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« am: 30.08.2023, 19:37:06 »
Clarabella schien ziemlich betrübt über das, was man über den Verlauf dieses unseligen Kleinkriegs in Erfahrung gebracht hatte. Die Opfer sowohl unter Kobolden als auch Winzlingen hatten offenbar ihr Mitgefühl, denn sie war für ihre Verhältnisse ungewöhnlich schweigsam und machte einen ernsten Eindruck, der nicht recht dazu passen wollte, dass man den Kampf siegreich beendet und die Rußschuppen von ihrem bösen Geist befreit hatte. Allerdings war selbst das Leid, das sie so schwer belastete, nicht auf Dauer in der Lage, sich gegen ihre Frohnatur zu behaupten. Nachdem sie – so man sie gelassen hatte – für die Freilassung des gefangenen Winzlings gesorgt und ihm in einer Anwandlung von Samaritertum ihren Umhang überlassen hatte, war sie unter ihren Gefährten herumgegangen und hatte sie eingeladen, an einem kleinen Dankgottesdienst teilzunehmen, den sie für ihre Göttin veranstalten wollte.
Wer die Einladung angenommen hatte, würde jedoch möglicherweise überrascht worden sein, denn die getragene Würde, die sich für gewöhnlich mit dem Wort "Gottesdienst" verband, würden diejenigen vergeblich gesucht haben. Die Halblingdame dankte ihrer Göttin vielmehr mit einem kurzen, wenn auch inbrünstigen Gebet in einfachen Worten, dem sich ein fröhlicher Tanz anschloss, zu dem die Klerikerin ihr buntes Tanzgewand anlegte und sich mit ihrer kleinen Mandoline und ihrer hellen Stimme selbst begleitete. Man konnte ihn nicht anstößig oder unwürdig nennen, doch mutete das ausgelassene, beinahe kindlich-grazile Tänzeln und Springen in einem Wirbel bunter Röcke, unter dem Klang kleiner Schellen an ihren Kleidern eher passend für eine feuchtfröhliche Runde in einer Taverne an. Immerhin war sie offenkundig mit Leib und Seele bei der Sache, und vielleicht lag auch der augenzwinkernde Segen Chaldiras auf Clarabellas Tun, denn wie sie sich offenkundig alle trüben Gedanken von der Seele sang und tanzte, mochte auf einen aufgeschlossenen Zuschauer durchaus ansteckend wirken.
Nachdem sie auf diese Weise das böse Kapitel für sich abgeschlossen hatte, war die kleine Frau bereit für neue Taten. Mit Feuereifer nahm sie an den Erkundungsgängen teil, mit denen die Gruppe ihr Wissen über die nähere Umgebung abrundete, und versäumte natürlich auch nicht, ihre Begleiter mit Geschichten und Scherzen zu unterhalten, getreu dem Gebot ihres Glaubens, dass nur ein Unternehmen gelingen konnte, das man frohen Mutes anging. Hier jedoch würde sich der eine oder andere vielleicht gewünscht haben, dass die Göttin ihrer Dienerin ein Schweigegelübde auferlegt hätte, denn so klein sie war, so viel Energie schien in ihrem zarten Körper zu stecken, der unermüdlich schien, insbesondere beim Reden. Fröhlich und wortreich gestaltete sich denn auch ihr Anteil am Wiedersehen beim Handelsposten.
Auf den Neuankömmling reagierte sie mit offener Neugier. Den kurzen Wortwechsel mit Varis konnte sie zu ihrem Leidwesen nicht verstehen, obwohl sie die Ohren kräftig spitzte. Also beschloss sie, selbst mehr in Erfahrung zu bringen: Ohne Scheu trat sie auf den Fremden zu, legte den Kopf in den Nacken, um an der baumlangen Gestalt hinauf zu schauen, und murmelte mit einem verträumten Lächeln: "Hui, von da oben muss die Welt ganz anders aussehen!" Dann streckte sie dem Wesen, das sich als Schumm vorgestellt hatte, ihre kleine Hand entgegen und meinte fröhlich: "Seid gegrüßt! Ich heiße Clarabella, Clarabella Grüntee. Aber Ihr dürft auch einfach Clarabella sagen. In meiner Familie nimmt man's nicht so genau mit den Namen. Die meisten hatten Spitznamen, die sich unsere alte Tante Heidelinde ausdachte. Einen Vetter nannten wir immer Purzel, weil er als Kind so oft fiel und sich die Knie zerschrammte. Und eine Kusine hieß Röschen. Wisst Ihr, wie sie zu dem Namen kam? Nein? Also, das war so..."
In dieser Weise plätscherte ihr Redestrom ungehemmt dahin, bis sie schließlich selbst merkte, dass das angestrebte Gespräch zu einem Monolog ausgeartet war. Erschrocken schlug sie die Hand auf den Mund. "Oh Göttin, wie unhöflich von mir: Ich lasse Euch ja gar nicht zu Wort kommen!" Indem sie sich ohne ein Anzeichen wirklich tiefer Zerknirschung entschuldigte, versicherte die Halblingdame: "Aber nun bin ich auch schon still wie ein Grab – meine Lippen sind fest versiegelt! Denn Ihr wolltet ja bestimmt etwas über dieses Problem im Süden erzählen, das Ihr erwähnt habt, stimmt's? Oh, ich habe noch nie einen blutenden Wald gesehen! Das muss ja ein furchtbarer Anblick sein – aber irgendwie auch faszinierend, könnte ich mir vorstellen. Zuhause hatten wir nur Obstbäume und ein wenig Laubgehölz... keinen richtig großen Wald. Aber ich habe schon richtige Wälder gesehen, habe mich sogar mal in einem verlaufen. Ja, das war ein Abenteuer...!" Das Siegel über ihren Lippen musste sich unbemerkt wieder gelöst haben, denn sie plapperte wohlgemut weiter und untermalte ihre etwas zusammenhanglose Erzählung mit beredten Gesten, solange niemand sie unterbrechen würde.