Mip Strauchelbein aus dem Weidenbachtal
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Wie schön das Leben im Weidenbachtal doch war. Fernab von den Reichen der „Großen Leute“, führten die Halblinge an diesem Ort ein ruhiges und beschauliches Dasein. Das große Tal wurde sowohl in seinem nördlichen Teil als auch an den West- und Ostseiten von einem bewaldeten Hügelkamm umspannt. Einzige Zugangsmöglichkeit zu diesem Teil der Welt bildete die Südseite, die jedoch ebenfalls eine natürliche Barriere besaß. Hier verlief die Lautwasser von ost nach west und nur die Südbrücke ermöglichte eine gefahrlose Überquerung dieses großen und reißenden Flusses. Blickte man von der Brücke aus einige Dutzend Meter nach Osten, sah man die Stelle, an der der Weidenbach in die Lautwasser mündete. Seinen Ursprung hatte der Bach in den Hängen an der Nordseite des Tals, so daß er das gesamte Tal in seiner vollen Länge durchfloß und den hiesigen Bauern und Landwirten eine optimale Bewässerung ihrer Anbauflächen ermöglichte.
Eine erste Anlaufstelle für Besucher des Tals war stets das Wirtshaus Zum tönernen Krug, welches nur unweit der Südbrücke zu finden war. Der Wirt, Willi Lachhals, war ein sehr umgänglicher und lebenslustiger Geselle, welcher Fremden längst nicht so verschlossen und mißtrauisch gegenüberstand, wie es ein Großteil der Talbevölkerung für gewöhnlich war.
Durchwandert ein Besucher schließlich das gesamte Weidenbachtal, wird ihm so mancher Handwerksbetrieb neben den sorgfältig geführten Farmen auffallen. Ein Kerzenmacher, eine Seilerei und ein Schlosser fehlen ebensowenig wie eine Mühle und die daran angeschlossene Bäckerstube, die von Dotti Strauchelbein und ihrem Mann Gwiston geführt wird.
Stolz sind die Halblinge auf ihr heimisches Bier, welches nach einem uralten, wohlgehüteten Spezialrezept in der Brauerei Deftiges Korn hergestellt wird. Aber noch weitaus bekannter als das Bier ist der Weidener Wein, welcher eine solche Berühmtheit auch weit über die Grenzen des Tals gewonnen hat, das gerade in jüngster Zeit immer häufiger Fremde in den Ort kommen, um von den süßen und saftigen Trauben zu kosten, die an den Westhängen prachtvoll gedeihen.
Erwähnenswert ist noch der im Weidenbachtal ansässige Bogenbauer Wally Talbot. Dieser schon an Jahren recht fortgeschrittene Halbling darf ohne Zweifel zu den Meistern seines Fachs gezählt werden. Seine Kurzbögen sind von erlesener Qualität und es ist selbstverständlich, daß nahezu jede Familie im Tal einen Bogen von Wally Talbot ihr eigen nennen darf. Gerade bei den jüngeren Halblingen hat sich der „Apfelschuß“ in den vergangenen Jahren zum beliebtesten Spiel überhaupt gemausert, ein Spiel, welches seinen Teilnehmern ein immenses Maß an Geschicklichkeit und ein scharfes Auge abverlangt. Bei den älteren Dorfbewohneren ist das Spiel beileibe nicht gern gesehen, wird es doch als zu gefährlich erachtet.
Doch wenden wir uns wieder der Bäckersfamilie zu. Die Strauchelbeins haben drei Kinder: der älteste Junge, Sam, arbeitet bereits wie seine Schwester Myra in der Mühle und in der Bäckerei tatkräftig mit. Sorgen bereitet den Krummfüßens nur ihr jüngstes Kind, Mip. Der Junge ist sogar für einen Halbling recht kleinwüchsig und hatte Zeit seines Lebens Probleme mit den verschiedensten Krankheiten, die ihn häufig das Bett hüten ließen. Jetzt, da er bald seinen 21ten Frühling im Weidenbachtal erleben wird, ist es für den Jungen an der Zeit, sich einen Lehrmeister zu suchen und einen ordentlichen Beruf zu erlernen. Dotti und ihr Mann Gwiston plagt der Gedanke, daß für den Jungen im familiären Betrieb einfach kein Platz mehr ist und der Junge gezwungen sein wird, woanders unterzukommen, etwas, daß aufgrund seiner geringen Größe und der Tatsache, daß er relativ schwächlich ist, mit einigen Schwierigkeiten verbunden sein dürfte. Doch wer weiß, der Lithetag, welcher die Jahresmitte beschreibt, steht kurz bevor und es ist der Tag, an dem die heimischen Lehrmeister nach neuen geeigneten Lehrlingen suchen. Generationen von jungen Halblingen sahen diesem Tag bereits angstvoll entgegen, hat doch die Prozedur der Auswahl etwas spannendes und zugleich erniedrigendes an sich. Die Familien von geeigneten Kandidaten versammeln sich am Lithetag mit ihren Sprößlingen auf dem großen Marktplatz des Weidenbachtals; ebenso anwesend sind diejenigen Lehrmeister, die eines neuen Lehrlings bedürfen.
Häufig wird bereits in Gesprächen vor dem Tag der Jahresmitte eine Übereinkunft getroffen, welcher Halblingsjunge oder welches Halblingsmädchen welchem Lehrmeister zugeteilt wird, aber dies ist bei weitem nicht immer der Fall.
Und so war es auch bei Mip.
Niemand schien Interesse an dem zu kleinen und sehr schwächlichen Jungen zu haben, so daß die Strauchelbeins bangen Herzens am Lithetag zum Marktplatz aufbrachen. Gemächlich nahm das Auswahlverfahren seinen Verlauf und am Schluß hatte jeder der Anwesenden einen Lehrer gefunden, alle bis auf Mip. Dieser stand nun mit gebeugten Haupt neben seinen Eltern, die tröstend auf ihren Jungen einredeten. „Ich werde den Kleinen ausbilden“. Die Strauchelbeins blickten sich erstaunt um. Gwiston, der Müller, faßte sich als erster aus seiner Familie. „Ihr, Meister Batel,“ kam der erstaunte Ausruf von Vater Strauchelbein. „Mit Verlaub, ihr seid doch im Ruhestand, wozu benötigt ihr da noch einen Lehrling“? Der angesprochene Halbling mit Namen Dwilcath Batel war früher einmal der Schlosser des Weidenbachtals gewesen, bevor er seinen Betrieb an einen Gesellen übergeben hatte und in den wohlverdienten Ruhestand gegangen war. „Sicher, recht habt ihr, werter Müller, doch fühle ich mich neuerdings, wie soll ich sagen, überflüssig und nutzlos in meinem Alterssitz und hege daher den Wunsch, mein Wissen über die Schlosserei weiterzugeben, als Zeitvertreib sozusagen. Euer Junge wird wie ein normaler Lehrling bei mir wohnen und auch einen angemessenen Lohn erhalten, ganz so wie es das Brauchtum erwartet“.
Und so geschah es, daß Mip Strauchelbein doch noch einen Lehrmeister bekam, doch sollte sich seine Ausbildung zum Schlosser anders gestalten, als es sich einer aus der Familie der Strauchelbeins hätte vorstellen können, am allerwenigsten Mip selbst.
Noch am selbigen Tag zog der kleine Mip mit seinen wenigen Habseligkeiten in das Haus von Dwilcath Batel. Nachdem er sich in seinem neuen Heim eingerichtet hatte, war es bald an der Zeit, zu Abend zu essen. Viele Worte wurden während des Mahls nicht gewechselt; Mip fühlte sich ein wenig unwohl in seiner Haut, meinte er doch, daß ihn sein neuer Lehrer ständig beobachtete. „Hör mal, mein Junge,“ hob Meister Batel zu sprechen an, „du mußt mir nach dem Essen einen Gefallen erweisen. Meine Augen sind längst nicht mehr so scharf, wie sie es einmal waren. Die kleine Kiste, die dort vorne auf der Anrichte steht, müßte geöffnet werden, aber dummerweise habe ich den Schlüssel dazu verloren. Versuch du bitte, sie aufzubekommen“. Mip drehte sich in seinem Stuhl herum und sah die unscheinbare Kiste. „Natürlich, Meister, ich mache mich sofort an die Arbeit“.
Prüfend musterte Mip die Truhe. Der alte Schlosser hatte ein paar Werkzeuge, darunter auch etwas das wie ein Dietrich aussah, danebengelegt. Mip nahm letzteren an sich und machte sich vorsichtig an dem Schloß zu schaffen. Nach nur wenigen Minuten hörte er ein leises Klicken, kurz darauf schnellte etwas aus dem Schloß hervor. Mit übermenschlicher Schnelligkeit wich der kleine Halbling dem Ding, was immer es war, aus und es prallte harmlos an die gegenüberliegende Wand. „Bei Yondallah! Nach all den Jahren scheine ich endlich einen geeigneten Lehrling gefunden zu haben. Mein Instinkt sagte mir, daß du der Richtige sein würdest. Morgen werden wir mit deiner Ausbildung beginnen. Geh jetzt zu Bett, Junge. Du wirst deine gesamte Kraft und Konzentration in der kommenden Zeit benötigen“. Schweigend hatte Mip seinem Lehrmeister zugehört. Er sah, daß es sich bei dem Objekt, welches so unvermittelt aus dem Schloß geschleudert worden war, um eine kleine Nadel handelte, später sollte er erfahren, daß es sich sogar um eine Giftnadel gehandelt hatte...
Meister Batel sollte recht behalten. Die kommenden Monate erwiesen sich für Mip als anstrengend und nervenzermürbend. Er lernte in dieser Zeit eine Unmenge von Dingen über Schlösser im allgemeinen, Fallen insbesondere, über das lautlose Entwenden eines Gegenstandes ( Diebstahl in der Umgangssprache ) und vieles mehr. Und seine Ausbildung zum Taschendieb und Einbrecher verlief offensichtlich zur äußersten Zufriedenheit seines Meisters, aber, und das war das entscheidende, Mip fühlte sich bei allem was er lernte und tat WOHL.
Nach zwei langen Jahren teilte Dwilcath seinem Schüler schließlich mit, daß die Ausbildung beendet sei. Mip quittierte dies mit einem stummen Nicken. Waren er und Meister Batel in der zurückliegenden Zeit auch Freunde geworden, so war doch die Kommunikation zwischen ihnen häufig durch Gesten und ihr Mienenspiel erfolgt.
„Mip, ich möchte dir einen Vorschlag machen“. Interessiert schaute der kleine Halbling auf. „Ich will mein Leben nicht hier in meiner Erdhöhle im Weidenbachtal beenden, ganz so wie ein alter Dachs in seinem Bau. Mit dir an meiner Seite, traue ich mir noch einmal zu, ferne Länder zu bereisen, die tiefsten Verliese zu durchwandern und die dunkelsten Tempel namenloser Götter zu erforschen. Komm mit mir, Mip, lass uns auf Wanderschaft gehen“.
Mip nickte und schlug mit einem breiten Grinsen im Gesicht in die ihm dargebotene Hand seines Meisters ein...