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Themen - Tsuyoshi

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Nur mühsam beherrschte sich Tsuyoshi, als er die Versammlung endlich verließ. In der schwülen Atmosphäre, die ein Unwetter ebenso verhieß wie das Unheil, welches dem Dorf drohte, hatten die alten Männer hin und her geredet, sich gezankt, verzagt gezeigt, sich gegenseitig Vorwürfe an den Kopf geworfen und dabei in den Augen des Ronin einzig eines bewiesen: Im Umkreis der Hütten war außer ihm kein einziger Mann, der sich so hätte nennen können. Kinder und unwissende Halbwüchsige, zögerliche Greise... und die wehrlosen Frauen. Die Zähne fest aufeinander gebissen, die Hände zu Fäusten geballt, so hatte er sich aus der Versammlung zahnloser alter Stänkerer und Besserwisser entfernt, nur ein knappes Neigen des Kopfes als Minimum an Höflichkeit für diese Narren zeigend, die im Angesicht einer tödlichen Bedrohung nicht handeln würden!

Mit großen, kraftvollen Schritten entfernte sich der herrenlose Samurai und wählte seinen Weg mitten durch das Dorf hindurch, ohne auf die verwunderten Blicke der Kinder zu achten, die ihm mit offenem Mund verständnislos nachsahen, oder die ängstlich besorgten der Dorffrauen, die wohl schlimmes ahnten. Was konnte einen Krieger das Schicksal dieser dummen Bauern kümmern, die nicht einmal den Mut hatten, sich zu wehren, wenn ihnen der Tod als einzige Alternative blieb! Wenigstens von den Männern, und seien sie noch so gebrechlich, hätte er das nötige Rückgrat erwartet. Aber die Bauern, gewohnt, sich immer zu verneigen und zu entschuldigen, um Schwierigkeiten aus de Wege zu gehen, waren auch mit den flammendsten Worten nicht zu einem Entschluss zu bewegen gewesen. Welche Verschwendung..! Mit einem frustrierten Schnauben trat er aus dem spärlichen Schatten zwischen zwei niedrigen Hütten und blinzelte missgestimmt in die grelle Sonne.

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Heiß brennt die Sonne auf das kleine Dorf in den Bergen nieder. Still und brütend lastet die Luft unten in den Tälern auf dem Land, während hier oben zwar gelegentlich ein Windhauch weht, die glühende Sonne aber Mensch und Tier in jedweden verfügbaren Schatten treibt. Auch Tsuyoshi eilt mit weiten Schritten voran, den Kopf unter einem breitkrempigen Hut aus Reisstroh, um den sengenden Strahlen des gleißenden Auges am Himmel zu entgehen. Sein Daisho an der Seite, marschiert der Ronin zielstrebig auf den bewaldeten Hang zu, in Richtung des Schreins. Weniger als einen Tag ist es nun her, dass der Späher der Banditen aufgetaucht ist, und doch konnte er die Nervosität, das Wispern und Tuscheln von Frauen und Alten im Dorf nicht mehr aushalten! Die Anspannung der Bauern liegt in der Luft.

Um die Ruhe des Geistes und das Gleichgewicht seiner Seele wiederzuerlangen, hat er beschlossen, den Ort aufzusuchen, an dem die Geister der Ahnen mit ihrer abgeklärten Weisheit regieren. Still nähert er sich dem Schrein, bleibt in einiger Entfernung stehen, um sich respektvoll zu verbeugen, und tritt erst dann direkt vor die Andachtsstätte. In ein stilles Gebet versenkt sammelt der Samurai Kraft. Schließlich klatscht er dreimal laut in die Hände, um erneut seinen Respekt zu bekunden. Dann lehnt er seine Klingen gegen einen großen Findling, streift nach kurzem Zögern das Obergewand ab und schlüpft mit den Armen aus dem Kimono. Den einfachen Stoff schiebt er bis zu seinem schmalen Gürtel nach unten.

So tritt er mit freiem Oberkörper aus dem Schatten zurück in die Sonne, lockert seine Muskeln und schiebt einen Fuß schräg vor den anderen. Die Ferse angehoben, steht er locker auf dem Fußballen und geht in den neko-ashi-dachi, die Katzenstellung. Winzige Schweißperlen glitzern bereits auf seiner nackten Haut, kaum dass er die ersten Bewegungen seiner Kata begonnen hat.

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Die Sonne brennt bereits wieder heiß auf das kleine Dorf herunter, als Tsuyoshi von der Jagd mit der Miko zurückkehrt. Der junge Ronin marschiert so grimmig und selbstbewusst zwischen den Hütten hindurch, wie man es von Samurai gewohnt ist. Für die Bauern hat er kaum einen Blick übrig, ihre Verbeugungen nimmt er mit stolzem Gleichmut entgegen. Seine Kleidung allerdings ist staubbedeckt, der Haarknoten sitzt schief, und an seinen Unterarmen finden sich einige Schrammen. Zudem ist sein Kimono mit Schweiß getränkt, denn nach der gefährlichen Begegnung mit dem Wildschwein hat er die Beute auf seinen Schultern durch den Gebirgswald bis zu den Hütten geschleppt, wo ihn einige heißhungrige Bauern sogleich unter tausend Dankesbezeigungen in Empfang nahmen. Jetzt fühlt Tsuyoshi jeden seiner strapazierten Muskeln, auch wenn er sich nichts davon anmerken lässt. Die rasche Reinigung am Schrein war nur notdürftig. Es ist daher ganz natürlich, dass es ihn zu dem Ort zieht, nach dem sein verdreckter, verschwitzter Körper verlangt: zum Badehaus. Vor dem Haus angekommen, schlüpft er aus seinen Zōri und zieht das Daisho aus dem Gürtel, um die Klingen samt Scheiden in der Hand zu tragen, als er sich bückt, um durch die Shoji-Tür einzutreten.

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Es ist sehr früh am Morgen, als der junge Ronin sein Nachtquartier verlässt und sich auf den Weg macht, um durch die schmalen Gassen zwischen den Hütten des Dorfes seinen Weg zum nahen Bach zu suchen und sich in dem jetzt eiskalten Wasser zu waschen. Die Sonne beginnt gerade erst langsam auf ihrem täglichen Pfad am Himmel hinauf zu wandern. Ihre sengenden Strahlen haben ihre volle Stärke noch nicht erreicht, und zum ersten Mal seit seiner Ankunft klebt der Kimono dem Samurai nicht schweißnass an den Schultern. Nachdem er sich gereinigt und ein sehr karges Mahl aus Hirsebrei zu sich genommen hat – seinen unfreiwilligen Gastgeberinnen mehr abzuverlangen, würde sie wohl an den Rand der Verzweiflung bringen – bricht er auf und folgt dem Waldpfad, den er bereits kennengelernt hat. Nach kurzem Marsch erreicht er den Schrein, zu dem ihn die Miko am Vortag geführt hat.

Dort blickt er sich um, kann aber niemanden entdecken. Ein weiterer Blick Richtung Himmel, ein zufriedenes Nicken: Gutes Wetter, um sich noch einmal mit dem Bogen zu versuchen. Eine Waffe, mit der er in letzter Zeit zu selten umging – und eine sehr weise Wahl gegen zahlenmäßig überlegene Gegner, die sich nicht an die Ehrenregeln des Duells Mann gegen Mann halten. Angesichts der Banditen, die hier in der Gegend umherstreifen und die Alten, Frauen und Kinder des Dorfes in Angst und Schrecken versetzen, rechnet er nicht damit, ohne einen Kampf davonzukommen, ganz gleich, wohin er sich auch wenden wird. Doch das Gesindel wird sehen, was es davon hat, sich mit einem Samurai anzulegen!  Entschlossen nickt Tsuyoshi, dann geht er zu dem kleinen Schrein hinüber, streift seine Sandalen ab und lässt sich im Schneidersitz vor dem winzigen Heiligtum nieder, um ein Gebet zu sprechen. An Mut fehlt es ihm nicht, doch die Unterstützung der Kami käme ihm in seiner Situation sehr gelegen.

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Langsamen Schrittes wandert der Ronin durch das Dorf. Er ignoriert die verstohlenen Blicke, die ihm Frauen und Kinder nachwerfen, reagiert auch nicht auf die tiefen Verbeugungen, die selbst alte Bauern mit schmerzendem Rücken vor ihm machen. Stolz marschiert er voran, mustert die einfachen Häuser, die Einzäunungen, die Beete und Wege, mit unendlicher Mühe angelegt in dieser kargen Umgebung. Seine Linke ruht auf den Griffstücken seines Daisho, die Rechte ist mit dem Daumen unter den Kaku-Obi gehakt, der seinen Kimono umschlingt. Schweigend lässt er seinen Blick schweifen, verschafft sich eine Übersicht: Wie viele Bauern leben noch in diesem Dorf? Haben sie genug Reis zu essen, oder ernähren sie sich nur noch von Hirse? Gibt es wirklich nur Frauen, Greise und Kinder, oder findet sich auch noch der eine oder andere junge Bursche, der einen Speer führen könnte? Seine Bilanz fällt schlecht aus: Das Dorf ist zwar nicht reich, aber auch nicht so arm, dass Räuber es nicht noch plündern könnten.

Ganz abgesehen von den Frauen und einigen sehr hübschen jungen Mädchen, die man nicht alle erfolgreich vor ihm zu verstecken versucht hat. Gerade hat er einen alten Mann ertappt, der in seiner Angst vor dem fremden Samurai zu einer ganz und gar unwürdigen Methode gegriffen hat: "Schäm dich, alter Mann!" hat Tsuyoshi ihn angefahren. "Wie konntest du deiner Tochter die Haare abschneiden und sie in Männersachen stecken – sieh nur, wie sie vor Scham weint! Glaubst du alter Narr etwa, damit könntest du einen Banditen täuschen, eh?!" Wütend hat er gedroht, sein Katana zu zücken, als ihm noch ein Einfall kam: "Oder hast du dir etwa gedacht, ich sei hinter euren Mädchen her, was?!" Er erinnert sich jetzt noch an das aschfahle Gesicht, mit dem der Greis vor ihm in den Staub gefallen ist und um Verzeihung gebeten hat. "Baka!" flucht er unterdrückt. Selbst in ihrer Männerverkleidung war nicht zu übersehen, dass das Mädchen schön war. Ein Bandit würde nicht zögern...

Er ist mit seinen düsteren Gedanken beschäftigt, als ein niedriges Gebäude mit einem Anbau in Sicht kommt, der sich auf der dem Dorf abgewandten Seite befindet, weit weg von den übrigen Häusern, damit kein Funkenflug sie gefährden kann. Eine Esse ist zu erkennen, und er erinnert sich an die Beschreibung der Dame Chúsei, die von einer Schmiede sprach. Zwar hat er keinen einzigen Koban in seinem Beutel, aber als Samurai interessiert ihn die Schmiede dennoch. Die Esse scheint kalt – kein Wunder, da der Schmied ebenso verschollen sein muss wie die anderen Männer des Ortes. Vor der offenen Front des Anbaus bleibt Tsuyoshi stehen und schaut sich um. Sicherlich war der Mann, der hier gearbeitet hat, kein echter Schwertschmied. Eher wird er Werkzeuge für die Feldarbeit gefertigt haben. Doch das Wissen, dass seine guten, aber alten ererbten Klingen wieder einmal die Pflege eines Meisters gebrauchen könnten, treibt ihn dazu, einige Schritte weiter zu gehen.

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Hoch steht die Sonne am Himmel und brennt erbarmungslos hinab auf das kleine Bergdorf, die staubigen Wege und die wenigen, viel zu kleinen Terrassen, auf denen selbst bei gutem Wetter nicht genug Reis geerntet werden könnte, um all die hungrigen Mäuler in Yukami Mura zu stopfen. Die flirrende Hitze lässt Spiegelungen in der Luft tanzen, während das schrille Zirpen der Grillen in der drückenden Stille doppelt laut erscheint. Nichts rührt sich in der Umgebung, nichts, bis auf den einsamen Samurai, der sich mühsam den Serpentinenpfad zum Dorf hinauf kämpft. Langsam sind seine Schritte, als könne er die Beine kaum mehr bewegen. Der ehemals bunt gemusterte, nun aber vom Staub der Straße überzogene Kimono mit dem Wappen des kürzlich getöteten Kriegsherrn dieser Region auf der Rückenpartie klebt um den Oberkörper des sehnigen, kräftig wirkenden jungen Mannes, unter dessen langem Haarschopf Schweiß hervorperlt und über seine Schläfen hinab rinnt. Manche der salzigen Rinnsale treffen auf seine Augenwinkel und beißen dort unangenehm, doch bis auf ein gelegentliches energisches Blinzeln reagiert er nicht. Stoisch, wenn auch verbissen wirkend, setzt er seinen Weg fort, die Hütten des Dorfes fest im Blick, die Linke auf dem Tsuka[1] seines Katana liegend, der Daumen fest auf das Tsuba der Waffe gepresst, um sie innerhalb eines Lidschlags aus der Saya ziehen zu können.

Schließlich hat er den Eingang des Dorfes erreicht – wo der Bergpfad in einen simplen Hohlweg übergeht, der von zwei Hütten flankiert ist – und lässt seinen Blick mit undurchdringlicher Miene schweifen. Eine Stelle, die der Samurai in ihm ganz automatisch als gut zu verteidigende Position wahrnimmt... zu sehr sind ihm die Lektionen des Krieges in Fleisch und Blut übergegangen, als dass er solche Gedanken ignorieren könnte. Doch kein Mann steht hier bereit, Eindringlinge zurückzuweisen. Nur ein kurzes Kichern aus einer kindlichen Kehle, rasch unterbrochen vom hastigen Flüstern einer Erwachsenenstimme, weist darauf hin, dass hier überhaupt noch jemand lebt. Dann, für einen kurzen Moment, das Rascheln eines Kimonos, als sich jemand leise zu entfernen versucht, hinter den Bambushütten verborgen. Ein verstohlener Blick aus dem Schatten eines Fensters, hinter einer vorsichtig angehobenen Bastmatte hervor, die Augen ängstlich wirkend... Die Mundwinkel des einsamen Wanderers wandern nach unten.

Das also ist alles, was dieses armselige Dörfchen noch zu bieten hat: Kinder, Alte und Weiber! Ein armseliges Ziel für Räuber, denn viel kann hier nicht zu holen sein. Aber auch eines ohne jegliches Risiko. Er wüsste, was er täte, wäre er ein ehrloser Bandit! Baka! – es ist einfach zu dumm, wie das alles kam! Langsam schabt er mit einer Hand über seinen Hals. Seine Kehle fühlt sich an wie ausgedörrt. Dieses Dorf ist fast wie jenes, in dem er geboren wurde und seine Kindheit verbrachte. Und in der Mitte seines Dorfes gab es einen kleinen Brunnen mit kühlem, frischem Wasser aus einem kleinen Gebirgsbach... ja, das wäre jetzt das richtige! So strafft er sich und setzt seinen einsamen Weg in das Dörfchen fort, aufrecht und scheinbar unbekümmert jedes Geräusch und jede Bewegung in seinen Augenwinkeln ignorierend. Seine gesamte Erscheinung ist eine Demonstration von überlegener Gleichgültigkeit. Wer sollte wohl hier sein, der sich ihm in den Weg zu stellen wagte? Und – wäre es so – welcher Tag wäre wohl besser geeignet, um mit einer letzten großartigen Geste aus dieser miserablen Welt zu scheiden, in der ein Mann bestraft werden kann, ohne schuldig zu sein?
 1. Zu den Teilen eines Katana und der zugehörigen Scheide siehe hier.

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