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« am: 10.11.2014, 18:53:35 »
Arjen sah, wie Will weiter in seinem Leid versank. Ein anderer hätte vielleicht die richtigen Worte des Trostes in so einem Augenblick gefunden, aber was er an Trost zu bieten hatte, hatte er bereits gesagt. Und außerdem erinnerte er sich noch zu gut an den Tag, an dem er Diana und Lukas ermordet vor ihrem Haus gefunden hatte. Er erinnerte sich an seine Verfassung - an Tränen und Rotz. Er erinnerte sich daran, wie alle gekommen waren, um ihm sein Beileid auszusprechen, ihre Hilfe anzubieten oder ihn zu trösten. Und er erinnerte sich noch allzu gut, wie hohl das alles in seinen Ohren geklungen hatte. Nein - dieser Augenblick mochte bitter sein, aber den konnte Will wohl keiner ersparen. Und es war sein Augenblick, der nichtdurch profane Durchhalteparolen entwertet werden sollte. Diese Tränen sollten rollen. Und irgendwann würde Will wieder zu sich finden - und dann galt Arjens Hilfsangebot immer noch.
"Vielleicht ist es sogar besser, dass er es jetzt durchmacht", dachte der Krieger. "Hier in Sicherheit, und nicht auf der Straße, umgeben von den wandelnden Toten." Und dieser Gedanke brachte ihn wieder zurück zu Lucas Äußerungen. Er wandte sich abermals an ihren Gastgeber: "Versteht bitte meine Worte nicht falsch. Wir haben nicht vor, wieder zu gehen. Um ehrlich zu sein, wir haben derzeit gar nichts vor - wir müssen erst überlegen, was wir tun sollten. Und sicher habt Ihr recht, wenn ihr sagt, dass wir uns erst ausruhen sollten."
Er ging zu einem der Feldbetten in der Nähe von Luca und setzte sich darauf. Erst jetzt merkte er, dass auch durch den kurzen aber ereignisreichen Tag ermüdet war. "Eine neue Ordnung sagt ihr. Wenn die Wanderer Teil dieser neuen Ordnung sein sollen, wenn sie nicht mehr die Absonderheit sind, sondern diejenigen, die hierher gehören - dann stellt sich die Frage, ob wir Lebenden noch Platz in dieser neuen Welt haben. Oder ob wir nun die Absonderheit sind, die von ihrem Antltz getilgt wird."
Arjen schaute auf die beiden Mädchen, die einige Betten weiter zusammen lagen. "Wisst ihr, ich war sechs Jahre lang beim Heer von Liur", sagte er. "Ich habe in dieser Zeit einiges gesehen, was dafür sprechen würde, dass wir Menschen Platz machen auf der Welt für etwas besseres. Und auch danach habe ich einiges davon gesehen. Aber ich habe auch einiges gesehen, was mich wieder an die Menschen glauben ließ und wofür es wohl zu leben lohnt. Ich hatte das beinahe vergessen, aber eure Töchter erinnern mich daran."
Der Krieger schaute wieder zu Luca. "Es ist beeindruckend, was ihr geschafft habt - der Weg nach Aradan, dieses kluge Versteckt. Ihr habt eure Töchter gerettet. Und uns. Wenn das stimmt, was ihr sagt. Wenn die Plage überall herrscht, dann müssen wir versuchen, weitere Menschen zu finden. Uns in einer größeren Gruppe zu organisieren. Vielleicht nicht heute. Und vielleicht nicht morgen. Aber am Tag danach. Nur so werden wir länger als ein paar Wochen überleben können."
"Und wieder arbeitest du an einem Schlachtplan, anstatt diesem armen Mann Ruhe zu gönnen. Neun Jahre auf dem Gestüt, aber du bist immer noch der Hauptmann des Heeres, der du beim Dienstaustritt warst", rügte sich Arjen dabei, aber anscheinend funktionierte er so. Dennoch entschied er sich, falls Luca nicht auf seine Worte einging, den Wunsch des Gastgebers zu respektieren, und sich schweigend auszuruhen, ohne ihn weiter zu belästigen.