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« am: 11.11.2014, 00:11:38 »
Es war vorbei. Oder hatte es begonnen? Wahrscheinlich hatte sich in Wirklichkeit gar nichts geändert. Es war nichts, welches mit McKinkai begann oder mit McKinkai aufhörte. Wenn die Ereignisse der letzten Wochen eins bewiesen hatten, dann das Menschen immer wieder dieselben Fehler machen, nach denselben Dingen streben und immer wieder andere für ihr Wohlergehen opfern, während andere ihr Wohlergehen für andere opfern, aus welchen Gründen auch immer. Es hatte vor McKinkai Versuche gegeben, irgendeine Form maschinell-natürlicher Intelligenz zu erschaffen, es hatte McKinkai geben, und mit Blick auf Flare würde es noch andere geben. Wahrscheinlich nicht Flare selbst, vielleicht aber ein machtgierender oder nach Unsterblichkeit strebender Mann der Bänderringträger, vielleicht in versehrter, der seinen Kameraden in der Schlacht verlor oder andere Geschichten verquirlten Heldenmistes. Kein Beginn, kein Ende. Alles lief weiter wie vorher, die Menschen wechselten nur Sprache und Kleidung, änderten die Geschichte im Detail und doch ließen die Geschichten sich immer wieder auf dieselbe Rezepte herunterbrechen, zumindest für Shiver.
Shiver war das doch auf andere Weise nahegegangen. Louise. Shiver hatte es innerlich gespürt, dass seine innere Nähe, sein Bedürfnis in der Nähe seiner Perle zu sein...es hatte sich verändert. Der Moment, in dem sie zauberte und ihre so unglaubliche, verführerische Contenance verlor und ihr ängstliches, ungeschöntes Ich zeigte. Es verunsicherte Shiver. Es erinnerte ihn daran, dass er lieber ein Werkzeug war und sich dessen bewusst war. Als sie mit ihm spielte, das hatte eine perverse Klasse, die der Glatzkopf bewunderte, doch als diese Fassade aus Fassung und spielerische Koketterie fiel, und die wahre Perle in der magischen Auster zeigte, das machte Shiver Angst. Einen verletzlichen Menschen vor sich zu haben, emotional, das erinnerte Shiver an seine eigene Schwäche. Jene Schwäche, die ihn vor allen wirklichen Kämpfen weglaufen ließ, und ihn mit Fäusten, Alkohol und Tabak umgab. Denn dies waren die Kämpfe, die leicht für ihn waren, sie waren verständlich. Schlagen, geschlagen werden, saufen, umfallen, wieder aufstehen. Das hatte er immer getan, aber wer sein? Shiver merkte, dass aus der spielerischen Beziehung zu Marguerite mehr wurde, gerade da er ihr wirkliches, schwaches Ich sah, welches ihn an seine eigene Schwäche erinnerte. Verbunden in dem Versuch souverän zu wirken, eins in der eigentlichen Schwäche. Ein schönes, weibliches Spiegelbild des hässlichen, männlichen Shivers, im Wesen doch dasselbe. Shiver konnte es nicht ertragen, er lief wie immer weg, wenn es menschlich wurde. Denn er wusste, was eigentlich passieren würde, wenn er blieb. Er würde Marguerite nicht beschützen, er würde sie mit seiner Art in Ärger bringen, und dann würde sie verletzt werden oder irgendwann würde sie sterben; und dann wäre er es, der die Kugeln jagte, der "Louise" wiederzubeleben gedachte, der besessen sein würde von der Perle. Er würde daran entgültig zerbrechen. Und wäre es befriedigend, dann auch von ihr getötet zu werden, für das, was er ihr antun würde? Sie in Gefahr bringen, sie sterben lassen, sie als Maschine wiederbeleben wollen, ihre Schönheit nicht bewahren können; und dann war er noch alt, gebrochen und hässlich. Das war zu viel. Er sah sich in McKinkai, und da er so zerlegt und mit noch immer sehr doppeldeutig verdrehtem Kopfe lag, lacht Shiver nach außen, verschwand dann aber mit glimmender Zigarette einfach aus der Sicht von Aether, Simon und Marguerite, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Noch ehe McKinkais Körper kalt wurde oder sein letzter, röchelnder Atemversuch seine Lippen verlassen hatte, ehe sie sich umdrehen konnten, war Shiver verschwunden, wie vom Stadtdschungel Middlesteels verschluckt.
Er hatte die Kneipen gewechselt, oftmals mehrfach an einem Abend, in der Angst Marguerite zu begegnen. Er wollte sie nicht sehen, er wollte sie nicht enttäuschen, er wollte sich nicht ihretwegen enttäuschen, obwohl er genau wusste, dass er sich genau jetzt enttäuschend benahm. Er konnte diesen Widerspruch, dieses Problem nicht auflösen. Dass einander begegnen immer gleichzeitig hieß, jemanden zu beglücken und zu enttäuschen, wenn man es im Ganzen sah, war ihm unerträglich. Er konnte sich nicht damit anfreuden, dass es darum ging, dass Beglückende zu genießen und nicht das Enttäuschende zu fürchten. Seine Furcht vor anderen Menschen war so real und so groß, dass er das Glück nicht einmal sah, wenn es ihm mit eherner Faust die Fresse polierte. Shivers Leben lief nach einem anderen Credo als das der meisten Menschen: So much of "normal, civilized" life is bullshit that you can't imagine. ... What frightens you, doesn't frighten me, what frightens me, you'd laugh at.
Shiver hatte nie Angst vor körperlichen Schmerzen oder seinem körperlichen Verfall, deswegen soff er so viel. Deswegen wechselte er nun aus Angst vor Marguerite die Kneipen, während er sich mit billigen Fusel aus der Besinnung beförderte, aus Wut Schlägereien anzettelte, wobei er so voll war, dass er sich manchmal gar nicht wehren konnte. Er fürchtete ein Mensch zu sein. Er fürchtete sich vor sich selbst, vor seinen Gefühlen. Er verbarg sich in einer tabakschweren Dunstwolke aus Wut, Alkohol und aggressiver Angst...
Und so hatte man Shiver gefunden und nach Greenhall geschleppt. Sein Unterhemd war voll getrocknetem Blut und Erbrochenem, sein Ledermantel weiter eingerissen. Sein Schädel war nicht mehr kahlrasiert, sondern zeigte inzwischen deutlich das mahagonifarbene Haupthaar in seiner schmutzigen und blutverkrusteten Stoppeligkeit. Er trug sei der Rückfahrt aus Liongeli ebenso einen schmutzigen, rotgrauen Mehrtagebart. Er sah ziemlich verwahllost aus, aber er war klarer Gedanken, auch wenn er wie ein vollgepisstes Wrack stank. Man unterzog ihm einer Zwangswäsche, in dem man ihm einen Eimer Wasser über den Kopf schüttete, um ihn in der Gosse zu wecken, in der er sich die Nacht mit einer Flasche billigen Gin geteilt hatte. Er konnte nur ein wenig aus dem linken Augen blicken, welches geädert und halb zugeschwollen war, das rechte Auge ließ gar kein Licht ein. Sein Gesicht nach einer wenig erfolgreichen Schlägerei aus. Die Fragen diesbezüglich konnte Shiver nicht beantworten, er erinnerte sich nicht, aber er ging davon aus, dass sein Kontrahent nicht anders oder gar schlimmer aussah.
Sie hatten ihm schließlich sein Geld gegeben. Und er sah Aether wieder. Shiver grüßte mit einem Schmunzeln, sagte aber nichts dazu, dass er einfach verschwunden war. Stattdessen steckte er sich eine Zigarette an. Er paffte nur daran, um möglichst viel Rauch in den Mund zu nehmen. Wer auch immer ihm angetragen hatte, dass seine Vergangenheit gelöscht wurde: Shiver blies ihm den Rauch ins Gesicht. Der Glatzkopf schaute zu Aether, wie er darauf reagieren würde. Doch ehe es dazu kam, zuckte Shiver mit den Schultern. Er rieb sich das ganz geschwollene Auge. Das tat ordentlich weh und pochte. Wahrscheinlich ein gebrochener Orbitalknochen, mal wieder. Diesmal würde er diese Stelle ärztlich untersuchen lassen müssen. Das passierte zu häufig. Shiver zog nochmal an der Zigarette, sie war fast niedergebrannt. Ihm hämmerte der Kopf vom billigen Gin, er musste bald was essen, damit er nicht kotzen musste. Oder einen Kontergin reinpfeifen und dann sehen, dass er Marguerite aus dem Weg ging. Jetzt hatte er Geld, er konnte sonstwo hin. Mhm, vielleicht ein Zimmer mieten und sich mit Nutten und Gin versorgen lassen. Das würde ihn vielleicht auf andere Gedanken bringen. Shiver blickte nochmal zu Aether, dann nahm er den Glimmstängel aus dem Mund, zwischen Daumen und Zeigefinger, sodass die Spitze der Zigarette zur Handfläche zeigte. Er näherte sich den Aufzeichnungen seiner Taten mit dem glimmenden Stummel, ganz so als würde er sie entzünden wollen. Er las kurz drüber: viel Schlägerei, Unzucht, Aufstachelung zur Unruhe, Widersetzen gegenüber Wachbütteln und dergleichen. Shiver lachte leise und schnipste die Zigarette in das Gesicht des nächststehenden Büttels.
"Meine Vergangenheit lösch'n? Habt ihr gelitt'n? Das einzige wegwerf'n, was ich je geleistet hab'? Ihr habt wohl nich' mehr alle Latt'n am Zaun.", kommentierte er seine Provokation. "Dafür habt ihr mich geweckt? Fickt euch. Ich behalt' meine Lebensleistung."
Im Gefängnis war er vielleicht sicher vor Marguerite, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Leben führte in die Katastrophe, dass wusste er. Es ging immer weiter bergab, vom guten Haus in die Gosse. Aber Shiver machte sich keine Illusion. Das war eine Einbahnstraße, und er brauchte keine Umleitungen, die ihn die Aussicht versüßten oder ihm falsche Hoffnung gaben. Er wollte so weiterleben. Es war scheiße, aber es war sein Leben. Und er entschied, wie scheiße er es gestalten würde. Er war kein verdammter Held und er würde es nie sein. Er war im Dschungel kein Held gewesen, er war nur noch nicht so dumm wie Samual oder Wolfhard, und war nicht unnötig als falschem Heldenmut oder verlorener Fassung verreckt. Ja, wahrscheinlich würde er noch immer in der Gasse vor sich hinsiechen, wenn Aether oder Simon auch an ihrem Heldentum vergangen waren. Aber es ware ihre Entscheidung. War Zeit, dass er wieder was trank.
Er klopfte Aether auf die Schulter. "War nett dich kennengelernt zu haben.", sagte er diesmal in nicht nuschelnder Sprache. "Ich wünsche dir alles Gute. Ich denke, du wirst in der Lage sein, aus dem kleinen Geldsegen Gutes zu schaffen. Solltest du mal eine Faust brauchen, du findest mich auf dem Kopfsteinpflaster." Shiver zwinkerte ihm zu, so es sein offenes Auge zuließ und drehte sich, stinkend und unrasiert, auf dem Absatz um und marschierte aus dem Gebäude. Dies war kein Beginn und kein Ende. Es war nur eine Episode, sein Niedergang war noch nicht abgeschlossen, und ehe das geschehen war, würden noch eine Köpfe eingeschlagen und einige Flaschen getrunken sein. Und so verschwand Shiver wieder im dreckig-rauchigen Getümmel Middlesteels, genauer gesagt in den Gossen dieser Stadt, seiner Seelenheimat.