Eigentlich wollte Lavrenty Oleg Taktov hinterher. Er hatte das Gefühl, dass der Mann ihm seine Worte übel nahm, dabei war der Liedermacher selbst daran interessiert, was Taktov so verbissen verfolgte. Doch die Worte des Volakhi rissen Lavrenty aus dem Hier und Jetzt. Die Worte des Alten waren verwirrend und passten kaum zur Situation. Vielleicht war es nur eine staksige Art seinen Dank auszusprechen, doch es fühlte sich für Lavrenty ganz anders an. Und so sah der junge Arbeiter dem rumpelnden Karren erstaunt hinterher, während sich die Leute um ihn und die beiden anderen Wortführer drängten.
WIR danken dir dafür? "Wer ist "Wir"?", raunte Lavrenty dem Alten hinterher und konnte sich langsam aus seiner Verwirrung befreien. Inzwischen war er von taktov abgeschnitten und eine Diskussion hatte sich darüber entflammt, was man konkret tun könne, um die Lage zu verbessern.
Das war eigentlich die Königsfrage und für Lavrenty nicht leicht zu beantworten. Er selbst war immer der Meinung, dass die Bewegung noch zu klein war um Aktionen jedweder Art in der gesamten Stadt durchzuziehen. Bisher hatten sie nicht mal eine Mehrheit der Belegschaft eines einzigen Werkes auf die sie zählen konnten. Das war zu wenig für einen Generalstreik und das war erst recht zu wenig für eine echte Revolution. Zwar wuchs die Bewegung von Tag zu Tag, und das sogar in einem Maße, dass einem Mut machen konnte, doch je größer sie wurde, desto mehr sah Lavrenty sich daran arbeiten, dass sie nicht zerfiel oder in verschiedene Gruppen zersplitterte. Wie schwer es war die Leute zur Einheit zu bewegen, selbst dann, wenn sie eigentlich alle die gleichen Nöte hatten...
Die Diskussion war vielstimmig und inzwischen versuchte Mara den Spieß umzudrehen, in dem sie fragte, was die Arbeiter ihrerseits überhaupt bereit wären zu geben. Das war nicht verkehrt und die halblingin hatte auf ihre Art damit Recht, doch Lavrenty hatte das Gefühl, dass es im Augenblick weniger ums Rechthaben ging, als um das, was diealte Frau meinte. Man konnte nur eine gewisse zeitlang mit Wort und Schrift um sich werfen und erwarten, dass dies allein ausreichen würde, die Leute zu mobilisieren. Gewiss konnten sie nicht ohne Weiteres erkennen, dass Lavrentys politische Arbeit nicht ohne Risiko für ihn selbst und seine Mitstreiter war und was sollte es sie auch schon groß kümmern? Brachten seine Texte doch selten mehr als einen kurzen Zeitvertreib und die nachfolgende Möglichkeit die letzten verbliebenen Kohlestücke sicher zu entzünden.
Tatsächlich hatte Lavrenty vor Kurzem ein Lied geschrieben, das unter anderem darauf anspielte. Natürlich würde auch ein lied keine Probleme lösen, aber vielleicht würde es sie alle hier ein wenig mehr zusammenrücken lassen, vielleicht würde es zeigen, dass die Schreiber der "Schundblätter" mehr wollten, als bloß kühne Worte schwingen? Zumindest auf Lavrenty traf dies zu, doch so sehr er es auch selbst wollte, er würde in dieser Nacht nicht alle Probleme lösen können, weder allein, noch mit allen hier Versammelten. Zunächst leise hob er die Stimme und begann sein Leid vorzutragen, dabei immer lauter werdend
[1].
Und weil der Mensch[2] ein Mensch ist, drum braucht er was zum Fressen bitte sehr
Es macht ihn ein Geschwätz nicht satt, das schafft kein Fressen her
Drum links, zwo, drei
Drum links, zwo, drei - wo dein Platz, Genosse, ist
Reih' dich ein in die Arbeitereinheitsfront, wenn du auch ein Arbeiter bist
Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum hat er Stiefel im Gesicht nicht gern
Er will unter sich keine Sklaven sehen und über sich keine Herrn
Drum links, zwo, drei
Drum links, zwo, drei - wo dein Platz, Genosse, ist
Reih' dich ein in die Arbeitereinheitsfront, weil du auch ein Arbeiter bist
Und weil der Prolet ein Prolet ist, drum kann er sich nur selbst befreien
Es kann die Befreiung der Arbeiterklasse nur die Sache der Arbeiter sein
Drum links, zwo, drei,
Drum links, zwo, drei - wo dein Platz, Genosse, ist
Reih' dich ein in die Arbeitereinheitsfront, wenn du auch ein Arbeiter bist
Drum links, zwo, drei,
Drum links, zwo, drei - wo dein Platz, Genosse, ist
Reih' dich ein in die Arbeitereinheitsfront, wenn du auch ein Arbeiter bist[3] Ursprünglich hatte Lavrenty im Sinne, dass das Lied mit einer gewissen Portion Zackigkeit und Trotz vorgetragen werden sollte, doch in diesem Moment trug er sein Stück eher langsam vor und legte einiges an Traurigkeit und Erschöpfung hinein, was nach dem langen Tag un der gerade erlebten Enttäuschung kaum schwer fiel. Als er geendet hatte blieb er einen Augenblick stumm und ergriff erst das Wort, als die Menge langsam wieder unruhig wurde.
"Ist es das, was ihr meint? Mein Geschwätz macht euch genau so wenig satt, wie das was sie euch auszahlen und auch noch 'Lohn' nennen?" Er sah die alte Frau direkt an, nicht wütend, aber dennoch in einer Form, die klar machte, dass er solchen Vorwürfen nicht aus dem Weg gehen würde
"Was soll ich sagen, ihr habt Recht!" Lavrenty breitete die Arme aus, wie um zu zeigen, dass er nichts vorweisen könne
"Meine Texte und meine Lieder können euch die Zeit vertreiben, euch in Erinnerung rufen, dass ihr nicht allein seid. Aber sie können weder euch, noch eure Lieben wärmen oder ernähren. Sie können ja nicht mal mich warm und satt machen. Nicht das hier jemand glaubt, dass irgendwer bei der Prawda mehr Geld aus der Redaktion herausträgt als er hereinträgt!"Lavrenty wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger und sein schelmischen Grinsen machte sofort klar, wie ernst diese geste zu nehmen sei.
"Das Gegenteil ist der Fall. Das was überbleibt und oft sogar das was eigentlich für das eigene Wohl gedacht sein sollte, wandert in unsere Zeitung, wie in ein Fass ohne Boden. Den Eindruck hat man zumindest oft genug, doch es hat auch einen Zweck. Jeden Tag interessieren sich mehr von euch für die Arbeiterbewegung, das sehe ich an der Menge der verkauften Zeitungen, Genossen, und falls ich mich irren sollte, dann lasst euch hier gesagt sein, dass es billigeres Papier gibt, um ein Feuer zu entzünden oder sein Geschäft zu verrichten!" Lavrenty versuchte es einmal mehr mit Humor, doch er selbst konnte kaum darüber lachen, ihm bedeutete die
Prawda einiges.
"Ich kann gewiss nicht für jeden der jungen Männer sprechen, die immer so viel von Wechsel reden, doch ich für meinen Teil möchte lieber heute als morgen in einer gerechten Welt leben und deshalb schreibe ich Artikel und Lieder.
Genossin Sorokin hat schon ganz richtig gefragt: 'Was sind wir bereit zu tun?', doch bevor es soweit ist müssen wir uns erst fragen 'Was können wir überhaupt tun?'. Streiken, Enteignen, Machtübernahme? Ist es das was ihr von mir hören wollt?" Lavrenty pausierte und ließ die Fragen auf sein Publikum wirken.
"Was können wir überhaupt tun? In diesem Augenblick? Wir alle hier streiken? Dann sitzen wir morgen alle auf der Straße! Wir enteignen einen Fabrikbesitzer? Wie lang dauert es bis der letzte von uns erschossen werden würde? Wir hier in diesem Augenblick sind noch nicht genug. Die Bewegung ist in diesem Moment noch nicht genug. Doch wir werden mehr - von Tag zu Tag. Und an diesem Punkt kommt die Solidarität ins Spiel, Genosse Rakh Pfeilschlinger. Wenn es soweit ist steht jeder Arbeiter für den anderen ein. Im Augenblick kannst du vielleicht alleine überleben, aber ändern kannst du nichts. Gemeinsam, solidarisch können wir aber etwas ändern. Wenn genug streiken werden, wenn genug auf die Straßen gehen werden, dann gehört uns die Stadt. Ja ich weiß, dass es wie eine Durchhalteparole klingt und das liegt auch daran, dass es eine ist. Doch bis dahin versuche ich soviele wie möglich davon zu überzeugen sich mit uns zu solidarisieren, eben mit den Texten in meinem Schundblatt..." Lavrenty hoffte, dass er der Menge damit nicht das Herz brach
[4], doch es brachte auch nichts, wenn er nicht ehrlich war. Wenn dieser Weg leicht wäre, dann hätten ihn schon andere vor ihnen begangen.
Sanfter und wieder direkt an die Frau gewandt sagte er:
"Ich kann dir deine Gockel auch nicht herbeizaubern. Aber ich kann dir anbieten nachzusehen, was aus diesem Wagen geworden ist, der uns versprochen wurde und ich kann mit diesem Viktor Pulijenko[5] sprechen, vielleicht lenkt er ja ein."