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« am: 05.06.2009, 19:01:54 »
Über der Stadt lag eine bedrückende Stille. Einen blauen, wolkenlosen Himmel hatten die Bewohner Lautwassers schon lang nicht mehr gesehen. Seit Zehntagen hingen weiße Geschwader aus feinen Wassertropfen in der Luft, die über die Stadt hinweg zogen. Obwohl das dahinter verborgene Sonnenlicht sie strahlen ließ und den Eindruck vermittelte, als hätte jemand den Himmel über ihnen mit weißem Marmor bedeckt, wirkten die Wolken wie Vorboten einer nahen Bedrohung, die niemand einzuschätzen wusste. „Wieso?“ fragten sich viele Einwohner. „Wieso wird unser friedliches Stück Land von einem solchen Unheil heimgesucht?“ Ein paar zu Trübsinn veranlagte Barden fanden sich ein und besangen den nahen Untergang Lautwassers schon, nachdem sich die Sonne einen Zehntag lang nicht hatte sehen lassen. Zunächst wollte niemand recht daran glauben. Die Klaue der Stürme hatte sie noch nicht verlassen, Grüngras ließ noch auf sich warten und die Alten waren der Ansicht, dass Gevatter Winter ihnen einen letzten Streich spielen wollte, denn die Wolken schienen Schnee zu bringen. Barden, die einen jammervollen Takt anstimmten, wurden aus den Gasthäusern und vom Marktplatz vertrieben, weil niemand Wert darauf legte, das Unglück zu beschwören. Schließlich neigte sich Tarsak seinem Ende entgegen und die ganze Stadt war in Aufregung, weil das Fest zu Ehren des Frühlings bevorstand. Frauen eilten durch die Straßen und schmückten Türen und Fenster mit den ersten Blumen, die man im Tempel des Silvanus über den kalten Winter gezüchtet hatte. Die Stadtwache kümmerte sich darum, dass die Straßen ordnungsgemäß gesäubert und nicht wieder verschmutzt wurden, erwartete man doch zu Grüngras viele Besucher und Händler in der Stadt. Letztere schienen ihre Geschäfte noch energischer zu betreiben, riefen lauter ihre Kunden an, waren kompromissbereiter, was die Preise ihrer Waren anging, und ließen es sich nicht nehmen, dem einen oder anderen Kind auch einmal eine kleinere Freude zu machen. Lautwasser wirkte wie eh und je. Eine zufriedene Stadt mit glücklichen Einwohnern, die ihren alltäglichen Geschäften nachgingen und sich auf ein nahes Fest freuten. Aber ganz gleich wie fröhlich alles und jeder wirkte, ein aufmerksamer Beobachter bemerkte die angespannte Stimmung. Er hörte die feinen Nuancen in den Stimmen der Händler. Mit einem Mal waren sie nicht freundlicher und verhandlungsfreudiger, sondern schienen Angst zu haben, ihre Waren nicht schnell genug los zu werden, um die Stadt zu verlassen. Die Frauen arbeiteten bei genauerer Betrachtung eiliger als in den letzten Jahren und achteten nicht mehr auf jedes Detail bei dem Schmuck, den sie an den Häusern anbrachten. Die Stadtwachen, die sonst ein geordnetes, strenges, aber gerechtes Regiment führten, waren gereizt, reagierten auf den kleinsten Unwillen und schrieen deutlich mehr, als es sonst der Fall war. Als Grüngras endlich da war, legte sich die Anspannung ein wenig. Es wurde ausgelassen gefeiert, die Kleriker des Silvanus segneten die Stadt und das umliegende Land, und bis zum Abend wurde getrunken, gegessen und getanzt, wie es sich für ein zünftiges Fest gehörte. Es waren die Kinder, die es als Erstes bemerkten. Sie hatten am Hafen gespielt. Ihre kleinen, aus Holz gefertigten Schiffchen, mit Blumen geschmückt, segelten den Delimbiyr hinunter, dessen Wasser stets kraftvoll an der Stadt vorüber geströmt war und ihr ihren Namen verliehen hatte. Doch mit einem Mal war davon nichts mehr zu vernehmen. Die Strömung verlangsamte sich scheinbar, die Schiffchen mit ihren filigranen Segeln bewegten sich kaum mehr fort, war doch auch der Wind deutlich abgeflaut. Die Kinder sahen sich um. Sie vernahmen die lauten Stimmen der feiernden Erwachsenen, aber kein Vogel wollte seinen Gesang mehr verlauten lassen. Als sie in den Himmel blickten, wurde dieser langsam grau, weil die Nacht herein brach. Ihnen wurde unwohl. Vielleicht hatten sich die Vögelchen ja auch nur schlafen gelegt, dachten sie, und der Wind hatte seine Arbeit für diesen Tag beendet. Außerdem musste auch ein Fluss einmal zur Ruhe kommen. Sie einigten sich darauf, dass Silvanus nur eine stille Nacht für sie sandte, auf dass sie nach einem langen Tag voller Freude, aber auch Anstrengung genügend Schlaf fänden. Aber in dieser Nacht sollte niemand mehr schlafen. Ihre Schiffe zurück lassend gingen die Kinder zurück in die Stadt, in der noch niemand bemerkt hatte, dass um sie herum Stille eingetreten war. Erst nach und nach, als sich das Fest seinem Ende entgegen neigte, hielten viele ihre Köpfe in die Luft und stießen ihren Nebenmann an, um ihn zum Schweigen zu bringen. Bald schon war nichts mehr zu vernehmen bis auf das aufgebrachte Atmen der Kinder. Nach einer Weile richteten sich die Priester des Silvanus an die Menge und gesuchten sie durch ihre wohl bedachten Worte zu beruhigen. Jene brachten die Einwohner Lautwassers dazu, ihre Behausungen aufzusuchen und sich zu Bett zu begeben, wobei niemand zu viel Lärm machen wollte, und ein jedes Ohr in der Stadt der Stille lauschte, die sie vollkommen gefangen hielt. Als auch der letzte Sonnenstrahl hinter dem grau werdenden Marmorteppich aus Wolken verschwunden war, sagten sich viele, dass es in der Nacht ganz natürlich sei, dass die Vögel nicht mehr sangen, und versuchten zu schlafen.
Ein alter Bettler, der sein Quartier neben den Ställen aufgeschlagen hatte, wo es aufgrund des Strohs, des Pferdemistes und der Tiere selbst stets recht warm war, dachte ebenso. Wozu sollte er sich darum scheren? Die Welt scherte sich ja auch nicht um ihn. Obwohl er zugeben musste, dass er heute reich von Silvanus gesegnet worden war. Er hatte mehrere kleine Laibe Brot und ein großes Stück Fleisch erhaschen können und sein Bauch war so gefüllt wie schon lange nicht mehr. Etwas vermisste er aber doch. Das Rauschen der Wasser des Delimbiyr war nicht zu vernehmen. Es hatte ihn seit Jahr und Tag in den Schlaf gesungen und ihm schöne Träume geschenkt. Stattdessen nahm er die Pferde wahr. Sie atmeten so laut, dass er förmlich hören konnte, wie sich ihre Nüstern blähten. Vor seinem geistigen Auge sah er die großen weißen Augäpfel, die aufgeregt in die Dunkelheit stierten. Ihre Pupillen wanderten unstet hin und her. Ein Scharren verriet ihm, dass sie begannen, sich zu bewegen, als wollten sie vor irgendetwas flüchten. Langsam setzte er sich auf und sah sich um. Er konnte niemanden ausmachen, nicht einmal eine Wache. Wovor also fürchteten sich die Pferde so? Er schüttelte unwirsch den Kopf, warf seine Decke zurück und spürte die Wärme einer Frühlingsnacht. Sie war noch unvollkommen, er fröstelte noch, aber der lange Winter war vorüber und das rang ihm zumindest ein kleines Lächeln ab. Er stand mühselig auf, fragte sich kurz, wie viele Sommer er noch sehen würde, und ging zum Eingang des Stalles, der aber sorgfältig verschlossen war. Er legte seine Hände und sein linkes Ohr auf die Holzpforte und versuchte ein Geräusch zu vernehmen, das denjenigen, der die Tiere so verunsicherte, verraten könnte. Aber da war nichts, nur das Scharren der Pferde, das immer lauter und unruhiger wurde. „Scht, ganz ruhig, es ist schon alles in Ordnung“, flüsterte er, aber ohne Erfolg. Sollte er die Wachen am Stadttor alarmieren? Aber wozu? Sie würden ihn ohnehin nur einen Narren schelten und ihn davon jagen. Mürrisch schüttelte er den Kopf und legte sich wieder auf sein Lager, als er eine Stimme vernahm. Sie war merkwürdig blechern, als würde sie in einem hohen Raum ohne Möbel gesprochen oder in einer verlassenen Höhle. Noch war sie weit weg, doch sie kam alsbald näher. Die Pferde schnaubten und auch er spürte eine Beklemmung, eine tiefsitzende Angst, die sich ihren Weg zuerst in seine Augen suchte, wo sich brennendes Wasser sammelte. Seine Haut fror, während sein Inneres zu glühen begann. Stocksteif lag er da und wollte doch nichts weiter, als davon rennen, um Hilfe schreien, aber kein Laut drang über seine Lippen und er wagte es nicht, sich zu rühren, als ein Fuß sich unmittelbar vor seinem Gesicht auf das Straßenpflaster setzte. Er hatte zuvor keine Schritte vernommen, hatte niemanden gesehen, doch dann war er da.
Augenblicklich erhob sich im Stall ein ohrenbetäubendes Wiehern, das die Wachen am Stadttor aufschrecken ließ. Einige Bewohner, die gerade erst in ihren Betten in einen unruhigen Halbschlaf gesunken waren, kamen sofort zu sich und sahen den Mann oder die Frau neben sich fragend an. Kinder kamen schreiend zu ihren Eltern gerannt. Der Hauptmann und ein paar Wachen sprangen aus ihren Betten und waren alsbald damit beschäftigt, zu den Ställen zu eilen und dort die Pferde zur Ruhe zu bringen, was nicht gelang. Nicht einmal der Tempelvorsteher, der sich auf Pferde verstand und sogar eine kleine Zucht betrieb, vermochte die verschreckten Tiere zu bändigen. Neben den Ställen fanden zwei Wachen den alten Bettler, der zitternd und mit blauen Lippen vor sich hin murmelte. Seine Augen waren so weit aufgerissen wie die der Pferde, seine Pupillen suchten das Sichtfeld vor ihm ab. Der Hauptmann ließ ihn in eine warme Zelle bringen, aber das half nichts. Er sprach nur wirres Zeug, das niemand verstand. Keine Decke, kein Alkohol vermochten ihn in einen vernünftigen Zustand zu bringen. Der Hauptmann ließ einige Soldaten ausschwärmen. Sie sollten die Stadt absuchen. Nach was, konnte er nicht sagen. Sie sollten nach Ungewöhnlichem Ausschau halten. Ungewöhnliches bekamen sie bald zu Gesicht. Im Nordwesten der Stadt, in der Nähe der einfacheren Häuser, erhob sich ein wildes Geheul, das zu einem neuerlichen Sturm im Stall führte und den Bettler aufschrieen ließ. Die Wachen mussten ihn auf eine Holzpritsche binden, damit er nicht davon lief. Eine kleine Gruppe aus sechs Soldaten bestehend war kurz darauf an dem Ort, an dem das Geheul kein Ende nehmen wollte. Fast bemitleidenswert kniete er dort am Boden, seine Hände waren gefaltet, das Gesicht demütigst dem Boden zugewandt. Schreie entsetzlicher Qualen drangen über seine Lippen. Wen er anflehte, was er überhaupt begehrte, konnte niemand sagen. Die Worte verloren sich in lang gezogenen Klagen, die großes Leid verrieten. Der Hauptmann, kurz darauf eintreffend, schüttelte nur den Kopf, nahm sich zwei Soldaten an seine Seite und packte den Mann. Er war eigenartig leicht und schlaff, so dass die Soldaten ihn sofort los ließen. Nur der Hauptmann war energischer und raffte den Mann auf die Beine. Sofort taumelte der sonst robuste und keineswegs leicht ein zu schüchterne Mann nach hinten, während sein Gegenüber mit gebeugtem Kreuz stehen blieb und seinen Mund zu einem neuen, grauenhaften Klagen aufriss.
In jener Nacht begann der Schrecken in Lautwasser. Selbst die Priester des Silvanus vermochten das Geschöpf nicht zu vertreiben, das die Stadt des Nachts in einen Ort von Trauer und Schmerz verwandelte. Doch auch am Tag legte sich nicht das Gefühl der Beklemmung und jegliche Freude wich aus der sonst munteren und friedlichen Stadt, die sich stets gegen alles Böse erfolgreich gewehrt hatte. Bürgermeister und Hauptmann waren ratlos, keiner wollte sich dem Manne nähern, der Pferde, Kinder, Frauen und sogar die härtesten Seemänner, die Lautwasser je gesehen hatte, ihrer Lebensfreude beraubte. Alles, was man über das Wesen erfuhr, war, dass es einen langen Weg hinter sich gebracht hatte. Ziellos war es schon durch viele Ortschaften gereist, aber niemand wusste, woher es kam und wohin es wollte. Niemand konnte sagen, warum es überhaupt zu solch einer Wanderschaft aufgebrochen war.
So verging Mirtul und die Zeit der Blumen brach an, aber niemand wusste sich am ankommenden Sommer zu erfreuen.