Hintergrund (Anzeigen)
Jener Mann, der sich selbst nun Xiuhcoatl nennt, wurde unter großen Schmerzen in einem kleinen Stamm als Sohn der alleinlebenden Stammesschamanin geboren. Das ganze Dorf konnte hören, wie sich die Wehen über mehrere Stunden hinzogen, so laut waren die Schreie der Schamanin. Aber helfen konnte und wollte ihr keiner, hatte sie doch verboten, ihre am Dorfrand stehende Hütte zu betreten.
Schon da kam es zu ersten Mutmaßungen über den Grund für diese Anweisung. Aber da die Schamanin mächtig war und ihren Platz im Stamm der Angst über möglichen Strafen, wenn man sie verärgerte, schuldete, obwohl sie dem Stamm bisher keinen Schaden zugefügt hatte, hielt man sich daran. Es war von Geistern und dunklen Mächten die Rede, die ihr halfen, und von Pakten mit unbeschreiblichen Kreaturen, denen kein Sterblicher je ansichtig werden sollte.
Schließlich aber endeten die Schreie und eine Weile später trat die Schamanin aus der Hütte, sagte den Anderen, daß alles in Ordnung sei, und zeigte ihnen stolz ihr Baby, einen Jungen. Alle beglückwünschten sie, aber als sie wieder in der Hütte verschwunden war, wurde weitergetuschelt. Dann das Baby hatte die merkwürdigsten Augen, die man je gesehen hatte. Fast schien es so als hätten sie keine Iris gehabt, so bleich war diese. Und man begann, den Jungen hinter vorgehaltener Hand "Totenaugen" zu nennen.
Seine ersten Jahre verbrachte er, entgegen den Gepflogenheiten des Dorfes alle Kinder zusammen zu behüten, mit seiner Mutter, denn natürlich wußte sie von dem Gerede der anderen Stammesmitglieder. Und so spielte sie mit ihm in ihrer Hütte oder nahm ihn auf Materialiensuche mit in den Wald. Schon früh erklärte sie ihm, welche Pflanzen gut und welche schlecht waren, vor welchen Tieren man sich in Acht nehmen sollte und welche harmlos waren. Aber hier machte sie auch die Entdeckung, das die Tiere seltsam auf ihren Sohn reagierten. Manche von ihnen flohen aus seiner Nähe, während andere sich offensichtlich feindselig gegen ihn wendeten, obwohl das nicht ihrer Art entsprach. Dem Jungen selbst fiel es in diesen jungen Jahren aber nicht weiter auf.
Versuche des Jungen, mit den anderen Kinder zu spielen, schlugen fehl, da sich die anderen Kinder entweder von ihm abwandten oder ihn hänselnden. Zu seinem Glück war körperliche Gewalt gegen Stammesmitglieder ein Tabu; so beschränkte sich derartige Vorfalle auf ein Minimum, bis die Kinder dieses Tabu verinnerlicht hatten. All dies machte ihn im Laufe der Zeit zugleich traurig aber auch wütend. Seine Mutter konnte ihm leider in dieser Sache wenig helfen. Nur Trost konnte sie versuchen, ihm zu spenden; vertrat sie doch die Meinung, daß sich die Dörfler über die Zeit hinweg ändern und sie akzeptieren würden, wenn sie sich nur als hilfreich und nützlich erwiesen.
Als der Junge wohl schon so zehn Jahre alt war, machte er eines Tages eine der Entdeckungen, die sein weiteres Leben prägen sollte. Wieder einmal hatte sich ein anderer Junge über ihn lustig gemacht. Grad wollte er sich schon abwenden, als die Wut in ihm aufbrandete. So hoch aufgerichtet wie es ihm möglich war, ging er auf das andere Kind mit funkelndem Blick zu und starrte es an. Und auf einmal sah er in den Augen des anderen Kindes etwas, das er noch nie gesehen hatte. Aber bevor er genau wußte, was passiert war, lief das Kind schon davon.
Dem Jungen ergriff ein neues Gefühl. Ein freudiges Gefühl, daß nicht er es war, der wieder einmal den Ort der Schmach verließ. Und immer noch hatte er diesen merkwürdigen Blick vor Augen, den das andere Kind hatte.
Mit einer Fröhlichkeit, die er bisher so nicht kennengelernt hatte, kehrte er zu seiner Mutter zurück und erzählte ihr davon. Aber anstatt sich mit ihm zu freuen, hatte sie auf einmal einen traurigen Blick. Sie sagte Vieles, was er nicht so recht verstand. Aber eines ist ihm im Gedächtnis geblieben: "Das Kind hat Angst gehabt!"
Angst!
Ein Begriff, mit dem er nicht so richtig was anfangen konnte. Er wußte natürlich, daß es Dinge gab, bei denen man vorsichtig sein mußte, wenn man mit ihnen hantierte oder wenn man ihnen begegnete. Aber Angst hatte er noch nicht wirklich erfahren, war er doch von seiner Mutter behütet und auf eventuelle Gefahren bei ihren Ausflügen vorbereitet worden.
Er wußte nur, daß ihm der Ausdruck im Gesicht des anderen Kindes gefallen hatte.
Und er wollte mehr davon.
Und so begann er, wann immer er eines der anderen Kinder allein antraf, drohend auf es zuzugehen und es einzuschüchtern. Und jedesmal, wenn er die Angst im Gesicht des Anderen sah, erfaßte ihn wieder Freude.
So strichen die nächsten Monate ins Land. Und endlich einmal genoß der Junge auch außerhalb der mütterlichen Hütte oder ihrer Gesellschaft das Leben im Dorf. Allerdings wurde sein bisher nur hinter vorgehaltener Hand genannter Name jetzt zu der Bezeichnung, die ihm jeder gab: „Totenaugen“.
Bald aber begann er festzustellen, daß sich im Verhalten der Kinder etwas änderte. Immer seltener traf er eines allein an. Die anderen Kinder fingen an, sich anfangs paarweise und dann in kleinen Gruppen im Dorf aufzuhalten.
Und so machte er eine zweite große Entdeckung, deren Hintergrund er aber nicht recht verstand. Denn während er zwei oder drei Kinder durchaus noch einschüchtern konnte, so wurde es immer schwerer, je größer die Gruppe war. Es war als würde die Anwesenheit der Anderen ihm seiner Macht berauben. Aber wie oder weshalb genau blieb dem Jungen verborgen.
Verborgen geblieben war den Erwachsenen die ganze Sache natürlich nicht. Und so wurde beschlossen den Jungen mit einem alten Jäger als Ausbilder los zu schicken. Dieser war immer für einige Woche unterwegs, um zu Jagen und das Stammesgebiet nach Bedrohungen oder anderem Ungewöhnlichem zu durchforsten. Die Mutter des Jungen hatte natürlich nichts dagegen, hoffte sie doch, dieser würde auf den Ausflügen seine Neigung verlieren.
Aber nur mit dem Jäger als Begleiter verfiel der Junge darauf, seine Macht an diesem erproben zu wollen.
Und scheiterte wieder und wieder, hatte der alte Mann doch schon mehr Schrecken gesehen, als er aufzählen konnte. Ganz im Gegenteil machte er sich über die Versuche des Jungen mit Kommentaren wie „Was schaust du so komisch? Hast du einen Käfer verschluckt?“ oder „Uh, du ziehst aber eine merkwürdige Mine. Ist dir unwohl?“ noch lustig. Wieder einmal fühlte sich der Junge herabgesetzt, schwor aber es irgendwann zu schaffen. Um der alten Wut und Trauer, die zurück zu kehren drohten, entgegen zu wirken, begann er an Tieren zu üben, die ja eh schon eine Abneigung gegen ihn gezeigt hatten.
Und er lernte von dem Alten Einiges wie den Gebrauch von Pfeil, Bogen und Maquhuitl, das ihm allgemein nützte, und Einiges wie das Schleichen, das ihm bei seinen Besuchen im Dorf von Nutzen war:
Erkannte er doch für sich, daß die Dörfler wie eine Herde waren. Und so wartete und beobachtet er, bis sich eines der „Tiere“ von der Herde entfernte, um dann zuzuschlagen. Auch vor Erwachsenen machte er inzwischen keinen Halt mehr. Bald war er als der böse Schatten des Dorfes verschrien, „schlug“ er doch oft genug aus genau diesen zu, um seine Opfer zu ängstigen. Aber bald wurden auch diese Möglichkeiten immer weniger, da sich die Dörfler während seiner Anwesenheit fast gar nicht aus den Hütten trauten.
So vergingen einige Jahre und immer noch hatte der Junge es nicht geschafft, den alten Jäger zu ängstigen. Eines Tages kamen sie ins Dorf zurück und der Junge stellte fest, daß seine Mutter nicht da war. Dies war eigentlich nicht so ungewöhnlich, konnte sie doch auch auf Pflanzensuche sein. Aber irgendwie hatte der Junge ein anderes Gefühl. Als er den Hauptplatz des Dorfes betrat, erwartete ihn schon der Stammesführer und erklärte ihm, daß seine Mutter bei der Austreibung von Geistern wohl mit Mächten gerungen hatte, die zu stark für sie waren. Sie war diesen Mächten unterlegen, vielleicht sogar erlegen, und ihr Geist war aus ihrem Körper entwichen.
Für den Jungen bedeutete dies, so wurde ihm gesagt, daß er im Dorf nicht mehr erwünscht war und es verlassen solle. Gerade setzte dieser an, um seine Macht am Stammesführer auszulassen, als ihm etwas auffiel. Der ganze Stamm hatte sich hinter dem Häuptling versammelt und alle schauten ihn an. Es war keine Wut in ihrem Blick, kein Zorn auf ihn, nur eine Entschlossenheit.
Eine Entschlossenheit, die in ihm etwas bewirkte. Ein nie gekanntes Gefühl erwachte in ihm, ein Gefühl der Ohnmacht diesen Menschen gegenüber, eine Gefühl der Hilflosigkeit, ein Gefühl der Machtlosigkeit.
Es war Angst, die er fühlte.
Angst!
Und so raffte er schnell alles zusammen, das er für nützlich erachtete und verließ das Dorf in Richtung Berge.
Dort lebte er die nächsten Jahre abgeschieden von anderen und gab sich den Namen Xiuhcoatl. Er übte sich weiterhin am Einschüchtern von Tieren, aber das war nicht dasselbe wie bei Menschen. Und er grübelte über die Angst nach. Und darüber warum seine Fähigkeit bei größeren Ansammlungen von Menschen versagte.
Irgendwann dann waren die Tiere nicht mehr genug und er kehrte in zivilisiertere Gebiete zurück. Schnell kehrte er in alte Gewohnheiten zurück und ängstige die Menschen, die er traf. Aber hier gab es kein Tabu, jedenfalls nicht für ihn. Er mußte sich des öfteren seiner Haut erwehren und verbesserte sich im Kampf. Und bald stellte er fest, daß er Leute besser einschüchtern konnte, wenn er sich seine Waffe als Hilfsmittel nahm.
Eines Tages aber passierte es dann, daß eine Übermacht gegen ihn stand und ihn festsetzte. Er landete als Gefangener in einem Zug gen Nexal, um geopfert zu werden.