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Gatsburg Blues / Kapitel III: Das Lied der Zeiten
« am: 20.10.2019, 13:06:45 »~ Zwischenspiel ~
Leise knisternd züngelt das Feuer über die dürren Zweige in der Mitte des großen Tipis, umgeben von einem Ring flacher Steine. Das Spiel der Flammen erhellt die Decken, mit denen die Ränder des Zelts abgeteilt sind, sein Schein flackert über die Stangen, welche die schweren ledernen Häute zum Schutz vor der winterlichen Kälte tragen. Es tanzt über lederne Beutel mit Vorräten, über einen Bogen mit Köcher, über Weidenkörbe und Schlafstätten mit Decken und Fellen. Und es zaubert helle Reflexe auf die Gesichter der Kinder, die sich eng zusammengedrängt haben und mit großen, gespannten Augen an den Lippen der Indianerin hängen, die sich mit ihnen an dem Feuer wärmt. Dunkel und rissig wirkt ihre Haut, fast wie das Leder ihres Kleids – eine Frau, der das harte Leben als Squaw eines Jägers, eines Nomaden mit der endlosen Wanderung auf der Spur der Bisonherden frühzeitig die Spuren des Alters aufgeprägt hat. Und dennoch: Ihre Stimme ist kräftig, der Blick klar, fest und sicher der Griff, mit dem sie das Jüngste, ein kleines Mädchen, auf ihrem Schoß hält. Gemächlich legt sie Holz nach und nickt den Kindern zu. "Geh noch einmal in die Traumlande und erzähl uns von dort! Erzähl uns mehr von den einsamen Wächtern, ina!" schallt es ihr aus vielen Mündern entgegen. "Also gut," lächelt die Squaw. Dann schließt sie die Augen, legt den Kopf in den Nacken und wiegt sich mit dem Kind auf ihrem Schoß, als habe sie ihr eben gegebenes Versprechen schon wieder vergessen. Schweigen legt sich über die kleine Gruppe. Nur die Hölzer im Feuer knacken gelegentlich, und die Kinder beginnen ungeduldig zu wispern. Ein unterdrücktes Lachen hier, ein prüfender Blick in das entrückte Gesicht der Squaw... Da plötzlich fängt sie an zu sprechen, zu singen, mit leiser Stimme, wie in Trance.
"Lange ist es her, dass der Große Geist die erste der Welten schuf. Er machte das Land und die Flüsse, die Berge, die Wälder und die Seen, und auch die weite Ebene. Doch weil es so kahl und tot war, gab er dem Land Bäume, Gras, viele Blumen und andere lebende Dinge, die es bewohnten. Auch Tiere dachte er sich aus, den großen Bären und den flinken Fuchs, den Lachs und sogar die kleine Ameise. Und zuletzt erdachte er die Menschenwesen, große und kleine, helle und dunkle. Jedem von ihnen wies er eine Wohnstatt zu. Weil die Menschenwesen nun so unterschiedlich waren, gab er jedem von ihnen einen Teil der Welt, den er durchstreifen konnte. Einige wohnten nahe beisammen, denn sie waren sich ähnlich und vertrugen sich gut. Andere dagegen waren sich so fremd, dass sie nicht die Gesellschaft ihrer Brüder suchten. Für sie machte der Große Geist schließlich weitere Welten, damit kein Zank zwischen ihnen aufkäme. Doch weil er jedem Menschenwesen in seiner Weisheit eine Gabe gegeben hatte, die kein anderes von ihnen hatte, konnten sie auch nicht ohne einander auskommen. Deshalb baute er Brücken zwischen all den Welten, so dass sie sich besuchen konnten und voneinander lernen. Und immer, wenn sie sich besuchten, kamen die Dinge wieder ins Lot, die sich nicht gut entwickelt hatten in den Welten, weil ihren Bewohnern die Gaben fehlten, welche ihre weit entfernt lebenden Brüder besaßen.
Die Menschenwesen besaßen aber nicht die Weisheit des Großen Geistes, und so dachten viele von ihnen, dass sie die aus den anderen Welten nicht brauchten, um glücklich zu sein. Für sie waren die Brücken von Übel, denn stets kamen über sie solche zu ihnen, die ihre Welten veränderten. Sie wollten nicht einsehen, dass es heilsam war, was ihnen gebracht wurde. Darum verschmähten sie das Geschenk der Vielfalt, das allein sie ihrem Schöpfer nahebringen konnte, von dem alle Gaben stammten. Manche forderten sogar, dass man die Brücken abreißen sollte, damit keine Fremden mehr in ihre Welten kommen könnten. Das aber hätte bedeutet, dass jede Welt für sich bleiben würde, ohne jemals wieder alle Gaben des Großen Geistes vereinen zu können. Die bunten Farben würden aus allen Welten verschwinden, bis alles Grau in Grau wäre – aber ihre Bewohner würden es nicht bemerken, denn auch aus ihnen wären alle Farben gewichen. Das große Werk des Schöpfers wäre für immer verloren. Also gab der Große Geist jeder Brücke einen Wächter, der sie durch die Zeiten bewahren sollte, damit sie immer offenstände. Diesen Wächtern verlieh der Große Geist dazu viel Wissen, und er lehrte sie machtvolle Lieder. Doch auch so war die Aufgabe schwer, und sie lastete auf den Auserwählten. Immer, wenn ein Wächter seine Zeit kommen und seine Kraft schwinden fühlte, bestimmte er daher einen Nachfolger und lehrte ihn seine Lieder, damit seine Aufgabe weiter erfüllt würde.
So gibt es auch Wächter an den Brücken zwischen unserer Welt und anderen. Und weil ihre Pflicht eine ist, die große Einsamkeit mit sich bringt, ist es ihnen erlaubt, sich Helfer zu bestimmen. Groß ist die Ehre eines Stammes, dessen Kind ein Wächter wählt, um ihm beizustehen. Denn ein jeder Wächter erwählt sich sein Auge, das ihm Kunde aus den Welten bringt, deren Teil er niemals mehr ganz sein kann. Er wählt sich seine Hand, welche für ihn streitet, seinen Mund, der seine Worte den Menschenwesen bringt, sein Herz, in dem er das Wissen um viele Dinge bewahrt, und seine Stimme, welche die Lieder zum Klingen bringt, die ihn der Große Geist lehrte." – "Und wie, wie wählt er sie aus, seine Helfer? Wie findet er sie?" kräht eines der Kinder und unterbricht den monotonen Singsang der Squaw. Langsam öffnet sie die Augen und lächelt erneut. " – "Das muss er nicht. Immer ist es so gewesen, dass sie ihn fanden, denn der Große Geist hat alle Dinge sehr weise eingerichtet."
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