„Das war der einfache Teil“, ging es Samuel durch den Kopf.
„Die Gruppe derer, die sich etwas mehr Lebendigkeit in der Lehre wünschen, und die sich durch kleine Gauklerspiele begeistern lassen, habe ich überzeugt. Nun geht es um diejenigen, denen ich damit auf die Füße getreten bin.“Als der Applaus trotz seiner Worte nicht abebbte, hob Samuel beschwichtigend die Hände.
„Bitte, meine Herren, führen wir uns vor Augen, dass ich bisher nicht viel mehr gezeigt habe als einen Jahrmarkt-Trick – auf Grundlage naturwissenschaftlicher Gesetze, doch wenn wir darüber nachdenken, gilt dies für jeden Jahrmarktzauber, nicht wahr?“Er lächelte. Nun waren die an der Reihe, denen Status und Anerkennung wichtig wahr, wichtiger als Ehrlichkeit.
„Ich weiß auch sehr wohl, dass einige meiner Herren Kollegen den kleinen Budenzauber gleich durchschaut haben. Ich danke Ihnen, meine Herren, dass Sie das Spiel dennoch mitgespielt haben, im Verständnis, dass es dem Zweck der Lehre und des Verständnisses für die Wissenschaften untergeordnet war.“[1]Natürlich hatte keiner der anderen Dozenten seine Vorführung durchschaut. Aber er gab ihnen die Möglichkeit, ihr Gesicht zu wahren und sich als besonders schlau und kritisch darzustellen – doch dafür mussten sie sich auf seine Seite schlagen. Denn durch ihr Schweigen hatten sie ihn schließlich unterstützt, hatten ihm die Möglichkeit gegeben, die Vorführung zuende zu bringen.
Gezielt suchte er die Gesichter jener Dozenten, die besonders missmutig geschaut hatten, und nickte ihnen mit einer gewissen Dankbarkeit in der Miene zu.
„Aber eben dem wollen wir uns nun zuwenden – den Wissenschaften. Denn so unterhaltsam der Einstieg in diese Vorlesung gewesen sein mag, wird er bedeutungslos, wenn wir ihn nicht der Theorie unterwerfen. Im Rahmen der heutigen Vorlesung werden wir daher das Erlebte bis in Genaueste analysieren. Es ist die Theorie, das reine, glänzende Wissen, mit all seinen Formeln und Regeln, das die wahre Freude bereitet, und das solches Schauspiel überhaupt erst ermöglicht.“[2]Dies war das Futter für die Theoretiker, für die „altehrwürdigen“ Professoren, die ihren Elfenbeinturm so sehr liebten. Wieder suchte er sich die passenden Gesichter, und schenkte ihnen – wie er hoffte – die Bestätigung, die sie suchten.
Dies war genug der Rede. Jetzt mussten Taten folgen – und damit Theorien.
Er ging auf den Studenten zu, dem er das vermeintliche Buch in die Hand gedrückt hatte.
„Welches war der Moment, in dem Sie begriffen, dass ich Ihnen kein Buch, sondern lediglich ein Blatt Papier überreicht habe?“Der Student überlegte kurz.
„Es war der Moment, in dem Sie losgelassen haben. Das Gewicht passte nicht.“Samuel hob den Zeigefinger – ein wenig weiteres Futter für die „Altehrwürdigen“.
„Sehr gut. Das Gewicht entsprach also nicht Ihrer Erwartung. Angenommen, ich hätte Ihnen statt eines Buches einen größeren Stapel Zettel in die Hand gedrückt, wäre Ihnen der Unterschied also entgangen?“Wieder zögerte der Student kurz.
„Im ersten Moment vermutlich schon. Ich denke, es käme darauf an, wie viele Zettel es gewesen wären. Wie viel leichter die Zettel gewesen wären.“„Oh, wirklich sehr gut!“ ermutigte Samuel den Studenten.
„Sie haben soeben eine wichtige Grundlage beschrieben. Wenn der Reiz R also das erwartete Gewicht des Buches darstellt, dann ist es nicht das absolute Gewicht des tatsächlich erhaltenen Gegenstandes gewesen, der sie aufmerksam werden ließ, sondern die Differenz zum erwarteten Gewicht, also Delta R. Korrekt?“Der Student nickte.
„Ich… nehme es an, ja.“Samuel nickte.
„Und damit sind wir beim ersten Gesetz der Psychophysik angekommen, auch bekannt als das Webersche Gesetz. Bereits im Jahre 1834, lange bevor der Begriff der Psychophysik geprägt wurde, erforschte der angesehene Physiologe Ernst Heinrich Weber[3], dass ein Sinnesorgan eine Veränderung erst ab einem bestimmten Intensitätsbetrag registriert, bekannt als die differentielle Wahrnehmbarkeitsschwelle, oder einfacher ausgedrückt: Den gerade noch wahrnehmbaren Unterschied. Demnach ist k gleich Delta R geteilt durch R[4][5]. Sei k gleich ein Zehntel, bedeutet dies, dass wir bei einem Gewicht – unser Reiz R - von 500 Gramm einen Unterschied – Delta R – von 50 Gramm benötigen, um die Veränderung wahrnehmen zu können. Wie groß k ist, hängt laut den Beobachtungen Webers vom jeweiligen Sinn ab.“Er war während des Redens ein wenig hin- und hergelaufen, blieb nun aber wieder vor dem Studenten stehen.
„Im konkreten Beispiel haben wir ein wenig andere Bedingungen, denn es gab ja keinen realen Ursprungsreiz, sondern lediglichen einen erwarteten oder vermuteten. Dennoch hat das Prinzip funktioniert. Was sagt uns das?“Für einen Moment herrschte Schweigen, dann brach leises Tuscheln aus. Als nach einigen Momenten noch keine Meldung erfolgte, tippte Samuel sich an die Schläfe.
„Dass im ersten Schritt nicht die eigentliche Sinneswahrnehmung des Gewichts federführend war, sondern die Interpretation im Gehirn. Was Sie wahrgenommen haben, war eine ganz grobe Form, sowie meine Worte und die ihrer Kommilitonen. Anders ausgedrückt: Licht und Schall. Zwei Reize also, die keine direkte Aussage über das Gewicht zulassen, und doch über den Umweg von Augen und Ohren in Ihrem Kopf eine Information über das Gewicht erzeugt haben.“Er ließ seinen Blick durch die Reihen schweifen, und suchte sich einen Studenten, der den Eindruck machte, als sei eben ein Groschen gefallen. Er nickte dem jungen Mann zu und fragte:
„Was sagt uns das also, wenn wir über die Psychophysik reden?“„Das wir zwischen der Reizbeobachtung, also dem reinen Sinnesorgan, und der Verarbeitung durch das Gehirn unterscheiden müssen“, schoss es dem Angesprochenen aus dem Mund.
Samuel nickte und lächelte.
„Hervorragend, meine Herren. Ich sehe, Sie sind im Thema angekommen!“