Hintergrund (Anzeigen)"Was soll das heißen, ich muss gehen?" ungläubig starrte Rumar die alte Olga an. Sie war nie besonders nett zu ihm oder einem der anderen Kinder gewesen aber dass sie ihn jetzt verscheuchte, damit hatte er trotzdem nicht gerechnet. "Du bist jetzt 12 Jahre alt. Wir kriegen kein Geld mehr für dich, also musst du gehen. Das ist aber nichts Neues für dich – du hast das schon oft bei anderen Kindern mitangesehen." Da hatte sie natürlich Recht aber trotzdem hatte er an der Hoffnung festgehalten, bleiben zu dürfen. Die Momente, in denen die anderen Kinder weggeschickt worden waren, waren immer so unwirklich gewesen. Als würde ihn das niemals treffen können. Außerdem musste er erstmal 12 werden, hatte er sich gedacht und sein Geburtstag war noch in so weiter Ferne gewesen. Doch er war schneller näher gerückt, als er geglaubt hatte und nun war er da. Ein tolles Geschenk. "Was soll ich denn jetzt machen? Ich kann doch nirgendwohin." Tränen begannen sich in seinen Augen zu bilden – doch Olga zuckte nur mit den Schultern. "Du bist alt genug, um zu arbeiten. Mach dich nützlich. Geh zum Hafen und verlade Waren, wenn du nichts anderes findest. Die brauchen immer Helfer." Rumar nickte niedergeschlagen. Es war nicht so, dass er sich dagegen wehren konnte. Was konnte er schon tun, um die umzustimmen? Er war doch nichts mehr wert. "Na gut. Danke für…" Doch Olga schloss bereits die Tür und war fertig mit ihm.
Mit hängendem Kopf machte er sich auf den Weg. Er schlenderte durch das Waisenhaus, unwillig sein Zuhause so schnell hinter sich zu lassen. Er wanderte durch die Räume, verabschiedete sich von Freunden mit dem Versprechen, sie bald zu besuchen und schloss nach einiger Zeit schließlich die Eingangstür des Gebäudes. Mit einem tiefen Seufzen und einem letzten Blick machte er sich schließlich auf, einem neuen Ziel entgegen. Den Hafen. Hier in Rags End würde er keine Arbeit finden aber zumindest hatte Olga ihm einen guten Anhaltspunkt gegeben. Wenn er wirklich Arbeit fand, würde er sich etwas ablenken können. Zuerst musste er dafür sorgen, dass er an etwas zu Essen und Trinken kam – dann konnte er sich immer noch um eine Unterkunft kümmern. Seine Beine trugen ihn durch die verschiedenen Stadtteile Magnimars, bis er schließlich den Hafen erreichte. Dort angekommen, verlor er keine Zeit. Die Männer, die auf den Piers bereits Kisten und Fässer schleppen, waren sein Ziel und schnell hatte er einen ersten Ansprechpartner. Ein Kapitän hatte überraschenderweise einen Auftrag bekommen und musste auslaufen, bevor ein naher Sturm all seine Pläne zunichtemachte. Er nahm jede Hand, die sich ihm anbot.
Und so machte sich Rumar nach einem kurzen Gespräch an die Arbeit. Gezeigt wurde ihm nichts. Er musste sich alle Informationen selbst einholen und alles abgucken. Doch es war nichts Schweres daran, ein paar Waren zu schleppen, sodass er schnell wusste, was zu tun war. Nur leider war er erst 12 und auch wenn er kräftig für sein Alter war, war er lange nicht stark genug, um die schweren Kisten zu schleppen. Er begnügte sich also mit einzelnen Dingen, die herumstanden. Ein Brett hier, ein Seil dort. Mehrere Stunden war er so beschäftigt und als das Schiff endlich beladen war, holte er sich seine Bezahlung ab. Der Kapitän legte ihm einige Kupfermünzen in die Hand und bedeutete ihm wortlos zu gehen. "Das ist alles?" fragte der Junge ungläubig. "Damit kann ich mir ja nicht mal was zu essen kaufen!" Der Kapitän winkte ab. "Wer wenig arbeitet, bekommt auch wenig Geld." Erklärte der alte Mann unberührt. "Aber ich bin mal nicht so und schenke dir einen guten Tipp umsonst dazu. Sprech immer vorher über die Bezahlung." Als sich Rumar nicht daran machte, zu gehen, half der Kapitän etwas nach und schubste den Jungen vor sich her. "Und jetzt verschwinde." An diesem Tag lernte er zwei Dinge. Das Leben war härter und ungerechter als er dachte und er sollte immer vorher über die Bezahlung reden. Diese Weisheit half ihm aber jetzt auch nicht weiter. Er kaufte sich am Markt einen halben Laib trockenen Brotes und füllte einen Tonkrug, den er vom Waisenhaus hatte mitgehen lassen, mit Wasser und damit war sein Geld auch schon fast aufgebraucht. Die Nacht verbrachte er auf dem harten Steinboden. Zumindest regnete es nicht und am Hafen war auch nachts noch so viel los, dass er zumindest unterhalten wurde. Doch auch die Schlägereien der betrunkenen Matrosen konnten die Gedanken an eine leere und sinnlose Zukunft nicht verscheuchen. An diesem Abend weinte sich der Junge leise in den Schlaf.
Die nächsten Tage verbrachte Rumar sehr ähnlich. Um zumindest an genug Wasser und Nahrung zu kommen, musste er viel am Hafen arbeiten. Die Nächte verbrachte er unter freiem Himmel, da er sich eine Unterkunft nicht leisten konnte. Wenn er nicht arbeitete, schlenderte er durch die Stadt und sah sich Dinge an, die sich sowieso nicht leisten oder die er niemals tun oder erreichen konnte. Ab und zu besuchte er alte Freunde im Waisenhaus aber wenn Olga das mitbekam, scheuchte sie ihn fort, sodass er nicht lange dort bleiben konnte. Manchmal verbrachte er auch einige Stunden mit seinen Freunden auf den Straßen. Es kümmerte sowieso niemanden, was die Waisenkinder so taten, um ihre Zeit zu vergeuden. Eines Tages wurde er aber Zeuge eines Schwindels und dies veränderte sein Leben für immer. Es war eine Bande von Kindern, etwas älter als er selbst, die einen jungen Mann bestahlen, ohne dass dieser es mitbekam. Ein Junge tat so, als hätte er sich verletzt und während der junge Mann helfen wollte, schlich sich ein Mädchen an und erleichterte das Opfer um seinen Geldbeutel. Fassungslos sah sich Rumar das Ganze an. Einen Moment überlegte er, ob er dem Mann Bescheid sagen sollte aber entschied sich schließlich dagegen. Wenn er nicht bis an sein Lebensende am Hafen für einen Hungerlohn arbeiten wollte, musste er etwas tun. Wenn er erst einmal Geld hatte, standen ihm einige Türen offen. Jedes Kind – auch Waisenkinder – wusste, dass Geld das Leben erleichterte. Keine harten Steinböden mehr. Kein trockenes Brot. Endlich mal wieder etwas Richtiges zu Essen und ein weiches Bett. Er hatte also keine Gewissensbisse, irgendwelche Fremden auszurauben. Es hatte ihm sowieso nie jemand etwas Gutes getan. Nie war ihm Gutes erfahren. Seine Eltern hatten ihn einfach so am Waisenhaus abgegeben, wie ein Stück Müll. Niemand kümmerte sich um ihn. Weder die Arbeiter am Hafen, noch die Reisenden oder die alte Olga im Waisenhaus. Wieso sollte er sich nicht also einfach das nehmen, dass er zum Leben brauchte? Wenn ihn jeder entweder wie Luft oder Dreck behandelte, wieso sollte er nicht auch diese Leute wie Dreck behandeln? Man sagte schließlich nicht umsonst: Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es auch wieder heraus.
Rumar seufzte und betrachtete einen Mann, der vom Husten geschüttelt, vor seinem Fenster entlanglief. Die Zeit damals war hart gewesen. Noch am selben Tag hatte er sich an die Kinderbande gewandt und darum gebeten, mitzumachen. Nach einigem Hin und Her und einem kurzen Test, hatte man ihn aufgenommen. Die nächsten Jahre hatte er mit der Bande verbracht und sich vor allem durch Diebstähle und Schwindeleien über Wasser gehalten. Es war härtere Arbeit gewesen, als er sich anfangs gedacht hatte und dazu war sie auch noch gefährlicher gewesen. Aber nach einem erfolgreichen Diebstahl hatten sie manchmal tagelang nicht mehr stehlen müssen und dann hatten sie die Zeit anders verbringen können. Aus den Kindern wurden bald Jugendliche und dann junge Erwachsene. Mit dem Alter, dem Training und Erfahrung, wurden aus Diebstählen schnell Überfälle. Zwar veränderte sich die Bande immer wieder durch Todesfälle, Ausstiege und neue Mitglieder aber der harte Kern blieb bestehen und so hatte Rumar Freunde gefunden. Mehr als das. Diese Leute, die von anderen Menschen einfach nur als Banditen bezeichnet wurden, waren seine Familie. Doch was sich nicht änderte, war ihr Handwerk und darin waren sie wirklich gut.
Es war ein kalter Winterabend, den sich die Gruppe ausgesucht hatte, um mal wieder richtig Beute zu machen. Sie hatten eine kleine Trockenzeit hinter sich und es wurde Zeit, die Kassen mal wieder ordentlich zu füllen. Sie alle waren Banditen – da machten sie sich nichts vor. Doch sie waren erfahren und wussten, wie sie ihren Job zu tun hatten. Rumar hatte in einer nahen Taverne von einer Händlerkarawane erfahren, die zwar gut bewacht wurde aber auch sehr lukrative Waren mit sich führte. Es war ein Risiko, sich mit den Wachen der Händler anzulegen aber eines, dass sie gewillt gewesen waren, einzugehen. Wenn dieser Überfall Erfolg hatte, hatten sie für einige Wochen, eher sogar Monate ausgedient. Jetzt saßen und standen sie hier im Schnee und warteten darauf, dass die Händler und ihre Wachen auf der Bildfläche erschienen. Ein gutes Dutzend waren sie und alle bis an die Zähne bewaffnet. Quasi unsichtbar. Sie hatten sich gut vorbereitet und trugen alle weiße Mäntel, um sich im Schnee besser verstecken zu können. Selbst Rumar konnte jetzt nur seinen Freund Olaf erkennen, der zwei Meter neben ihm hinter einem Baum stand. Der Rest verschmolz mit den Schatten und dem Schnee. Sie würden aus dem Hinterhalt angreifen und hoffentlich die meisten Wachen ausschalten, bevor diese überhaupt wussten, was passierte. Also warteten sie. Und warteten. Rumar wurde langsam ungeduldig. Hatte man ihm falsche Informationen gegeben? Der Informant war ihm nicht bekannt gewesen aber die Aussicht auf einen solchen Gewinn und eine gute, sehr gute Bezahlung hatten sie dazu gebracht, diesem Unbekannten zu vertrauen. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Er bekam ein mieses Gefühl in der Magengegend. Hier stimme etwas nicht. Vorsichtig stand er in dem Schnee auf und wollte gerade seine Hand heben, um zu signalisieren, dass sie sich unterhalten mussten, als er knirschenden Schnee hörte. Zu laut, um von einem seiner Freunde zu stammen.
Und da waren sie. Die Wachen der Karawane mussten sich angeschlichen haben und waren nun schon auf einige Meter herangekommen, bis ihre schwere Rüstung sie doch noch verraten hatte. Die Gruppe war vom Informanten verraten worden. "Rückzug!" schrie Rumar, bevor er instinktiv einen Bolzen auf den nächstbesten Mann abschoss, im gleichen Atemzug seine Armbrust fallen ließ und zu seinem Kurzschwert griff. Der Bolzen traf den Mann in die Brust aber hielt ihn kaum auf. Die Kettenrüstung hatte den Bolzen abgelenkt. Verdammt. Vorsichtig wich er von der Handvoll Wachen zurück, die sich ihm und seinen Kollegen aus dem Wald näherten. Er sah sich um und musste sich zusammenreißen, um nicht in Panik zu verfallen. Aus zwei weiteren Richtungen kamen weitere Männer und Frauen in Kettenhemden. Sie hatten sich aufgeteilt, um die Bande zu umzingeln und an der Flucht zu hindern. Scheiße. Sie würden kämpfen müssen, wenn sie das Überleben wollten. Er gesellte sich zu seinem Freund Olaf. "Wir müssen kämpfen." Sagte er ernst. "Gib mir Deckung." Zusammen stellten sie sich den Wachen, während überall um sie herum das Chaos ausbrach.
Es war ein wahres Gemetzel. Die Gruppe wurde eingekreist und voneinander getrennt, sodass es zu Einzelkämpfen oder kleinen Scharmützel kam. Das war vor allem deshalb schlecht, weil sie nicht so gut ausgerüstet waren wie die Karawanenwachen. Zwar waren sie erfolgreich auf ihren Überfällen gewesen aber gute Ausrüstung war nun mal sehr teuer. Dazu kam, dass sie sich auf den Überraschungsmoment gestützt hatten. Sie waren nur leicht gerüstet, während die Wachen Kettenhemden und Brustpanzer trugen. So mussten die Banditen alles geben und dazu auch noch trickreich sein. Rumar schwang sein Kurzschwert, parierte Schläge und täuschte Hiebe an, nur um dann im letzten Moment umzugreifen und eine andere Stelle zu attackieren. Er umging die Brustpanzer und schlug gnadenlos auf Gesichter, Arme, Beine und andere ungeschützte oder schlecht geschützte Stellen. Olaf gab ihm Deckung und zusammen konnten sie ihre Angreifer bezwingen, ohne selbst zu schwer verletzt zu werden. Ein letzter Streich und aus dem Hals seines Gegenübers begann das Blut zu sprudeln. Rumar wandte sich sofort um und kam seinen Freunden zur Hilfe. Einige waren bereits gefallen aber man rechnete nicht damit, dass die anderen Kämpfe so schnell beendet waren. Eine Wache konnte Rumar von hinten erstechen, ohne dass diese ihn oder den Schwertstreich überhaupt kommen sah. Langsam begann sich das Blatt zu wenden und die Wachen formierten sich, um den Banditen besser und vor allem gemeinsam entgegentreten zu können. Doch sie hatten ein Ass im Ärmel. Einer der Banditen griff in seine Tasche und holte daraus ein Fläschchen hervor. Er warf es in die Mitte der Wachen, wo es zersplitterte und Feuer über sie verteilte. In den schweren Rüstungen konnten sie sich vor diesem Angriff nicht retten und wurden langsam bei lebendigem Leibe in ihren Rüstungen verbrannt, während sie von den angreifenden Banditen überrannt wurden.
Die Kämpfe waren recht schnell vorüber – nur wenige Minuten hatten sie gedauert. Oft sprach man von glorreichen und epischen Schlachten aber das wir war ein Massaker gewesen. Zwar hatten sie die Wachen besiegen können aber von dem ehemals Dutzend war nur noch eine Handvoll übrig geblieben. Zwei weitere Männer waren schwer verletzt und würden die Nacht wahrscheinlich nicht überstehen. Das war das Ende. Rumar seufzte schwer. Er gab sich nicht die Schuld – sie hatten gemeinsam entschieden dem Informanten zu trauen. Der Einsatz war genauso groß wie das Risiko aber lange nicht so riesig wie der mögliche Gewinn gewesen. Sie hatten gespielt und verloren. Doch das war nun kein Grund, aufzugeben. "Gehen wir uns die Beute holen." Schlug Rumar vor. Es half alles nichts. Wenn sie jetzt einfach gingen, war alles umsonst. Sie sollten wenigstens die hart erarbeiteten Früchte ernten. "Wir begraben unsere Freunde später. Jetzt müssen wir schnell machen, bevor die Händler merken, was passiert ist." Olaf, einer der Überlebenden, nickte bestätigend und auch der klägliche Rest teilte seine Meinung. Sie ließen ihre Freunde und Feinde im rotgetränkten Schnee liegen. Es dauerte nicht lange, bis sie die Wagen und dazugehörigen Händler gefunden hatten. Insgesamt vier vollgeladene Karren. Zwei Wachen waren zurückgeblieben aber der Rest waren Männer und Frauen ohne Kampferfahrung, die lieber ihre Waren als ihr Leben aufgeben würden. Rumar kannte diese Art Mensch. Die Handvoll Banditen schlich sich vorsichtig an – geschützt durch die Dunkelheit und ihre Mäntel. Auf einen Fingerzeig schossen sie alle einen Bolzen auf eine der Wachen, die sofort schwer getroffen zu Boden ging. Bevor die andere Wache ausgemacht hatte, woher die Bolzen gekommen waren, hatten Rumar und seine Banditenfreunde bereits nachgeladen und feuerten erneut.
Die Händler ergaben sich nach einem kurzen aber erfolglosen Versuch der Selbstverteidigung. Jeder der Banditen stieg auf einen der Wagen, mit dem Plan, die Beute in Sicherheit zu bringen, bevor sie zurückkehren und ihre Freunde begraben würden. Ihre Opfer wurden noch ihrer Geldbörsen beraubt und dann in der Kälte stehen gelassen. Sie würden sicherlich irgendwen anheuern, um die gestohlenen Waren wiederzuholen aber Rumar und seine Banditen wären nicht so erfolgreich, wenn sie nicht ein sicheres Versteck hätten. Sie luden dort die Waren ab, ohne sich genauer damit zu beschäftigen und gingen dann zurück zum Kampfplatz, um mithilfe eines Karren ihre gefallenen Freunde zu einem sichereren Ort zu bewegen und dort die Nacht damit zu verbringen, zu fünft ein Massengrab auszuheben. Banditen wie sie durften nicht auf besseres hoffen. Leider. Schließlich – es war schon später Morgen – kehrten sie in ihr Versteck zurück, um sich die Beute anzusehen. Doch auch wenn es eine wirklich ordentliche Ladung war und sie die vielen tausend Goldmünzen nur noch auf fünf Personen aufteilen mussten, stellte sich keine Freude ein. Zwar war Rumar ein Bandit und zögerte nicht, Unschuldige zu töten aber diese Leute waren dennoch seine Freunde gewesen und hätte er die Möglichkeit gehabt, dann hätte er auf diesen Raubzug verzichtet. Doch er konnte die Zeit nicht zurückdrehen und so musste er mit dieser Entscheidung leben. Wie sie alle. Jeder der Banditen war sich des Risikos bewusst, dass sie bei den Raubzügen eingingen und dieses beinhaltete nun mal auch den Tod. Besser fühlte er sich dabei dennoch nicht. Die fünf übrig gebliebenen Männer teilten die Beute gerecht auf. Hauptsächlich Handelsgüter wie Stoffe, Erze und Gewürze. Auch einige gut gefertigte Waffen waren dabei und Lebensmittel. Nachdem die Waren an die richtigen Personen verkauft worden waren, würden sie alle in Gold ertrinken können. Mit gemischten Gefühlen ging Rumar schließlich zu Bett. Er freute sich auf die Zukunft und die sorgenlose Zeit voller Luxus aber trauerte um seine gefallenen Freunde. Ohne es zu wissen, würde diese Nacht sein Leben verändern.
Er schlief nicht besonders gut und wachte ständig schweißgebadet auf, als hätte er einen Albtraum gehabt. An den Inhalt dieser Albträume konnte er sich allerdings nicht erinnern. Auch wenn er wach lag, hatte er ein schlechtes Gefühl. Ganz so, als würde ein schreckliches Unheil über ihm schweben oder ihn ein böser Schatten umschlingen. Er konnte nicht mit dem Finger drauf zeigen und gab die Schuld seinem schlechten Gewissen und Schuldgefühlen. Als er am nächsten Morgen, nach einer sehr unruhigen Nacht, erwachte, war er krank. Dies war das erste Mal, dass er seinen Körper faulen sah. Es begann mit einem etwa faustgroßen, schwitzenden Fleck an seinem Bauch. Anfangs machte er sich nicht viel daraus. Es gab viel zu tun, denn er musste die Ware an den Mann bringen und das war bei gestohlenen Gütern nicht so einfach. In den vergangenen Jahren hatte er allerdings einige Kontakte geknüpft, sodass ihm und seinen Kollegen das nicht mehr so schwer fiel. Die nächste Zeit verbrachten sie also mit Schmuggel, Handel und Verkauf der gestohlenen Güter. Der Geldbeutel wurde schnell mit Goldmünzen gefüllt und schon bald reichte ein einziger kleiner Beutel nicht mehr aus, um all den Reichtum zu fassen. Ein bisschen Luxus gönnte er sich schon, auch wenn er generell auch schon damals ein genügsamer Mensch war. Doch so viel Geld zu haben, musste ausgenutzt werden und so ging er mit seinen Banditenfreunden feiern oder gönnte sich exotische Lebensmittel aus fernen Ländern.
Während dieser Zeit begann sich die Krankheit jedoch weiter auszubreiten. Es blieb nicht bei einem faustgroßen, schwitzenden Fleck. Bald waren seine Seite und ein Teil seiner Hüfte befallen. Die Haut begann rissig zu werden und das Fleisch darunter sich zu verfärben. Er begann damit Salben, Tinkturen und andere Heilmittel zu kaufen aber diese hatten keinen Erfolg. Als er nach einigen Tagen neben einem abgefallenen Stück seines eigenen Körpers aufwachte, war es für ihn genug. Wenn die Heilmittel nichts brachten, mussten härtere Geschütze aufgefahren werden. Er wandte sich an Priester und Kleriker, die Heilmagie beherrschten. Das war sehr teuer und leider blieb die erhoffte Heilung aus. Die Krankheit kroch weiter seinen Körper hinauf und egal was Rumar kaufte und versuchte – nichts hatte Erfolg. Irgendwann waren die vielen tausend Goldmünzen, die er durch den Raubzug gewonnen hatte, verbraucht und als er dies realisierte, begann er über eine Strafe nachzudenken.
Natürlich, dachte er sich damals. Er wurde für seine Taten bestraft. Er hatte vielen Leuten alles genommen, was sie besaßen und manchen sogar noch mehr – ihr Leben. Er hatte seine Freunde auf dem Gewissen. Das Leben, das er führte, war keines, das die Götter guthießen. Zumindest der Großteil. Eine Strafe war das einzige, was einen Sinn ergab. Man hatte ihn und seinen Körper verflucht. Die Krankheit hatte sich jetzt bis an sein Kinn ausgebreitet und er hatte begonnen, eine große Robe zu tragen, um seinen verfaulenden Körper zu verstecken. Seltsamerweise spürte er keinen Schmerz – und das obwohl ihm Haut und Fleisch vom Körper fielen. Ein großer Teil seines Körpers war rissig und krankhaft verfärbt. Das war keine normale Krankheit, das wurde ihm eines Tages bewusst. Im gleichen Zusammenhang dachte er über Lösungen nach. Die Götter waren nicht zufrieden mit ihm und hatten ihn bestraft. Die logische Schlussfolgerung war, dass er seine Lebensweise ändern musste, damit der Fluch von ihm genommen wurde. Doch was konnte er tun? Mehrere Tage machte er sich darüber Gedanken, wie er den Göttern zeigen konnte, dass er sich ändern wollte. Dass er die Krankheit loswerden wollte. Er würde alles tun, um nicht in einem toten Körper zu enden. Er fand keine Antwort auf seine Frage. Es musste etwas Bedeutendes sein aber was? Dann kam ihm die Idee. Wenn er nicht selbst herausfand, was die Götter verlangten, dann musste er sich eben an jemanden wenden, der wusste, was sie wollten. Sofort machte er sich auf den Weg zur nächsten Kirche. Wie viele Kirchen im Land, war diese nicht einer einzigen Gottheit, sondern dem ganzen Pantheon guter Gottheiten gewidmet. Hier würde er Antworten finden. Das hoffte er zumindest.
"Ich kann euch eure Frage leider nicht beantworten." Verdammt. Da war er schon auf die Idee gekommen, mit dem hiesigen Priester zu sprechen aber dann half es doch nicht. "Aber irgendetwas müssen die Götter wollen. Seht euch das doch nur mal an!" Er hob die Robe und offenbarte seinen faulenden Körper. Der Priester zog scharf und überrascht die Luft ein aber begann schließlich damit, die Stelle zu untersuchen. "Und ihr sagt, dass dies ein Fluch ist? Wieso sollten die Götter euren Körper faulen lassen?" Rumar zögerte mit seiner Antwort. Man sagte zwar immer, dass einem alle Taten vergeben wurden aber er war sich nicht sicher. Wenn selbst die Götter ihn bestraften, wie würde dann ein Priester auf sein bisheriges Leben reagieren? "Ich habe einige Dinge getan, die den Göttern wohl nicht gefallen haben." Antwortete er ausweichend. Der Priester nickte nur wissend. "Ich kann euch leider nicht weiterhelfen aber ihr scheint diese Taten zu bereuen und die Götter werden diese Reue spüren." Plötzlich hellte sich das Gesicht des Priesters auf. Er hatte eine Idee. "Vielleicht nehmen die Götter diesen Fluch von euch, wenn sie merken, dass ihr euch geändert habt. Was haltet ihr davon, hier als Akolyth zu arbeiten? Ich kann eine helfende Hand gebrauchen. Es gibt viele geschundene Seelen, die Hilfe und Rat benötigen." Lange dachte Rumar über diesen Vorschlag nach. Er hatte es nie in Erwägung gezogen, etwas für andere Menschen zu tun. Sein ganzes Leben hatte sich darum gedreht, einen Vorteil aus anderen zu ziehen. Es ihnen heimzuzahlen für sein schweres Leben, in dem ihn auch niemand unterstützt hatte. Konnte und wollte er versuchen, auf eine andere Art und Weise zu leben? Auf eine gute Weise? Den Menschen helfen, statt sie zu töten und zu bestehlen?
Wenn Rumar heute auf diesen Augenblick zurückblickt weiß er, dass er anfangs nur aus einem Grund diesen Weg gewählt hatte. Um den Fluch loszuwerden. Sein einziger Wunsch damals war es, seinen Körper zu retten. Ob er sich wirklich ändern würde und vor allem konnte, nachdem er sein halbes Leben als Bandit verbracht hatte, wusste er nicht. Aber da alles Gold nichts half und er nicht wollte, dass sein Körper komplett verfaulte, begann er die Arbeit als Akolyth. Er brach selbst den Kontakt mit seinen Banditenfreunden ab, denn er wusste, dass diese ihm ungewollt Steine in seinen Weg legen würden. Er musste sein altes Leben komplett hinter sich lassen und neu beginnen. Da er sein ganzes Vermögen für Behandlungen ausgegeben hatte, fiel ihm das tatsächlich nicht so schwer, wie er anfangs dachte. Er hatte sowieso nichts, an dem er wirklich hing – bis auf seine Freunde. Aber auch was die betraf, musste er hart bleiben. Es ging schließlich um nicht weniger als sein Leben. Zwar fiel es ihm auf einer Seite leicht, sein altes Leben hinter sich zu lassen aber auf der anderen Seite war es ganz schön schwer, ein neues Leben in der Kirche zu beginnen. So viele Regeln und Richtlinien, an die er sich halten musste. Als Bandit hatte man es recht einfach: Man konnte tun und lassen, was man wollte. Hier in der Kirche sah das ganz anders aus und mehr als einmal wurde er von Priester Gabriel zurecht gewiesen. Dazu kam noch, dass er sich nutzlos fühlte. Alle Erfahrungen, die Rumar bisher in seinem Leben gesammelt hatte, waren nun nutzlos. Zu wissen, wie er einen Überfall plante oder mit der Armbrust und einem Schwert umging, half ihm in der Kirche nicht weiter. Nun musste er gewisse Riten lernen. Er musste lernen, besser mit anderen Menschen umzugehen. Selbst so etwas wie Güte und Hilfsbereitschaft musste er erst erlernen. Anfangs musste er sich tatsächlich dazu zwingen, ein guter Mensch zu sein aber irgendwann musste er es nicht mehr vorgeben und er begann tatsächlich, Gefallen daran zu finden. Zu spüren, wie Menschen sich bei ihm bedankten und ihnen eine Last von den Schultern nehmen zu können, begann ihm zu gefallen. Mit den Wochen, Monaten und Jahren, veränderte sich Rumar immer mehr. Die Kirche wurde zu seiner zweiten Heimat. Hier lernte er später auch alles Mögliche über die Götter und Magie. Rumar der Bandit verwandelte sich über mehrere Jahre in einen gütigen, hilfsbereiten Menschen.
Doch die Krankheit wurde trotzdem nicht von ihm genommen. Anfangs war er wütend. Wieso bestrafte man ihn immer noch, jetzt da er sein Leben geändert hatte? Er war ein guter Mensch geworden. Hatte alle Stricke zerschnitten, die ihn mit seinem alten Banditenleben verbunden hatten. Es war nicht fair – er sollte endlich befreit werden. Selbst Priester Gabriel war der Meinung, ihm nichts mehr lehren zu können. Was sollte er noch alles tun, um seinen Körper zu retten? Doch zumindest eine Sache hatte Rumar realisiert. Die Fäule breitete sich nicht weiter aus. Ob das nun mit seinem Wandel zu tun hatte oder nicht, konnte er nicht sagen aber zumindest war der Fluch gestoppt worden. Jetzt musste er nur noch rückgängig gemacht werden. Dem nun schon recht alten Mann gefiel sein neues Leben gut aber er spürte, dass ihm etwas fehlte. Nach einem langen Gebet wurde es ihm dann klar. Er war nun schon seit vielen Jahren in dieser Kirche und es war Zeit, in neue Gefilde aufzubrechen. Neue Erfahrungen zu sammeln und etwas anderes mit seinem Leben anzufangen. Menschen benötigten auch anderswo Hilfe. "Das ist sehr schade aber kommt nicht unerwartet. Ich habe schon geahnt, dass du so fühlst." hatte Gabriel nur gesagt. Er war traurig, dass Rumar gehen wollte. Sie kannten sich nun viele Jahre und er sah in Gabriel eine Art Bruder. Nicht nur im Geiste. Nein, der Mann war mehr als das. Er war auch Lehrer und Freund. Es gefiel ihm nicht, zu gehen aber er spürte, dass es ihn wegzog. Sein Alter war schon fortgeschritten und er wollte noch etwas mit seinem Leben anfangen, bevor es zu spät dafür war. "Warte einen Moment." hatte ihn Gabriel an dem Morgen gebeten, an dem er abreisen wollte. Der Priester kehrte mit einer glänzenden Rüstung zurück. Rumar hatte diese schon oft gesehen und gepflegt. Sie war ein Familienerbstück Gabriels. "Ich möchte, dass du diese Rüstung mitnimmst. Sie ist verzaubert und ihre Magie wird deinen Verbündeten helfen. Ich hoffe, dass sie dich und deine zukünftigen Freunde schützen wird." Die Männer umarmten sich. "Danke." Rumar konnte seine Dankbarkeit gar nicht richtig zum Ausdruck bringen. "Ich werde dich besuchen kommen und niemals vergessen, was du für mich getan hast." Wäre Gabriel nicht gewesen, dann hätte er sein Leben vielleicht gar nicht umgekrempelt und wäre auf irgendeinem Überfall krepiert. Wäre Gabriel nicht gewesen, dann wäre er heute noch immer ein Mörder. Der Abschied war schwer aber schließlich löste sich Rumar von seinem Freund und begann neue Wege.
Rumar blickte durch das Fenster auf die Straße hinaus. Viele Jahre war er unterwegs gewesen, bis er endlich hier einen Platz gefunden hatte, den er nicht so einfach verlassen wollte. Fast konnte er das Knochenviertel schon als seine Heimat bezeichnen. Er blickte auf sein Spiegelbild im Fenster und lächelte. Noch immer hatte die Götter nicht die Fäule von ihm genommen aber er hatte gelernt, damit zu leben. Vermutlich würde er sie nie wieder loswerden. Sie war wie eine stetige Erinnerung und Mahnung an seinen schlimmen Taten. Doch das spielte keine Rolle mehr. Er hatte schon vor langer Zeit seine Bestimmung gefunden. Sich selbst zu retten, stand ganz hinten an. Zuerst würde er den Leuten hier im Knochenviertel helfen. Er seufzte schwer und stand auf. Eine Suppe würde er sich jetzt noch gönnen und dann ging es auch schon weiter. So viele Lebewesen benötigten Hilfe. Seine Hilfe. Er würde nicht zögern, diese anzubieten.