Pathfinder 2E: Extinction CurseBuch I, Teil 1: Die Show muss weitergehen!
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Sternentag, 16. Desnus, 4720 AR~~~
Ein Schwall erregten Stimmengewirrs lag über dem großen, rot-weiß-gestreiften Zirkuszelt, das man hier, auf einem freien Wiesenstück außerhalb von Abberton, errichtet hatte. Himmelslichter und an Pfählen befestigte Fackeln, die den Weg von der Straße zum Zelt geleiteten, erhellten die milde, wolkenlose Nacht, die zu dieser Abendstunde bereits Einzug gehalten hatte. Einige bunt konstümierte Gestalten hatten sich zwischen die Besucher gemischt und hießen diese mit Scherzen und kleinen Showeinlagen willkommen, während für Tickets, Getränke und Süßigkeiten angestanden wurde. Hatte man an der Vorderseite des Zelts Mühe, etwas Freiraum zu finden, wirkte die Rückseite fast wie in einen sanften Schlummer gehüllt. Der Wind trug die Geräuschkulisse zwar auch an diesen Ort, wo die Wägen und Schlafzelte nahe eines Bachlaufs aufgebaut worden waren, doch hätte man fast den Eindruck bekommen können, es wäre bereits Nachtruhe eingekehrt. Dennoch gab es wohl kaum einen Lagerbewohner, der zu diesem Zeitpunkt nicht hellwach war. Es war nur kaum jemand noch hier. Die Zirkustruppe hatte derzeit andere Prioritäten als ihre Wagen und Schlafzelte zu bevölkern. Hier und da huschte zwar noch wer durch die Reihen, weil etwas vergessen worden war, oder war ganz absichtlich hier, um nach den Tieren in den aufgestellten Gattern zu sehen; allerdings befanden sich die meisten Zirkusmitglieder bereits im großen Hauptzelt oder waren auf dem eiligen Weg dorthin – darunter auch Durbak, Zonk sowie Kylie und Nadeshja mit Lavenia.
Nicht nur heute Abend, sondern bereits in wenigen Minuten sollte so weit sein: Der
Zirkus der Seltenen Wunder würde zum ersten Mal das neue, riesige Zelt vor Publikum einweihen. Hunderte von Leuten passten in die Zuschauerränge – und es war gut, dass dies so war, denn es schien so als hätte sich die gesamte Bevölkerung Abbertons hier eingefunden. Viele der meistbekannten Bürger der Stadt, auch der Bürgermeister, drängelten sich gerade durch die Menge und folgten dem Licht der Fackeln und des Sichelmonds durch den Zelteingang, um einen Sitz in guter Position zu erhaschen. Die neugierigen und aufgeregten Blicke zur Mitte der Manege, wo die drei Ringe schon auf ihre Artisten warteten, verrieten, dass die Bürger Abbertons es kaum erwarten konnten, dass die Vorstellung beginnen würde. Die Helfer dimmten bereits die Scheinwerfer und die Musiker stimmten fröhliche Fanfaren und Tuschs an, die die Ungeduld weiter aufbauten.
Während das Publikum noch nach Sitzplätzen suchte, sammelten sich die Darsteller im rückseitigen Part des Zelts, der durch einen Vorhang von der Manege und den Blicken der Zuschauer abgeschirmt war (
Übersichtskarte des Zelts). Eine andere Art von Aufregung als die des Publikums lag über der gesamten Zirkus-Crew, die hier eintrudelte. Der Geruch von Parfüm, Räucherwerk, Zuckerwatte und Popcorn lag in der Luft, aber auch die sich mischenden Eindrücke von Schweiß und Tieren. Jeder ging unterschiedlich mit der Anspannung um, die eine bevorstehende Vorstellung mit sich brachte. Für einige äußerte sie sich in freudiger Erwartung, bei anderen, gerade den Unerfahreneren, war es eher wachsende Nervosität oder eine Mischung aus beidem. Auf den heutigen Abend hatten sie alle gewartet – dafür hatten sie Stunden, Tage und Monate geübt: Für den großen Durchbruch.
Abberton schien für diesen Zweck auf den ersten Blick nicht wirklich attraktiv. Die Stadt lag abgelegen nahe der Nordostküste Errans und war, trotzdem sie durchaus die größte Ansiedlung der Region darstellte, relativ klein. Bewohnt von einfachen Bauern, Viehzüchtern und Handwerkern, unterschied sie sich nicht durch die Art des Publikums von den vorherigen Dörfern oder von den Wegkreuzungen, in oder an denen der
Zirkus der Seltenen Wunder seit seiner Gründung Vorstellungen gegeben hatte. Der entscheidende Unterschied (und das sollte man positiv sehen) war die Menge an Zuschauern, die Abberton bot. Es war nicht zu unterschätzen, dass man selbst entfernt von Hauptstädten zu Ruhm gelangen konnte, wenn man nur genügend Leute beeindruckte, die dann per Mundpropaganda die Kunde weitertrugen. Je größer eine Vorstellung, desto besser. Wenn sie nicht hier mit den größeren Veranstaltungen anfingen, wo dann? Die widrigen Umstände seiner Gründung hatte den
Zirkus der Seltenen Wunder gezwungen, sich erst einmal aus dem Einzugsgebiet Escadars fernzuhalten, da man Madame Dämmerlicht durchaus zutraute, Rachegedanken ob des Umstands hegen, dass ihr nicht nur viele Artisten, sondern auch materieller Besitz „abhandengekommen“ war, den sie stets als ihren eigenen betrachtet hatte (was allerdings nicht den wahren Gegebenheiten entsprach). Außerhalb von Escadar stellte Abberton die beste Option dar… und die Erlaubnis der Stadt, hier Zelt und Lager aufzuschlagen, war entsprechend die beste Gelegenheit, die sich ein Wanderzirkus in diesem Teil Errans hätte vorstellen können.
In den einzelnen, unübersichtlichen Nischen hinter dem Vorhang, zwischen den Wagen und Stapeln und Regalen und Ständern mit Bühnenaustattung, die dort bereitlagen, um sie bei Bedarf in die Manege zu holen, hatte sich jeder oder jede Künstlertruppe ein eigenes Eckchen gesucht, um sich schonmal warmzumachen, sich zu schminken und andere letzte Vorbereitungen zu treffen. Im Grunde war jeder mit sich selbst beschäftigt, wartete aber auch auf Anweisungen von Myron, die auf sich warten ließen, obwohl die Zeit immer knapper und die Luft gefühlt immer dicker wurde. Die Kinder des Zirkus tobten zwischen den Erwachsenen umher und sorgten für zusätzliche Unruhe und den ein oder anderen ungehaltenen Kommentar, wovon die Zuschauer zum Glück nichts mitbekamen. Die Musik draußen auf der anderen Seite des Vorhangs war selbst laut genug, um einen Aufschrei auf dieser Vorhangseite zu übertönen.
Einen Aufschrei, der aber die Aufmerksamkeit der Artisten auf sich zog – erst nur die einiger, aber schlussendlich die aller, als die ersten fürsorglich aufsprangen und loseilten, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Hod, der junge Assistent von Mordaine, dem man der Stimme nach den Schrei hatte zuordnen können, ließ sich schnell zwischen Stapeln von Ausrüstung nahe des Vorhangs ausfindig machen. Offenbar hatte er nicht seine Zeit damit verbracht, mit den anderen Kindern Fangen zu spielen, sondern war „Der Magierin“ zur Hand gegangen – das verriet die Kiste, die nun bei ihm auf dem Boden lag. Mordaines Schlösser und Ketten lagen auf dem Boden verteilt und auch auf seinen Füßen als hätte er sie fallen gelassen.
Drolf von den Zwergenwerfern war als erster vor Ort und näherte sich, ohne zu zögern.
„Hast du dir wehgetan?“, erkundigte Drolf sich ehrlich besorgt. Seine sonore, tiefe Stimme, die kein Problem hatte, gegen das gerade erklingende Trompetensolo und das Stimmengewirr des Publikums auf der anderen Seite des Vorhangs anzukommen. Hod, der trotz seiner jungen Jahren den zwergischen Drolf bereits um einen halben Kopf überragte, reagierte allerdings nicht darauf. Wenn auch keine Wunden offensichtlich ins Auge sprangen, sprach das Chaos auf dem Boden für sich: Irgendwas Schlimmes musste passiert sein. Der Junge zitterte am ganzen Leib. Dass er allen Eintreffenden weiterhin den Rücken zuwandte und man vielleicht nicht das ganze Ausmaß des Unfalls erkennen konnte, machte es nicht besser. Drolf griff nach Hods Arm, um ihn sanft, aber bestimmt zwischen den Lagerkisten hervorzuziehen. Der Bursche leistete keinen Widerstand, wirkte aber teilnahmslos; wie erstarrt. Kreidebleich war er und starrte immer noch an die eine Stelle zwischen den Ausrüstungsstapeln, von der er offenbar den Blick nicht abwenden konnte oder wollte.
Nun, da er beiseite gezogen wurde, konnten auch die Vorderen der kleine Menge, die sich bereits versammelt hatte, erkennen, was hier eigentlich vorging. Einige schnappten erschrocken nach Luft und wurden ähnlich bleich wie Hod… andere, weiter hinten, reckten die Hälse, um herauszufinden, warum hier sich hier plötzlich verängstigtes Tuscheln und Raunen breit machte. Selbst Drolf, der nun Hod losließ und schon wieder zu vergessen zu haben schien, hatte es die Sprache verschlagen.
Es war die Elfe Valana, die sich durch den Bulk an Artisten nach vorn drängte und mit der Schneise, die sie dadurch schlug, schließlich dafür sorgte, dass auch wirklich jeder der Anwesenden einen Blick nach vorn erhaschen konnte. Doch direkt vorn verließ auch sie der Mut.
„M-Myron?“, fragte sie zögerlich und Tränen schossen ihr in die Augen. Es war für jeden offensichtlich, dass Myron nicht in der Lage war, zu antworten. Nie wieder würde er das sein. Zusammengekrümmt und verkrampft, mit dem Ausdruck unsäglichen Schmerzes im Gesicht, lag er im staubigen Sand zwischen verstreuten Schlössern, Ketten und gestapelten anderen Requisiten. Mit seinen aufgerissenen, leeren Augen hatte er den Vorhang fixiert – den Vorhang, hinter dem ein Publikum wartete, unterhalten zu werden. Vom
Zirkus der Seltenen Wunder… vom „Donner“, der die Zuschauer stets anzuheizen und die Artisten zu motivieren wusste.
Doch Myron war offensichtlich tot. Und über den Rest der Zirkusleute hatte sich mit einem Mal ein dicker Dunst des Schocks, der Angst und der Trauer gelegt. Was war hier nur vorgefallen? Und wie würde es weitergehen?