 08.01.2018, 12:09:14
Während sie staunend den Worten Esjas lauscht, hat Lîf begonnen, der alten Frau nach Art einer guten Tochter die eiskalten Waden zu massieren und zu reiben, ist wohl zwischendurch auch ein-, zweimal aufgestanden, um ihr ein wenig heiße Brühe vom Feuer oder eine weitere warme Decke zu holen. So hat sie es schon für die Großmutter auf dem heimischen Hof getan, und so ist es Sitte bei ihren Leuten. Der Rotschopf, der hier außer Tristan keine Familie mehr besitzt, hat die alte drudkvinde unausgesprochen als die neue Großmutter akzeptiert. Und so versucht Lîf der Greisin all die kleinen Handreichungen zu machen, die einem alten Menschen das Leben erleichtern. Als es dunkel geworden ist, sitzt sie wieder zu Esjas Füßen, eine Decke um die eigenen schmalen Schultern geschlungen, und sieht mit einem tiefnachdenklichen Blick in die Flammen, die langsam aber sicher herunterbrennen. All das Gesagte schwirrt ihr durch den Kopf: Die Feen und ihre verschiedenartigen Nachkommen, die Dryaden, die Satyre und Sirenen mit ihren Eigenarten, Tristan und seine Herkunft – aber auch ihre Zuneigung zu ihm, der Wunsch nach Kindern, ihr immer wieder aufbegehrender Stolz, die Pflicht als Schülerin der Weisen Frau, ihre gemeinsame Zukunft mit dem Skalden, die Eltern und die Familie auf dem fernen Festland, das Leid und der Tod, die sie als Heilerin erlebt hat...

Sie lehnt ihre Wange gegen Esjas Knie und seufzt tief: "Es gibt so viel zu wissen in der Welt, und ich weiß so wenig, Mor!" Einer ihrer dicken, schweren Zöpfe gleitet wiederholt durch ihre schlanken Finger, sie streichelt die roten Locken geistesabwesend, während sie erklärt: "Ich möchte meine Pflicht erfüllen, Gayas Willen gehorchen und den Menschen gutes tun. Ich fühle, dass Sie mir so zu handeln befiehlt. Aber ich wünsche mir auch, glücklich zu sein – mit Tristan. Und meine Eltern wiederzusehen. Ich wünsche mir viele Kinder, gesunde, lachende Kinder, die zu meinen Füßen spielen... Und wenn ich ein altes Weib bin, möchte ich wissen, dass ich ihnen eine gute Mutter war. Ich möchte sehen, wie sie ihren Weg machen, wie meine Söhne kluge, angesehene Männer im Rat werden und meine Töchter tüchtige Weiber, deren Vorratskammern immer wohl gefüllt sind und auf die die Nachbarinnen neidisch schauen." Langsam wickelt sie den Zopf um ihr Handgelenk, fährt mit dem Daumen über das bunt gefärbte Band, das eingeflochten ist – in Farben, die mit ihrem roten Haar und dem Kopftuch wirkungsvoll kontrastieren, im ewigen Bemühen, die anderen jungen Weiber in einem freundschaftlichen Wettstreit um die Bestgekleidete auszustechen.

Irgendwann hebt sie den Kopf, schaut zu Esja auf und gesteht: "Ich frage mich, ob es mir überhaupt möglich ist, beides zu sein – eine gute Dienerin der Großen Mutter und ein glückliches Weib." Indem sie den Kopf schräg legt und die Stirn runzelt, die Lippen schürzt und ihren Zopf plötzlich loslässt, scheint ihr ein Gedanke zu kommen. Dann fragt sie eifrig, ohne an die Müdigkeit der Alten zu denken: "Mor, wie war das eigentlich, als du ein junges Weib warst? Hat die Große Mutter zu dir gesprochen? Wusstest du in deinem Herzen, was Sie von dir erwartet? Und was sagte dein Vater dazu? Hattest du auch einen Liebsten? War er ein schöner Mann, so wie Tristan?" Sie überschüttet ihre Lehrmeisterin ganz plötzlich mit ihren Fragen, als ihr klar wird, dass sie nicht die Einzige und schon gar nicht die Erste ist, die vor dem Dilemma steht, hin- und hergerissen zu sein zwischen Pflicht und Sehnsucht und den widersprüchlichen Seelen in ihrer Brust. Sie wird erneut für Momente zu einem sorglosen jungen Mädchen, als sie kichernd nachbohrt: "Sag schon: War er groß und kräftig gewachsen? Hat er dich entführt, oder bat sein Vater den deinen um dich? War er sanft zu dir? War er auch so leidenschaftlich, wenn er zu dir unter die Felle..." Sie stockt, scheint zu realisieren, dass sie sich ein wenig vergaloppiert und ziemlich viel von sich enthüllt hat, und verstummt verlegen. Lîfs Wangen laufen tiefrot an.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 09.01.2018, 09:27:43
"Neid? Oh, wünsch dir nur keinen Neid von anderen, nicht für dich noch deine Töchter, weder von anderen Frauen noch von Männern. Wieviel Leid, wieviel böses Blut entsteht durch Neid, wieviele Sippenfehden hat er schon ausgelöst!"

Lîfs Zuwendungen nimmt die Alte wortlos, aber mit sichtlichem Wohlwollen auf. Als die Schülerin sie nach ihrer Jugend, ihren Liebhabern ausfragt, mischt sich ein sehnsüchtiger, in die Ferne gerichteter Blick mit verträumt glänzenden Augen.

"Oh ja, ich hatte einen feurigen Liebsten. Schön, groß, kräftig, und bei Gaja welche Leidenschaft! Wenn dir das mit dem Kinderwunsch ernst ist, dann sollst du ihn übermorgen kennenlernen!"

Noch eine geraume Weile sitzt die Alte da mit träumendem Blick, bis ihr Lîfs verwirrter, nein, alarmierter Gesichtsausdruck auffällt.

"Oh, damit meinte ich jetzt nicht, was du dir vielleicht denkst!" beeilt Esja sich zu erklären. "Aber dazu muss ich wohl die ganze Geschichte erzählen." Sie reibt sich die Augen, seufzt und setzt sich wieder etwas aufrechter hin. "Mein Vater war Kaufmann auf Albion. Meine Jugend verlebte ich dort, an der Westküste. Auf Albion gibt es zwar 'Herzöge' und 'Fürsten', seit Jork Kuijt diese fränkische Unsitte bei uns eingeführt hat, aber die wahre Macht halten noch immer unsere Druiden in den Händen. In meiner Heimatregion etwa war der Fürst gleichzeitig auch ein Druide. Dryaden, das sagte ich ja schon, gibt es auf Albion viele, also auch viele Kinder, die sich für die Druidenausbildung eignen. Jedes Jahr auf dem midsommerblót testet ein Druide die Kinder auf den Dörfern, im Alter zwischen acht und zehn, ob sich darunter nicht ein oder zwei Baumkinder befänden. Nun, bei solcher Gelegenheit wurde auch erkannt, dass ich eines war, doch wollte mein Vater mich nicht zu den Druiden schicken, welche auch nicht darauf beharrten, denn sie hatten genügend Nachwuchs für ihren Zirkel und mein Feenblut war ihrer Meinung nach gerade einmal mittelmäßig, im Vergleich mit den anderen. Ich blieb also daheim. Vorher war ich glücklich, unbekümmert, jetzt auf einmal fehlte mir etwas. Etwas, das ich niemals besessen, niemals auch nur gekostet hatte, fehlte mir! So sehr, dass ich an kaum etwas anderes denken konnte. Ich wollte, musste der Großen Mutter dienen! Nun, die Jahre vergingen. Sagte ich schon, dass Vater ein Kaufmann war? Ein mutiger Seefahrer. Jedes Jahr fuhr er los, und wir, seine Familie, hockten daheim genau wie die Frauen und Kinder hier auf den Inseln und wussten nicht, sehen wir ihn je wieder oder holt ihn die See oder der Rûngarder Pirat. Als ich fünfzehn war, im Frühjahr, eröffnete er mir dann, dass er mir einen Ehemann ausgesucht hätte. Den Ehevertrag hätte er auf der letzten Fahrt geschlossen, jetzt müsse er mich nur noch meinem Gatten zuführen. Der sollte nämlich ein Franke sein! Denn in den beiden Jahren zuvor hatte mein Vater auf seinen Fahrten das ferne Frankia angesteuert, auf der Suche nach neuen Geschäften, nach gewinnbringenden Kontakten und Handelsbeziehungen. Um ein solches Geschäft, eine solche Beziehung zu besiegeln, dafür fiel ihm und seinem neuen Handelspartner also ein, die älteste Tochter des einen dem ältesten Sohn des anderen zur Frau zu geben. Im fremden Frankia sollte ich leben, wo ganz andere Sitten herrschen, ein ganz anderer Glaube, und die Frau viel weniger Rechte hat als bei uns in Albion! Halt, jetzt spielt meine Erinnerung mir einen Streich. Diese Dinge wusste ich damals noch gar nicht, aber Angst vor der Fremde hatte ich trotzdem sehr große.

Nun, ich sollte niemals in Frankia ankommen. Als mein Vater mich nämlich mit auf die Reise nahm, da gerieten wir—obwohl es Sommer war und eigentlich nicht die Zeit der großen Stürme—in ein fürchterliches Unwetter. Um es kurz zu machen: Vaters Schiff sank mit ihm und der gesamten Mannschaft. Auch ich fand mich in der aufgewühlten See wieder, in eisigem Wasser, und die Sinne schwanden mir. Das letzte, was ich erblickte, war eine ganze Schar Robben, die mich eifrig umschwärmten, mich hochdrückten über Wasser, mich davontrugen... Ich wachte an einem Strand auf, eng umkuschelt von mehreren dieser Tiere. Ich setzte mich auf und sah, dass der ganze Strand in beide Richtungen und bis hoch ans Ufer hinauf über und über von Robben besetzt war. Vögel flogen kreischend über uns her, segelten übers Land oder tief über dem Wasser, stürzten in dieses hinab, um mit einem Schnabel voll Fischen wieder aufzutauchen... Aber weit und breit kein Mensch in Sicht. Dachte ich, doch als ich den Blick vom Wasser und dem Himmel wieder dem Land zukehrte, erblickte ich plötzlich überall, nackt zwischen den Robben liegend, Weiblein und Männlein bunt durcheinander... Menschen? Wie konnten das Menschen sein? Nun ja, ich erfuhr rasch, dass es keine Menschen waren, sondern wie du dir vielleicht schon gedacht hast, Selkies. Also, die meisten der Robben waren tatsächlich Robben, so an die dreihundert von ihnen aber eben Selkies. Und wir befanden uns genau hier, wo du und ich uns heute befinden, auf Wodland.

Den Sommer verbrachte ich mit den Selkies. Sie hatten sogar einige Hütten an Land, die sie in Menschengestalt nutzten. Doch als der Herbst sich ankündigte und das Wetter sich von seiner kalten, stürmischen Seite zu zeigen begann, wurden sie unruhig. Denn Selkies bleiben des Winters nicht auf ihren Inseln sondern ziehen als Robben und mit diesen zusammen durchs Meer. Um mich machten sie sich deshalb große Sorgen. Ganz gewiss würde ich den Winter nicht allein auf der Insel überleben. Mitnehmen konnten sie mich nicht, denn so sehr sie versucht hatten, mir beizubringen, die Gestalt einer Robbe anzunehmen, es gelang mir einfach nicht. Jemanden bei mir zurücklassen stand ebenso außer Frage, und sie konnten mich auch nicht übers Meer tragen an ein Land, in dem Menschen wohnten—sonst hätten sie es längst—weil Menschen Jagd auf Robben machten und einen der ihren nicht von den Tieren unterscheiden könnten und das Risiko wollte man für mich dann doch nicht eingehen. Verzweifelt fragte ich sie, ob denn auf der ganzen Insel, von der ich erst einen kleinen Bereich gesehen hatte, denn niemand sonst lebe! Da gaben sie ein wenig widerwillig zu: Doch, es gäbe noch eine andere Feenart auf Wodland, aber mit denen käme man nicht so gut aus. Warum, fragte ich, was ist vorgefallen? Aber es war auch hier so wie bei leider nur allzu vielen Fehden: so richtig einen schlimmen Vorfall zwischen den beiden hat es nie gegeben. Irgendwas mit Gebietsgrenzen, die hin und wieder überschritten würden, mit Vodyanoi-Männern, die Selkiefrauen zu nahe kämen. Das erträgt ein Selkiemann nämlich nicht: wenn einer anderer Mann, auch der eigenen Art, sich seinen Weibchen, von denen er gleich Dutzende die Seinen nennt, auch nur auf zwanzig Schritt nähert. 'Vor den Vodyanoi-Kerlen musst du dich in Acht nehmen!' warnten sie mich. Trotzdem gaben sie nach einer Weile zu, dass diese Tümpelplanscher meine einzige Hoffnung waren. Und so brachten sie mich zu den Vodyanoi. Und dort traf ich den Vater meiner vier Töchter."


Für einen Moment kehrt Esjas Blick sich ins Innere, als sie lächelnd zurückdenkt an diese Begegnung, doch als sie fortfährt, ist ihre Stimme nicht verträumt, sondern sachlich, wie es sich für eine Lehrmeisterin gehört.

"Die Vodyanoi sind, wie die Selkies, eine der wenigen Feenarten, die in einer Gemeinschaft aus zwei Geschlechtern zusammenleben, auch wenn bei ihnen, anders als bei den Selkies, die Männer in der Überzahl sind. Etwa zehn zu eins zählte ich damals. Das liegt daran, dass die beiden Geschlechter sich zwar miteinander fortpflanzen können, doch dieser Nachwuchs ist stets männlich. Nur, wenn sie sich mit Kurzlebigen paaren, werden ihnen Mädchen geboren! Und den Vodyanoi war schon lange kein Mädchen mehr geboren worden, oder nur ganz selten einmal, wenn sie jemanden wie mich aus dem Meer fischten. Früher hätten sie regelmäßig Kontakt zu Kurzlebigen gehabt, erklärte mir mein Kirrin, etwa zu denen, die vor uns Menschen auf Albion lebten, und als diese verschwanden, hätte man sich die folgenden Jahrhunderte mit einem unter Wasser hausenden Volk von Kurzlebigen gepaart, die sich ha-iakdo nannten. Doch auch diese haben sich mit der Zeit immer weiter zurückgezogen, entweder tiefer hinunter oder weiter hinaus ins Meer. Die Vodyanoi können nämlich im Wasser so gut atmen und sich bewegen wie an Land, aber sie können nicht beliebig tief ins Meer hinaus noch hinab, und ertragen Salzwasser überhaupt nur mit Mühe und für kurze Zeit, also konnten sie den ha-iakdo nicht folgen. Und deshalb würden ihnen halt nur noch so wenige Mädchen geboren, seien sie abhängig davon, dass ein Schiffbruch ihnen dann und wann geeignete Paarungspartner an Land spüle. Meist seien dies ja Männer, selten einmal ein Weib wie ich.

Mehrere Jahre lebte ich auf Wodland. Drei Mädchen gebar ich Kirrin. Mit den Selkies hielt ich des Sommers ebenfalls Kontakt. Von ihnen lernte ich viel über Gaja und meine Kräfte, mehr als von den Vodyanoi, wie ich gestehen muss. Doch so allmählich sehnte ich mich doch unter die Menschen zurück. So gern ich meinen Kirrin hatte: ihm jedes Jahr ein Balg zu werfen, wurde mir doch ein wenig viel. Und so glücklich ich mit ihm war, so sehr ich im ersten Moment erschrak, als ich die vielen Schiffbrüchigen sah, die sich eines Frühjahrs an den Strand retteten, so froh und erleichtert war ich dann doch.

Um eine lange Geschichte etwas kürzer zu machen: Es war ein Rûngarder Drache, den der Frühjahrssturm auf unsere Klippen geworfen hatte, und als wenige Tage später weitere Drachen auftauchten, um die Schiffbrüchigen zu retten, zog ich mit ihnen.

Da habe ich jetzt viel übersprungen. Natürlich habe ich einen gewaltigen Eindruck auf die Männer gemacht, als ich ihnen erschien, hochschwanger mit Kirrins vierter Tochter, der einzigen, die ich behalten durfte, gerade so, als sei ich selbst eine der huldrer von Wodland, welches sie nur als verfluchtes, von gefährlichen Wesen bewohntes Eiland kannten! Übersprungen habe ich auch, wie ich zwischen den Rûngardern, den Selkies und den Vodyanoi verhandelt habe. Die Selkies wie die Vodyanoi hätten die Männer nämlich am liebsten gleich totgeschlagen! Zu viele, zu gefährlich... Doch ich konnte ein Blutbad verhindern. Mehr noch: es wurde Zusammenarbeit beschlossen. Jeder hatte nämlich, so wie ich das sah, dem anderen etwas zu bieten. Da hat sich die Kaufmannstochter gezeigt, denke ich. Die Rûngarder könnten Wodland vor anderen Menschen schützen helfen. Ihr schrecklicher Ruf würde andere Seefahrer, wenn diese erführen, dass Rûngarder hier ihr Unwesen treiben, aus dieser Gegend fernhalten. Das wäre gut besonders für die Selkies, die stets Angst vor Jägern hatten. Die Vodyanoi aber brauchten doch jemanden, der mit ihnen Weibchen zeugte! Nun, damit würde so eine Drachenmannschaft gewiss nur allzu gerne aushelfen! Die Rûngarder aber mussten eben ihren Schutz versprechen, den regelmäßigen Besuch zur Paarungszeit der Vodyanoi-Weibchen, und natürlich, dass sie selbst hier nicht jagen würden oder in den Gewässern ringsum. Und die Rûngarder bekamen dafür von den Selkies zugesichert, dass, wenn man einen ihrer Drachen in Seenot entdecke, man die schiffbrüchige Mannschaft stets ans nächstgelegene Ufer brächte. Die Vodyanoi aber erlaubten ihnen, auch Frau und Kinder mit nach Wodland zu bringen, um hier in den warmen Quellen zu baden, was nämlich sehr wohltuend sei und förderlich für die Gesundheit. Und so entstand also der Brauch, das Diseblót—was in die erwähnte Paarungszeit fiel—hier auf Wodland zu begehen, mit den Männern, aber auch allen verheirateten oder verlobten Frauen. Die Selkies aber schicken Abgesandte auf unser Sejrsblót, um den seinerzeit beschlossenen Handel erneut zu bekräftigen und unser Teil einzufordern, um also einerseits in etwa unsere geplanten Routen zu erfahren, damit sie ein Auge auf unsere Drachen haben, und im Gegenzug dafür von uns zu erfahren, was wir über die aktuelle Lage in den hiesigen Gewässern wissen, ob wir also im vergangenen Jahr Bedrohungen (für die Selkies) gebannt oder von neuen erfahren hätten. Ein wenig skeptisch, ob das klappen könnte, waren damals alle Beteiligten. Kein einziger aber hätte es für möglich, dass dieser Handel bald fünfzig Jahre später noch steht und bestens funktioniert! Das erzähle ich dir alles so ausführlich, weil du einmal, wenn ich nicht mehr bin, dafür sorgen musst, dass alles auch glücklich so weitergeht.

Und damit habe ich wohl auch deine Frage jetzt vollständig beantwortet. Ich kehrte mit den Rûngardern auf ihre Insel zurück. Meine Tochter wurde auf Jarlsö geboren und zwar, weil sie ihren ersten Atemzug an der kalten Luft und nicht im warmen, heilenden Wasser der väterlichen Quelle tat, mehr als Mensch denn als Vodyanoi. Auch die Kiemen, die sie bei ihrer Geburt noch hatte, bildeten sich rasch zurück, ihre zunächst blassgraue Haut bräunte mit den Jahren an der Sonne zu einem frischeren Ton. Mit zehn sah sie fast so aus wie ein ganz normales Menschenmädchen, mit siebzehn heiratete sie Ansgar, der damals noch zwei Augen hatte und dem sie erst einen Sohn, dann nach etlichen Fehl- oder Totgeburten eine Tochter gebar. Vor sieben Jahren, sie war inzwischen geschieden, nahm Eyvind Graumantel sie zur fridla, was damals noch ging, heute aber nur noch den Witwen und alten Jungfern erlaubt ist, aber keinem geschiedenen Weib. Zwei Jahre später gebar sie Eyvind dann eine Tochter, doch das Glück währte nicht lang für meine Kirsa. Vor drei Jahren erlitt sie nämlich den Tod, der mir selbst dank der Selkies erspart blieb, und irgendwie hat es sich so angefühlt, als schlösse sich ein Kreis. Vielleicht war es vorbestimmt. Ach, aber sie war eine gute drudkvinde und wäre mir eine würdige Nachfolgerin gewesen! Ihr Sohn hat nie das geringste Interesse daran gezeigt. Mit fünfzehn zog er mit den anderen Männern auf Fahrt, mit zwanzig kehrte er nicht mehr heim. Kirsas erste Tochter lebt noch, ist fast so alt wie du, aber ein grobes Stück wie ihr Vater: neidisch, gehässig, bequem und eitel, sie nimmt lieber als dass sie gibt... Jetzt muss ich innehalten, bevor ich noch bösere Dinge über meine Enkelin sage. Die Eigenschaften wären vielleicht auch leichter zu ertragen, wenn ich nicht mehr von ihr erwartet hätte, als dass eines Tages ein Mann sie zur Frau nähme. Dann hätte sie meine Erwartungen aufs beste erfüllt, denn sie ist hübsch und kann den Männern noch hübschere Augen machen und es hat schon einer den Ansgar um ihre Hand gebeten, nächstes Jahr im Herbst ist Hochzeit. Aber zur drudkvinde taugt sie nun einmal nicht, daher meine Enttäuschung! Kirsas Jüngste aber ist gerade einmal fünf. Vielleicht habe ich Glück und kann ihre Ausbildung noch beginnen, in fünf Jahren, aber du, mein Kind, du musst mir versprechen, dass du sie zu Ende führst."


Eine kalte, trockene Hand legt sich auf Lîfs Wange, zieht ihr Gesicht empor; graue, ein wenig trübe Augen schauen bittend in die ihren.

"Sie ist ein liebes Mädchen, die kleine Siri", versichert die Alte dabei. "Der Anuk, Sigrids und Eyvinds ältester Tochter, habe ich das Kind anvertraut, denn im selben Jahr wie meine Kirsa behielt das Meer auch Anuks Mann Flake für sich, keine drei Jahre waren die beiden zusammen, und das erste Kind war gerade geboren! Da ist die kleine Siri der Anuk Trost und inzwischen auch Hilfe, wie natürlich umgekehrt. Sie wird dir gewiss eine gelehrige Schülerin sein und eine große Hilfe."
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 10.01.2018, 11:31:29
Esjas weiser Ratschlag, nicht den Neid anderer herbeizuwünschen, ist bei ihrer nachfolgenden Erzählung rasch vergessen. Im Gegensatz zu der Alten ist Lîf ganz und gar nicht müde: Gebannt hängt sie an den Lippen ihrer Lehrmeisterin, als die von dem feurigen Mann spricht, der sie einst glücklich machte. Was Wunder, wenn der Rotschopf ganz automatisch Parallelen zu Tristan zieht, sich den Liebhaber einer jüngeren, rosigen Esja so vorstellt wie ihn? Sie lächelt sanft, als sie den träumerischen Blick sieht, mit dem die Greisin sich erinnert. Unschwer zu erraten, dass sie in Gedanken wieder zu einem gesunden, frischen jungen Weib wird und ihren Liebsten vor sich sieht. Behutsam reibt und wärmt Lîf ihre welken Hände – und wer weiß, vielleicht werden die schmalen Finger der jungen drudkvinde ja in Esjas Herzen für einen oder zwei Herzschläge zu den kräftigen, sehnigen Händen jenes Mannes...

Lîf selbst nimmt teil an der Reise der jungen Esja, die sie so sehr an ihr eigenes Schicksal erinnert. Ist es wohl immer so, dass Eltern ihren Töchtern einen Mann vor die Nase setzen müssen, statt sie ihren Weg finden zu lassen? Aber wie könnten sie auch anders! Gerechterweise muss sie zugeben, dass Vater und Mutter auch nur das Beste für ihren Nachwuchs wollen, und was wäre besser für ein junges Weib als ein guter Mann? Wie sollen sie nachempfinden können, wie einem das Herz klingt und wie man Flügel zu bekommen scheint, wenn einen die Große Mutter ruft! Esjas Erlebnisse sind, auf gewisse Weise, ein Spiegel ihrer eigenen, wie sie erstaunt feststellt. Sind es bei ihr die Männer von den Inseln, die sie entführten und in ein unbekanntes Land brachten, wo sie letztlich doch ein Heim – und vor allem, einen Mann – fand, so waren es bei der Greisin seinerzeit die Selkies und Vodyanoi. "Vier Töchter..!" haucht Lîf leise. Gewiss ein Segen für die Feenblütigen – doch dass Esja nur ein einziges ihrer Kinder behalten durfte, dünkt sie sehr hart.

Darum nickt sie auch sofort, als Esja sie zu ihrer Überraschung um etwas bittet. "Ja, Mor, ich verspreche es: Wenn ich kann, werde ich ihr weitergeben, was du mich lehrst!" Sie fasst Esjas Hand und drückt sie fest zur Bekräftigung ihres Versprechens. "Ich will sie behandeln, als wäre sie meine eigne Tochter" versichert sie gerührt. Dann wird ihr Lächeln wärmer, und sie sagt sanft: "Du bist müde, Mor – ich habe dich mit meinen Fragen so lange wach gehalten! Komm, du musst dich ausruhen." Womit sie aufsteht und Anstalten macht, der Alten zu helfen. Liebevoll stützt sie die Greisin, redet munter auf sie ein, als habe sie es selbst mit einem Kind zu tun. Dabei lässt es das junge Weib jedoch nicht an dem Respekt für die Ältere und die Lehrmeisterin fehlen – nur das Bestreben, die gebrechliche Esja zu bemuttern, geht vielleicht ein wenig durch mit Lîf, der noch immer die Geschichten im Kopf umherschwirren, und besonders eine Sache, die sie tief bewegt hat: Der Gedanke an Kinder. Eigene Kinder – ihre und Tristans.

Ihr Leib ist in der Lage, das größte Geschenk der Göttin hervorzubringen, und sie verspürt den Wunsch, dies zu tun. Das ist ihr zum ersten Mal ganz klar geworden. Das mag auch der Grund dafür sein, dass ihr doch noch eine Frage über die Lippen kommt, ganz unwillkürlich: "Wie meintest du das, als du vorhin sagtest, ich solle ihn übermorgen kennenlernen, Mor?"
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 14.01.2018, 19:55:02
Esja grunzt ein paarmal und versucht wohl auch, Lîfs allzu eifrigen Handreichungen wegzuwischen, und murmelt gar, "Kind, lass gut sein, bin doch noch keine Tattergreisin!", ohne deren Eifer dämpfen zu können. Schließlich lässt sie das meiste mit sich geschehen, da eine Gegenwehr dann doch zu anstrengend ist. Also Lîf doch noch eine letzte Frage hat, stürzt Esja sich auf diese Gelegenheit, von sich abzulenken und so hoffentlich der überbordenden Fürsorge der Schülerin zu entgehen.

"Na, auf dem Diseblót, da wird er sein! Noch genauso herrlich anzuschauen wie damals! Aber er plantscht eben nicht in dem großen Tümpel mit all dem gewöhnlichen Volk, sondern bleibt in seiner Höhle, wo es viele kleine Tümpel gibt und nur Unn, Aud, ich und die drei Disen Zutritt haben und fünf Paare, die sich besonders dringend Kinder wünschen. Deshalb sagte ich, dass du ihn nur zu Gesicht bekommst, wenn du vortrittst und—"

Da wird plötzlich die Tür aufgestoßen. Ein Schwall kalter Luft durchschwemmt die Stube, Stiefel poltern gegen die Türschwelle, Männer ächzen unter einer Last. (Die herannahenden Schritte und Stimmen hat sie zwar gehört, aber ignoriert, davon ausgehend, auch diese würden an Esjas Hütte vorbei in Richtung der Langhäuser ziehen.) Lîf wirbelt herum und erblickt als erstes einen breiten Rücken. Der dazugehörige Mann—Ansgar—stolpert rückwärts herein. Einen Verletzten—oder Toten?—hat er an den Füßen gepackt, während Björn den Oberkörper trägt. Björn wie auch der Verletzte sind blutbesudelt; der rechte Arm des letzteren endet knapp oberhalb des Ellbogens in einem mit blutdurchtränktem Stoff umwickelten Stumpf. Es sieht so aus, als wäre Thorstein zum ersten Mal in seinem Leben, wenn man seiner Prahlerei auf der Thingstätte glauben darf, seinem Vetter im Zweikampf unterlegen.

Ansgar und Björn tragen ihre Last sofort in den Nebenraum, in welchem Esja am Abend zuvor die unvorsichtige Inga von ihrer Fischgräte befreit hat. Weitere Menschen drängen hinterdrein: Aud und Unn, ihre beiden Schülerinnen, die laut jammernde Rike, Ole, welcher Thorsteins Axt trägt, und zum Schluss endlich Tristan.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 16.01.2018, 10:56:47
Mit einem verhaltenen Lächeln fährt Lîf fort, sich um die alte Frau zu kümmern. Es ist ein kindliches Vergnügen bei ihr daran zu bemerken, dass sie einen Bereich gefunden hat, in dem sie ihre Lehrmeisterin necken kann, ohne es im eigentlichen Sinn am nötigen Respekt fehlen zu lassen – wie ein kleines Mädchen, das sich damit amüsiert, mit den Zöpfen der entnervten Mutter zu spielen, während es gewinnend lächelt, um keinen Zorn aufkommen zu lassen. Es ist ein recht unschuldiger Spaß, den sie sich erlaubt, und so gibt sie auch endlich nach und erlöst Esja, als diese wieder zu erzählen anfängt. "Also werd ich ihn auch sehen, Mor!" stellt sie fröhlich fest. Der Beschreibung nach ein Anblick, der sich sehr lohnen wird. Die Voraussetzung allerdings... sie wird wohl Tristan beichten müssen, dass sich ihr Standpunkt geändert hat, was gemeinsame Kinder angeht. Das wird der stolzen jungen Frau recht schwer fallen. Sie räuspert sich verlegen und starrt zu Boden.

In diesem Moment drängen sich die Männer in die Hütte, und ihre Überlegungen sind in einem Wimpernschlag beiseite gewischt. Als sie erkennt, wen sie da bringen und wie es um Thorstein steht, wirft sie einen raschen Blick zu der alten drudkvinde. Was für ein Gesicht macht die erfahrene Esja? Wie schlimm ist es, wird er es überleben? Lîf erinnert sich ihrer Eide, die sie schon geleistet hat, ehe sie Esjas Schülerin wurde. In der Heimat, als sie sich den Heilerinnen anschloss. Obwohl es ihr den Magen umzudrehen droht, folgt sie den Männer und drängt die betreten schauenden Kerle beiseite. "Platz, macht Platz für Mor! Lasst sie durch!" fordert sie unerschrocken und schiebt Männer beiseite, die einen Kopf größer und doppelt so schwer sind wie sie. Dann zieht sie Rike an sich und nimmt sie in den Arm, um sie zu trösten und zugleich der alten Esja aus dem Weg zu halten. Ihr schmerzvoller Blick streift Tristan, ehe sie ihre Aufmerksamkeit der Alten zuwendet, um ihrer Meisterin beizuspringen, sollte sie gebraucht werden.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 27.01.2018, 10:32:44
Wie Lîf da ein wenig zu aufgeregt zwischen allen hindurchläuft, um Platz für Esja zu schaffen, und dabei den Männern (die sich ganz und gar nicht beiseite schieben lassen) in den Weg gerät, fühlt sie sich irgendwann von ihrem Gatten sanft, aber bestimmt ergriffen und aus der Menge gezogen.

"Lass gut sein, Liebes, Aud und Unn haben ihn schon versorgt, sie sind genauso fähig wie unsere Esja. Es gibt hier nichts mehr zu tun, komm, lass uns gehen." Und er steuert sein junges Weib Richtung Tür.

Bevor sie diese erreichen, werden sie von der alten Heilerin noch einmal aufgehalten. Sie fasst Lîfs Unterarm und am Arm und sagt ihr leise: "Was ich dir vorhin alles erzählt habe—alles davon, hörst du?—ist Drudenwissen, geheimes Wissen, altes Wissen. Nichts davon darfst du vor Nichteingeweihten wiedergeben, Kind. Ist das klar?"

Für mehr als eine kurze Antwort bleibt Lîf keine Zeit, denn Tristan zieht sie weiter. Verärgert sieht er aus, erschöpft. Zuwider scheint ihm der ganze Aufzug hier, raus will er, seine Ruhe haben, der Unvernunft seiner Mitmenschen erst einmal entkommen. Esjas Worte ignorierend—vielleicht hat er sie auch gar nicht recht gehört—drängt er Lîf: "Jetzt komm schon!"
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 28.01.2018, 13:28:54
Ein wenig Farbe hat der Rotschopf schon auf den Wangen bekommen, da sie kaum mehr Beachtung findet als ein Kind. Zu ihrem Leidwesen sind die Männer zu groß, um sie gegen ihren Willen zu bewegen, und auf ihre Worte scheint keiner viel zu geben. Das lässt in Lîf Empörung aufwallen. Dickschädelige Kerle..! Sie wünscht sich einmal mehr die Autorität ihrer Lehrmeisterin, muss aber einsehen, dass energischere Versuche nur dazu dienen könnten, sich zu blamieren. So folgt sie denn Tristan widerwillig, als der sie nimmt und zur Seite zieht. "Trotzdem, die Kerle hätten ihr wenigstens den nötigen Respekt zollen können" mault sie leise, während sie zur Tür geschoben wird.

Dort angelangt, stellt sie zu ihrer Überraschung fest, dass Esja eher Tristans Einschätzung zu teilen scheint und etwas anderes für wichtiger hält. Innehaltend lauscht sie der Alten und flüstert dann zurück: "Ja, Mor, ich werde daran denken. Bestimmt!" Mit einem respektvollen Knicks vor der drudkvinde folgt sie ihrem Mann ins Freie, wo kalte Luft sie umweht – frisch, aber auch scharf wie eine Messerklinge in die Haut schneidend. Nachdem sich die Türe hinter ihnen geschlossen hat, wird das Stimmengewirr aus der Hütte mit einem Schlag leiser. Der Atem von Mann und Weib bildet zwei Ketten kleiner Wölkchen, die nebeneinander in den Himmel aufsteigen. Fast fühlt es sich an, als seien sie tatsächlich ganz allein inmitten von Gayas weiter Natur.

"Du bist müde, Mann" sagt das junge Weib sanft, als sie so an Tristan hinauf schielt. "Zeit für die Felle." Als ihr die Doppeldeutigkeit ihrer Worte bewusst wird, prustet sie und kichert wie ein kleines Mädchen, während sie sich mit beiden Armen seinen Leib umfangend gegen ihn lehnt. All die vielen Dinge, die sie von Esja gehört hat, schwirren noch in ihrem Kopf herum, verwirren und beschäftigen sie und werden es wohl auch noch eine ganze Weile tun – da muss sich die Anspannung auf diese Weise Luft machen. Es erleichtert Lîf, zu lachen, und so klingt ihre Stimme glockenhell in den Nachthimmel, wo im Wind dahinjagende Wolken den Mond verdecken. Sie kichert haltlos, wird von dem jungen Weib wieder zum Mädchen, dessen Sorgen sich mit einem tiefen Durchatmen in dieser zauberhaften, wenn auch strengen Umgebung und mit einem heiteren Lachen noch in nichts auflösen können.

"Du, sag mal..." fängt sie in neckendem Ton an zu fragen, als sie plötzlich innehält und mit offenem Mund zu einer Gruppe von Bäumen in der Entfernung starrt. Dort tanzt, fahlblau in der Schwärze der Nacht, eine seltsame Leuchterscheinung über die Zweige. Völlig lautlos zucken kleine Blitze, schlagen von einem Baum zum nächsten über, mal hierhin, mal dorthin, als suche die zitternde Erscheinung nach etwas bestimmten. Eng schmiegt sich Lîf an den Skalden, die Augen weit aufgerissen, und flüstert: "Bei der gnädigen Mutter... was ist das, Tristan..?! Halt mich, ich hab' Angst..!" Vor ihren Augen setzen die Flämmchen und Blitze ihren bizarren, lautlosen Reigen fort, bis sie sich schließlich an der Spitze eines Baumes sammeln, zitternd und flackernd, hin und her tänzelnd. Von dort oben scheinen sie auf die beiden Menschenkinder hinabzuschauen wie diese zu ihnen hinauf. Es ist eine alte Bergulme, auf der das blaue Leuchten schwebt wie eine kleine Krone aus Licht.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 09.02.2018, 22:34:23
So müde ist Tristan, dass er zunächst nicht begreift, warum sein Weib auf einmal wie ein Mädchen kichert. Die sich dann doch noch einstellende Erkenntnis lässt ihn nicht etwa in ihre Fröhlichkeit einstimmen, sondern aufseufzend die Augen schließen, unter sachtem Kopfschütteln. Ihre Umarmung lässt er sich aber sehr wohl gefallen und zieht sie mit beiden Händen an dem dafür besonders geeigneten Körperteil noch näher zu sich heran. Das Gesicht vergräbt er dabei in ihrem Haar, das üppig unter ihrem Kopftuch hervorquillt.

"Ach Lîf", murmelt er, "es ärgert mich so. Schlimmer hätte die Sache nicht ausgehen können! Wäre einer der beiden tot, wäre das Problem wenigstens aus der Welt, aber so? Nichts ist geklärt, gar nichts, und es wird weitergären, der Streit. Dabei hätte es gar nicht so weit kommen müssen, die drei waren doch eigentlich mit ihrer Situation ganz zufrieden. Wenn man nur auf mich gehört hätte! Die Leute denken einfach nicht richtig über die Konsequenzen nach." Dann muss plötzlich auch er lachen. "Ha, schau nur. Der Herr Gesetzessprecher ist mal wieder erzürnt, weil das Volk die Gesetze nicht so auffasst, wie er sie auffasst. Denkt wohl, sie gehörten ihm, die Gesetze, anstatt allen zusammen, bloß weil es seine Aufgabe ist, sie immer brav aufzusagen!" Die Rede endet in einem frustrierten Schnaufen.

Arm in Arm ziehen also die beiden einträchtig durch die Nacht. Weit ist der Weg ja nicht von der Heilerhütte bis zu den Langhäusern. Eigentlich müssten sie längst da sein, fällt Lîf irgendwann auf, es liegen doch wirklich nur ein paar Schritte dazwischen. Doch wie sie sich jetzt umblickt, sieht sie weder Hütte noch Häuser. Ihr Mann hat ihrer beiden Schritte offenbar auf einen Umweg gelenkt, vielleicht weil er eine Atempause braucht, einen unbeobachteten Moment, um sein Gemüt abzuregen? Dafür spricht, wie tief, nein, befreit er die raue Nachtluft in die Lunge saugt, wie sehnsüchtig sein Blick in die Ferne geht, gerade so als könne er trotz Nachtschwärze einen Horizont erblicken. Lîf selbst weiß längst nicht mehr, wo sie sind und in welcher Richtung der Heimweg liegt.[1] Am Arm lenkt er sie sicher und hält sie ein paarmal, wenn sie stolpert oder ausrutscht. (Er selbst rutscht oder stolpert kein einziges Mal, wie macht er das bloß?)

Ein Nachtling, hat Esja gesagt. Sirenenspross. Hügelvolk. 'Freiheitsliebend ist das Hügelvolk, es braucht den Blick in die Ferne, die Weite des Horizontes, den gräserduftenden Wind im Gesicht...'

So sehr sie die Zweisamkeit genießt (die ihr dank Esjas Erläuterungen, und ihren eigenen Selbsterkenntnissen, so viel bedeutungsvoller scheint als noch am Vortag): allmählich vernimmt sie doch den Lockruf des wärmenden Feuer immer dringlicher. Wird ihrem Tristan denn gar nicht kalt? Doppelt so warm wie er ist sie eingepackt und zittert am ganzen Leib, während er leichtfüßig daherschlendert wie an einem lauen Sommertag.

'Den Nachtfeen gehört die Nacht, der Winter mit seiner Kälte und alle finsteren Orte...' tönt Esjas Stimme abermals in ihrem Kopf.[2]

Genau in dem Augenblick, wie Lîf an diese Worte denken muss, schreckt das geisterhafte Lichtspiel die beiden auf. Auch Tristan verfolgt den Spuk mit alarmiertem Blick und tritt dabei schützend vor sein Weib. Er hat so etwas also auch noch nicht erlebt.

"Ich weiß nicht", antwortet er daher auf ihre Frage. "Geister...? Davon hat es hier auf Wodland viele. Leshi heißen sie und alt sind sie, viel älter als unsere Ahnen, viele Jahrtausende. Keiner weiß, woher sie kommen." Er flüstert, als wolle er nicht von dem noch immer in der alten Ulme schwebenden Lichtgestalt gehört werden. "Es heißt, sie warnen vor Unheil. Manchmal wispern sie, aber niemand versteht ihre Worte."

Und er zieht seine Lîf noch ein wenig näher an sich heran und diesmal, wie sie meint, ebenso schützend wie ihren Schutz suchend. Dabei scheint er angestrengt zu lauschen.[3]
 1. Ja, ich weiß, Lîf kann den cantrip auch—aber nur, wenn sie ihn vorbereitet hat...
 2. Zu den beschriebenen Fähigkeiten: Dämmersicht hat Tristan eigentlich keine, das passte jetzt nur irgendwie von der Stimmung her. Wenigstens kann er niemals die Richtung verlieren und vor Fehltritten in schwierigem Gelände ist er auch gefeit, beides jeweils durch einen cantrip, von dem er gar nicht weiß, dass er ihn zaubert.
 3. Er lauscht (und späht) mit einer wahnwitzigen 8 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1042653#msg1042653).
Von Leshi hat Lîf noch nie etwas gehört. An Geistern kennt sie nur die Ahnengeister und die Vergessenen.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 15.02.2018, 10:42:41
Die Rede Tristans lässt Lîfs Lachen allmählich leiser werden. Mit einem nachsichtig-verständnisvollen Blick schlingt sie ihre Arme um ihn, wie er sie so an sich zieht. Ihre Züge sind weich, als sie über sein Haar streicht, sein Gesicht in dem ihren vergraben. Es ist schön, so mit ihm dahinzuwandern, denkt sie sich, und kuschelt sich eng an ihn, da der Frost doch empfindlich in ihre Haut beißt. "Du kommst doch auch mit mir aus – da werden dir doch die Dickschädel der anderen kaum mehr etwas ausmachen können" lächelt sie, auf ihre häufigen Streitigkeiten und den manchmal gar nicht so großen Sanftmut seiner Erwählten anspielend. Gelegentlich sieht sie sich um, versucht die Richtung herauszufinden, in die sie gehen. Doch wirklich beunruhigt ist sie nicht, geht doch da zum einen der Mann an ihrer Seite, der sie schützen wird, und fühlt sie sich zum anderem all dem Lebenden um sie herum so verbunden wie die Mutter dem Kind, die Schwester den Geschwistern. Die Natur, aus Gayas Schoß entsprungen... sie beide sind Teil dessen, gehören hierher. Es fühlt sich richtig an...

Bis auf die Kälte, die ihr langsam aber sicher in die Glieder kriecht. Sie erschauert, drängt sich noch dichter an ihn, und er mag in ihrem Haar den fernen Duft von Blüten wahrnehmen, das Aroma des Waldes, als sei sein Weib Blume, Baum, Blatt und Frucht zugleich. Ulmentochter, Baumweib, Gayasdienerin. Dieser Duft wird intensiver, süßer, wie eine erblühende Pflanze, als sie bebend ausatmend und kleine Dampfwölkchen ihre vollen Lippen verlassen, während ihr Blick gebannt auf dem Schauspiel der seltsamen Lichter ruht. Beide halten sie sich aneinander fest, während der Reigen der Flämmchen weitergeht, einzelne von Baum zu Baum überspringen. Und ist da nicht auch leises Gelächter zu hören? Stimmchen, dünner noch als von Kindern, wie von einem fernen Windhauch zu ihnen geweht? Ja, und als die beiden Menschenkinder realisieren, dass die kleinen Lichter überall um sie herum tanzen, glauben sie auch so etwas wie fröhlichen Gesang zu hören – untermalt von lockenden Rufen? Spott? Gutmütigem Necken? Nach düsteren Warnungen jedenfalls klingt es nicht, was sie hören, auch wenn das Geschehen nicht gerade beruhigend ist.

Denn was immer die Flämmchen sind: Sie vermitteln den Eindruck rastloser, unbesorgter Naturgeister, denen die beiden warmen, aneinandergeschmiegten Zuschauer vor allem ein netter Zeitvertreib zu sein scheinen. Immer näher tanzen die Lichtkugeln an die zwei heran, und schließlich sind in ihnen auch vage Umrisse zu erkennen: Wie winzige Menschlein sehen sie aus, spindeldürr und langgestreckt. Ungeborenen in ihren Fruchtblasen gleich bewegen sich die zierlichen Elfchen in dem hellen Flackern. Neckend klingt ihr Lachen nun auf, girrend umtanzen sie Tristan und Lîf, hüpfen über Tristans Stiefel, ziehen spielerisch an den Rocksäumen seines Weibes. "Sie sind... wunderschön!" haucht Lîf, fasziniert von dem Schauspiel. Es ist nichts zu spüren bei den Annäherungen der leuchtenden Wesen, als seien sie bloße Illusionen. Und doch meinen die beiden eine eigenartige Wärme zu empfinden, wo sie von ihnen berührt wurden. Dann atmet Lîf scharf ein: Eines der flackernden Flämmchen ist an ihren Röcken empor gewandert und zittert nun auf ihrer Schulter!

Tristan sieht ein gelbes Leuchten, das mit einem Mal aufscheint und ihre Züge in warmes Licht taucht. Lîf schaut ihn an, erschrocken, verblüfft, ratlos. Einige Herzschläge lang verweilt das Lichtchen auf ihr, dann rollt es über ihren Arm hinab und hüpft scheinbar schwerelos auf ihn über. Im selben Moment weiten sich Lîfs Augen, und sie deutet auf Tristans Kopf. Dort flackert ein zweites Flämmchen, das er, von dem Schauspiel bei seinem Weib gefangen, erst jetzt selbst bemerkt. Ehe die beiden sich rühren können, haben die Lichter sich vereint und hüpfen als zitternde Doppelflamme in den Schnee, wo sie sich flink wie Eichhörnchen bewegen, um zu den übrigen zurück zu tanzen. Der Gesichtausdruck des Rotschopfs zeigt, dass sie tief bewegt ist. Ein frommer Schauder scheint über sie zu kommen. Sie legt eine Hand auf ihren Bauch und bewegt die Lippen einige Male, ohne dass ein Laut zu hören wäre. "Was ist geschehen..?!" fragt sie schließlich flüsternd.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 08.03.2018, 22:08:26
"Mit dir auskommen? Ja, wieso sollte ich das denn nicht? Du hörst zum Schluss ja doch auf guten Rat und lässt dich mit vernünftigen Worten zur Einsicht bringen." Dies spricht ihr Gatte ohne eine Miene zu verziehen, sodass Lîf nicht sagen kann, ob er sie aufzieht oder allen Ernstes glaubt, jede der ehelichen Auseinandersetzungen bislang für sich entschieden und in allem sein junges Weib zur eigenen Meinung bekehrt zu haben. "Außerdem, wenn eine so hübsch ist wie du, dann verzeiht man ihr viel." Der Kuss auf die Nasenspitze lässt auf Schalk hoffen, der ernsthafte Ton daran zweifeln. "Und deine Stimme höre ich sogar dann noch gerne, wenn du wie ein Rohrspatz schimpfst. Nur unter Leuten solltest du ein bisschen besser darauf achtgeben, was du sagst oder tust, welche Folgen das haben könnte, wen du damit verletzen oder vor den Kopf stoßen könntest, ob du mich damit in Bedrängnis bringst. Einen Ruf, den man erst einmal hat, wird man nicht so schnell wieder los! Aber du bist ja noch sehr jung, das wirst du gewiss noch lernen." Ach herrje, sag bloß, er meint das alles ernst? "Überhaupt hast du dich schon sehr verändert in den letzten Wochen, bist ruhiger geworden, zuversichtlicher, dir deiner Verantwortung bewusster. Und... glücklicher, ja? Mir kommt's so vor. Bitte sag', ich täusch' mich da nicht. Ja, ich denke wohl, dass wir miteinander auskommen werden."

Ganz anders als sein Weib sieht er dagegen die Begebenheiten mit den schwirrenden Lichtwesen. Als diese zuerst seiner Lîf zu nahe kommen, an ihrer Kleidung zupfen, bis eines gar dreist auf ihrer Schulter herumtanzt, ein zweites auf seinem eigenen Kopf, muss er sehr an sich halten, nach ihnen nicht wie nach Mücken oder Pferdebremsen zu schlagen. Und was auf seinem Kopf mit den zwei kleinen Wesen passiert, kann er ja nun nicht sehen, deswegen begreift er weder Lîfs Frage noch ihre Ergriffenheit.

"Sag du's mir", schnauft er bloß. "Als drudkvinde wird es deine Aufgabe sein, all die Wesen und Geister zu kennen, die Pflanzen und das Wetter, und Zeichen wie dieses hier zu deuten, wenn es denn eines war. Glaubst du das wirklich? Nicht nur ein ein paar neugierige, übermütige, freche kleine huldrer, sondern Schicksalszeichen? Wenn ja, musst du's mir schon deuten, du kennst dich mit Gajas Wünschen und Stimmungen besser aus als ich einfacher Gesetzessprecher."
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 09.03.2018, 15:03:33
Wirklich ist die junge drudkvinde sich nicht sicher, ob Tristan sie auf den Arm nimmt oder seine Worte ganz so meint, wie er sie sagt. Die weiche, romantische Stimmung, die sie bei dem Spaziergang durch die Natur allmählich erfasst hat, lässt sie aber schließlich lächeln. "Ich versuche es zumindest. Meine Fehler kenn' ich nur zu gut" gibt sie so bereitwillig zu wie sonst kaum einmal und kuschelt sich an ihren Mann. "Deine Stimme hör' ich noch viel lieber, mein goldzüngiger Schöner" murmelt sie und überlässt sich einer wohligen Trägheit, die nur von der bitteren Kälte gestört wird – weshalb sie das Kopftuch fester zieht und bibbernd ihren Umhang enger um die schmalen Schultern zieht. "Sicher hast du recht. Ich verspreche, dass ich mich bessern werde" sagt sie leise, und es ist für sie im Moment eigentlich ganz gleich, ob er seine Worte womöglich nur gebraucht, um sie zu necken: Die Bauerntochter meint die ihren sehr ernst und bittet Gaya stumm um die Kraft, ihren Stolz künftig etwas mehr im Zaum zu halten. Denn dass sie nicht nur sich, sondern auch ihrem Tristan mit heißem Blut und scharfer Zunge schaden kann, ist nicht schwer einzusehen.

Ehrlich erfüllt von dem Wunsch, ihr Wort zu halten, fasst sie Tristans Hand mit ihren, die kalt und ein wenig steif sind, trotz der dicken Fäustlinge, die sie sich nach Esjas Anleitung selbst genäht hat. "Nein, du täuschst dich nicht" flüstert sie und drückt seinen Handrücken an ihre spröden, ebenfalls kalten Lippen. Die nachgiebige Ader, welche sonst so selten hervorkommt, wird von der Ergriffenheit des jungen Weibes noch gesteigert. Sie beginnt, auf Tristans Worte hin nachdenkend, immer deutlicher ein Zeichen in dem Geschehen mit den kleinen leuchtenden Wesen zu sehen. Ein Zeichen, ja, das ist's gewiss! Doch wie es deuten? Beschämt senkt sie den Blick und murmelt: "Ich bin mir nicht sicher, was es bedeutet..." Ach, wär' nur die weise Esja da, um ihr zu helfen! Doch die Alte ist es nicht, und sie, Lîf, steht hier allein. Allein mit einem Manne, der zu Recht erwartet, ein Weib in Diensten der Großen Mutter müsse deren Willen klarer erkennen als er.

Mit einem Mal wird ihr wieder klar, wie jung und unerfahren sie noch ist, und sie zögert. Sieht zu ihm auf. Überlegt. Und dann sprudeln ihr einfach Worte über die Lippen, aus... ja, aus dem Bauch heraus, ohne nachzudenken: "Gemeinsam getanzt haben sie, eng beieinander, wie Braut und Bräutigam, wenn sie einander verbunden sind." Ihr Blick irrt über den Schnee, wo die Elfchen verschwunden sind, ohne auch nur den winzigsten Abdruck zu hinterlassen. Dann sieht sie in das Geäst hinauf, wo sie – inmitten der ganzen leuchtenden, flackernden, hin und her tanzenden Gesellschaft sein müssen. "Wie Mann und Weib..." Ihr Mund macht sich selbständig, spricht einfach weiter, und Lîf hat das Gefühl, sich selbst gespannt zuzuhören wie einer anderen. "Ein Gebot der Großen Mutter ist es, unsern Herzen zu folgen. Weise hat Sie alles eingerichtet, so dass Mann und Weib sich zueinander hingezogen fühlen, und dienen sollen wir Ihr fröhlich, so wird Ihr Segen uns zuteil werden." Ein wenig verwirrt blinzelt sie. Das waren, in leichter Abänderung, Worte, die sie von Esja gehört hat. Aber sie hat nicht nur einfach nachgeplappert, was ihr gerade von den vielen Lektionen der Alten einfiel, nein: Es fühlte sich einfach richtig an, zu sagen, was sie sagte.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 29.04.2018, 18:31:50
"Schöner nennst du mich, ach, lass das nicht den Karl hören und erst recht nicht seine Getrud! Und besser auch sonst niemanden. Ach herrje, Weib, denk doch bitte an meinen Ruf!" Doch Tristan sagt dies mit einem Lachen in der Stimme, und bei Lîfs folgenden Worten zieht er sie glücklich in den Arm. "Dacht' ich mir's doch..."

Eine ganze Weile lang stehen sie da und fühlen sich einander verbunden wie nie zuvor, doch als Lîf aus dieser Stimmung heraus ihr Herz offenbart, erlebt sie eine kleine Enttäuschung: ihr Gatte versteht nicht. Die Tragweite ihrer Worte, sie entgeht ihm völlig.[1] Lîf redet hier von sich und von ihm und er bemerkt es nicht einmal. Nur so erklärt sich seine Reaktion darauf: Er lacht. Nein, er prustet vor Lachen. (Was an und für sich ein sehr schönes Geräusch ist, denn er ist oft so ernst, dass man ihm ein wenig mehr Fröhlichkeit von Herzen wünscht!)

"So ist's richtig!" lobt er sie. "Wenn Du als drudkvinde einmal nicht sofort weißt, was etwas zu bedeuten hat, so lasse erst einmal etwas allgemeines, profund klingendes verlauten, mit dem du dich aber noch nicht allzu sehr festlegst. So beruhigst du erst einmal die Leute, ohne dir später, wenn du vielleicht mehr weißt oder weitere Ereignisse die Sache erhellt haben, selbst widersprechen zu müssen."

Für leere Allgemeinplätze hält er ihre Worte, die sie sich doch ihrem Herzen abgerungen hat! Wie viel deutlicher hätte sie sich denn ausdrücken müssen, damit dieser Holzkopf es versteht?

Trotzdem bettet sich an diesem Abend ein glückliches Paar gemeinsam zur Nachtruhe.

~~~

Es ist gut, dass Lîf sich den schönen Ausklang des vorigen Abends in Erinnerung rufen kann, um den Vormittag des dritten Tages zu durchstehen. Sterbenslangweilig ist Tristans zweiter Gesetzesvortrag, denn er geht die Frauen kaum etwas an. Allenfalls die Allemandsretten, in Fersland Jedermannsrecht genannt, berühren noch einige ihrer Interessen. Es legt die Rechte eines jeden freien Mannes und Weibes fest (und vieles davon gilt sogar für die Unfreien), überall auf den Inseln, unabhängig von den Besitzverhältnisse, sich frei zu bewegen, zu übernachten, Feuer zu machen, sowie Beeren, Nüsse, Pilze, Kräuter, Eier und Reisig zu sammeln. Auch das Fischen ist jedermann allerorts erlaubt, sowie die Jagd auf Vögel, nicht aber auf anderes Getier; letzteres unterliegt Beschränkungen. Dies alles gilt nur unter der Auflage, dass bei der Nutzung des Landes keine Schäden verursacht werden oder Abfälle zurückgelassen. Für Viehschäden haften die Besitzer, also passt gut auf euer Viehzeug auf! So weit, so gut. Aber danach geht es in Tristans Vortrag nur noch um Kauf, Verkauf und Verträge: den Kauf und Verkauf von Vieh (darf ein Weib beides), von Pferden (darf ein Weib nicht), von Unfreien (kaufen darf ein Weib sie, verkaufen aber nur mit Genehmigung ihres Mannes, außer, die besagten Unfreien sind alt, hässlich oder männlich, in anderen Worten: eine hübsche, junge Unfreie soll das eifersüchtige Eheweib nicht hinter dem Rücken ihres Gatten loswerden dürfen), dazu alle Regeln, die beim Handeln zu beachten sind.

Auf diesen langweiligen Vortrag folgen ebensolche Fälle. Da hat einer dem Nachbarn ein krankes Stück Vieh angedreht, ein anderer ein lahmes Pferd, und so geht es in einem fort. Etwas interessanter ist schließlich der Streit zweier Männer um das Alter einer jungen Unfreien: ist sie unter zwölf, so gehört sie dem einen, denn er hat ihre Mutter käuflich erworben, und bis zum elften Lebensjahr gelten die Kinder, so nicht ausdrücklich im Kaufvertrag ausgenommen, als im Preis der Mutter mitinbegriffen. Ist sie aber zwölf oder gar älter, so gehört sie dem vorigen Besitzer ihrer Mutter. Das Mädchen, ein ausgesprochen hübsches, wird dem Gericht vorgeführt, und es gib verschiedene Einschätzungen ihres Alters; sie selbst oder die Mutter fragt niemand. Schließlich einigt man sich aber darauf, dass sie vermutlich doch schon zwölf sei, also ihrem alten Besitzer gehöre. (Lîf hält sie sogar für dreizehn, denn ihr Heilerinnenblick verrät ihr, was den Männern offenbar vollkommen entgeht: das Mädchen trägt bereits ein Kind unter dem Herzen.) Als die Entscheidung fällt, weint das Mädchen bitterlich.

Hat dieser letzte Fall Lîf also schon aufgeregt, so tut es der nächste noch um ein Vielfaches mehr. Zu ihrer Überraschung, und ein wenig zum Schreck, geht es dabei um Helga, Sigrids Tochter, verheiratet mit einem bestimmt fünfzehn, wenn nicht gar zwanzig Jahre älteren Mann namens Gunnlaug. Dessen Anklage gegen sein Weib ist ähnlich wie die, welche am Vortag Thorstein gegen seine Rike vorbrachte: eheliche Untreue. Doch Gunnlaug fordert ganz klar die Scheidung. Mehr noch: jegliches Anrecht auf ihr Ehepfand will er Helga abgesprochen wissen, schließlich habe er sich nichts zu schulden kommen lassen, sie aber hätte den Vertrag gebrochen, und der gemeinsame Sohn solle auch bei ihm bleiben.

Aus Gunnlaugs Sicht hat sich die Sache so abgespielt: eines Nachmittags kam er verfrüht nach Hause und fand sein Weib vor im geschlechtlichen Verkehr nicht mit einem, nicht mit zweien, nein, mit drei Männern, die Unersättliche! Sehr genau schildert der gehörnte Gatte, was da wer gerade mit wem tat, als er zur Tür hereintrat, noch bevor er die Namen der drei Burschen nennt: Eirik, ein Sohn Sven Blutaxts, sowie dessen Kameraden Bjartmar und Illugi, alle drei in Helgas Alter.

Darauf tritt Helga vor, nachdem sie ihr Kind der Mutter überreicht hat. Über sie hergefallen seien die drei Burschen. Bei den Armen hätten sie sie gepackt, auf die nächste Bettbank geworfen, die Röcke bis über den Kopf geschoben, und sich von allen Seiten an ihr vergangen. Fast wäre sie gar erstickt an ihrer Kleidung, bis es ihr schließlich gelang, sie vollends abzustreifen. Das hatte die drei sehr amüsiert. Da hätten sie gerufen, ach schau, sie will ja doch! Dabei habe sie sich mit Händen und Füßen gewehrt! Habe geschrieen, geschimpft, gedroht, zum Schluss gefleht und geheult. Dann habe auch das Kind krakeelt, vor Hunger! Man erlaubte ihr, es zu stillen, und sah ihr grinsend dabei zu. Dann fielen die drei ein zweites Mal über sie her. Bis ihr Mann Gunnlaug endlich heimkam. Was sich dann aber nicht als die Rettung herausstellte, die sie sich erhofft hatte.

Dann werden die drei Burschen befragt. Natürlich schwören sie wie aus einer Kehle: hereingebeten habe die Helga sie. Eiriks Hände habe sie ergriffen, sich an die Brüste gedrückt, seufzend und stöhnend, während sie mit der anderen Hand Bjartmar an die Hose ging. Ihr Mann sei zu alt, er besorge es ihr nicht richtig, habe sie ihnen gestanden. Ein Kleid habe sie gar nicht getragen, als sie ihnen die Tür öffnete, nur ihre Schürze, darunter nichts! Welcher Mann könne da widerstehen!

Es folgen Fragen, Behauptungen, Anschuldigungen. Von Anfang an scheint die Stimmung gegen die junge Frau. Einige der Zuschauerinnen ergreifen wohl einmal mit einem Zuruf ihre Partei, werden aber schnell niedergebrüllt oder ausgebuht. Stimme es nicht, dass Helga dem Eirik früher schöne Augen gemacht habe? Sich wohl erhoffte, er werde bei ihrem Vater vorsprechen, zwecks Heirat? Und als dies nicht geschah und sie des Wartens müde wurde, so habe sie sich als nächstes wohl den Bjartmar ausgeguckt und ihn mit allen weiblichen Tricks umgarnt und sich ihm schamlos feilgeboten? Und das sind noch die harmloseren Behauptungen, die von allen Seiten auf Helga einprasseln. Als sie sich tapfer zu verteidigen sucht, indem sie darauf hinweist: keine Frau, nicht eine einzige auf Gajas weiter Welt, würde sich freiwillig von drei Männern zugleich besteigen lassen, das allein sei Beweis genug, dass dies gegen ihren Willen geschah (worauf viele der Zuschauerinnen, aber keinesfalls alle, nickend und mit Beifallsrufen zustimmten), da war es den Männern ein leichtes, den Einwand der jungen Frau beiseite zu wischen. Zunächst weist ihr Gatte Gunnlaug darauf hin, sie sei in den dreieinhalb Jahren ihrer Ehe von Anfang an im Bett unersättlich gewesen, und immer hätte sie jungen Männern über den Zaun Scherzworte zugerufen, die man als Ermunterung verstehen konnte. Dies müssen nun diverse Zeugen, darunter auch Frauen, bestätigen: ja, die Helga sei immer sehr kokett gewesen, auf bewundernde Blicke der Männer aus, nur allzu empfänglich für jedwede Schmeichelei. Und gerade erst neulich, wenige Tage bevor der Gatte sie beim Ehebruch ertappte, habe man sie mit Eirik zusammen gesehen, in ein tuschelndes Gespräch vertieft, bei dem viel gelächelt und gelacht wurde und sogar Hände sich kurz berührten! Zum Schluss beteuerten die drei Burschen noch einmal unter Berufung auf ihre Ehre, sie hätten ganz gewiss nur auf Einladung gehandelt, seien überhaupt auf ihre Einladung hin erst zum Hof gekommen, was hätten sie sonst dort zu schaffen gehabt? Und warum sonst hätte Helga ihnen die Tür in einem solchen Aufzug öffnen sollen? Und wenn sie jetzt behauptet, man habe sie gegen ihren Willen... ha, nichts dergleichen! Nein, auch ein Missverständnis ist ausgeschlossen. Nicht zu verkennen sei das Vergnügen gewesen, welches Helga durch ihre Zuwendungen verspürt habe. Ja, oh ja, habe sie gerufen und: mehr! fester! da, ja, genau! Nicht aufhören, doch nicht jetzt, oh bitte schnell der nächste!

So geht es eine ganze Weile. Kann man es Lîf da verdenken, dass sie vor Zorn schier überkocht? Wie kann ihr Gatte so ruhig bleiben? Wieso steht er Helga nicht zur Seite? Wieso lässt er derartige Fragen, Behauptungen, Anschuldigungen zu! Ja, ihm ist nicht wohl dabei, das sieht sie ihm wohl an, aber trotzdem schweigt er bloß dazu!

Und dann steht auf einmal das Urteil fest. Der Scheidung wird stattgegeben, wegen mehrfachen Ehebruchs. Das Ehepfand wird Helga wohl zugesprochen, denn dies steht einem Weib ausdrücklich auch im Fall einer Scheidung zu, ausgenommen davon nur ihr Anteil am Zugewinns, sowie natürlich ihr Schmuck. Der gemeinsame Sohn aber solle beim Vater verbleiben.

Die folgende Szene ist nicht schön. Helga schreit und tobt und heult. Sigrid protestiert. Dann tritt ihr Gatte vor und man will schon denken, aha, jetzt eilt wenigstens Eyvind Graumantel seiner Tochter zur Hilfe, doch statt dessen rügt er seine Frauen nur, sie möchten endlich still sein und sich fügen, das Gericht habe gesprochen. Seine Tochter ermahnt er gezielt: sie solle doch jetzt bitte auch einmal an seinen guten Ruf denken und diesem nicht noch mehr Schaden zufügen, als sie es bereits mit ihrem liederlichen Verhalten getan hat!

Drumherum nicken die Männer Zustimmung.

"Gut, dann wäre das also geschafft," will Tristan die Verhandlung beendet wissen. "Dies war der letzte Streitfall. Jetzt müssen wir nur noch zwei Nächte und einen Tag des Feierns überstehen."

Und auch der Jarl erklärt offiziell: "Das Gericht ist beendet."
 1. Int-Check = 6 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1044104#msg1044104) vs. 15, misslungen.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 03.05.2018, 13:27:54
Es hat Lîf ein wenig betroffen gemacht, für wie oberflächlich Tristan ihre Worte hielt. Dennoch hat sie den leisen Stich bald überwunden und zeigt sich einmal – sehr zur Freude Tristans – nicht so bissig wie gewöhnlich. Heute scheinen die sanfteren Gefühle des Rotschopfs zu überwiegen: Wie ihr leidgeprüfter Mann es nur allzu gut weiß, kann Lîfs Laune zwischen erbitterter Starrköpfigkeit, flammendem Zorn, in Tränen aufgelöstem Mitleid und eben auch dieser sehr selten gesehenen Anschmiegsamkeit schwanken. Längst schon wird er herausgefunden haben, dass sein Weib nur mäßige Kontrolle über den Widerstreit der verschiedenen Seelen in seiner Brust besitzt. Was sich sonst als Belastungsprobe für ihre Ehe erweisen kann, beschert ihnen heute jedoch glückliche Momente wie in einem Traum. Der Skalde selbst mag sich von Lîfs wandelbaren Launen angesteckt fühlen, versteht sie es doch, ihn in dieser Nacht mit Küssen und Berührungen, manchen liebevollen Worten auch, für jene Tage zu entschädigen, an denen sie ständig aufzubegehren scheint wie ein böser Hofhund. Unter den Fellen ist all das heute vergessen, als sie eifrig opfern zu Gayas Ehren...

~~~

Ja, am folgenden Tag kostet es das junge Weib des Skalden große Mühe, sich auf seinen Vortrag zu konzentrieren. Es ist eigentlich mehr ihr Stolz, der sie dazu veranlasst, es nicht ihren Geschlechtsgenossinnen gleichzutun, die sich zu kleinen Grüppchen zusammengefunden haben. Diese Grüppchen stehen bei Tristans langer Rede hinter anderen zurück und sind mehr mit dem Ratschen untereinander beschäftigt als mit den hochwichtigen Angelegenheiten, welche die Mannsleute doch, bitteschön, unter sich ausmachen mögen, wenn sie ihnen schon solche Bedeutung beimessen! Die rothaarige drudkvinde zieht es ebenfalls zu den anderen Weibern hin, doch sie bleibt an ihrem Platz stehen, entschlossen, weder sich selbst die Blöße zu geben noch zuzugeben, dass Tristans Worte ihr auch reichlich langweilig vorkommen. Ihren Mann würde sie niemals ungestraft einen Langweiler nennen hören! Mit Zähnen und Klauen würde sie seine Ehre verteidigen – ungeachtet der Tatsache, dass ihm wohl exakt dieser Vorwurf der Langatmigkeit bevorsteht, wenn die beiden wieder unter sich sind. Doch dem Weibe steht gegenüber seinem Mann wohl ein wenig mehr Offenheit zu als irgendeinem x-beliebigen Spötter... so zumindest sieht es der Rotschopf, der schon den Eltern mit seiner Eigensinnigkeit große Geduld abforderte.

Dieser Eigensinn Lîfs ist es auch, der sie aushalten lässt, allem Drang zum Gähnen zum Trotz. Und er lässt sie auch aufhorchen, als dann doch noch nach all den sterbenslangweiligen Streitereien um Vieh, ein paar Hühner, eine nicht zurückgegebene, aber doch in vollem Vertrauen dem Nachbarn geliehen Säge und dergleichen Kleinigkeiten – Mannsvolk! Wie kann man nur über so etwas bis zum Thing gehen?! – ihr Ende finden. Da ist plötzlich ein Fall, der ihr ans Herz geht. Sie betet leise zu Gaya um des Mädchens willen, das da erstens gedemütigt wird, indem vornehmlich die Männer darüber beraten, wie alt sie wohl sei, und zweitens auch noch von der Mutter getrennt! Ihr Herz blutet, als sie das arme Ding weinen sieht, und ein wütender Blick trifft die Männer, die so herzlos entscheiden. Gewiss: Leibeigene sind nun mal der Besitz anderer. Doch wer einen Unfreien käuflich sich erwirbt, hat immerhin die Pflicht, für das Wohl des Mannes oder des Weibes zu sorgen. In ihrer Heimat ist der unfreie Knecht, ist die unfreie Magd fast wie ein Mitglied der Familie. Eines zwar, das in rechtlichen Fragen wie ein Kind behandelt wird und kein Mitspracherecht besitzt, aber dennoch eines, das beim Essen mit am Tisch sitzt, bei einer Hochzeit seine süße Gabe erhält wie die Kinder des Hauses, das bei Krankheit seine Medizin bekommt und an Freud und Leid der Bauern teilhat. Um wie viel besser und fleißiger würde jenes Weib für seinen Besitzer arbeiten, wäre es ihr erlaubt, die Tochter bei sich zu behalten – und wie viel Dankbarkeit würde das Kind zeigen, durch Fleiß, Gehorsam, Bescheidenheit, kurz, alle jene Eigenschaften, die man von Leibeigenen wünscht!

Als es dann zum Streit um Helga und Gunnlaug kommt, ist die junge Frau also bereits aufgewühlt. Mühsam hat sie sich zurückgehalten, um das Los des Weibes und vor allem des armen Mädchens nicht noch schlimmer zu machen. Denn sie sieht ein, dass die Männer nach dem Recht handelten, auch wenn sie dabei soviel Gefühllosigkeit wie Dummheit zeigten. Dieser nächste Rechtsstreit jedoch ist einer, bei dem für sie nach der Schilderung aller Versionen der Geschichte feststeht, wo die Schuld liegt. Dementsprechend fällt sie aus allen Wolken, als das Urteil fällt. Allein, ganz allein soll Helga Schuld haben, und das Kind wollen sie ihr auch nehmen?! Und gar der eigene Vater versagt ihr jede Unterstützung?! Lîf sieht sich unter den Weibern der Versammlung um, die nun ihr Geschnatter beendet haben und diesem letzten Fall ebenfalls mit sichtlichem Interesse lauschten. Doch obwohl sie sieht, ja, spürt, wie so mancher der Protest auf der Zunge liegt, traut sich doch keine, laut zu werden, aufzustehen und für die arme Helga einzutreten. Nicht eine! Wütend presst Lîf die Lippen zusammen, als sie gar einige ältere Weiber sieht, die mehr auf Seiten der jungen Tunichtgute zu stehen scheinen, Helga mit bösen Worten bedenken. Zornig faucht der Rotschopf. Gemeine alte Vetteln, die der Helga nur neiden, dass sie noch ein junges, frisches Weib ist, anders als diese Alten, deren Gesicht runzlig ist und deren Schoß vertrocknet!

"Das ist nicht Recht!" hört sie sich mit einem Mal laut und deutlich rufen, als der Jarl und sogar Tristan alles für beendet erklären. Schweigen folgt, als alle Blicke sich ihr zuwenden. Sie fühlt das Blut in ihren Kopf schießen, dass die Sommersprossen in ihrem Gesicht fast unsichtbar werden in der Röte ihrer Wangen. Schwer schluckt sie. Doch dann rafft sie ihren Mut zusammen und reckt sich hoch auf. "Wie könnt ihr sagen, es sei alles gerecht, wie es beschlossen wurde?!" fragt sie in die Stille hinein. Ihre Stimme hört sich seltsam hell und dünn an, zittert sogar ein wenig. Doch dann sieht sie die verblüfft-ungläubigen Blicke der Männer, als sei sie nur ein trotziges Kind, das mit dem Fuß aufstampft, welchem man keine wirkliche Bedeutung beimisst. Und jene der Weiber, überrascht auch, aber zumeist auch mit einem interessierten, ja, hoffnungsvollen Glanz in den Augen, wie ihr scheint. Und sie fasst noch mehr Mut, erhebt ihre Stimme lauter, fester, sicherer: "Es geschah Verbotenes, das kann niemand bestreiten. Aber zu diesem Geschehen gehörte nicht nur eine: Es gehörten vier dazu! Und ihr wollt drei davon ganz von der Schuld freisprechen?! Nein, sage ich, das ist Unrecht! Das muss euch doch euer Herz sagen!"

Sie tritt einige Schritte nach vorn, deutet auf die drei jungen Männer, während noch immer alles schweigt, die meisten wohl zu überrumpelt, um sie zu unterbrechen, selbst wenn sie wollten. Und Lîf selbst wird von einer Woge gerechter Empörung mitgerissen. Sie hat, mit ein wenig Überheblichkeit, aber auch viel Pflichtbewusstsein, gar das Gefühl, die Göttin selbst befehle ihr zu sprechen. Selbst das entsetzte Gesicht Tristans ob ihrer Kühnheit hält sie nicht ab. "Diese drei, junge, kräftige Burschen, wollen uns wohl kaum weismachen, ein armes, schwaches Weib wie die Helga habe sie gezwungen, sie zu besteigen? Wie kann das sein? Sie behaupten, sie habe sie gelockt, verführt – ha! Sind sie nicht alt genug, um für ihre eigenen Taten einzustehen?! Hätten sie nicht widerstehen, hätten sie nicht Gunnlaugs Rechte beachten müssen, und wenn sie sich vor ihnen dreimal nackt ausgezogen hätte?! Und ihr wollt ihnen zugestehen, sie seien ohne Schuld, weil sie nicht anders konnten? Die Helga habe sie bezwungen mit ihrem nackten Leib? Ist denn ein Mann der Sklave des Weibes, das ihm den eignen Willen aufzwingen kann, wo es nur will?! Es wäre das erste Mal, dass ich davon hörte" faucht sie wütend.

Dann wendet sie sich der aufgelösten Helga zu. "Ich sage nicht, dass ich Helga von aller Schuld freispräche, wäre ich an eurer Stelle. Ihr Wort steht gegen das der Männer, und niemand außer ihnen kann wissen, was wirklich sich ereignete, ob sie, mit der Unvernunft des Weibes, mit dem Feuer spielte. Welches Weiberherz ist nicht empfänglich für süße Worte, für anerkennende Blicke des Mannsvolks, sagt selbst?" Sie schaut vor allem zu den Weibern hinüber. "Es ist töricht von uns, uns eben danach zu sehnen, doch Gaya hat uns so geschaffen, dass wir zu hören wünschen, wie sehr man uns begehrt, besonders wenn wir jung sind, wie die Helga oder ich. Seid ehrlich: Welche von uns hätte nicht schon einmal ein keckes Lob gehört, einen Schlag aufs Hinterteil erhalten, einen Pfiff gehört und dabei gelächelt? Wir sind so geschaffen, und die Mannsleute so, dass sie uns begehren." Beschwörend hebt sie die Arme gen Himmel. "Aber es darf doch niemand leugnen, dass die dreie taten, was sie taten, ohne dass Helga sie hätte dazu bestimmen können! Sie dagegen waren durchaus in der Lage dazu, ein einzelnes, wehrloses Weib zu zwingen, ihnen zu willen zu sein – drei kräftige Mannsbilder gegen sie allein! Wort steht gegen Wort: Wäre es da nicht viel gerechter, ihnen drei Viertteile der Schuld zuzuerkennen und der Helga einen Viertteil?"

"Und was endlich euren Sohn angeht" wendet sie sich schließlich an Gunnlaug persönlich, ohne sich um all die hervorquellenden Augen zu kümmern, die sie anstarren. Jetzt hat sie richtig Fahrt gewonnen und spricht sicher und frei heraus, ruhiger als zuvor, aber umso eindringlicher: "So bitte ich im Namen Helgas und im Namen der Göttin: Zeige, dass dein Herz nicht von Stein ist! Verurteile nicht noch eine Mutter, ihr Kind niemals wiederzusehen, wie es schon einmal hier geschah! Erinnere dich all der schönen Momente, welche die Göttin dir und Helga schenkte, und zeige dich großmütig – ja, ich bestreite nicht, dass sie, wenn nicht freiwillig, so doch auch durch eigne Schuld deine Rechte missachtet haben mag. Sie mag die jungen Burschen keck herausgefordert haben, welche ihr dann Ehre und Stolz nahmen... aber nehmt ihr nicht auch noch die Liebe, ich bitte dich! Habe ein Herz!" Ja, Lîf bittet, doch sie steht hoch aufgerichtet, ohne falsche Demut vor der Versammlung. Noch immer sind ihre Wangen gerötet vor Aufregung und Empörung, und in ihren Augen funkelt es von innerem Aufbegehren. Als sie geendet hat, wirft sie ihr Haar zurück, das im Licht des Feuers kupferfarben schimmert, und sagt, sehr viel leiser, noch einmal: "Ich bitte dich für jene, die du dein Weib nanntest: Erwirb dir einen Verdienst in den Augen der Göttin, welche der strafende Zorn sein kann, aber so viel lieber die verzeihende Sanftmut ist..." Dann verstummt sie. Ihre Brust hebt sich unter tiefen Atemzügen, und wer ihr nahe steht, kann die Schlagadern an ihrem schlanken Hals sehen, die heftig pulsieren.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 03.05.2018, 23:16:24
Stille herrscht auf der Thingstätte, als Lîf mit ihrer Rede fertig ist. Einzig Gunnlaug reagiert auf ihre Ansprache: als sie ihm nämlich mit Herz und Liebe kommt und darum bittet, sich doch an all die schönen Momente mit Helga zu erinnern, da verzieht er in bitterem Spott die Lippen. (Ahnt die junge, unerfahrene Frau denn wirklich nicht, dass es in vielen Ehen solch glückliche Momente, wie sie in der ihren erlebte, gar nicht gibt?)

Drei Atemzüge lang währt diese Stille.  Dann wendet sich alles, was Hosen trägt, in Tristans Richtung—sein Weib komplett ignorierend—und zetert los: "Was erlaubst du deinem Weib, vor Gericht das Wort zu ergreifen!""Unerhört!""Bringst du ihr daheim überhaupt keinen Benimm bei?""Wer hat bei euch denn die Hosen an?""Respektlos!""Sie hat dich wirklich bei den Eiern, wie?""Missachtung des Gerichts!""Das kommt davon, wenn man am Gürtel spart!" Und während diese Rufe über ihn hereibrechen, steht Tristan nur da, schreckensstumm.

Dafür nehmen ein paar keckere der jungen Weiber Lîf in ihre Mitte, stemmen die Hände in ihre Hüften und recken keck das Kinn in die Höhe, wie um zu sagen: Jawohl, sie hat recht! Wir sehen das auch so! Das gibt Lîf einerseits Auftrieb, andererseits ist sie nicht dumm, und so beschlecht sie in diesem Moment doch das mulmelige Gefühl, dass die zur Schau gestellte Solidarität der Frauen die Lage eher verschlimmert. Die Rufe der Männer scheinen ihr jedenfalls daraufhin noch einmal deutlich lauter und aggressiver zu werden.

"Nein, das ist nicht hinzunehmen!" übertönt dabei ein Greis die anderen Stimmen. "Eine solche Missachtung des Gerichtes verlangt nach einer Klage! Man denke sich: ausgerechnet das Weib des lögmadhurs, es ist eine Schande!" Worauf etliche der Umstehenden seinen Ruf aufnehmen: ""Schande! Schande! Schande!"

"Jetzt macht aber mal halblang!" brüllt Ole, zornesrot im Gesicht, die Rufe nieder. "Das Kind weiß doch gar nicht, was es tut! Es kennt unsere Gebräuche noch nicht! Sie wollte gewiss nicht die Ehrbarkeit des Gerichtes anfechten. Bei allen sieben Winden, es ist ihr erstes Thing!"

Dies lässt die Männer tatsächlich einen Moment verstummen, eine Gelegenheit, die Jarl Gisle beim Schopfe packt.

"Tristan", befiehlt er scharf. "Schaff dein Weib hier fort und erklär ihr die Sache auf eine Weise, dass sie es begreift. Die restliche Versammlung: gebt Ruh' und schleicht euch!"

"Aber", beginnt der Greis, "ein solches Verhalten kann doch nicht ungestraft—"

"Das Gericht ist beendet", beharrt der Jarl. "Wenn du eine Klage vorzubringen hast, muss sie bis zum nächsten Thing warten."

Derweil hat Tristan ohne zu Zögern auf den Befehl seines Jarls reagiert und sich durch die Menge zu seinem Weib gekämpft. Endlich ist er heran. Auch er ist zornesrot im Gesicht, doch scheint dieser sich mehr gegen sein Weib als die Menge zu richten. Unnötig grob packt er sie jedenfalls am Arm und zerrt sie fort in Richtung der Langhäuser. Ole schreitet ihnen voraus, einige Unverbesserliche aus ihrem Weg verscheuchend.

Einige ganze Weile marschieren die drei durch die Abenddämmerung, ohne dass einer von ihnen ein Wort sagt. Einige Blicke gehen wohl hin und her zwischen Tristan und seinem Ersatz-Schwiegervater. Allmählich kommt er wieder zu Atem. Schließlich findet er auch seine Stimme wieder.

"Wie konntest du nur, Lîf! Wie konntest du mich vor allen so blamieren? Denkst du denn überhaupt nie über die Konsequenzen nach, bevor du den Mund aufmachst? Ist es dir völlig egal, in welche Schwierigkeiten du mich—uns!—bringst? Herrje, das Gericht hatte entschieden! Danach ist die Sache geklärt. Danach muss die Sache geklärt sein. Denn das Thinggericht dient nur dem einen Zweck: den Sippenfrieden zu wahren! Alles andere ist zweitrangig. Das Urteil hat dein Gefühl von Gerechtigkeit verletzt? Ach herrje! Glaubst du wirklich, das sei in irgendeiner Weise relevant? Ein Urteil ist dann gut, wenn die betroffenen Familien es anerkennen. Weißt du überhaupt, was passiert, wenn dies einmal nicht der Fall ist? Sven Blutaxt und Eyvind Graumantel! Oberhäupter zwei der größten und einflussreichsten unser Familien! Man stelle sich das Blutbad vor! Hast du das schon einmal bei dir daheim erlebt, eine Fehde zwischen zwei Familien? Wie sich das aufschaukelt? Rache und Gegenrache? Erst tötet man nur die Knechte des anderen, dann vergewaltigt man einander die Töchter, dann bringt man Familienmitglieder um, und zum Schluss zündet man dem anderen nachts den Hof über dem Kopf an! Und wenn es auf beiden Seiten genügend Überlebende gibt, macht die nächste Generation gleich so weiter!

Das würdest du riskieren wollen, nur um eine Mitschuld der drei Burschen angeprangert zu sehen? Ja, glaubst du denn wirklich, die drei kommen ungeschoren davon? Dass Sven seinen Eirik nicht ordentlich dafür bestrafen wird, den Sippenfrieden so leichtfertig gefährdet zu haben? Und die Väter der beiden anderen ebenso? Die Bestrafung von Familienmitgliedern, die der Gemeinschaft geschadet haben, ist nicht Aufgabe des Gerichts, sondern des jeweiligen Oberhauptes.

'Das ist nicht Recht!' rufst du, Lîf, und entlarvst dich selbst im nächsten Satz: 'Wie könnt ihr sagen, es sei alles gerecht?' Zwei grundverschiedene Dinge sind das, Recht und Gerechtigkeit! Ein unerreichbares Ideal, von noblen Gefühlen getragen das eine, das andere ein gebrauchstüchtiges Instrument zur Streitschlichtung, auf das eine Gemeinschaft sich geeignigt hat. Vor Gericht zählt nur das Recht. Und die Klage. Über sie und nur über sie wird verhandelt. Hätte Eyvind Klage im Namen seiner Tochter erhoben, wäre es um die Schuldfrage der Burschen gegangen. Hat er aber nicht, weshalb dies niemanden interessierte. Einzig um die Frage der Scheidung ging es, denn nur hierzu gab es einen Kläger. Ob Helga dabei die ganze Schuld trifft oder nur ein Viertteil, wen kümmert's? Ob sie in vollem Bewusstsein der drohenden Konsequenzen handelte oder die Dummheit sie zu Leichtsinn verführte: einerlei! Jedenfalls hat sie Ehebruch begangen und ihr Mann daher mit vollem Recht die Scheidung verlangt.

Streit beilegen, darum geht es vor Gericht, nicht einen neuen aufrühren!

Siehst du's denn gar nicht ein?"


"Junge", brummt Ole, bevor Lîf zu einer Antwort kommt. "Du verschwendest deinen Atem! Ein braves Mädchen ist deine Lîf und mir recht ans Herz gewachsen, aber mit Vernunft wirst du bei ihr nichts erreichen. Frauen denken nun einmal nicht mit dem Verstand, du hast ihre Rede selbst gehört: Herz hier, Herz da! Es allein diktiert ihnen alles. Da hilft kein vernünftiges Argument. Wie oft hat sie dir schon Besserung versprochen? Nein, ich fürchte, du wirst nicht drumherum kommen, Junge, ihr endlich einmal in aller Deutlichkeit die Grenzen aufzuzeigen. Zu ihrem eigenen Besten. Das meinte der Jarl vorhin, das weißt du so gut wie ich. Schau, selbst unser sanftmütiger Egil hat's inzwischen geschafft, sein Weib zu bändigen. Wie zahm die Inga auf einmal ist! Und wenn der Egil es geschafft hat, so schaffst du's auch, da hab ich keinen Zweifel. Mach es einmal ordentlich und du wirst sehen: danach hast du auf Jahre hin deine Ruhe. Also Augen zu und durch!"

Der alte Mann verabschiedet sich mit einem aufmunternden Schulterklopfen und eilt weiter in Richtung der Langhäuser. Man ist, wie ein Rundblick Lîf verrät, bei der Hütte der Heilerinnen angelangt. Aus dem benachbarten Stall ertönt allerlei Blöken, Schnattern und Grunzen. Tristan blickt seinem Schwiegervater noch einen Augenblick nach, dann zieht er sein (widerstrebendes?) Weib in den Stall.

Bevor ihre Augen sich an das dunkle Innere gewöhnt haben, hat Tristan zwei Mägde angeherrscht zu verschwinden, was diese eilig befolgten, und macht sich bereits an seinem Gürtel zu schaffen. Im nächsten Moment liegt Lîf bäuchlings und mit entblößtem Hinterteil über einer Futterkrippe, ihre Röcke bis zu den Ohren hochgeschlagen, und zuckt fürchterlich zusammen, als hinter ihr der Gatte seinen Gürtel durch die Luft schnalzen lässt. Einmal. Zweimal. Ein drittes Mal. Sie hält den Atem an. Der nächste Hieb gewiss wird über ihr Fleisch fahren... ihr zwar nicht die Ehre, wohl aber den Stolz nehmen... vielleicht gar die Liebe zum Gatten, die gerade erst gekeimt...?

Vor knapp zwei Wochen war Lîf sich schon einmal sicher gewesen, dass sie jeden Augenblick den Gürtel ihres Mannes zu spüren bekäme, doch hatte Tristan sich auf dem Heimweg längst abgeregt und bestritt gar, dies je beabsichtigt zu haben. Poetisch beschwor er stattdessen seine Liebe: "Du bist mein Licht, meine Sonne, mein Horizont, das Wasser, das mich trägt, der Wind, der mich treibt, der Atem meiner Seele!"[1] Doch um was ging es damals? Um vorlaute Widerworte, unbedacht in Hörweite einiger Fahrtenbrüder gesprochen, die ihn daraufhin auslachten und aufzogen. Eine Lappalie gegen das, was sie diesmal gekonnt hat. Diesmal war es nicht der schöne Karl, der ihnen fröhlich nachrief: 'Nur schnell nach Haus, dort will der Gürtel tanzen!' Diesmal hat der Jarl selbst befohlen, in anderen Worten doch nicht minder deutlich: "Jetzt verpass deinem Weib endich mal eine gehörige Tracht Prügel, wenn sie anders nicht zu zähmen ist!" Und sogar Ole findet, dass es nicht anders geht, und zumindest in einer Sache hat er ja recht: zu oft hat sie ihrem Mann schon Besserung gelobt. Nein, diesmal käme sie nicht ungeschoren davon.

Und doch lässt der erste Schlag auf sich warten. Immer unbequemer indes wird ihre Position. Irgendwann verschwindet dafür die Hand in ihrem Rücken, die sie niederhielt. Schritte nehmen hinter ihr einen rastlosen Marsch auf. Auf und ab. Auf und ab. Keuchend ringt ihr Gatte um Atem und flucht dabei vor sich hin.
 1. Die Methaus-Szene aus meinem HG (hier (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8983.msg1033374#msg1033374), HG IV, ab den ~~~), ich würde sagen, die ist doch schon vor dem Disenthing passiert, das passt nämlich hinterher so gar nicht mehr, u.a. auch wegen Lîfs Gefühlsentwicklung. Aber er hat sich damals ja noch nicht grundsätzlich zum Thema Prügelstrafe geäußert.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 05.05.2018, 19:46:50
Die Reaktionen der Männer waren vorauszusehen, aber dennoch fühlt Lîf eine große Enttäuschung, als ihre Worte so wirkungslos verhallen. Sie hat sich dermaßen ereifert, dass sie noch immer schwer atmet, als Rufe aufbranden und der männliche Teil der Versammlung mit Tristan zu rechten beginnt. Bei den Weibern immerhin, den jungen jedenfalls, scheint sie mehr Gehör gefunden zu haben. Sie drückt einige Hände, lächelt dieser oder jener zu, einen stummen Dank nickend, da wird es vor ihr lauter. Sie hört die Stimme des Alten und macht schon Anstalten, aus der Mitte der sie umstehenden Weiber hervorzutreten, um ihrerseits mit einer weiteren flammenden Erwiderung Öl ins Feuer zu gießen, als Ole das Wort ergreift und der Rotschopf zögert.

Er spricht zu ihren Gunsten..? Aber... Moment mal! Er stellt es ja so dar, als sei sie ein unreifes Kind, das gar nicht weiß, was es tut! Und so jung und unerfahren sie wirklich sein mag, diese Behauptung lässt die Wut noch einmal heller in ihr auflodern, wohl über den Punkt hinaus, an dem sie noch nutzbringend für ihre Sache wäre. Mehrere der jungen Weiber halten sie an Ärmeln oder Rocksaum zurück, reden beruhigend auf sie ein. "Lasst mich los! Wie kann er so einfach..?!" faucht sie. Gegen die vielen Arme, die sie halten, kommt sie allerdings nicht recht an, und so kann der Jarl die ganze Sache beenden, ehe es zu einer weiteren Verschlimmerung kommt.

Zwar murren noch einige Männer, doch die meisten geben sich mit Gisles Beschluss zufrieden. Irgendein Witzbold zieht sogar den Greis auf, der auf einer Bestrafung Lîfs beharrt: "Nun sieh mal an, der alte Bock hat ja ein großes Interesse dran, dass die Kleine bestraft wird – würdest es wohl am liebsten selbst machen, wie? Noch ein Grund mehr für den Skalde, sein Weib fürs Erste wegzuschließen!" Die wutentbrannte Antwort des alten Mannes geht in Gelächter und weiteren Scherzworten unter, und der Jarl, froh um die damit verbundene Entschärfung der Sache, sieht über das reichlich lose Verhalten an dieser heiligen Stätte hinweg. Immerhin löst sich die Versammlung auf wie gewünscht – und besser ein kecker Scherz als Hader oder gar vergossenes Blut auf der Thingstätte!

Die jungen Weiber wiederum haben Tristan nur sehr zögerlich den Weg freigegeben. Manch eine muss er beiseite schieben, wofür er leises Murren und Vorwürfe erntet, dass er ein selten grober Gesell sei, der wohl nicht unterscheiden könne zwischen einem harmlosen Weib und einem Schmiedehammer, den man wohl so derbe anpacken könne. Sich ihm direkt in den Weg zu stellen, wagt denn aber doch keine. Auch Lîf selbst wehrt sich nicht sehr stark. Sie verbeißt sich jedes Jammern und stolpert hinter ihm her, den Mund verkniffen, den Kopf stolz erhoben. Sie glaubt sich ganz fest im Recht, daran können tausend Männer nichts ändern, und seien sie noch zehnmal so stark! Den Blick auf Oles Rücken fixiert, lässt sie sich davonziehen, ohne noch jemanden zu beachten.

Wortlos lässt sie auch die Strafpredigt und die Belehrung ihres Mannes über sich ergehen. Nur als er am Ende angelangt ist, kann sie nicht mehr an sich halten. Sie holt schon Luft zu einer geharnischten Erwiderung, als auch noch Ole sie unterbricht. Ihr Gesicht wird vor Wut und Scham erst blass, dann wieder rot. Ehe sie sich recht besonnen hat, wird sie auch schon in den Stall befördert. Dort aber gelingt es ihr endlich, sich zu fassen, und kaum sind die Mägde hinausgehuscht, kommt sie zu der Antwort auf Tristans Worte, die ihr auf der Zunge brennt: "Ja, über das Recht kann ich freilich nicht mit dir streiten, denn da bist du der Wissende, bei dem jeder Rat sucht. Aber ich frage dich: Wenn das Recht nichts mit der Gerechtigkeit zu tun hat, womit begründest du dann dieses Recht?! Sollte es nicht das edelste Ziel eines jeden sein, nach der Gerechtigkeit zu streben, so gut es eben geht – und wenn sie noch so unerreichbar ist? Ist das Recht nur dazu da, einen Zweck zu erfüllen, dann tut's die Gewalt doch ebenso gut. Zwing die Leute einfach mit Männern und Waffen dazu, Frieden zu halten!"

Und in ihrer Empörung schlüpft ihr auch noch ein gallebitterer Vorwurf über die Lippen: "Ich sehe ja, wie gut das funktioniert!" Der Blick, den sie dabei auf seine Hand um ihren Oberarm wirft, spricht Bände. Das Hantieren mit seinem Gürtel hat sie wohl gesehen, in ihrer Rage aber nicht recht beachtet, weswegen sie erst überrascht aufkeucht, als sie schon über der Futterkrippe hängt. Jetzt beginnt sie auch mit den Beinen zu strampeln und sich gegen seinen Griff zu stemmen. Erfolglos, angesichts der Kräfteverhältnisse und ihrer ungünstigen Position, aber doch mit verzweifelter Anstrengung. Es ist ein Reflex, Stolz, das Aufbegehren gegen eine Bestrafung, die sie ihrer Ansicht nach völlig zu unrecht bekommt. Wann hat ihr der Vater je eine Tracht Prügel verabreicht, der doch das erste Recht dazu gehabt hätte?

Lîfs Vater war ein geduldiger Mann. Mancher würde wohl sagen, ein schwerfälliger. Geschlagen hat er sie selten – wenn, dann bekam sie meist mit dem Kochlöffel der Mutter ihre Hiebe auf die Kehrseite. Nur das eine Mal, als sie mit den Jungen vom Nachbarhof in den Bäumen geklettert war und sich ihr feinstes Kleid zerriss, an dem Tage, an dem sie zu einer Hochzeit geladen waren... als er sie da ermahnte und sie ihm Widerworte gab, da gab er ihr eine so gewaltige Ohrfeige, dass sie rückwärts durch das Gras kugelte und den Abdruck seiner Finger noch tagelang in ihrem Gesicht spürte. Und nun sieht es aus, als würde sie hier, in der Fremde, eine ähnliche Erfahrung wiederholen wie damals, als sie vor Wut, Empörung und verletztem Stolz Rotz und Wasser heulend im Gras lag.

Und darum kämpft sie auch: Weil sie heute, wie damals, nicht einsehen mag, im Unrecht zu sein. Es kann und darf doch nicht bestraft werden, wer nichts unrechtes tat! Sicher: Ihre Frechheit von damals hat sie eingesehen – es war falsch, das Kleid zu ruinieren, an dem die Mutter wochenlang nähen musste, immer abends bei Kerzenschein, nach der Feldarbeit, und dann dem erzürnten Vater noch Widerworte zu geben. Aber da war sie noch ein kleines Mädchen mit kurzen Zöpfchen und ebenso kurzen Gedanken. Jetzt ist sie ein Weib, glaubt sich weiser, ja, ist Schülerin einer drudkvinde gar – gilt ihr Wort da gar nichts?!

Während sie noch hadert, verschwindet unvermittelt der Druck in ihrem Rücken, und sie rutscht rückwärts, bis sie auf ihren Knien aufkommt. Hängt mit Armen und Kinn über der Krippe und hört ihren Mann hinter sich auf und ab gehen, ohne dass er sie geschlagen hätte. Sehr langsam dreht sie sich um. Die feuerroten Haare bilden eine wirre Mähne um ihr schmales Gesicht, das ebenfalls stark gerötet ist, von der Anstrengung inzwischen mehr als von der Wut. Schnaufend sucht sie zu Atem zu kommen, kommt taumelnd auf die Beine und beginnt ihr Kleid wieder zu richten. Dann hebt sie ihren Blick und sieht ihn keuchend an. Sie öffnet den Mund. Ihre letzten Worte tun ihr wahrhaftig leid – aber noch kann sie sich nicht zu einer Entschuldigung entschließen. Weiß sie denn, was er vorhat? Weiß sie denn, ob er sie so liebt, wie sie es bereits dachte, und ob sie ihn ebenso wiederliebt? Lîfs Gefühle sind auch für sie selbst ein Rätsel.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 06.05.2018, 15:14:39
Dass Lîf sich erhoben hat, nimmt Tristan mit einem dunklen Blick zur Kenntnis, ohne sich davon in seinem rastlosen Marsch beirren zu lassen, und so bleibt ihr nichts, als ihm dabei zuzuschauen, denn der Weg zur Tür führt an ihm vorbei. Von hinten und den Seiten glotzt sie das Viehzeug an: Pferd, Ochse, Schwein, Schaf- und auch Ziegenbock, dazu Hofhund und dreierlei Federvieh: Gänserich, Erpel und Hahn. Neun verschiedene Kreaturen insgesamt, soviel als es Unterwelten gibt (oder Oberwelten, zählt man das Federvieh als eines), von jeder Art aber fünfe, Gajas heiligste Zahl, und allesamt sind es, soweit Lîf erkennen kann, männliche Tiere. Etwas ruhiger gebaren sie sich jetzt, haben sich an die Eindringlinge gewöhnt. Sie bildet sich ein—es muss Einbildung sein!—dass nicht nur sie selbst, sondern alle Versammelten, gebannt darauf warten, dass Tristan zu einem Entschluss und zur Ruhe kommt.

Endlich bleibt er vor ihr stehen.

"Wie oft habe ich den jungen Burschen die Rechte und vor allem die Pflichten eines Ehegatten aufgezählt. Niemals hätte ich mir träumen lassen, diese selbst einmal so schlecht zu erfüllen! Da verwundert es im Rückblick nicht, dass mich alle so bedrängten, mir doch endlich ein Weib zu nehmen, ich hatte ja all die Jahre keine Ahnung, wovon ich rede! Die Sache klingt ja auch nicht weiter kompliziert, nicht wahr? In wenigen Worten ist sie erklärt. Als Oberhaupt der Familie ist ein Mann für sein Weib und seine Kinder verantwortlich. Deren Pflicht sei der Gehorsam, die seine aber, sie mit allem zu versorgen: Schutz, Heim, Erziehung, Kleidung, Nahrung, und was man sonst noch so zum Leben braucht. Für Recht und Ordnung hat er dazu in seinen Reihen zu sorgen, für Anstand und gutes Benehmen. Vergehen sich die Kinder oder das Weib am öffentlichen Frieden oder handeln aller Moral zuwider, so hat er sie zu ermahnen und zu strafen, auf dass sie davon ablassen und es nicht wieder tun. Kommt es aber zu einer Klage, so haftet er für die Seinen, als seien ihre Taten seine eigenen, ebenso wie er in ihrem Namen vor dem Thinggericht Klage erhebt, sollte ihnen durch das Mitglied einer anderen Sippe Schaden entstanden sein, denn jedes Verbrechen, das an einem Mitglied seiner Familie begangen wird, das wird auch ihm angetan.

Muss ich dir wirklich einprügeln, was das bedeutet? Alles, was du tust, Lîf, fällt auf mich zurück. Ich werde mich vor Gericht verantworten müssen, wenn du dich nicht zu benehmen weißt! Mich können sie auf Haus und Hof verklagen, bis nichts mehr übrig ist, mit dem ich noch das Manngeld zahlen könnte, als meine eigene Arbeitskraft!

Oder ist genau dies deine Absicht? Hast du all das sehr wohl verstanden und nutzt es, um dich an mir zu rächen? Es mir heimzuzahlen dafür, dass ich dich geraubt und zu meinem Weib gemacht habe? Meine gerechte Strafe, ja, in deinen Augen? Als Magd, freilich, hättest du mir diese nicht erteilen können, hast du deshalb eingewilligt, als ich dich bat, die meine zu werden? Solch Verschlagenheit ist nun einmal, so wird man als Mann wahrlich oft genug gewarnt, der Weiber Art! Soll ich das glauben? Oder doch lieber, dass du nicht weißt, was du tust?

Gerechtigkeit forderst du? Was glaubst du denn, wie diese aussähe, gerade in Helgas Fall hier, wenn die Sippen das unter sich ausmachen würden, wenn sie nicht den Weg über das gefühllose, rein zweckbekümmerte Recht gingen, soll ich's dir sagen? Dann hätten drei Burschen aus Eyvinds Sippe sich ein braves Mädchen aus Svens Familie geschnappt—Eiriks jüngere Schwester zum Beispiel—und wären mit ihr verfahren wie Eirik, Bjartmar und Illugi mit der Helga.

Gerechtigkeit!"
schnauft er. "Dazu wusste meine Mutter eine schöne Geschichte zu erzählen, welche sich ereignete, als sie selbst ein kleines Mädchen war. Pferdehändler war ihr Vater, und weithin wohlbekannt. Glücklich lebte er mit Frau und Tochter in einigem Wohlstand, bis er Bekanntschaft mit dem Neid und der Willkür der Obrigkeit machen musste, welche uns auf den Inseln ja Gaja-sei-Dank erspart bleibt. An einer Furt traf er, als er zwei herrliche Gäule ihrem neuen Besitzer überführen wollte, auf den Sohn des örtlichen Fürsten nebst einiger Burschen. Dem gefielen die Pferde so gut, dass er sie sich kurzerhand auslieh. Eine Woche später erst sah mein Großvater die Tiere wieder, völlig zerschunden! Zu nichts taugten sie mehr als vielleicht noch zur Schlachtung. Dies erboste ihren Vater sehr und er wollte Klage vor Gericht vorbringen, doch in Fersland ist es nicht so leicht möglich, als einfacher Mann Klage gegen einen 'Edlen' vorzubringen, nicht wahr? Also lief er damit gegen eine Wand. Dann sagte sein Weib: 'Vielleicht, wenn ich zur Fürstin ginge und mit ihr redete, so von Weib zu Weib? Vielleicht könnte ich ihr Herz erreichen? Dass sie darauf ihrem Gatten, den Vater des Missetäters, einflüstere, dass es seine Pflicht sei, moralisch und nach jedem Recht, uns den Verlust der Tiere zu vergelten?' So wurde es beschlossen und meine Großmutter machte sich auf den Weg. Als sie am Abend des nächsten Tages noch nicht zurück war, suchte der Gatte sie, und fand sie nicht weit von seinem Heim entfernt auf der Straße, zusammengebrochen, halb tot geprügelt und in schändlichster Weise misshandelt, die Gewänder zerrissen. Er trug sie nach Hause, rief das Kräuterweib herbei, doch es sollte ihm nichts nützen: zwei Tage später verschied sein Weib. Daraufhin wurde er rasend. Die Tochter gab er in ein Kloster; nur dort wäre sie sicher, denn einzig Klostermauer vermögen der Rache Halt zu gebieten. Er selbst aber zog in die Wälder, wo er sich mit den Fried- und Gesetzlosen zusammentat. Von nun an waren die Straßen nicht mehr sicher. Wieder und wieder überfiel er die Wagen des Fürsten und seiner Gefolgsleute. Diese aber, als sie erfuhren, wer an der Spitze der Übeltäter stand, und da sie seiner nicht habhaft werden konnten, rächten sich an seinen Verwandten, worauf er mit seinen Leuten sich wiederum an den ihren verging. Blutbad folgte auf Blutbad! Und weißt du, wie die Sache endete, zumindest für ihn? Als der jüngste Brüder jenes Pferdeschänders, mit dem alles begann, als Oberhaupt des Fürstenhauses nachrückte, so ließ er verkünden, dass er die ursprüngliche Klage meines Großvaters nun doch vor dem Thinggericht verhandeln wolle. Und weißt du noch was? Der Klage würde stattgegeben! Großvater bekam das Geld für die beiden geschundenen Pferde ausgezahlt. Darauf aber wurde er, für all die Verbrechen, die er selbst inzwischen begangen hatte, am Gerichtsbaum aufgeknüpft.[1]

Sag selbst, das war doch gerecht, das Urteil, nicht wahr?

Und Großvaters Empörung zuvor, auch sie war gerecht? Sein Zorn ob seines Weibes Tod? Seine Rache, gewiss war sie ihm Pflicht? Es geschah also alles so, wie es geschehen musste, wenn alle Beteiligten nach Gerechtigkeit streben?

Und das Ergebnis davon? Zwei Familien fast vollkommen zerstört, dazu ungezählte Freunde, Gefolgsleute und Unfreie erschlagen—all dies geschah, weil ein Mann die Ungerechtigkeit nicht verwinden konnte, dass ein dreister Fürstensohn ihm zwei Gäule zerschunden hat. Und du musst auch nicht meinen, die Sache hätte mit seinem Tod ein Ende gefunden. Solange seine Tochter, meine Mutter, im Kloster war, ja, denn dort war sie unantastbar. Eines Tages aber errettete sie jemand aus diesem tristen Leben und nahm sie mit sich ans andere Ende Ferslands, in den fernen Süden. Dort erfuhr sie endlich ein wenig Glück. Ein Gatte, der sie anbetete, ein hübscher Sohn... Doch dann wachte sie eines Nachts auf und es brannten die Scheunen und quietschten die Schweine, es kreischte die Mägde wie am Spieß und die Schreie der Knechte brachen gurgelnd ab, und sie wusste sofort, was los war und was sie zu tun hatte: nur einen Ort gab es, an dem ihr Sohn sicher wäre, denn nur vor Klostermauern macht die Rache Halt.

Die Zweckgebundenheit der Gesetze beklagst du? Gewalt, glaubst du, könne dasselbe erreichen wie unser Recht? Vor Gericht aber müsse das Herz sprechen? Müsse das arme, unvernünftige junge Ding, welches doch nur ein wenig mit dem Feuer spielte, vor dem Brand geschützt werden, der daraufhin entflammt? Wie, oder soll doch lieber edel nach Gerechtigkeit gestrebt werden? Das scheint mir einander zu widersprechen!"


Während seiner erregten Rede hat Tristan wohl seinen rastlosen Marsch wieder aufgenommen, hatte geschnaubt und den Kopf geschüttelt, gestikuliert und auch einmal einen leeren Eimer aus dem Weg getreten, doch bei all dem keinerlei Anstalten gemacht, seinen Gürtel, welchen er noch immer in der Hand hielt, in Lîfs Richtung zu schwingen. Bei den letzten Worten nun lässt er sich auf einem Querbalken nieder, der die Eber von den Schafböcken trennt, und blickt sie herausfordernd an.

"Weißt du überhaupt, wofür Gesetze da sind, na? Was ist ihre Aufgabe, sag schon! Wozu dienen sie?"
 1. Frei nach Heinrich von Kleist, "Michael Kohlhaas".
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 08.05.2018, 09:55:02
Sonderbarerweise lassen die Tiere ihre typischen Laute nicht mehr hören, seit Tristan und Lîf sich in dem Stall befinden. Die junge Frau wirft ihnen einen verwunderten Blick zu, und tatsächlich – sie scheinen aufmerksam zu lauschen. Oder reagieren sie einfach nur auf das eigenartige Verhalten der beiden felllosen Zweibeiner? Und nun beginnt der eine von ihnen dem anderen wiederum eine Predigt zu halten, und zwar eine, bei der sich die Züge des zweiten abwechselnd weißlich blass und flammend rot färben, wie das Haar, das sie umgibt. Lîf öffnet den Mund, um irgendwo einzuhaken, wenn ihr erzürnter Gemahl denn einmal eine Pause machen muss, um Atem zu holen. Ehe sie so recht dazu kommt, ihm die eigene Meinung an den Kopf zu schleudern, fallen jedoch Worte, die sie zusammenzucken lassen, als hätte er sie wirklich bereits geschlagen: Absicht... er unterstellt ihr Absicht?! Fassungslos starrt sie ihn an. Es summt in ihren Ohren, als sie einen Schritt rückwärts wankt. All die klugen Worte über Recht und Gerechtigkeit, die lehrreiche Geschichte von seiner Mutter, alles rauscht wie ein Wasserfall an ihr vorüber.

Denn was er da geäußert hat, trifft sie an einer Stelle, an der sie sich gar nicht verwundbar wähnte: Er glaubt allen Ernstes, sie könne sich ihm geschenkt haben – jawohl, geschenkt, freiwillig, denn obwohl sie beide wissen, dass er sie hätte zwingen können, fragte er sie, und sie sagte zu, aus einer Regung heraus, die sie selbst nicht begriff – nur um ihn zu verderben! Aus purer Heimtücke, als Rache für ihre Entführung... ohne jemals ein Gefühl in ihrer Brust gehabt zu haben! Diese Unterstellung schmerzt mehr als ein Stich mitten ins Herz. Sie ist wie eine Ohrfeige, ein Anspeien, mehr als der verächtlichste Blick, den man sich vorstellen kann. Jetzt erst merkt sie, dass da wirklich mehr in ihrem Herzen wartete. Ein zartes Pflänzchen noch, nicht mehr bloßes Interesse, wenn auch noch nicht innige Liebe zu nennen. Aber doch fähig zu wachsen... Ja, was anderes als die Liebe hätte denn ihren stolzen Nacken beugen können, ihm das erbetene Ja zu geben? Lîf stolpert rückwärts, bis sie gegen die Krippe prallt. Ein großer, harter Stein scheint mit einem Mal in ihrem Hals zu stecken.

Sie sieht, wie er in Rage auf sie einredet, ihr seinen Zorn entgegenschleudert, aber seine Worte kann sie nicht mehr unterscheiden. Ein Bienenschwarm muss um ihren Kopf summen, so laut... und schwindlig ist ihr plötzlich. Schwer lehnt sie sich gegen die Krippe, rudert mit fahrigen Armbewegungen in der Luft umher, wie um unsichtbar Geister abzuwehren. Ihr ist, als hätte er ihr gerade einen schweren Kinnhaken versetzt. "DAS glaubst du..?!" krächzt sie heiser. Ihre Stimme klingt für sie selbst ungewohnt dumpf, wie durch Watte. Als könnte sie nicht weiter als einen oder zwei Schritte dringen. Hört Tristan sie überhaupt? "Das traust du mir zu..?! Solche Falschheit..?! Ich habe... habe dich..." Geliebt? Sie verstummt, ringt nach Atem. Ein "Ja" könnte sie nicht mit voller Überzeugung sagen – ein "Nein" aber noch weniger! Lîfs Gedanken verwirren sich. Dunkel verspürt sie noch das Bedürfnis, ihm ihre Sicht der Dinge entgegenzuschleudern, sich zu verteidigen gegen seine Anklagen, wie es wohl jeder Mensch verspüren würde.

Aber sie kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Stattdessen geht ihr durch den Kopf, was sie schon die ganze Zeit beschäftigt hat, ohne dass sie es selbst geahnt hätte: Er liebt mich nicht... verachtet mich... er wird niemals mein sein..! Ja, noch vor diesem Gespräch hätte sie nur verächtlich gelacht, hätte jemand ihr auf den Kopf zugesagt, dass sie sich solche Hoffnungen machte. Sie?! Nie im Leben! So leicht wäre es gewesen, sich einzureden, dass es pure Vernunft war, sein Weib zu werden, sich vor dem Dasein als Magd zu retten. Gefühle? Ah was... allenfalls seine Anziehungskraft, ja, die lässt sich nicht leugnen. Eine Stimme, süß wie schwerer Honig, und ein stattliches Mannsbild ist er auch. Aber das würde jedes Weib so empfinden. Doch Liebe, sie, zu einem ihrer Entführer?! Ha! Nur... jetzt, wo es zu spät ist, wo es in ihrem Herzen so schrecklich wehtut, muss sie sich eingestehen, dass sie gerade etwas verloren zu haben scheint, das ihr offenbar doch, insgeheim, sehr viel wert gewesen wäre.

Sie sieht weder den Gürtel in seiner Hand, noch kann sie weiterhin seine Fragen verstehen, seine Aufforderung. Nur einzelne Worte dringen zu ihr vor. "Auf... Aufgabe..? Dienen... wozu? Wer..?" stottert sie benommen. Dabei sieht sie ganz betäubt zu ihm hoch. Ihrem Gesicht fehlt jeglicher Ausdruck, nur totenblass ist sie. Und ein schmales Tränenrinnsal bahnt sich beiderseits der Nase seinen Weg über ihre Wangen. Lîf murmelt leise vor sich hin. Sie wirkt, als habe sie einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen. Doch der Kopf ist es in dem Fall nicht, der in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 08.05.2018, 16:09:35
Tristan, nicht ahnend dass Lîf dem größten Teil seiner Rede gar nicht zugehört hat, ist mit deren Wirkung zufrieden. Wie erschrocken sie zurückweicht, als er ihr Absicht unterstellt, wie empört sie es abstreitet! (Nicht, dass er es ihr wirklich zugetraut hätte, aber wie sonst soll man sich erklären, dass sie ihm immer wieder verspricht, sich von nun an gewiss besser zu benehmen, nur um ihn tags drauf mit noch ungeheuerlicherem Benehmen in Bedrängnis zu bringen? Es war also dringend notwendig, und tut ihm sehr wohl in der Seele, dass Lîf ihm diese Zweifel nimmt.) Und als er ihr am Beispiel seines eigenes Großvaters schildert, an welch Nichtigkeiten sich eine Sippenfehde entzünden kann, wie rasch sich zu Mord und Totschlag steigern, da kommen ihr gar die Tränen.

Ha, und ich habe doch recht! Es braucht keine Prügel, um ein Weib zur Einsicht zu bringen. Genausoviel, wenn nicht mehr, erreicht man dadurch, dass man ihr die Dinge nur richtig erklärt!

Wie Lîf sich wohl, in ihrem jetzigen Gemütszustand, den zufriedenen Blick erklärt, mit dem ihr Gatte sie daraufhin mustert? Mehrt sich der Tränenfluss? Gerät ein Schniefen dazwischen? Überkommt es sie gar völlig, dass auch sie sich setzen muss, von Schluchzern geschüttelt? Oder wird ihr ganz kalt? Steht sie ganz still da, verschreckt, erstarrt?

Eine kalte, nasse Nase berührt ihre Hand. Als sie den Kopf wendet, blickt sie in die sanften, melancholischen Augen eines Geißbockes, der sie abermals wie zum Trost (oder erhofft er sich etwas zu Fressen?) anstubst. Ein zweiter kommt von der anderen Seite heran und tut es dem ersten nach. Dann bricht unter den restlichen dreien ein ernsthaftes Gerangel aus, wer denn noch in ihre Nähe dürfe. Auch die anderen Tiere werden nun unruhig, wohl wegen des Tumultes, den die Geißböcke veranstalten, und weniger, um ihren Anteil an Lîfs Kummer zu bekunden, wie erstere es zu tun scheinen. Nur das Herz ihres Gatten rührt sich nicht! Nur er blickt noch immer mit großer Zufriedenheit auf ihren aufgelösten Zustand. Allenfalls, dass sie ihm seine dumme Frage nicht beantworten kann, was die Aufgabe von Gesetzen sei, lässt ihn kurz die Stirn runzeln, aber auch der Schatten verfliegt sogleich. Er rückt ein wenig näher zu ihr.

"Ja, das habe ich mir gedacht, dass sich ein so junges Ding wie du darüber noch keine Gedanken gemacht hat. Aber jetzt siehst du ein, ja? Dass ein Gericht alles tun muss, um den Sippenfrieden zu wahren? Es gibt wirklich nichts schrecklicheres als einen Sippenstreit. Mein Großvater trat wegen zweier geschundener Gäule eine Fehde los, die seinen Enkel fast zwanzig Jahre später noch seine Familie, das Heim, die Kindheit kostete und dazu sieben schreckliche Jahre in einem Kloster bescherte! So etwas zu verhindern ist Aufgabe des Thinggerichtes und damit hat es bereits alle Hände voll zu tun. Für den Schutz des Einzelnen aber sind die Sippen selbst zuständig, ebenso wie für die Bestrafung ihrer Mitglieder."

An dieser Stelle kommt ihm eine Idee, was der Grund sein könnte, wo das Missverständnis vorliegen könnte, weshalb Lîf dies alles nur so schwer begreift. "Schau, bei uns hier auf den Inseln gibt es keine Obrigkeit! Keine Herzöge oder Fürsten, die einem freien Mann Befehle erteilen könnten. Der Jarl ist nicht dasselbe wie ein Herzog bei euch. Er wird gewählt, damit er sich um alles kümmert, was zwischen den Sippen geregelt werden muss, vom Thinggericht bis zur Fahrtenplanung, und ja, die meisten von uns gehorchen wohl, wenn er uns einen Befehl erteilt, aber nur solange wir darauf vertrauen, dass er die Dinge zu unser aller Wohl richtet. Sonst wäre ganz schnell ein anderer von uns Jarl! Vor allem aber heißt dies, dass jede Sippe sich selbst befiehlt. Verstöße gegen Zucht, Ordnung, Anstand oder Ehre ahndet der Familienvater unter den Seinen oder, sollten Vettern[1] in Streit geraten, so trägt man die Sache vor das Sippenoberhaupt, welcher sie entscheidet und den Streit damit beilegt. Ansonsten hat sich da niemand einzumischen! Nur wenn das Mitglied einer Sippe Klage gegen eine Person aus einer zweiten erhebt, landet der Fall vor Gericht, denn das Thinggericht ist die einzige Instanz, die unsere Sippen als ihnen übergeordnet anerkennen, die einzige Instanz, die einen Mann von seiner Rachepflicht entbinden kann, mit der er jedes Unrecht, das seiner Sippe von einem Außenstehenden angetan wird, in gleicher Münze vergelten muss.

Siehst du, nicht nur das Gericht hast du mit deinem Ausbruch missachtet, sondern auch die Rechte aller am Streit beteiligten Sippen. Gunnlaug hast du ermahnt, als seiest du seine Mutter, wegen der Klage, die sein gutes Recht war; Eyvind aber indirekt zum Vorwurf gemacht, er schütze seine Tochter nicht ausreichend, weshalb du das dem Gericht überstellen wolltest; und Sven, ihm wolltest du auf gleiche Weise das Recht absprechen, selbst für die Strafe seines Sohnes zu sorgen; und beiden zusammen schließlich die Kompetenz absprechen, die Sache gütlich unter sich klären zu können. Denn Eyvind hat ja auf eine Klage verzichtet! Er und Sven werden wohl darüber gesprochen haben und zu einer Einigung gekommen sein. Und in das alles mischst du dich einfach hinein, blindlings.

Und ich weiß wohl auch, warum du es tatest. Weil du ein mitfühlendes Herz hast. Jedes Leid, das einen anderen trifft, rührt dich arg. Nur hilft es dem anderen auch nicht, wenn du dich darüber selbst ins Unglück stürzt! Also bitte lerne, dich zusammenzunehmen, und fordere nicht immer so unbedacht alles und jeden heraus! Du bist zornig über die Ungerechtigkeiten der Welt? Sie sind unvermeidbar. Auch kann man seine Mitmenschen nicht daran hindern, Fehler zu machen, sei es aus Dummheit, Missgunst oder Geilheit.

Die Antwort auf meine Frage lautet also: Die Gemeinschaft ist es, die das Gesetz zu schützen hat, nicht den Einzelnen. Für letzteres ist die Sippe zuständig. Und darin lag Helgas eigentlicher Fehler: dass sie sich, ob aus Dummheit oder in vollem Bewusstsein, in eine gewagte Situation begeben hat, in der weder Vater noch Gatte sie schützen konnten oder zu schützen bereit waren."


So flüchtet Tristan sich wohl in eine Rede, die seinem Gesetzesvortrag recht ähnlich ist, weil er sein Weib nicht anders zu handhaben weiß als eines der jungen Dinger, die er einmal jährlich auf diese Weise belehrt. (Oder vielleicht liegt es ja auch einfach daran, dass er in den letzten beiden Tagen von morgens bis abends so reden musste, dann mag man es ihm vielleicht eher nachsehen.) Aber erreichen seine Worte Lîf überhaupt? Lauscht sie ihm jetzt etwas aufmerksamer? Das wäre ihr zu wünschen, denn so allmählich nähert er sich doch einem Entschluss, der sich auf den Rest ihres Lebens auswirken wird.

"Ich will dich nicht schlagen", verkündet er diesen dann recht abrupt. "Egal wie oft mir der Rat dazu erteilt wird oder wie sehr man mich verhöhnt, nicht Manns genug dafür zu sein: ich will es nicht. Zum einen, weil ich dir ein Versprechen gab, gleich als wir uns trafen, nämlich dass dir von mir nichts drohe, du erinnerst dich? Zu seinem Wort aber hat ein Mann zu stehen und fällt es ihm noch so schwer. Das ist eine Frage der Ehre. Zweitens sehe ich's aber auch gar nicht ein. Was haben die sich darin einzumischen, wie ich mein Weib bändige? Warum sollte ich etwas tun, das mir zuwider wäre, von dem ich dazu gar nicht erwarte, dass es der Situation nützt, sondern im Gegenteil schadet. Jede Prügel, die ich als Junge im Kloster erhielt, hat mich nur bockiger gemacht, uneinsichtiger, und ich zweifle nicht daran, dass es bei dir ebenso wäre! Drittens will ich nicht glauben, dass du gar nicht durch vernünftige Worte zur Einsicht zu bringen seiest. Dann müsste es ja unser ganzes Leben so weitergehen: du blamierst mich, ich prügel dir Gehorsam ein, du blamierst mich erneut, sobald du wieder sitzen kannst. Nein danke, ich will wirklich nicht wie Olav[2] enden! Überhaupt, wie sähe das aus, wenn du einmal drudkvinde bist und der lögmadhur dich ständig... nein, das kann nicht rechtens sein! Ganz abgesehen davon würde es die Autorität untergraben, mit der du dich in deiner Position zu ummanteln hättest. Zu dumm, dass es bei uns überhaupt noch keine drudkvinde gegeben hat, die verheiratet war, sonst könnte ich diesen Fall zum Beispiel nehmen. Aber ja, auch ohne solchen Beleg wird jeder einsehen müssen, dass das nun wirklich nicht geht."

Tristans Miene hellt sich schlagartig auf. "Damit habe ich eine Antwort für jeden parat, der mir dreist damit kommt, ob ich mein ungehorsames Weib nicht doch mal übers Knie legen wolle wie jeder anständige Ehemann, auf dass sie alle endlich ihre Ruhe hätten!" Die Erleichterung breitet sich weiter über sein Gesicht aus, bis seine Augen strahlen und sein Mund versonnen lächelt.

"Viertens nämlich, und dies ist der wichtigste Grund, den aber nur du und ich kennen werden und allenfalls noch die alte Esja ahnt..." Hier erhebt Tristan sich und tritt vor Lîf hin, einen Geißbock vertreibend. Noch immer wird sie von allen fünfen umdrängt, immer dreister, immer... zudringlicher. Im Ernst, zweimal muss sie einen von ihnen mit beiden Händen abwehren, als der, Lîf offenbar mit einer Ziege verwechselnd, sie zu begatten versucht. (Was nun doch den vorigen Eindruck, die Tiere besäßen ein übernatürliches Feingefühl, ein Mitgefühl für Lîfs bedrängte Lage, als Einbildung entlarvt. Wenigstens ist Tristan so sehr auf seine Rede konzentriert, dass er den Tieren und ihrem absurden Bemühen gar keine Beachtung schenkt.)[3]

"Viertens nämlich", wiederholt Tristan, der sich endlich durchsetzen konnte und nun vor ihr steht, "habe ich dich so arg lieb, dass ich es im Herzen nicht verkraften könnte, dir auch nur das geringste Leid zuzufügen."
 1. Allgemeines Kürzel für "Sippenmitglieder, aber nicht aus der direkten Familie, sondern mindestens um eine Verwandheitsstufe entfernt".
 2. Bitte Olav nicht mit Ole verwechseln. Olav war der vorherige Skalde/Gesetzessprecher.
 3. Lîf ist ja nun die Art Druidin, die eine besondere Verbindung zum Pflanzenreich verspürt und nicht (so sehr) zum Tierreich, aber hier erkennen die Geißböcke wohl eine Verwandte in ihr, woran könnte das nur liegen... ? :-P
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 10.05.2018, 13:17:59
Die junge Frau nimmt[1] nicht wirklich wahr, wie Tristan auf ihre Erschütterung reagiert. Krampfhaft das Schluchzen unterdrückend, das ihr in die Kehle steigen will, wischt sie sich mit fahrigen Bewegungen über die Augen. Die Betäubung des verbalen Tiefschlags wirkt noch nach, als eine feuchte. raue Zunge über ihre Hand wischt, mit der sie halb unbewusst den beharrlichen Ziegenbock beiseite schieben wollte. In ihrer Verwirrung lässt sie die Böcke gewähren, die sich an sie drängen, befühlt automatisch ihre Schürze, ob sich da vielleicht eine Leckerei findet, die den Tieren schmecken könnte. Sie hat noch nicht verwunden, was ihr Tristan entgegengeschleudert hat, weiß nicht, was sie ihm sagen soll – da ist das nun wirklich zuviel, als dass sie noch sinnvoll reagieren könnte.

Während die Mäuler der eigensinnigen Böcke an ihren Kleidern zupfen und sie diverse leichte Schubser an den Hüften verpasst bekommt, hebt sie den Blick wieder. Ihr Gemahl tritt auf sie zu. Mit einem tiefen, zitternden Atemzug wischt sie sich nochmals mit dem Ärmel über die Augen, die in Tränen schwimmen. Noch immer ist ihr nicht klar, was sie antworten soll – was sie überhaupt antworten will – da fällt Tristan zurück in seinen erläuternden, belehrenden Ton. Ein gleichförmiger Singsang, geübt, routiniert, aber irgendwie... seltsam. Nicht passend. Als würde er... ja, als würde er eigentlich etwas anderes sagen wollen..? Weiß er denn auch nicht weiter, so wie sie? Sein junges Weib schnieft, versucht den Sinn seiner Rede zu begreifen, doch es ist hauptsächlich sein Tonfall, der sie erreicht und ein wenig ruhiger werden lässt. Er liebt sie also nicht – aber sie scheint ihm auch nicht gleichgültig. Jetzt meint sie zu verstehen: Er mag nicht viel für sie empfinden, doch beschützen will er sie trotzdem. Das muss es sein!

Diese vermeintliche Erkenntnis macht es ihr mit einem Schlag sehr viel schwerer, böse auf ihn zu sein, das Feuer der Empörung weiter zu nähren. Er hat sie wie ein unmündiges Kind vom Thingplatz geschleppt und ihren Stolz verletzt, doch offenbar aus lauteren Motiven heraus. Ja, als er gar zu erklären beginnt, dass er auf das Recht verzichten will, sie zu züchtigen, um ihres Ansehens und ihrer Autorität willen, weiß sie ganz und gar nicht mehr, was sie erwidern soll. Ein Mann mit so aufrechter Gesinnung, einer, der sie so achtet... nun wünscht sie sich umso sehnlicher, dass er sie auch liebte, und sei es nur ein kleines bisschen! Wie viele Weiber haben das Glück, an einen zu geraten, der sie nicht bei der erstbesten Gelegenheit mit dem Riemen traktiert, wenn sie ihm nicht folgen? Schniefend noch und gelegentlich hustend, weil sie sich an ihren Schluchzern verschluckt, hört sie seine Worte und fühlt sich selbst kleiner und kleiner werden. So sehr hat sie ihm Unrecht getan, so falsch ihn eingeschätzt..? Ihr Weltbild vom Weibe, das jede Regung in der Brust eines anderen mit angeborener Intuition erspürt, erhält einen leichten Knacks, ebenso wie das vom Manne, der stets seinen Willen durchzusetzen weiß, ob er nun recht hat oder nicht.

"Du willst mir die Strafe erlassen?" flüstert sie tief beschämt und senkt den Blick. "Obwohl es dein Recht wäre..." ...und obwohl ich es, die Göttin weiß es, wohl verdient hätte denkt sie, was auszusprechen ihr der Stolz denn doch verbietet. Sie kann nicht verstehen, warum er wieder lächelt, obwohl sie ihn doch gerade vor allen blamiert hat, wie er ihr wortreich erklärte. Betreten spielt sie an ihren langen Flechten, während sich Tristan durch die Ziegenböcke zu ihr drängt. Was ihn einige Kraft kostet, denn vor allem eines von den Tieren scheint ganz und gar nicht damit einverstanden, dass da ein Rivale an seiner Stelle versucht, die vermeintliche Geiß zu bespringen[2]. Nach einem letzten kräftigen Knuff des beleidigten Tiers in seinen Allerwertesten, begleitet von einem vorwurfsvollen Meckern, steht er vor ihr, sie sehen sich in die Augen, und seine letzten Worte stoßen sie vollends in Verwirrung. Lieb... er hat sie... lieb... Lîfs Lippen zittern, als sie die Tränen endgültig zurückdrängt. Sie weicht seinem Blick nicht aus, obwohl es ihr schwerfällt. Leise sagt sie nur ein einziges Wort: "Verzeih..."
 1. ...Mit einem Motiv erkennen von mageren 5 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1046752#msg1046752)...
 2. Ja, die Verwechslung scheint nicht nur Lîf, sondern auch Tristan zu betreffen – der Geißbock weiß, warum :-P
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 11.05.2018, 19:54:58
"Verzeih, ach, natürlich verzeih ich dir, Lîf, aber damit allein ist unser Problem ja noch nicht gelöst. Wie oft hast du mir schon versprechen, es werde nicht wieder passieren, und dann kommt's noch schlimmer. Dabei zweifel ich nicht einmal an deinem guten Willen. Ach, ich weiß auch nicht, was man da machen kann."

So bemüht Tristan sich wohl, streng zu klingen, aber die Ratlosigkeit überwiegt. Zögernd streckt er eine Hand nach Lîf aus und streicht ihr über das Haar. Doch falls sie sich daraufhin erhofft, er werde sie in den Arm nehmen, wird sie enttäuscht; er bleibt auf Armlänge.

"Esja hatte wohl recht, als sie sagte, es werde nicht leicht für mich werden, mit einer Dienerin Gajas verheiratet zu sein. Bald kühles Wasser, bald sengendes Feuer, bald sanfte Liebe, bald verzehrender Zorn! Grenzen solle ich dir zeigen, wenn Du über die Stränge schlägst, aber dir die Freiheit lassen! Mit harter Hand dich zurückhalten, wenn du dich vor lauter Leidenschaft in etwas vergaloppierst, aber Verständnis zeigen, wann immer du Verständnis brauchst. Halt müsse ich dir geben, dir stets eine Schulter zum Anlehnen sein. Ha, ihr verlangt nicht viel, ihr Weiber, wie?" Ein tiefer Seufzer entspringt seiner Brust.

"Ach, aber wenn mir das alles gelänge, dann würde die Große Mutter schon dafür sorgen, dass wir miteinander glücklich würden, so gewiss wie sie es war, die uns zusammenführte, das habe sie, Esja, im Gespür!" Sein halb verzweifeltes, halb lachendes Schnauben zeigt, was er von derlei Gerede—und kommt es auch aus dem Mund einer Greisin, die in allgemein als weise gilt—hält: so reden's halt, die Weiber! Doch gleich darauf sagt er plötzlich in ernstem Ton: "Ich habe geträumt von Dir, heute Nacht."

Auch Lîf hatte von ihm geträumt. In ihrem Traum waren sie übereinander hergefallen unter den Fellen, hatten sich völlig vergessen, hatten überhaupt alles vergessen: all den Streit, den Zorn, die Tränen, und eifrig geopfert zu Gajas Ehren... (In der Realität dagegen hat Tristan sein Weib, als es gar zu arg anschmiegsam wurde, sanft aber bestimmt abwehren müssen mit dem Hinweis, bis zum Diseblót sei Enthaltsamkeit Pflicht, wolle man nicht von der Feier ausgeschlossen werden. "Nur diese Nacht noch und die nächste", hatte er tröstend in ihr Ohr gewispert.)

"Von dir und den seltsamen Lichtwesen, wie sie in den Zweigen der alten Ulme tanzen. Eine Melodie haben sie gesummt, die war mir heute morgen noch im Ohr, als ich aufwachte, und ein Text fiel mir dazu ein... warte, ob ich mich an beides noch erinnern kann... verflixt, aufschreiben hätte ich's sollen, aber natürlich war dazu keine Zeit, heut' morgen..."

Er überlegt noch kurz, dann beginnt er zu singen. Heiser ist seine Stimme vom vielen Reden, aber trotzdem noch wunderschön. Und auch wenn das Federvieh, in weltfremder Selbstüberschätzung, meint in den Gesang miteinstimmen zu müssen, ist dieser trotz all des Gackerns und Schnatterns immer noch ergreifender als alles, was Lîf bisher von anderen Sängern gehört hat. Daran kann nicht einmal Tristans Schimpfen nach der ersten Strophe etwas ändern: "Nein, nein, so ging die Melodie nicht, viel leichter, schwebender, wie eine Traumwanderung... Fast ebenso schön wie das Lied, das meine Mutter mir immer sang. Ach, wieso erinner ich mich nicht recht!"[1] Nein, das lässt Lîf nur noch gespannter auf die Fortsetzung warten, die Antwort der Ulme auf die Erklärung ihres Efeus:

"Schlaf du! Dich soll indes mein Arm umwinden.
Ihr Geister, weg! Nach allen Seiten fort! –
So lind umflicht mit süßen Blütenranken
Das Geißblatt seine Heckenkirsche
So eng umfasst mit zärtlichem Verlangen
Der Efeu seiner Ulme ranken Glieder:
Wie ich dich liebe! Ach, wie sehr begehr!"[2]

"Oh, stürmischer Efeu! Kein and'res Blatt als du
Denkt schon beim Wachsen an den Kranz,
Der die Brautleute krönt zum Zeichen der Treue.
Kühn springst du voraus, mir zu Gefallen,
Und kletterst in höchste Höhen, auf dass
Ich kletternd dir folge dem Licht entgegen
Und niemals Halt verlöre, so stark ist dein Arm.
Auf Gräbern machst du dich so gut
Wie um die Lenden gegürtet nach Satyrart.
Und hübsch bist du auch, das ist keine Schande
Gewunden um meinen Leib."
[3]

So glücklich er beim Singen wirkte, so bedrückt ist seine Miene, kaum dass er geendet hat. "Es war so schön gestern abend", murmelt er. "Alles schien plötzlich ganz leicht. Und heute...?"

Ratlos steht er da.
 1. Leider nur eine 10 gewürfelt, daher perform (sing) = 21 (http://games.dnd-gate.de/index.php?topic=8984.msg1046807#msg1046807) und somit für Tristan selbst ein enttäuschend durchschnittlicher Gesang.
 2. Frei nach Shakespeare (Titania in Sommernachtstraum) - Wenn ich hier das Gedicht aus dem Magiefaden aufwärmen darf...
 3. Sehr frei nach Elizabeth Barrett Browning
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 14.05.2018, 19:45:24
Lîf schweigt auf Tristans Erwiderung, denn was sollte sie auf seine Vorhaltungen antworten? Es ist ja, wie er sagt: Versuchen tut sie es wohl, seit sie sich für ihn entschieden hat. Nur gelingen will es ihr nicht immer, den Zorn im Zaum zu halten. Sie macht keine Anstalten, sich ihm ihrerseits zu nähern, als er die Hand hebt, um ihr Haar zu streicheln. Stattdessen fasst sie nur nach der Hand und legt ihre darauf. "Ich weiß wohl, dass es schwer für dich sein muss" gesteht sie irgendwann ein. "Doch das ist es auch für mich, glaube mir! Ich will nichts weniger, als dich ärgern oder dir Schande machen. Ich bemüh' mich ehrlich" seufzt sie und lässt den Kopf hängen. "Es ist manchmal stärker als ich... Ich rede oder handle, ehe ich recht weiß, wie mir geschieht." Vorsichtig streicht sie über seine Hand. "Dennoch weiß ich, dass Esja recht hat. Ich spüre das: Sie ist sehr weise, weiser als wir ahnen können, Tristan!" Ausnahmsweise reagiert sie nicht gereizt auf seinen Weiber-eben-Blick, sondern sucht nach Worten, um sich ihm zu erklären.

Da erwähnt er seinen Traum, und sie stellt fest: "Du also auch... Da siehst du: Die Große Mutter hat uns füreinander bestimmt. Es gibt ein Band zwischen uns." Nein, überrascht scheint sie von seiner Eröffnung nicht – eher erleichtert darüber. Auch zweifelt sie keinen Atemzug an seinen Worten, sondern drängt im Gegenteil: "Besinn dich, Liebster! Ganz gewiss hat die Große Mutter dir die Worte eingehaucht!" Sie nimmt seine Hand in beide Hände, drückt sie an ihre Brust und wartet atemlos. Dann schließt sie die Augen, horcht auf seine Stimme, die honigsüß wie immer den Ohren schmeichelt[1]. Die Melodie summt sie leise nach, während die langen Wimpern zittern, so heftig spielen ihre Augenlider, als träume sie intensiv.

Die Worte des Skalden selbst sind voller Anspielungen und tiefer Bedeutung. Nicht nur auf sie beide und ihre gemeinsame Zeit bezogen, nein, auch die Ulme hat ihre Bedeutung, wie der treue Efeu und das Geißblatt, Sinnbild enger, unverwüstlicher Bindung. Wie die Ranken der einen Pflanze der anderen zur Sonne folgen, so sind auch zwei eng verbundene Menschen aufeinander angewiesen auf ihrem Weg durchs Leben. "Ja, es war schön" sagt sie leise, nachdem er geendet hat. Dann öffnet sie die Augen und sieht ihn an. "Die Worte haben eine tiefere Bedeutung – sie stammen von dir, aber die Göttin selbst hat sie dir in den Mund gelegt."

Damit sinnt sie nach, ihre langen Haare durch die Hände gleiten lassend. "Vielleicht" meint sie schließlich, "heißt es dies: Wie die Heckenkirsche dem Geißblatt festen Grund gewährt, wenn es an ihr empor rankt, so erstarkt dieses im Lauf der Zeit und kann ihr seinerseits halt geben. Wir müssen einander beistehen, weil keiner von uns allein immer stark sein kann. Wenn der eine strauchelt, muss der andere helfen." Ein Glanz ist in ihre Augen getreten, und ihrer Stimme ist unschwer anzuhören: Mit jedem Wort steigt ihre Überzeugung, dass sie das rechte getroffen habe.
 1. 10 ist immerhin ein durchschnittlicher Wurf, also eben "wie immer", und Durchschnitt ist bei Tristans Bonus schon verflixt viel...
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 25.05.2018, 14:32:54
Ein wenig mulmelig wird Tristan zumute, je entschieder sein junges Weib die Meinung vertritt, die Göttin selbst müsse sie ihrem Gatten zugeführt haben. So eifernd, wie sie zuvor darauf bestand, so willig sie sich ihm auch hingab, er sei ein Räuber und ein Dieb, der sie entführt und gegen ihren Willen zu der Seinen gemacht habe, so begierig will sie nun verstanden haben, dass die Große Mutter sie zusammengeführt habe. Welch Szene hat sie ihm noch vor zwei Wochen gemacht, als er dem Schicksal zu danken wagte, das sie in seine Arme führte? Und das wollte er ja auch gerne glauben: dass da irgendwelche verborgene Kräfte am Werke waren, die die Geschicke der Menschen mal recht, mal schlecht lenkten, nur dachte er dabei eher an Geister, ob Ahnen, Rastlose oder Vergessene, oder an Feenwesen, die sich ebenso leicht unbemerkt unter die Sterblichen mischen konnten, in Tier- oder Pflanzengestalt, und die ihre eigenen, wunderlichen Ziele verfolgten. Vielleicht gar irgendwelche namlosen, nicht fassbaren Kräfte, die hier etwas Gutes, dort etwas Böses bewirkten, damit die Welt im Gleichgewicht bleibt und nicht aus den Fugen gerät. Aber gleich anzunehmen, die Göttin habe sich eingemischt, habe ein Interesse an ihnen! Wunschdenken einer jungen Frau, deren Stolz sie keine andere Erklärung finden lassen will, warum sie ihrem Entführer so zugetan ist—oder so will er hoffen! Denn wenn sie recht hat... "Wen der Eine auserwählt hat, der...", so beginnen zahlreiche Sprüche der Pfaffen, und die Konsequenzen daraus führen im besten Fall zu einem frühen Tod, öfters jedoch zu einem langen Martyrium. Dann doch lieber Geisterspuk oder Schabernack der Feen!

"Und dabei wollte ich doch einfach nur ein hübsches, tüchtiges Weib haben, um Heim und Leben mit ihr zu teilen, auf dass sie die einsame Stille aus beidem vertreibe", versucht er zu scherzen, denn widersprechen will er Lîf nicht. Dazu ist er zu froh, dass sie sich ihm endlich mit ganzem Herzen zuwendet. Wenn sie dafür diese Erklärung benötigt, so würde er sich hüten, sie ihr auszureden. Nur eine Sache kann er schwerlich auf sich sitzen lassen.

"Die Worte hat mir niemand eingehaucht", stellt er klar. "Oder wenn, dann die Dinge selbst. Die alte Ulme, die Lichtgeister mit ihrem Tanz, du... Sie alle sind wie Klänge in meinem Ohr, haben ihren eigenen Akkord, ihr eigenes Thema, oder sogar eine ganze Melodie." Und die ihre ist so schön und so rein, dass er, wenn er nicht achtgibt, sich ganz darin verliert.

"Oder hast du geglaubt, meine Seele sei mit trockenen Gesetzesvorträgen gefüllt? Dass mein ganzes Sinnen im Streit schlichten läge? Das ist nur die Aufgabe, welche die Gemeinschaft von mir verlangt, womit ich mir Stand und Anerkennung verdiene und zurückgebe, so gut ich kann, für alles, was ich den Leuten hier zu verdanken habe. Denn schau, niemand kann jederzeit der sein, der er gern wäre! Jeder muss sich nützlich machen, muss seine Kraft und sein Können zum Wohl der Gemeinschaft einbringen, sonst ist hier auf den Inseln kein Überleben möglich. Wieviel lieber wäre ich einfach nur Sänger! Würde den ganzen Tag den Melodien um mich herum lauschen und die schönsten darunter auf der Flöte nachspielen oder, mit Text versehen, auf Pergament festhalten. Aber Lieder werden auf Jarlsö selten gebraucht. So muss ich mich damit bescheiden, an den Festen ein wohlwollendes Publikum zu finden. Aber diese schönen Momente gäbe es gar nicht ohne das andere, ohne die Pflichterfüllung als Gesetzessprecher. Das rufe ich mir immer in Erinnerung, wenn letzteres mir mal wieder beschwerlich wird.

Vielleicht denkst du, wenn du dich das nächste Mal erhitzen willst, also lieber nicht an mich und die Schande, die du mir damit machst, sondern nur an dich: wie sehr es dich erfüllt, Heilerin zu sein, wie viel du noch von Esja zu lernen hast, wie stolz und glücklich es dich macht, von ihr als Schülerin erwählt worden zu sein, wie sehr du es dir wünschst, ihr eines Tages als drudkvinde nachzufolgen. Und dann benehme dich entsprechend! Wie eine zukünftige Weise Frau. Dazu wird Esja dir mehr raten können als ich, obwohl ich mir vorstellen könnte, dass ihre erste Ermahnung sein wird: auch eine Weise Frau wartet lieber, bis sie um Rat gebeten wird, bevor sie einen solchen gibt! Denn in meinen achtzehn Jahren hier habe ich es erst zweimal erlebt, dass Esja unaufgefordert einen gab! Ein zweiter Punkt gilt für die drudkvinde gleichermaßen wie den Gesetzessprecher: wir müssen neutral bleiben. Jeder Mann und jedes Weib auf Jarlsö muss das Gefühl haben, mit seinen Sorgen und Fragen zu uns kommen zu können, ernst genommen zu werden, und ehrlichen, unvoreingenommenen Rat zu erhalten. Dazu ist es nötig, dass wir uns aus den ganzen Alltagsstreitigkeiten, den kleinen Fehden, heraushalten. Würde Eirik Svensson morgen verletzt, müsste er da fürchten, dass du dich nicht mit derselben Sorgfalt um ihn kümmerst wie um einen anderen? Ich weiß, dass dies nicht so wäre, aber er könnte daran zweifeln oder auch sein Vater. Und stelle dir gar die Folgen vor, wenn er in deiner Obhut stürbe! Deshalb ist wichtig: wir mischen uns in nichts ein, hörst du? Sonst können wir beide unsere Arbeit nicht richtig tun.

Bedenke außerdem: als Weib des Gesetzessprechers wird dir fast jeder Streit, der auf den Inseln geschieht, zu Ohren kommen. Willst du da jedes Mal Partei ergreifen? Meinst du nicht, dass dich das ganz schnell ermüden würde? Vor allem aber: willst du wirklich jedes Mal, wenn irgendwer sich mit irgendwem streitet, dass wir beide darüber auch in Zank geraten?

Als drudkvinde und als Gesetzessprecher muss man ein wenig außerhalb der Gemeinschaft stehen, um ihr zu dienen. So ist das nun einmal. Du wirst dich schon daran gewöhnen. Wir haben ja einander. Daheim darfst du immer sein, wer du sein willst. Und ich darf dir von Melodien erzählen, die mir Feen oder Geister oder die Dinge selbst ins Ohr summen, ohne Hohngelächter oder Schlimmeres befürchten zu müssen."


Jetzt endlich tritt er doch heran und zieht Lîfs Kopf an seine Schulter. Sein Atemhauch streift ihr Haar.

"Und ich will dir auch etwas versprechen", sagt er leise. "Dass ich mich nicht mehr so arg darum kümmern will, was die anderen über uns sagen. Die Sache mit der Robbe etwa, oder das vor zwei Wochen im Methaus, was ist das schon? Sollen sie doch reden! Sollen sie doch lästern, die Liebe hätte einen Narren aus mir gemacht, ich hinge an deinem Schürzenzipfel, du hättest die Hosen an! Zu viele Jahre lang war ich es gewohnt, in allem allein vor mich hinzuwurschteln und mich nach niemandem richten zu müssen. Das ändert sich nun einmal, wenn man sich ein Weib nimmt. Ich werde mich also damit abfinden müssen, nicht mehr ganz allein für meinen Ruf verantwortlich zu sein, nicht mehr die alleinige Kontrolle darüber zu haben. Ich wollte ein Weib wie dich, das beherzt und entschlossen ist und sich zu wehren weiß, und bei Gaja, ein solches habe ich bekommen, also darf ich mich nun nicht beschweren. Nur was ich zuvor gesagt habe, über Neutralität und dem Dienst an der Gemeinschaft, das musst du dir zu Herzen nehmen, darauf musst du achten! Aber all die anderen Kleinigkeiten, mit denen du uns ins Gerede bringen könntest—sei's drum! Wenn du dir deswegen Sorgen machen wolltest, kämest du ja aus den Sorgen nicht heraus, also lass es!"

Und dann küsst er sie.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 29.05.2018, 09:50:17
Wie es so ihre Art ist, sich in diesem Moment der einen Meinung zuzuneigen, im nächsten impulsiv einer anderen, stets aber ohne Zögern, Zagen oder Vorsicht, steigert sich Lîf in ihre neue Überzeugung hinein. Sie legt die Hände in einer gebetsähnlichen Geste gekreuzt auf die Brust, schaut zu Boden – zum Schoß der Großen Mutter also, zu dem die Gayagläubigen beten – und strahlt, während sie stumm der Herrin für Ihre Gnade dankt und ihr im vollsten Glauben Gehorsam gelobt. Es fällt ihr in diesem Fall ja auch nicht sonderlich schwer, fühlt sie sich doch sehr zu Tristan hingezogen. Nicht nur, weil er ein Bild von einem Kerl ist und seine goldene Stimme einem Weib wohl durch Mark und Bein geht. Das junge Weib ist nun einmal immer und ewig auf der Suche nach "der" Wahrheit, und wo sie den Willen der Göttin vermutet, kann ja nichts anderes sein als eben diese. Hat also Sie bestimmt, dass Lîf gegen ihren Willen entführt werde, weil sie erst später in der Lage wäre, ihre Liebe zu Tristan zu entdecken, so will ihr das nun ganz logisch erscheinen. Von göttlichem Willen zu ihrem Glück gezwungen worden zu sein, das kann ihr Stolz durchaus verwinden, ja, es schmeichelt ihm eher noch!

Da sie in ihrer Euphorie gefangen ist, geht sie auch auf den Scherz des Barden ein, ohne seine Sorge dahinter zu erkennen. "Bin ich denn nicht hübsch? Oder kein tüchtiges Weib? Koche ich nicht gut für dich, nähe deine Kleider nicht ordentlich, halte dein Heim nicht sauber?" neckt sie ihn. Und dass sie die Stille aus seinem Heim verbannt hat, wird ihnen wohl jeder aus dem Dorf betätigen... Sogar als er ihr denn doch noch widerspricht, wird sie nicht zornig, wie sonst, wenn jemand auch nur das Geringste gegen ihre frommen Überzeugungen zu sagen wagt. "Ach, du Mann mit der Zunge einer Nachtigall..!" lacht sie. "Bin ich also auch eine Melodie für dich? Sing mir mein Lied, Liebster, ich möchte es hören!" Oh ja, die Vorstellung ist schön, als er weiter spricht: Wäre er einfach nur Sänger und sie einfach nur eine Magd der Göttin, der Heilkunst ergeben und sonst nichts... sie würden gemeinsam in einem kleinen Häuschen leben, umgeben von den Kindern, die Lîf ihm gebären würde, sich des Lebens freuen und die Göttin loben... zu den Festen würden sie sich gemeinsam an eine reich gedeckte Tafel setzen, Tristan würde singen, die Haare Lîfs und der Töchter wären mit Blumenkränzen geschmückt, die Söhne, ein jeder so hübsch wie der Vater...

Dem stehen natürlich ihre Pflichten gegenüber, die seinen als Skalde und die ihren als künftige drudkvinde. Ohne dass ihre Fröhlichkeit sie ganz verlässt, seufzt sie daher leise und nickt. "Du hast ja recht, Mann" gibt sie zu und zwinkert, halb zerknirscht, aber halb auch noch immer das verträumte, neckende junge Mädchen, das alles nicht recht ernst zu nehmen vermag. "Es fällt mir schwer, denn Gaya hat den Weibern nun einmal mitfühlende Herzen gegeben, ohne die sie weder gute Mütter, noch gute Eheweiber sein könnten." Dann sieht sie zu ihm auf. "Zuhause darf ich's?" fragt sie, und eine leichte Röte ergießt sich über ihr Gesicht. Dann lässt sie sich willig in seine Arme ziehen und murmelt leise: "Ja, das darfst du, so oft du nur willst!" So steht sie eine ganze Weile dicht an Tristan gedrängt, die Hände flach auf seine Brust gelegt, die Wange daran geschmiegt, und lächelt selig vor sich hin. "Lass sie nur reden" stimmt sie zu, ohne die Augen zu öffnen. "Hat die Liebe einen Narren aus dir gemacht, dann liebe ich dich doch, du wundervoller Narr!"

Ihre Hand streichelt über seine Brust, öffnet sein Hemd leicht, so dass sie die nackte Haut mit den Lippen berühren kann. Sanft haucht sie einen Kuss darauf. Der Mann, den sie liebt, ist zu allem Glück auch noch ein Mann, der ihr die Freiheiten lassen will, die sie braucht, statt sie ihr austreiben zu wollen: Lîf schwebt vor Seligkeit in anderen Sphären. Verschmitzt lächelt der Rotschopf zu ihm hoch. "Die Hosen sind natürlich dein - wenn ich sie mir unter uns gelegentlich leihen darf." Niemand soll sagen können, ihr Mann hänge an ihrem Rockzipfel! Sie müsste sich ja schämen... Den Kuss Tristans erwidert sie leidenschaftlich. Dabei stellt sie sich auf die Zehenspitzen und schlingt ihre Arme fest um ihn. Von irgendwo fährt ein leiser Windhauch in den Stall. Er löst Lîfs Kopftuch, das langsam zu Boden segelt, während ihre hüftlangen Locken die beiden umspielen wie ein flammend roter Schleier.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 04.06.2018, 15:33:49
"Eine Melodie, ja, aber so ganz erfasst habe ich sie noch nicht", gesteht Tristan. "Sie ist ja auch sehr wechselhaft! Mal braust und stürmt sie, dass es dem tapfersten Seemann bange wird, mal summt und säuselt sie voller Zärtlichkeit, mal hüpft sie sorglos heiter kreuz und quer, mal strömt sie gewaltvoll ihrem Ziel entgegen, und allzu oft weiß sie gar nicht, was sie will, dann geraten ihre Klänge vollends durcheinander. Nein, also tut mir leid, wie soll man eine solche Weise wiedergeben können? Vielleicht, wenn ich ihr noch ein paar Jährchen lausche oder sie sich ein wenig beruhigt...?

Ein Narr, ich? Hm, heißt es nicht, von allen Menschen seien sie die glücklichsten? Dann muss ich wohl einer sein, denn ich wüsste nicht, wie noch mehr Glück, als mir da gerade auf dem Herzen drückt, zu ertragen wäre!

Die Hosen, nein, die geb' ich nicht her, nicht einmal daheim. Glaubst du, das würde nicht gleich die Runde machen? Dass unsere Mägde nicht tratschen mit denen von anderen Höfen? Kindgleiche Unschuld!

Jetzt haben wir nur ein Problem, weißt du?"
erklärte er zwischen zwei Küssen. "So glückstrahlend, wie du nun dreinblickst—so können wir uns im Langhaus nicht sehen lassen! Was sollen die Leute denn von uns denken? Könnte eine Strafpredigt, wie du sie für deinen Auftritt verdient hättest, eine Prügel gar, ein Weib derart leuchten lassen? Du, das ist ein echtes Problem", schließt er, plötzlich ernst, obwohl der Rest seiner Rede im Scherz gesprochen war.

"Glaubst du, du könntest etwas niedergeschlagener gucken? Verdrossen vielleicht? Nein, ich sehe, das klappt nicht. Vielleicht wäre es das beste... sei mir nicht böse, wenn ich's vorschlage... du nächtigst heute hier in der Heilerhütte? Dann hätte Esja dich auch gleich zur Hand. Die Feier beginnt morgen ganz arg in der Frühe, noch lange vor Sonnenaufgang, und bestimmt wird Esja dich an ihrer Seite haben wollen, so wie Unn und Aud ihre Schülerinnen? Das würde auch die Sache mit der Enthaltsamkeit—nur noch diese Nacht, Gaja sei Dank!—sehr erleichtern!"

Zumindest im letzten Punkt wird Lîf ihm recht geben müssen, da genügt ein Blick auf ihre aktuelle Lage: mit dem Rücken im Stroh liegt sie, die Beine gespreizt, der Rock bis zur Hüfte hochgeschoben, es fühlt der Gatte mit der Rechten vor, während seine Linke durch den Stoff ihrer Schürze—wo ist denn ihr warmer Überwurf hin?—ihre Brüste knetet; den Gürtel hat er ja vorher schon gelöst, nichts hält mehr die Hose, zwei Handgriffe fehlen bloß, jetzt noch einer, dann war's das mit der Enthaltsamkeit, dann wären er und sie ausgeschlossen von dem Fest, das morgen in der Früh beginnt und bis zum Morgen des nächsten Tages andauern soll... bei dem Lîf auch Esjas früherem Liebhaber begegnen würde, wenn sie nur auf deren Frage vorträte, wer unter den Anwesenden wünsche sich mit besonderer Sehnsucht ein Kind mit seinem Weib oder Gatten...
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 08.06.2018, 16:25:35
Natürlich geht Tristan auf die Sache mit der Melodie ein. Und wie es Lîf kaum anders erwartet hat, entwickelt er eine poetische Ader bei der Beschreibung seines Weibes, die man bei den übrigen rauen Nordmännern umsonst suchen würde. Sie lächelt unbewusst, während sie so seinen Schilderungen lauscht – welches Weib würde sich auch nicht geschmeichelt fühlen bei solchen Worten, die sie treffend zwar mit all ihren Fehlern, aber doch nicht verletzend, sondern eher liebevoll beschreiben? "Also gut, die Hosen sollen immer bei dir bleiben. Die Mägde sollen nichts schändliches zu berichten haben" gibt sie sich zwischen seinen Küssen und Liebkosungen geschlagen, während ihre Hände wie eigenständige Lebewesen über seine Schultern zu streicheln beginnen, in seinem Haar wühlen, die Linien seiner Gesichtszüge nachfahren. "Die Narren sind die glücklichsten? Dann machst du mich ebenso zur Närrin" flüstert sie zärtlich.

Als er von einem Problem spricht, erreicht er sie erst gar nicht, so gefangen ist sie in der Zuneigung zu ihm, die nach dem Streit mit doppelter Macht in ihr aufwallt. Und auch nachdem sie seine Worte begriffen hat, lächelt sie zunächst nur munter. "Wie könnte ich jetzt weinen oder grollen, du mein lieber Narr" kichert sie und fährt fort, ihn mit Liebkosungen zu überschütten, so heftig, wie sie zuvor ihren Zorn zeigte. Doch es ist ihm offenkundig ernst, und sie seufzt bedauernd: "Tut mir leid, Liebster: Hättest du mich übers Knie gelegt, wäre das wohl so, aber das hast du nicht... und du weißt, ich bin keine gute Schauspielerin. Willst du also deinen Gürtel nicht doch noch gebrauchen, kann ich dir den Wunsch leider nicht erfüllen." Ihr unbeschwertes Schmunzeln zeigt, dass sie dieses "Wenn" nicht ernsthaft in Betracht zieht. Wieder seufzt sie, als er ihr den Vorschlag macht, heut Nacht allein zu bleiben. "Oh Göttin..! Na, wenn es sein muss. Es muss wohl, nicht wahr?"

Es ist nicht schwer herauszuhören, dass es ihr anders lieber wäre. Hat sie doch auch keinerlei Anstalten gemacht, sich gegen ihn zu sträuben, als er sie so in das Heu warf – obgleich der Ausdruck in seiner vollen Bedeutung hier nicht zutrifft. Noch jedenfalls. Ja, ihre Hände halten das Kleid in seiner hochgestreiften Position, ihre Beine haben sich leicht um seinen Leib geschlungen, kreuzen sich in seinem Rücken, und ihre Augen ruhen mit Wohlgefallen auf seiner bereits geöffneten Hose. Lîf atmet tief ein, als ihr das Fest wieder einfällt. Tristans Nähe ist verlockend, ach, mehr als das..! Und doch... "Liebster," flüstert sie, sich mühsam die Worte abringend, "das Fest morgen... der Segen der Göttin für unser Kind..." Oh ja, es fällt ihr sehr, sehr schwer, dem lodernden Feuer in sich zu widerstehen und ihn auch daran zu erinnern! Doch wünscht sie sich ja nicht nur die Vereinigung mit ihm, ein zeitweiliges Glück, sondern auch ein Kind, viele Kinder, gesunde, schöne Kinder – Gayas Geschenk an Tristan und sie, in ihrem Leib. Die Göttin zu erzürnen, indem sie Ihr vor der Zeit opfern: Hieße das nicht, eben jenen Traum gefährden?
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 09.06.2018, 17:24:25
"Ach was! Jetzt plötzlich fällt dir ein, wie fromm du bist!" schnauft Tristan empört. "Aber zuerst den armen Gatten locken und drängen!"

Seine Empörung versteht Lîf durchaus, doch seine Äußerung verrät einen befremdlichen Gedankengang: offenbar sieht ihr Gatte einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Frömmigkeit und Enthaltsamkeit. Da dies so gar nicht zu den Lehren der Großen Mutter passt, die vielmehr das Gegenteil besagen, muss ihm diese seltsame Vorstellung wohl in seiner Klosterzeit eingegeben worden sein.

Mit heldenhafter Anstrengung rollt er zur Seite und blickt mit einiger Reue, wie ihr scheint, himmelwärts. (In dieser Richtung wähnen Anhänger des Einen ihren Herrn, denn von dort aus sandte er den Propheten, sie anzuführen im Kampf gegen das Böse, von dort aus blickt sein wachendes Auge auf sie herab, dem kein Fehltritt entgeht.) Oder vielleicht schaut Tristan ja auch nur zur Stalldecke hoch. Jedenfalls liegt er da mit starrem Blick und rührt sich nicht.

"Du hast ja recht", sieht er irgendwann ein. "Und den Spott, der darauf folgen würde, will ich mir gar nicht ausmalen! Ich weiß, was ich dir gerade erst versprach—nicht kümmern will ich mich mehr so arg darum, was die anderen sagen—aber gar so schnell und so heftig muss ich diesen Entschluss ja nun nicht auf die Probe stellen! Und es wäre wirklich schade, wenn du das Fest verpasst. Es ist, die eigene Hochzeit vielleicht ausgenommen, von allen das schönste."

Er schließt die Augen. "Unser Kind..." murmelt er zwischen tiefen Atemzügen. "Und glücklich bist du auch... grollst mir nicht mehr... mein bist du... mit Haut und Haar... nein, mit Leib und Seele... mein!"

Eine ganze Weile liegt er noch da, still jetzt, bis er sich endlich einen Ruck gibt. Aufstehen, die Kleidung wieder herrichten, den Gürtel auch und alles, was daran gehört, Beutel, Horn und Sax, worauf eine kurze Panik folgt, als seine Flöte, die er normalerweise an einem Band um den Hals trägt, verschwunden scheint, sich aber nach gemeinsamer Suche im Heu vergraben wiederfindet—und nichts steht ihrer Trennung mehr im Wege.

"Ich bringe dich noch 'rüber", versichert er ihr rasch (und sich!) zum Trost. "Es ist wirklich besser so und außerdem bloß für eine Nacht!"

Warum zögert er dann auf der Schwelle? Und wieder auf halbem Weg? Warum hält seine Hand, zum Klopfen bereits erhoben, zaudernd inne? Warum muss erst Esjas Stimme: "Kommt herein!" ihn aus der Starre lösen und gehorchen lassen? Und warum verabschiedet er sich so überhastet, haucht seinem Weib gerade einmal einen flüchtigen Kuss aufs Haar, bevor er sich wieder aus der Hütte duckt, als ertrage er diese Qual nicht einen Augenblick länger?

Esja blickt von Lîf zum flüchtenden Tristan und wieder zu Lîf. Dann seufzt sie und schüttelt den Kopf.

"Der arme Junge. Dir den Kopf zurechtsetzen? Keine Chance hat er und weiß es auch. Armer, armer Tristan!"

Doch eine weitere Schelte scheint sie nicht zu planen, jedenfalls nicht mehr an diesem Abend. Ihr einladender Fingerzeig weist Lîf eine freie Bettbank zu. Aud und Unn liegen bereits unter den Fellen, zu ihren Füßen Isgerd und Ragnhild. Im kleinen Nebenraum schnarcht der verletzte Thorstein und auch die drei Mägde kauern dort in einer Ecke. Selbst Bard und Aasa und die kleine Robbe regen sich kaum, als Lîf in ihren Verschlag späht, als schliefen sie schon fast.

Morgen würde ein anstrengender Tag.[1]

~~~

Derweil betritt Tristan das Langhaus und stellt sich ganz allein den Blicken seiner Fahrtenbrüder und ihrer nicht minder neugierigen Weiber.

"So", verkündet er in die plötzliche Stille. "Das wäre geschafft."

Und lenkt seinen Schritt zielstrebig in Richtung der eigenen Bettstatt, die leider am hinteren Ende liegt.
 1. Wenn Du noch einmal mit Esja reden möchtest, kannst Du das natürlich. Sonst geht's mit meinem nächsten Post zum Fest.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 10.06.2018, 13:06:27
Ein wenig erstaunt über die ungewohnten Ansichten Tristans, lächelt Lîf. "Im Gegenteil, ich bitte dich nur, mit dem Opfer an die Göttin noch ein wenig zu warten." Sanft streicht sie ihm übers Haar, als er sich mit bewundernswerter Willenskraft dazu durchringt, ihrer Bitte nachzukommen. "Es wird, mit Ihrem Segen, sicherlich alles, was ihr uns erhoffen" flüstert sie ihm tröstend ins Ohr. Nicht dass es ihr selbst leicht fiele, gerade jetzt aufzuhören... da müssen wohl auch die feenhaften Erbeteile der beiden zu sprechen begonnen haben, dass sie glaubt, bei jeder Berührung auf nackter Haut springe ein Funken zwischen ihnen über.

Geduldig liegt sie neben ihm, streicht immer wieder liebevoll über seinen Kopf und seine Schulter, schweigend, bis er zu seiner Entscheidung gefunden hat. "Es würde nur unserm Ansehen schaden, vor allem deinem. Und das nur, weil wir so kurze Zeit nicht mehr hätten warten können" stimmt sie bei. Seine Worte scheinen sie zu erfreuen, mehr, als er nach ihrem bisherigen Verhalten wohl hätte ahnen können. "Ja," nickt sie tief, "unser Kind, das du in meinen Leib pflanzen sollst und das ich dir schenken will." Noch einmal neigt sie sich zu ihm hinüber, berührt seine Wange, sein Ohr mit den Lippen, und schnurrt leise: "Mit Leib und Seele dein, ja..! So wie du mein bist..."

Dann schließlich rafft er sich auf, und auch Lîf – die mit ihren Weiberkleidern da weitaus weniger Aufwand hat – richtet sich wieder her. Ihre wenigen ganz persönlichen Habseligkeiten sind größtenteils an den Kettchen ihrer Schürze befestigt, der Rest rasch in die große Tasche gesteckt. Einzig ihre schweren Zöpfe brauchen eine Weile, bis sie wieder unter dem bunten, völlig verrutschten Kopftuch verschwunden und die letzten Strohhalme aus ihrer feuerroten Mähne gezupft sind. "Es wird die längste Nacht meines Lebens" seufzt sie leise, aber lächelnd, und folgt ihm dann.

Und wie sie dann so vor der Tür stehen, schaut sie ihn zwar überrascht von der Seite an, macht aber auch keine Anstalten, ihn zu mahnen. Erst Esjas Stimme bringt sie zum Unvermeidlichen, und sie verabschiedet sich, ohne die Zeit zum Erwidern seines Kusses, mit einem sehr festen Händedruck, ja, starrt ihm noch eine Weile nach, ehe sie sich des prüfenden Blicks der Alten bewusst wird und errötend die Tür schließt. "Aber er hat es ja getan" protestiert sie schwach zur Verteidigung seines Ansehens. "Er allein wird die Hosen anhaben bei uns – so habe ich es ihm geloben müssen, er ließ es nicht anders zu."

Wie weit es mit ihrem eigenen Vertrauen in dieses unverbrüchliche Versprechen her ist, zeigt allerdings die Tatsache, dass sie auf Esjas mit gutmütigem Spott darauf folgenden Blick nur den Kopf senkt und verlegen zur Seite tritt. "Ich bete zur Göttin, dass es mir immer gelingt, ihm keine Schande zu machen" murmelt sie, ehe sie auf leise Sohlen zu ihrem Schlafplatz geht. Kurz sieht sie nach den bereits Schlummernden, zieht in mütterlicher Art hier eine verrutschte Decke hoch, lächelt dort dem kleinen Heuler zu. Ja, sogar die Mägde bedenkt sie ganz ohne nachzudenken mit einer Segensgeste, damit die Große Mutter über den Schlaf dieser armen Weiber wache.

~~~

Tristan begegnet in der Tat sehr neugierigen Blicken. Seine Gefährten machen ihrer Wissbegierde mit kleinen, rauen Scherzen Luft: "Na, hast du sie ordentlich durchgewalkt?""Wenn dir der Arm schmerzt, reib' ihn mit Robbenfett ein, das hilft, ich hab' Erfahrung!" Wohingegen die Weiber die jeweiligen Antworten liefern und den Skalden so zum Reden verführen wollen: "Na hoffentlich hat er das! Die hat's wirklich mal gebraucht!""Du, aus Erfahrung?! Ha, hör' dir meinen Alten an, Skalde: Tut so, als legt' er mich täglich übers Knie, der Angeber! Du aber hast's gewiss heut' getan, nicht wahr?" Nein, auch sein eindeutiges Streben in Richtung Lagerstatt macht den nur anstandshalber dürftig versteckten Fragen kein Ende: Sie wollen seine klare Geste nicht verstehen, gieren vielmehr danach, zu erfahren, wie er sein ungebärdiges junges Weib wohl zur Räson gebracht und wie sie sich gewehrt haben mag.

Interessanterweise sind es gerade die Weiber, welche sehr hartnäckig immer wieder sticheln und versuchen, ihm noch etwas mehr aus der Nase zu ziehen: Die einen, Lîf wohl eher wohl gesonnenen mit Sorge und Mitgefühl in den Augen, hat doch jede von ihnen schon einmal den Riemen oder die Rute von ihrem Mann zu schmecken bekommen und weiß darum, wie es tut. Die andern, in der Überzahl, offenbar eher mit der Befriedigung, dies vorlaute, ja, freche Weibchen vom Festland endlich einmal bezähmt zu sehen. Hat ihnen dieses rothaarige junge Ding doch schon so manches Mal Dinge gesagt, bei denen einer ehrwürdigen Matrone vor Empörung die Luft wegbleiben muss! Und dabei ist die kleine Wildkatze im Gegenzug nicht so einfach anzugreifen, steht sie doch unter Esjas Schutz – und wer wollte es sich mit der Weisen verderben?
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 10.06.2018, 21:35:00
"Wie, selbst das stand in Frage?" lacht die Alte ihre Schülerin aus, als diese von Hosen spricht. "Die Lage ist ja noch schlimmer, als ich ahnte! Ist das bei euch auf dem Festland allgemein Verhandlungssache?"

Doch als sie Lîf dann ihrerseits, kaum hat diese sich gebettet, die Decke zurechtzupft und kurz übers Haar streicht, klingen sanftere Töne an. "S'ist alles recht, Kind. Ihr zwei bekommt das schon hin. Wie, das hat niemanden etwas anzugehen, und es muss auch niemand meinen, euch raten zu können, denn so etwas wie euch, das gab's hier noch nicht. Seit der Tag sich mit der Nacht zerstritt, gab's das nicht mehr! Eine Warnung nur hätte ich an dich. So gut wie alles wird Tristan dir verzeihen, der liebestrunkene Tropf, nur eines nicht. Ich sagte dir, seine Art ist treu, nicht wahr? Dann wisse auch, dass es eine Sache gibt, die weder Sirene noch Sirenenspross jemals verzeihen könnte, eine Verletzung des Herzens (oder des Stolzes, was weiß ich), welche sie ins Mark treffen und zu allem fähig machen würde, vom Mord an der Liebsten bis hin zur Selbstentleibung—und das ist die Untreue. Sei also gut zu ihm und bleib ihm treu, sei Ulmentochter durch und durch in dieser Sache und zügle den Satyr in dir, und lasse auch nicht zu, dass dein Gatte einen falschen Eindruck bekommt, indem die dich vor anderen Männern aufführst wie Helga, das arme Dummchen. Tu dies und du wirst dir keinen besseren Gatten wünschen können."

Worauf die alte Heilerin ihr tatsächlich einen Kuss auf die Stirn drückt, wie eine Mutter der Tochter, und sich leise zurückzieht.

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Derweil bahnt Tristan sich seinen Weg durch das vollbesetzte Langhaus und pariert die dreisteren unter den Zurufen, so gut er kann, in gleicher Weise. "Durchgewalkt? Machst du daheim die Wäsche, Karl, dass du dich so gut damit auskennst?" Und: "Danke, Morten, wenn ich in dein Alter komm! Noch kann ich meinen Gürtel so kraftvoll schwingen wie mein Schwert." An die Weiber gerichtet, wehrt er ab: "Was wollt ihr das so genau wissen, habt's doch selber schon erlebt. Oder wollt ihr hören, wie's für den ist, der den Gürtel führt? Dann fragt den eigenen Gatten!" Doch sie lassen nicht ab von ihm, vor allem letztere.

"Weibervolk", schilt er sie, um einen mild mahnenden Ton bemüht. "Bezwinget eure Neugier! Entlasst einen braven Mann, nach einem mühevollen Tag im Dienste der Gemeinschaft, in seinen wohlverdienten Schlaf!"[1]

Da erblickt er seinen Schwiegervater. "Ach Ole! Wie recht du doch hattest mit deinem Rat! Das hat auch Lîf eingesehen, unter Tränen, schniefend und schluchzend!"

Womit Tristan sich wenigstens eine kurze Verschnaufpause verschafft, denn nun bedrängt alles den alten Mann, was denn sein Rat gewesen sei. "Es zu machen wie der Egil, natürlich, einmal so richtig ordentlich! Dann hätte er für die nächsten Jahre seine Ruh!" erklärt dieser allzu bereitwillig.

Und allzu bündig, denn so hat Tristan die Meute schon wieder am Hals, bevor er seine Bettstatt erreicht. Einzelheiten wollen sie wissen, was fällt ihnen ein! Das Blut beginnt in Tristan zu kochen, und das geschieht nicht oft. Doch noch sagt er völlig ruhig: "Nein Ole, diesen Rat meinte ich nicht, sondern den ersten. Am Abend unserer Ankunft gabst du ihn mir, du erinnerst dich? Ein Kind solle ich ihr nur ganz rasch machen, einen ganzen Haufen, wenn's sein muss, dann hätte sie genug zu tun und keine Zeit mehr für dumme Ideen."

Doch auch das lässt die Mäuler nicht verstummen. Im Gegenteil: "Er hat also nicht... !"" Wo sie's doppelt und dreifach verdient hätte! Wo soll das noch enden?""Was wird sie jetzt noch einmal so keck daherstolzieren, das Kinn so hoch erhoben, dass es zur Nase ihr hereinregnet!"

Worauf Tristan der Kragen platzt. "Den Kopf gewaschen hab' ich ihr und zwar sehr gründlich, und sie hat's eingesehen und will sich bessern. Ein Narr ist, wer meint, mit einer Tracht Prügel hätte ich auch nur halb so viel erreicht! Überhaupt, was hackt ihr so auf ihr herum?" empört er sich. "Ein guter Mensch ist sie, der niemandem Böses wünscht und am liebsten jedem helfen würde! Obwohl sie uns nur als Räuber, Mörder und Schrecken aller Küsten kennt, obwohl sie selbst geraubt und verschleppt wurde, müht sie sich redlich, sich hier bei uns einzufügen, beginnt gar, uns ihr Herz zu öffnen—sehen wollt' ich nur zu gern, welcher von euch das in vergleichbarer Lage besser gelänge! Vor allem aber, und das scheint keine von euch zu bedenken, sind sie und ich nicht bloß Weib und Gatte, sondern sie ist zugleich die zukünftige drudkvinde und ich bin euer lögmadhur. Da muss man sich schon überlegen, ob das Recht sein kann, wenn da der eine die andere übers Knie legt! Habt ihr es schon erlebt, hat einer eurer Großväter davon erzählt, dass je eine drudkvinde übers Knie gelegt wurde? Nein, denn ihr habt noch keine erlebt, die verheiratet war. Lîf ist aber nun einmal verheiratet. Glücklicherweise hat ihr Gatte den höchsten Respekt vor dem Amt, für das sie auserwählt wurde, und wenn ihr einmal recht darüber nachdächtet, kämt ihr zu dem Schluss, dass die Alternative euch gar nicht schmecken würde. Eine Weise Frau muss Gajas Willen sprechen können ohne Furcht, von ihrem Gatten dafür Prügel zu ernten. Und ein lögmadhur hat sich nicht über eine drudkvinde zu stellen. So, und jetzt schlafe ich. Ich habe den ganzen Tag geredet und erklärt und erklärt und geredet und brauch endlich meine Ruh!"[2]

Mit hochrotem Kopf und von sich selbst überrascht—wann ist er schon einmal so aus der Haut gefahren?—wendet Tristan sich ab, entledigt sich seines Überwurfs und seiner Stiefel, und geht zu Bett.
 1. Diplomacy, schlappe 8 (https://games.dnd-gate.de/index.php/topic,8984.msg1048605.html#msg1048605).
 2. intimidate = 13
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Lîf am 12.06.2018, 14:16:51
Lîf beißt sich auf die Lippen, denn ihre Verteidigungsrede ist offenkundig nach hinten losgegangen... "Nein, natürlich nicht" stottert sie, um Worte verlegen. "Es ist nur, war nur... nur zwischen uns, ihm und mir, noch einmal zur Bekräftigung, und..." Ihr Murmeln verliert sich allmählich, als sie einsehen muss, dass es weitere Worte nur noch schlimmer machen würden. Sie kann nur hoffen, dass die Alte einfühlsam genug ist, zu erkennen, dass der Rotschopf Tristan nicht seine Position streitig machen will.

Umso mehr ist sie bei Esjas versöhnlichen Worten dann erleichtert und beruhigt. "Ich versprech's ganz fest!" gibt sie zurück, und was die Untreue angeht, so meint sie ihre Worte auch so ernst und ehrlich, wie man sie nur meinen kann. Niemals soll der lüsterne Satyr ihre Schritte vom rechten Pfad weg lenken, da sie doch in dem Skalden den Mann gefunden hat, von dem sie sich Kinder wünscht! Rückversichert durch diese ihre eigenen Worte wie auch durch Esjas Zuwendung, schließt sie die Augen und ist alsbald friedlich eingeschlummert.

~~~

Brüllendes Gelächter von den Männern erntet Tristan wohl mit seinen spitzen Antworten. Dieweil scheinen die Weiber die ganze Sache mit sehr viel mehr Ernst zu sehen – oder sie legen nicht solchen Wert wie die Mannsleute darauf, mit Scherzen ihr Interesse zu verschleiern. "Wozu sind wir denn Weibervolk," ruft eine der Jüngeren und setzt keck hinzu: "wenn nicht, damit wir neugierig sein dürfen? Da du nicht unser Gatte bist, wirst du uns mit deinem Gürtel jedenfalls nicht zum Schweigen bringen können." Gelächter der jüngeren Mädchen, gespielte Empörung der älteren Matronen. Alle gemeinsam aber setzen sie weiter nach, erst bei dem alten Ole, dann wieder bei dem vermeintlich genasführten Ehemann selbst.

Als der dann endgültig die Geduld verliert und lauter wird, verstummen Männer wie Weiber und starren ihn an, zumeist wohl erst einmal mehr erstaunt als erschrocken. Ole, der sich gemütlich hingehockt hat, schabt nachdenklich über sein Kinn und brummt vor sich hin. Die lange Rede Tristans zeigt schließlich insofern Wirkung, als die wenigen Verteidigerinnen und Freundinnen Lîfs darauf den Mut finden, auch ihre Stimmen zu erheben: "Ja, hört nur, was er sagt! Und wer soll's wohl wissen, wenn nicht der Skalde?! Eine Dienerin der Großen Mutter, die kann man doch nicht einfach übers Knie legen und prügeln wie ein trotziges Kind – wo bliebe denn da der Respekt vor der Göttin?" Das Argument wirft der Gegenseite einige Steine in den Weg, denn gegen göttliche Kräfte kann man schlecht beharren.

So lassen sich denn verschiedene murrend hören, denen es sichtlich lieber gewesen wäre, Tristan hätte seinem jungen Weib die Kehrseite ordentlich verbläut. Doch so recht weiß niemand, eine treffende Antwort zu finden. Schließlich sind die ehrwürdigen Ämter, welche das Paar einst bekleiden soll, über Kritik erhaben und gerade um der eingeforderten Traditionen willen zu würdigen. Da bleibt nicht viel Raum, um Tristan noch einmal herauszufordern – zumal sich gerade die Herren der Schöpfung, eben noch grinsend und amüsiert ihren Weibern moralische Rückendeckung gebend, plötzlich mit sehr würdevollen Mienen nickend austauschen: Ja, da hat der Bengel wohl recht gesprochen – welcher von ihnen hätte jemals der Großen Mutter den gebührenden Respekt nicht gezollt?

Alleingelassen auf weiter Flur, ergeben sich endlich auch die murrenden Weiber drein, dass der Rotschopf nicht wie alle andern jungen Mädchen sein soll. Vielleicht... vielleicht ist man ja an der einen oder andern Stelle ein winziges bisschen übers Ziel hinausgeschossen, hat auch niemals andeuten wollen, dass etwa die Weisen Frauen nicht ehrenwert wären, selbstlose Dienerinnen der Göttin und der Menschen, oh nein, keinesfalls..! So senkt sich nach und nach wieder Ruhe über die Versammelten herab. Nur Ole tippt Tristan noch einmal an und brummt: "Ich weiß nicht, mein Jung', aber, bei allen Winden der See, du hast Mumm! Bewahr dir dein Weibchen, wie's ist, vielleicht ist es so doch am besten. Ja: Vielleicht tätst du damit was in ihr zerschlagen, das nicht ein jede überhaupt hat. Das Zeug, mit ihr ohne die Rute zurechtzukommen, das trau' ich dir jedenfalls mehr zu als jedem andern." Mit einem Kopfschütteln, das wohl das Erstaunen über sein eigenes Geständnis zu dieser gänzlich neuen Art des ehelichen Zusammenlebens bekunden soll, und einem letzten "Donner und Wolkenbruch, der Jung' wär' wohl der Kerl dazu..!" geht auch er zu Bett.
Titel: Das Disenthing
Beitrag von: Tristan am 13.06.2018, 17:53:04
"Ja, leichter wär's für mich aber auch für alle, tät' Esjas Tochter noch leben", erwidert Tristan dem alten Ole halblaut, dass zumindest nicht jeder es mithört. "Die wurde von klein auf darauf vorbereitet, ihrer Mutter nachzufolgen. Aber die See hat Kirsa nun einmal geholt und so müssen die Leute eben mit dem zurechtkommen, was ich uns erbeuten konnte. Und ich, ich werde mich auch mit der Situation abfinden müssen. Glaub' nicht, dass ich mir nicht bisweilen wünschte, ich hätte es verboten, dass mein Weib Esjas Schülerin wird, aber was wäre ich dann für ein Mann, der aus Eigennutz der Gemeinschaft etwas vorenthält, das sie so dringend braucht?" Tristan will gern glauben, dass er, wäre ihm die Zeit zum Überlegen geblieben, zu genau diesem Schluss gelangt wäre. In dem Augenblick aber, da Esja ihn mit der Frage überrumperlte, hat er nur den bittenden Blick seines Weibes gesehen und seine Lîf nicht enttäuschen wollen. "Lîf habe noch viel zu lernen, sagt Esja, aber der Göttin gehorche sie bereits. Alles andere wird sich schon finden."

Damit wendet Tristan sich endgültig zur Wand, doch so rasch, wie er sich erhoffte, findet er keinen Schlaf. Die letzte Erklärung hätte er sich lieber gespart, denn nun sieht er, trotz fest geschlossener Augen, sein Weib vor sich stehen, wie sie ihn mit großen Augen bittend anschaut. Was ging ihm da wirklich durch den Sinn, welche Gefühle bewegten ihn, was bezweckte er? Dachte er nicht doch auch an das Gemeinwohl? Nicht einmal ein klein wenig? Gar nicht? Hatte er es einzig und allein getan, um sein Weib für sich zu gewinnen?

So muss sein Vater die Mutter geliebt haben. "Verhext hat das Weib den armen Mann", hörte ihr Sohn die Leute wohl manches Mal wispern, "einen Liebestrank gebraut, der ihn um den Verstand gebracht hat, ihr ganz und gar zu Willen!" Denn ein jeder konnte sehen, dass der Vater seinem schönen jungen Weibe hoffnungslos verfallen war, dass er niemanden sah außer ihr, an keinen anderen dachte... Und vor dem Sohn leugnete die Mutter es ja nicht einmal! 'Das stimmt wohl', sagte sie und lachte glockenhell, 'doch ein Trank war es nicht und auch kein Liebesbann. Du Dummerchen, errätst du's nicht? Mein Gesang ist's, der mir den Gatten hörig macht. Aber soll ich deshalb nicht mehr singen? Es sind doch alle glücklich so! Komm her, mein Schatz, und lass' dich herzen!' Was sie sagte vonwegen des Glückes, das stimmte und doch wieder nicht ganz, denn es litt ihr Sohn bisweilen arg darunter, dass der Vater ihn so gar nicht sah. Außer, wenn er sang.

Und so liegt Tristan da und grübelt.

Bin ich also ebenfalls verhext? Kann ich deshalb nicht die Hand gegen mein Weib erheben, bin ich deshalb bereit, alles für sie zu tun, alles zu ertragen? Ist's das, was sie meinte mit: die Große Mutter habe uns zusammengeführt? Weil sie die Kräfte, welche Gaja ihr schenkte, auf mich verwandt hat? Nur wann soll das gewesen sein? Gewollt habe ich sie vom ersten Augenblick an, aber das kann ihr Wunsch nicht gewesen sein, sonst hieße das ja, sie wollte verschleppt werden. Das muss also mein eigener Wille gewesen sein. Eher will ich glauben, dass sie danach die Kräfte der Mutter benutzte, mich abzuwehren und sich selbst die Jungfernschaft zu wahren, doch auch da bilde ich mir ein, das sei mein eigenes Tun gewesen, meine Zurückhaltung—elf qualvolle Wochen lang—um ihr Vertrauen zu gewinnen. Dann kann's nur noch an dem Tag gewesen sein, als ich sie bat, die meine zu werden. Auf dem Heimweg hatte ich noch hin oder her überlegt, erst beim Essen, in ihrem Beisein, fasste ich den Entschluss. Ja, da könnte sie nachgeholfen haben, könnte mir mithilfe der Göttin einen Schubs in die richtige Richtung gegeben haben: nicht zur Kebsfrau, zum richtigen Eheweib müsse ich sie nehmen, egal was die anderen sagen! Kebsfrau, nein, das erlaube der Stolz ihr nimmer!

Und wenn es sich so zugetragen hätte, wäre das schlimm? Es sind doch alle glücklich!

Nur unsere Kinder wären es nicht, wenn der Vater sie nicht sieht. Ja, spätestens da wird sich zeigen, ob Lîf mich verhext hat oder nicht. Wenn ich in meinem Herzen kein Platz finden kann für das eigene Kind, dann hat dessen Mutter es mir per Zauber gestohlen.


Das sind nun wahrscheinlich nicht die Gedanken, die Ole in Tristan hat anstoßen wollen. Immerhin ein Gutes haben sie: er schläft über ihnen ein.