Danshi blickte durchaus mit Überraschung zu dem jungen Mädchen herüber, die während der gesamten Zeit der Gefangenschaft doch eher still und abwartend geblieben war. Dass sie sich nun, in dieser Diskussion um ein gutes Leben zu Wort meldete, machte den alten Mann froh. Er sah darin, dass sie sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzte, und vielleicht würde sie im Folgenden auch Verantwortung für sich und andere übernehmen. Auch war, was sie sagte, für ihn nachvollziehbar und richtig. Er nickte der jungen Frau lächelnd zu.
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Ich freue mich sehr, dass Ihr Euch an unserem Gespräch beteiligt, Sūnsan. Aus dem, was Ihr sagt, schließe ich Folgendes: Nachdem jedes einzelne Individuum die Möglichkeit hatte, seine existentiellsten Bedürfnisse zu befriedigen – das seien Nahrung, Angenommensein und Schutz – bedarf es der Bildung, um seine in sich angelegten Fähigkeiten und humanoidischen[1] Züge zu verwirklichen. Das heißt, das eigene Wesen zu ergründen, die Perspektive anderer zu erfahren, Verantwortung zu übernehmen und seine Umwelt aktiv zu gestalten. Dabei bedarf es Lehrmeister, geschätzter General Chuang Diyan – und zwar die besten, die wir bekommen können. Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Doch mit dem Selbstverständnis, dass diese Lehrmeister stets nur Anleiter für die eigene Weisheit darstellen. Ihr kennt den Ausspruch Laotses: ‚Suche nicht den Lehrer, sondern suche, was der Lehrer gesucht hat‘. Jedem Wesen ist die Verantwortung für sein eigenes Handeln übergeben. Folglich ist es jedem Menschen selbst überlassen, für sein Leben einzutreten oder nicht. Ich verschweige nicht, dass er in einer üblen Kultur mit Repression rechnen muss. Dazu komme ich noch.“
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Nun sind es maßgeblich drei moralische Gründe und zwei praktische Gründe, warum ich die Kultur Chuangs als eine üble betrachte. Obgleich all diese Gründe miteinander zusammenhängen, wie sich zeigen wird.“
Danshi fasste sich mit dem linken Zeigefinger and den rechten Zeigefinger, um anzuzeigen, dass er die einzelnen Punkte auszuführen gedachte. „
Der erste Punkt ist der, dass der Prozess der Kulturselektion unterbrochen wird. Dies geschieht im Reich in mannigfaltiger Weise. Am Kaiserhof gilt es mehr, die Werke der Gelehrten zu rezitieren, als selbst Erfahrungen zu machen und Urteile zu bilden, wie unlängst Lü Buwei bewies[2]. Weil durch unser landwirtschaftliches System und die Verödung die Dorf- und Familienverbände zerrissen werden, gibt es keinen Austausch mehr zwischen den Alten und Jungen. Viele Völker leiden darunter, dass ihnen ihre eigene Kultur verboten wird und sie eine Fremde annehmen müssen, die sie dann auch nicht verändern dürfen. Schließlich wird der Mensch auch noch verblendet, nach materiellen Gütern wie sozialem Prestige zu streben, statt eine gute Lebensweise zu verwirklichen, die mit weniger auskommt und gleichwohl unendlich viel reicher ist. Mit diesem Punkt meine ich, das Bewährtes vergessen, Neues blockiert und Verbreitetes als Herrschaftsmittel instrumentalisiert wird. Eine Auswahl nach dem Kriterium, ein gutes Leben zu ermöglichen, geschieht nunmehr viel zu selten.“
Danshi ergriff den Mittelfinger. „
Der zweite ist die Herrschaftsbildung von oben. Im Moment geschieht es, dass die Herrschenden und Mächtigen versuchen, ihre eigenen Ansichten über die soziale Ausgestaltung aufzupropfen. Dies ist deshalb übel, weil die Herrschenden im Zentrum überhaupt nicht wissen können, wie die Bedingungen und die Bevölkerung in der Peripherie sind. Andererseits verhindert das Regieren von oben, dass sich die Individuen an der Ausgestaltung ihrer Lebensbedingungen beteiligen. Doch genau diese Menschen wären es doch, welche am besten wüssten, was zu einem gegebenen Moment am notwendigsten wäre. Und andererseits werden Anweisungen, deren Notwendigkeit man nicht begreift, bestenfalls halbherzig oder aus Angst, jedoch nie mit Schaffensdrang ausgeführt.“
Schließlich fasste er den dritten Finger. „
Der letzte ist, dass diese Kultur auf einem wackligen Fundament aufgebaut ist. Ich demonstriere anhand einer Analogie: Angenommen, Ihr seid Astronom und wollt Euch eine Sternwarte erbauen. Nun habt Ihr Euch einen großen Hügel ausgeguckt, der Euren Zwecken so geeignet scheint, dass Ihr die Warnungen Eurer Assistenten in den Wind schlagt, der Hügel bestehe aus Sand. Doch die Rechnung kommt, als Eure Warte droht, abzusacken. Tatsächlich verwendet Ihr Eure gesamte Kraft, Eure Zeit und Euer Vermögen darauf, den drohenden Niedergang abzuwenden, dass Ihr gar nicht mehr dazu kommt, die Sterne zu beobachten. Ebenso erscheint es mir mit dieser Kultur. War sie ursprünglich ein Mittel zu dem Zweck ein gutes Leben zu ermöglichen, hat sie sich so gewandelt, dass sie zum Selbstzweck geworden ist. Immer deutlicher tritt zu Tage, dass diese Kultur brüchig geworden ist – und zwar nicht erst, seit große Teile der Bevölkerung veramt ist, Kriege das Land verwüsten und die Urintrinker das Zentrum vernichten wollen. Umso stärker sind die Bemühungen, die Kultur zu konservieren. Während sich am Kaiserhof mehr Gelehrte tummeln, als man zeitlebens zuhören kann, produziert ein widersinniges landwirtschaftliches System Hunger und Zwist und die Bevölkerung muss mit Gewalt zurückgehalten werden[3]. Die Konservierung unserer Kultur sorgt somit für Zwänge, denen sich sogar die mächtigsten des Reiches unterwerfen. Wie viele Bemühungen sind auf den Zweck gerichtet, das wackelige Gerüst der Kultur zu stabilisieren? Und wie oft wird die Kultur noch als Mittel zu einem guten Leben verstanden?“
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Diese drei Gründe sind moralischer Natur, weil alle drei dazu beitragen, dass der Einzelne seine Entscheidung, für sich und andere, in persönlicher und als richtig erachteten Weise einzutreten, nicht mehr wahrnimmt.[4] Und dieses Problem betrifft jeden einzelnen von uns.“
Danshi zog die drei Finger wieder ein und fasste den kleinen und den Ringfinger. „
Die praktischen Probleme sind die bereits angesprochene Überbevölkerung und die Endlichkeit der natürlichen Ressourcenausbeutung. Beide bringen Verteilungs-, Versorgungs- und Kommunikationsprobleme mit sich und lässt die Völker zu Rivalen werden. Ich könnte diesen Punkt noch ausführen, wenn Ihr wünscht.“
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Nun habe ich meine Kritik ausgedrückt. Und weil ich sehe, was mich stört, verwende ich meine verbliebenen Möglichkeiten, meine Zeit und meine Kraft darauf, Tätig zu sein. Ihr irrt Euch, wenn Ihr glaubt, dass ich das Üble ergreife. Das Üble ist für mich kein Naturzustand. Ihr glaubt vielleicht, ich sei 'Utopist', doch wer sich einen 'Realisten' schimpft, glaubt ebenso an etwas. Wenn ich die Wahl habe, dann glaube ich doch eher an etwas Gutes, nicht wahr?", erklärte Danshi und zwinkerte mit den Augen. Es sollte klar werden, dass der letzte Punkt nicht ganz ernst gemeint war. Andernfalls war er auch kein Spaß.