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« am: 14.01.2016, 13:39:11 »
Als er endlich allein war, krempelte Casus seinen Ärmel hoch, um auf die Runen blicken zu können, die in die Haut seines Unterarmes eingebrannt waren. Er spürte in seinem Geist, wie die Erinnerung erwachte, aber wie schon seit Jahren wollte sie nicht wirklich zu ihm kommen. Wie ein Wort auf der Zunge liegen konnte, aber nicht ausgesprochen wurde, so sah er jetzt auch das Bild der Frau, die er vor so langer Zeit verloren hatte.
Entschlossen öffnete er die Tür zu der Zelle, in der die Gefangene untergebracht war und noch während er den Türknauf ergriff, bediente er sich seiner ureigenen Kräfte und drang in den Geist seines Opfers ein.
Ganz so, wie er die Erinnerung, die nicht ganz da und doch nicht fern war, in seinem Kopf gespürt hatte, konnte die Novizin ihn jetzt in ihren eigenen Gedanken spüren. Er öffente die Tür und sah ihr in die Augen. Dank seiner Anwesenheit verschwanden die Barrieren des Glaubens, die ihren Geist sonst frei von Furcht hielten und sie wimmerte leise auf. Langsam schloß Casus die Tür hinter sich. Er wollte hierbei nicht gestört werden.
Seine Stimme war süßlich, beinahe freundlich, aber eine Kälte mischte sich unter seine Worte, die Eiseskälte der Furcht, die der Dhampir ausstrahlte: "Keine Angst, ich werde dir nicht weh tun. Zumindest nicht allzu sehr." Bedächtig schritt er zu der Zelle, in der die Frau gefesselt war, öffnete sie und trat hinein. Seine Augen blieben immer auf sein Ziel gerichtet, doch als er kurz vor ihr stand und ihr das Haar vom Nacken strich, wandte sein Blick sich von ihr ab und erneut den fünf Runen auf seinem Unterarm zu. Leise sprach er aus, was dort geschrieben stand: "Kolin." Es zu sagen brachte ihr Bild noch näher an seinen bewussten Geist heran, genauso wie der Geruch des Menschenblutes, den er so nah vor der Gefangenen wahrzunehmen meinte. Seine Fangzähne traten hervor, jetzt nicht mehr zu übersehen und Augenblicke später fühlte er den warmen Geschmack des süßen Blutes in seinem Mund. Er schloss die Augen und da war sie, so makellos wie er sie in Erinnerung hat. Das rote Haar fiel wallend auf ihre Schultern hinab. Und sie lachte. Ihr Lachen war wie Musik in seinen Ohren, die schönste Melodie, die Casus jemals vernommen hatte. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit auch wenn es nur eine Minute dauerte. Schließlich ließ er von der Gefangenen ab und das Bild verschwand wieder aus seinem Geist. Aber er konnte es jetzt besser spüren als je zuvor. Er konnte keine genauen Züge erkennen, aber er sah noch ihr Harr, hörte ihr Lachen. Langsam krempelte er seinen Ärmel wieder herunter und wischte sich damit das übrige Blut ab. Dann riss er ein Stück aus der Kleidung der Gefangenen heraus und drückte es auf ihre Wunde bis die Blutung stoppte. Ihre Augen waren jetzt halb geschlossen, so geschwächt war sie von dem Blutverlust. Leise flüsterte Casus ihr ins Ohr: "Vielen Dank, meine Liebe. Jetzt ruh dich aus."
Anschließend lies er sie zurück, sein Gang beschwingter als zuvor, seine Stimmung gehoben. Ihm war jetzt umso klarer, wieso er all dies tat. Wenn sie Erfolg hatten, würde er ihr Lachen wieder in Wirklichkeit und nicht nur in Gedanken hören können.