Kapitel 1 - Eine finstere Nacht (Anzeigen)Ein sternenloser Himmel hing über Ghastenhall in dieser Nacht. Die Lichter der Stadt mühten sich gegen diese Finsternis anzukämpfen aber es gelang nicht so recht. Schon an den Rändern der Stadt war es stockfinster als es von einem Moment auf den anderen zu regnen begann. Der Wind heulte durch die Wipfel der vereinzelten Bäume, die am Rand der Stadt standen und bedrohlich im Licht der vereinzelten Blitze aufragten. Zwischen das gelegentliche Donnergrollen und das Heulen des Windes mischte sich ein anderes Geräusch, die verzweifelten Schreie eines Säuglings, der nach seiner Mutter verlangte. Aber seine Mutter konnte den Säugling nicht hören, denn wie so oft, wenn eine Frau einen Dhampir zur Welt brachte, kostete das Unleben, das sie erfüllte sie zu viel Kraft. Die Schreie des Kindes begannen bereits zu verstummen als sie das Ohr eines jungen Priesters von Cayden Cailean erreichte, der im Schatten einer der Bäume Zuflucht vor den Winden gesucht hatte. Dieser Priester namens Patrus fand das schreiende Baby und ließ sich von der leicht gräulichen Haut und den roten Augen nicht beirren, sondern nahm den kleinen Jungen an sich. Er erkannte, dass er für die Mutter nichts mehr tun konnte und deshalb brachte er den kleinen in eines der Waisenhäuser in Ghastenhall. Zum Glück des Jungen gab es hier bereits eine Amme für einen anderen Säugling, dessen Mutter im Kindbett gestorben war. So teilten sich der Junge, der den Namen Casus erhielt, und das Mädchen namens Kolin schon so kurz nach ihrer beider Geburt die Brust einer Amme und formten von jener schicksalhaften Nacht an ein besonderes Band.
Kapitel 2 - Ein Tropfen, der die Welt bedeutet (Anzeigen)Niemals zuvor hatte er etwas so belebendes gefühlt, wie in diesem Moment. Es war nur ein kleiner Tropfen Blut, der seine Lippen benetzte, aber er war genug, um etwas in ihm zu wecken, das bis zu diesem Tag geschlafen hatte. Er verstand es nicht wirklich, was es war, das er jetzt fühlte, aber all seine Sinne schienen schärfer zu werden. Er glaubte die Maus, die unter den schweren Dielen des Bodens umherlief zu hören und die Fliegen, die leise durch die Luft brummten. Er hörte den Regen, der gegen das Dach prasselte, aber all das kümmerte ihn nicht. Was ihn kümmerte war nur das Mädchen, das mit ihm im Raum war. Er hörte ihren Herzschlag, roch das Blut, das durch ihre Adern floss und er spürte ein besonderes Verlangen nach diesem Mädchen und ihrem feuerroten Haar. Er leckte den Tropfen von seinen Lippen und sah dem Mädchen in die Augen als es seinen Finger zurückzog und ihn anlächelte. Es war erst einige Tage her, dass Casus‘ Fänge sich so deutlich gezeigt hatten. Sie hatten Patrus noch nichts davon erzählt und er würde es wohl auch nicht gutheißen. Er mochte Casus anfangs wie die anderen Kinder im Waisenhaus behandelt haben, aber offensichtlich war der blasse Junge mit seinen leuchtend roten Augen anders, als der Rest. Er spielte nicht gern draußen in der Sonne und irgendwie beunruhigte er sogar die Erwachsenen im Waisenhaus. Die anderen Kinder mieden Casus. Die einzige Ausnahme war Kolin. Sie und der Junge waren unzertrennlich und alles, was sie taten, taten sie gemeinsam. Auch wenn Kolins Finger noch immer blutete, lächelte das Mädchen und das war alles, was für Casus zählte.
Kapitel 3 - Ein sonniger Tag (Anzeigen)Es war ein sonniger Tag und das bedeutete für Casus, dass es kein guter Tag war. Die Waisen waren alle in dem kleinen Hof des Waisenhauses. Ausnahmsweise waren auch Kolin und Casus bei ihnen. Die zwei saßen an der Hauswand im Schatten, da es so für Casus zumindest erträglich war. Die übrigen Kinder rannten im Hof herum, eine Gruppe Jungen spielte mit eine Ball aus Leder, der seinen Weg vor die Füße von den zwei Jugendlichen an der Hauswand. Drei der Jungs liefen zu ihrem Ball, den Kolin bereits in die Hand genommen hat, um ihn zu ihnen zurückzuwerfen. Einer der Jungs, eine Hüne namens Magnus fing ihn und grinste Kolin breit an: “Guter Wurf, Rotschopf. Warum lässt du deinen glühäugigen Freund nicht dort sitzen und schließt dich stattdessen uns an? Da bist du so oder so besser aufgehoben als bei deinem lichtscheuen Freund.“ Kolin lächelte zwar zurück, aber sie schüttelte den Kopf: “Nein, ich bin zufrieden, wo ich bin.“ Magnus lief jetzt zu den beiden, ergriff Kolin am Arm und zog sie in den Hof: “Nun komm schon, wir werden auch nicht zu hart mit dir umgehen.“ Kolin versuchte sich zwar zu wehren, aber Magnus ist deutlich kräftiger und zieht sie auf den Hof. Das brachte Casus dazu aufzustehen, auch wenn er vor der Sonne noch zurück schreckte. Das erregte jetzt Magnus Aufmerksamkeit und er ließ Kolin los: “Was ist, Glühauge? Was willst du tun? Komm doch zu uns ins Licht und spiel mit uns!“ Magnus schleuderte den Ball und er traf Casus in der Magengrube. “Nun komm schon, wahr dich!“ Wut und Hass leuchteten jetzt in den Augen des Dhampir als er Magnus anblickte, der in der Sonne badete. Casus wollte diesen Jungen schlagen, wollte ihm den Schmerz heimzahlen, den er gerade erlitten hatte. Aber er wusste, dass er gegen Magnus nicht ankam, erst recht nicht in der Sonne. Dadurch wurde er nur noch wütender. Er hasste diese Machtlosigkeit. Und dieser Zorn brach sich jetzt Bahn, drang zu etwas in seinem innersten Wesen durch, das ihm ebenfalls sein Vater vererbt hatte, genau wie seine Fangzähne. Seine Augen leuchteten jetzt heller, heller als selbst für den Dhampir normal war. Und von einem Moment auf den anderen schlug etwas Magnus ins Gesicht. Mit einem Knacken brach die Nase des Jungen und Blut tropfte auf den Hof.
Kolin lief wieder zu Casus, der wankte vor Anstrengung, und stützte ihn. Sie verstand genauso wenig wie der Junge, was hier gerade geschehen war, aber es war ihr egal. Das schreckte sie nicht ab. Ihr Blick war voll Mitgefühl, während alle anderen Kinder mit einer Mischung aus Angst und Wut auf den Dhampir blickten. Patrus hatte schon immer geahnt, was für ein Wesen er sich in sein Waisenhaus geholt hatte. Aber dieses Ereignis reichte ihm, er hatte immer gezögert den Jungen herauszuwerfen, weil er fürchtete, dass er binnen Tagen zu Tode geprügelt würde. Aber diese Bedenken kümmerten ihn nicht mehr, da eines seiner „normalen“ Kinder verletzt worden war. Das Blut auf dem Hof war noch nicht getrocknet und trotzdem fand Casus sich auf der Straße wieder mit nichts außer den Kleidern, die er am Leib trug.
Es war wie gesagt ein schlechter Tag für Casus. Aber überraschenderweise fühlte Casus sich nicht wirklich schlecht. Denn Kolin stand neben ihm und hielt mit ihrer Hand die seine. Niemals würde sie ihn allein lassen, egal, was passierte.
Kapitel 4 - Eine blutige Nacht (Anzeigen)Es waren schwierige aber gute Jahre gewesen, die die zwei erst auf den Straßen von Ghastenhall und schließlich in einer kleinen Hütte am Stadtrand verbracht hatten. Anfangs mussten sie um jede Mahlzeit kämpfen, aber sie schafften es. Denn abends, im schummrigen Licht der Gasthäuser war Casus nicht der kränklich junge Dhampir, den Kopfschmerzen plagten. Hier war das finstere Erbe, das ihn in der Sonne schwach werden ließ, von besonderem Nutzen. Denn die Menschen hingen an seinen Lippen und oft genug gelang es Casus eine Mahlzeit für ihn und Kolin herauszuschlagen. Mit der Zeit wurden die beiden deutlich besser darin und mogelten sich quer durch Ghastenhall. Was sie nicht durch geschickte Worte bekamen, stahlen sie. In dieser Zeit wurde aus den zweien auch weit mehr als Freude und sie führten gemeinsam ein glückliches Leben am Stadtrand, wo sie wenig mit anderen Menschen zu tun hatten.
Casus verließ das Haus nur noch nach Einbruch der Dunkelheit und mied die Sonne so gut er konnte. An einem der Abende, an dem er allein von einem Streifzug zurückkehrte, hörte er schon aus einiger Entfernung die Schreie. Er erkannte die Stimme binnen Sekunden und rannte sofort zu dem kleinen Haus, das er mit Kolin bewohnte. Die Tür stand offen, das Schloss war zertrümmert. Drinnen lag Casus Gefährtin am Boden. Die junge Frau atmete nur noch stoßweise und ihr Gesicht war eine Maske aus Angst und Schmerz. Der Geruch von ihrem Blut stieg in Casus‘ Nase, denn über ihr stand ein Mann mit einem silbernen Dolch in der Hand, von dem Blut tropfte. Als er den Dhampir in der Tür stehe sah reckte er ein Symbol der Iomedae in die Luft, scheinbar in der Hoffnung, dass dies Casus aufhalten würde. Einen echten Vampir hätte das vielleicht für einen Augenblick aufgehalten, aber ein Halbblut wie Casus kümmerte das nicht. Er stürzte sich sofort auf den Mann und nach einem kurzen Ringen sinkt der Priester mit seinem eigenen Dolch in der Brust zu Boden. Das kümmert Casus nicht weiter, seine Aufmerksamkeit richtete sich allein auf die Frau, die er liebte, deren Blut bereits den Teppich tränkte. Er griff nach ihrem Gesicht, drückte seine Händen auf die Wunden in ihrer Brust, suchte mit seinen Augen die ihren. Kolin versuchte zu sprechen, aber ihre Stimme wollte ihr nicht mehr gehorchen. Stattdessen quoll Blut aus ihrem Mund und sie reckte ihren Kopf nach oben. Casus küsste ihren Mund, schmeckte das Blut in seinem und spürte wie ihre Glieder schlaff wurden. Er verstand nicht, was hier geschehen war. Er hatte immer gewusst, dass er anders war. Aber es hatte ihn nie gekümmert. Es war nicht nötig gewesen, denn er hatte Kolin gehabt. Jetzt war er allein.
Kapitel 5 - Ein blutiges Erinnern (Anzeigen)Casus war orientierungslos. Seit er Kolin verloren hatte, wusste er nicht mehr, was er mit sich anfangen sollte. Er war tagelang durch Gastenhall geirrt, denn er hielt es in dem Haus nicht mehr aus. Schließlich trieb ihn das sogar aus der Stadt hinaus in die wilderen Gegenden von Talingard. Er durchwanderte das Land, blieb nie lange an einem Ort und versuchte zu verstehen, was passiert war. Er erfuhr mehr über sich selbst, über das was er war. Und er suchte Rache. Anfangs bestahl er die Anhänger der Iomedae nur, die in seinen Augen für sein Leid verantwortlich waren. Aber irgendwann war ihm das nicht mehr genug. Seine dunklen Gedanken entfesselten etwas in seinem Verstand, das ebenso grausam war, wie sein eigenes Schicksal. Die Angst, die er in seinem Herzen verspürte, weil er jetzt allein in der Welt war, nistete sich in seinem Verstand ein und er ließ sie nach draußen, indem er mit seinem Geist in den anderer eindrang und sie die Schrecken spüren ließ, die er selbst hatte spüren müssen. Es half ihm, dass Talingard selbst sich in Aufruhr befand. Am Horizont kündigte sich bereits der Kampf zwischen Haus Barca und Haus Darius an und in dieser unruhigen Zeit wurde er zu einem Schrecken in der Nacht, der die Diener von Iomedae verfolgte.
Die Jahre vergingen und Casus bemerkte, dass er langsam vergaß, warum er das tat, was er tat. Um sich daran zu erinnern, warum er das tat, ließ er sich sogar fünf Runen auf den Unterarm tätowieren: Kolin, um sich an den Namen der Frau zu erinnern, die einst sein Leben gewesen war. Mit jedem Tag und jeder Stunde, die er in der Wildnis auf der Suche nach Rache verbrachte, wurde seine Erinnerung an sie brüchiger. Anfangs reichte es auf ihren Namen zu blicken, um sich zu erinnern, aber irgendwann war auch das nicht mehr genug. Das einzige, was ihm jetzt noch half, um das Gesicht, das er liebte vor Augen zu haben war es andere Menschen schreien zu hören wie sie geschrien hatte, die Furcht in ihren Augen zu sehen, die er in ihren gesehen hatte, das süße Blut zu schmecken, das aus ihrem Mund in seinen geflossen war. Jetzt ging es ihm nicht mehr um Rache, wenn er andere in Angst und Schrecken versetzte und ihr Blut trank, jetzt ging es ihm nur noch darum sich zu erinnern, wer er einst gewesen war. Das ist alles, was er noch hat.
Kapitel 6 - Ein langer Pfad (Anzeigen)Nachdem der Erbfolgekrieg vorbei war und es keine Kriege mehr gab, in denen sich niemand um blutigen Mord in der Nacht kümmerte, zog es Casus fort aus den vielbevölkerten Landen in die ländlicheren Gegenden. Das erwies sich für ihn als ein zweischneidiges Schwert. Einerseits war es hier weniger gefährlich, da nicht so viele Menschen in diesen Landstrichen lebten und er bei einer Entdeckung leichter entkommen konnte. Aber andererseits viel hier ein Dhampir auch sehr viel mehr auf, da er sich nicht so gut in der Menge untertauchen konnte. Also hielt er sich zurück, watete nicht mehr so sehr in Blut, wie er es während des Krieges getan hatte und konzentrierte sich darauf besser zu verstehen, wozu sein Verstand fähig war. Er lernte seinen Blutdurst zu kontrollieren, aber er brauchte es noch immer, um sich zu erinnern, wer er war. Er traf auf einen Halbelfen, der ebenfalls über die Kräfte des Geistes verfügt, auch wenn sie bei ihm reiner und nicht so sehr von Furcht verdorben waren wie bei Casus. Dieser Mann lehrte ihn viel über seine Begabung und er vermachte ihm ein besonders wertfolles Erbe: Psionische Tätowierungen, wie man sie nur äußerst selten fand, da selbst unter den wenigen Psionikern auf der Welt diese Kunst nur selten praktiziert wurde. Casus bewahrte diese Tätowierungen so gut er konnte und setze sie nur in höchster Not ein. Doch keine von ihnen ehrte er so, wie den Namen auf seinem Unterarm.
Von Zeit zu Zeit suchte er kleine Dörfer auf, um sich zu „erinnern“, wie er es meist nannte. Unter Markardian III. wurde es schwieriger für den Dhampir, denn auch wenn die Kirche des Asmodeus im Fokus stand, so war ein unheiliges Halbblut wie er selbst doch auch ein Ziel für die Säuberung. Also zog er sich noch weiter zurück, ging in den Untergrund. Bemühte sich ganz wie der Kult des Asmodeus nicht gesehen oder gehört zu werden. Dennoch geriet er des Öfteren mit der Autorität aneinander. Meistens, wenn er sich dazu hinreißen ließ, zu versuchen sich in allzu großen Orten oder in der Nähe von Schreien zu „erinnern“. Bei einer dieser Gelegenheiten traf er mit den Anhängern des Asmodeus zusammen und offensichtlich sah man irgendetwas in ihm, das sie dazu brachte, ihn nicht zu ignorieren, sondern ihn aus der Zwangslage zu befreien. Als er mit dem Kardinal zusammentraf verstand er zumindest ein wenig davon, auch wenn die Motive des mächtigen Mannes ihm verborgen blieben. Aus irgendeinem Grund kannte der Kardinal seine Geschichte, er wusste von Kolin und allem, was seitdem geschehen war. Und er machte Casus ein Angebot, das er niemals ausschlagen konnte. Er versprach ihm mehr als bloße Erinnerung, er versprach ihm eine Kolin, die lebte, atmete und lachte. Eine Kolin, die Casus aus seiner Einsamkeit retten konnte. Wie hätte Casus ein solches Angebot jemals ausschlagen können? Er zögerte nicht lange und schwor dem Kardinal die Treue. Dieser schickte ihn in eine kleine Hafenstadt mit dem Befehl dort auf Anweisungen zu warten. Mit einem Preis vor Augen, der wertvoller als alles Gold der Welt für Casus war, machte er sich auf den Weg.