Beiträge anzeigen

Diese Sektion erlaubt es ihnen alle Beiträge dieses Mitglieds zu sehen. Beachten sie, dass sie nur solche Beiträge sehen können, zu denen sie auch Zugriffsrechte haben.


Nachrichten - Paul Zeidler

Seiten: [1] 2 3
1
Paul Zeidler hatte sich wieder auf das Sofa gesetzt und die abgegriffene Bibel des Bischofs in die Hand genommen, doch noch nicht geöffnet. Paul hatte irgendwie erwartet... - wartete darauf, dass ihn Gottes Wort beruhigen und zuversichtlich machen würde, doch nichts geschah. Das Buch der Bücher wog schwer in seiner Hand und mit einem Mal wurde er sich gewahr, dass das Wort Gottes auch eine schwere Last sein konnte. "Es ist schwer, an das Gute zu glauben.", stellte Paul müde fest. "Es gibt so viele Dinge einzuwenden. Man wird sagen können, dass das menschliche Herz von Kindheit an voller Bosheit ist. Dummheit und Faulheit halten den Verstand der Menschen gefangen. Stolz und Eigennutz trüben den Blick der Menschen. Und wilde Emotionen lenken die Hände. Oh ja, es ist alles wahr, es ist alles wahr - und ich, der ich von Deinem Wort angesprochen bin, was rechne ich mir für Chancen aus? Wie soll ich Geringer unter den Geringen meine Stimme erheben und Deinen Willen verkündigen? Ach, wenn Du es doch nur selber tätest! Wenn Du vom Himmel in Deiner Herrlichkeit herabkämst und selbst Deinen Willen unter den Menschen fügtest! Was kann ich schon tun? Ich bin so ungeschickt mit Worten und meine Lippen sind unrein. Wie kann ich glauben, dass Du mit mir bist? Wie kann ich Vertrauen in meine Aufgabe haben?"

Paul sprach vor sich hin, gab seinen Gedanken Raum. An Darboy und von Lütjenburg dachte er schon lange nicht mehr. Der Zweifel hatte ihn übermannt und ein tiefes Gefühl der Trauer ließ seine Worte zur Klage werden. "Du stellst mich vor eine unmögliche Aufgabe, lässt mich vor die Hunde gehen und zur Schande werden. Ist das die Art, in der Du mit Deinen Propheten umgehst? Bin auch ich ein Jeremia, ein Petrus, ein Paulus? Soll es mir eine Zuversicht sein, wie es heißt: 'Sie gingen aber fröhlich von dem Hohen Rat fort, weil sie würdig gewesen waren, um Seines Namens willen Schmach zu leiden'[1]? Soll ich mich gar freuen, 'als Opfergabe im Gottesdienst meiner Gemeinde hingegeben zu werden'[2]? Ich... weiß nicht... ob ich die Kraft habe."

Paul blickte auf und unverwandt den Bischof an. "Euer Eminenz, Christus ist in den Schwachen mächtig, ist es nicht so? Wir haben keine Aussicht auf Erfolg und unsere Sicherheit ist in Gefahr. Tod und Teufel warten auf dem Platz da draußen. Ich... habe... Angst, das kann ich nicht verhehlen. Haben Sie auch Angst?

Aber, ich frage Sie, wo wir schon jetzt so arm und schändlich sind mit unserem Glauben, um wie viel ärmer und schändlicher wären wir ohne ihn? Wir müssen predigen. Wir müssen in einer kranken Welt an dem festhalten, das uns heil machen kann. Und dann? Wenn wir in dieser verwirrten Generation selbst zum Licht der Welt werden können, wie Paulus im Philipperbrief meint, vielleicht ernten wir nicht nur Hiebe und Schläge. Tod und Teufel stehen uns gegenüber, Gott stehe uns bei! Wir müssen die Bergpredigt predigen!
"[3]
 1. Apg 5,41: Vorangegangen ist die Verurteilung von Petrus und der Apostel in Jerusalem. Sie erhielten Redeverbot und wurden ausgepeitscht - predigten aber sofort wieder.
 2. Phil 2,17: Paulus spricht darüber, dass er das Marytirium gerne für seine Verkündigungstätigkeit in Kauf nähme, Christus zum Ruhme und der Gemeinde zur Stärkung.
 3. Bergpredigt

2
Paul war gerade dabei, über den Vorschlag des Bischofs nachzudenken, da wurde er von von Lütjenburgs Ausbruch überrascht. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung und Enttäuschung, während er von Lütjenburg ansah. Natürlich war er sich die ganze Zeit über bewusst gewesen, dass er mit einem deutschen Oberen im Bunde gewesen war. Dennoch war er irgendwie erschrocken, als dieser seinen Standpunkt so vehement verdeutlichte. "Ich habe zu sehr versucht, meine eigene Geschichte in ihm wiederzufinden.", dachte sich Paul. "Damals habe ich für ein geeintes Vaterland gefochten und als wir es errungen hatten, war ich enttäuscht gewesen, da sich keine unserer großen Hoffnungen erfüllt hatten. Die Menschen waren nicht brüderlicher noch waren sie rechtschaffener. Sie gehörten nur der Form nach zu einander. Ich habe erwartet, dass von Lütjenburg diesselbe Enttäuschung durchlebt hat, aber das hat er nicht. Der Gedanke an das Vaterland ist immer noch stark in ihm... - und dennoch ist da so etwas wie eine (joviale) Sorge für die Menschen hier."

Gedankenverloren ging Paul zum Fenster und betrachtete die Straße dahinter. Sein Blick folgte den Männern und Frauen, bis sie am Rande verschwunden waren. Paul fragte sich, wer sie waren und was sie in diesen Tagen erhofften. Er fragte sich, ob sie wirklich von so hohen Idealen wie dem Sozialismus oder der Kommune träumten - oder ob sie einfach nur etwas Menschlichkeit und einen gefüllten Bauch wollten.

Paul fragte sich unwillkürlich, was er selbst wollte. Er war sich sicher, dass er Frieden und Sicherheit für die Menschen wollte, dass die Menschen gemeinsam lachten und weinten und dass sich mehr Türen öffneten als schlossen in der Welt. Hatte das politische Implikationen? War er deshalb Kommunist, Sozialdemokrat oder Christdemokrat? Und wenn dem nicht so war, konnte er öffentlich auftreten ohne als solcher wahrgenommen zu werden?

Paul fühlte sich leer und abgespannt. Er hatte den Eindruck, als würde ihn das ganze Nachdenken auslaugen. Vielleicht hatte der Bischof recht und es war die mutige Tat, die in einer solchen Situation geboten war. "Eine gemeinsame Predigt für den Frieden..., ja..., vielleicht müssen wir gemeinsam für den Frieden predigen...", formulierte er langsam in seinem Kopf eine wage Entscheidung[1]. Paul dachte darüber nach, was er sagen würde, ob er einen Talar oder Straßenkleidung tragen würde, ob es ein Abendmahl geben sollte. Dann wurde er sich bewusst, dass die beiden Männer ihn wahrscheinlich ungeduldig beobachteten.

Er drehte sich zu den beiden Männern um. "Ich glaube, wir müssen heute Abend gemeinsam predigen. Wir dürfen es nicht unversucht lassen...", sagte er langsam.
 1. Hier streiten die beiden Aspekte "Zwischen den Welten" und "Leading by Example"

3
Die Worte des Bischofs hätten Paul bekräftigen müssen. Stattdessen spürte er eine gewisse Unruhe in sich hochsteigen, die aus einem Gefühl der Ohnmacht resultierte. "Ja, wir müssen weiter gegen die Unruhen predigen und die Wunden lindern. Das ist wohl alles, was wir verrichten können. Wissen Sie, Vater, in diesen Stunden würde ich gerne mehr tun. Es würde mir leichter fallen, mich zu verausgaben oder ein Opfer zu bringen, wenn es nur eine sichtbare Auswirkung hätte. Aber das ist das Geheimnis GOttes, dass er von uns nur die kleinen Taten fordert und Opfer unserer Geduld fordert. Vielleicht ist unsere Hoffnung und nicht unsere Taten Lobpreis genug. Gib uns Mut und Hoffnung, oh GOtt, dass wir nicht verzagen in unserer Kleinheit."

Paul hatte sich das herunterreden müssen und schien nun in die Situation zurückzukehren. Er räusperte sich. "Nun haben wir lange genug drumherum geredet. Eine kleine Gruppe von radikalen Kommunarden bedroht Sie. Sie befürchten, dass in der bevorstehenden Wahl die gemäßigten Kräfte die Mehrheit erlangen werden und versuchen, das Volk zu agitieren. Außerdem ist einer aus ihren Reihen in Gefangenschaft geraten, ein gewisser 'Louis'. Daher planen sie, Sie zu entführen, womöglich, um einen Tausch zu arrangieren. Wir haben nur durch Zufall ein kurzes Gespräch in den Straßen mitbekommen und kennen ihre genauen Pläne und ihr Vorgehen nicht. Aber wir maßen der Angelegenheit genug Bedeutung zu, als dass wir Sie in Kenntnis setzen wollten. Von Lütjenburg, habe ich es richtig zusammengefasst?", fragte er mit Blick auf den Major.

4
Paul antwortete nicht direkt auf die Frage von Lütjenburg. Er schien sehr nachdenklich, wenn nicht gar etwas verwirrt. "Um offen zu sein, schon jetzt mag ich die Ereignisse kaum zu überblicken. Ich bin weder ein Politiker noch ein Intrigant. Ich bin ein einfacher Pfarrer und was mich seit vielen Jahren antreibt, ist das heftige Verlangen nach der Erlösung der Menschen vom Hass der Welt.[1] Und der Hass der Welt ist in diesen Tagen deutlich vor Augen. Ich sehe die guten Menschen um mich herum, die in ihren Tagen nicht anders können, als sich körperlich und seelisch in den Fabriken zerstören zu lassen. Das Kapital hat bewirkt, dass die Menschen sich kaum mehr von den Maschinen unterscheiden, die sie bedienen. Ja, wenn sie mir diesen launischen Ausspruch gestatten, so hat man im vorigen Kahrhundert ausrufen können, Gott sei tot und es lebe der Mensch. In diesem Jahrhundert müssen wir ausrufen, dass der Mensch tot sei und es lebe das Kapital. Das ist der Götzendienst unserer Zeit: Dass wir alles, jede kleine Lebensregung, dem Kapital zu opfern haben. Es ist paradox, dass der Mensch sich aufopfert für das Werk seiner Hände. Der körperliche, humanitäre und seelische Verfall ist deutlich, doch wir sind so sehr im Rattern dieser Blutmaschine, dass es nichts Minderes bedürfte als ein Umsturz allen Bestehenden. Daher: Ich muss sagen, dass ich die Sozialisten, die Kommunisten und die Blanquisten verstehen kann, wenn sie die Pflugscharen zu Messern wetzen und sich mit Gewalt dieser Ordnung entledigen. Verstehen kann ich sie, aber ich werde sie nicht gutheißen.

In mir drängt sich die unbändige Liebe zu allem Leben und es schmerzt mich tief, wenn ich an das Blut und die Vernichtung der kommenden Tage denke. Ich bin überzeugt, dass sich die wahre Humanität und der Glaube zuerst in den Herzen der Menschen verwirklichen muss. Wahrlich, erst muss das Herz des Menschen Frieden finden, bevor es den Frieden in die Welt tragen kann. Welch große Worte, wie gering die Möglichkeit.

Ach, in diesen Tagen bin ich bis ins Tiefste betrübt. Können Einzelne dem Hass der Welt mit der Aussicht auf Frieden entgegentreten? Ich denke mir, gerade weil es keine realisitische Möglichkeit gibt, muss ich mein Möglichstes tun. Das Absurde dieser Tage hat nur insofern einen Sinn, als dass man sich nicht mit ihm zufrieden gibt
[2]. Vater, Sie sagen, dass Sie entgegen aller Bedrohung nicht von ihrem Hirtenamt fliehen wollen. Das scheint mir sehr richtig und erinnert mich an das selige Wort des Evangelisten Johannes, wo es heißt: "Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. "[3]. Sie haben mir Hoffnung gemacht. Ich danke Ihnen, Vater."

Paul schwieg einen Moment, schien die folgenden Worte zu sammeln. "Ich habe es bereits gesagt, ich bin ein kleiner Mann und nicht geschaffen für die Politik. Wir wissen, dass die Revoltierenden planen, Sie zu entführen. Sie sagen, dass Sie ein Leuchtturm der Hoffnung seien. Was meinen Sie damit? In welcher Weise treten Sie für die Hoffnung der Menschen ein, Vater? Und wie können Sie all die Liebe unseres Herrn und ihre geistgegebenen Kräfte für die Mühe der Arbeiter einsetzen? Was haben Sie in diesen Tagen dem Hass entgegenzusetzen? Und welche Aufgabe können Sie mir, als ihrem Bruder, geschieden durch die Konfession und verbunden im Geiste, geben?"
 1. Anklang an das Johannesevangelium, in welchem der Hass der Welt die Liebe des Heilands gegenübergestellt wird. Siehe z.B. Joh 15,18: Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat.
 2. Nach Camus: Mythos des Sisyphos
 3. Johannes 15,13

5
Paul und von Lütjenburg folgten der Einladung des Paters ohne viele Worte. Paul hätte ohnehin nichts gewusst, was er noch zu seinem Begehren hätte hinzufügen sollen. Freundliche Worte und Gesten kamen ihm jedenfalls nicht in den Sinn. Er wirkte nachdenklich und zerstreut. Und er musste an sich halten, dass ihm die vielen Gedanken nicht aus dem Mund fielen, so wie dem alten Galetti[1], den er sogar selbst einmal getroffen hatte. Am Rande seiner Wahrnehmung war da die einfache Wohnsituation des Paters und es verwunderte ihn auch, da er nicht erwartet hatte, dass ein so hoher Herr so einfach lebte. Das war aber einer von vielen Gedanken und Bildern, so dass es ihn kaum beschäftigte und sogleich war es wieder vergessen.

Paul folgte dem Pater und setzte sich auf das Sofa. Die Situation hatte schon fast etwas komisches, dachte er für einen Moment. So stellt die Tochter ihren Umwerber dem Vater vor. Er auf dem Sofa, der Vater in einem Sessel gegenüber. Nur dass nicht ein junges glückliches Dinge neben ihm saß, sondern von Lütjenburg.

Die Frage nach dem Getränk riss Paul aus seinen Gedanken. "Wein, bitte", antwortete er und wagte nicht, sich selbst einzuschenken, denn vielleicht wäre das unhöflich. Dann dachte er: "Unter allen Umständen den Wein - und wenn er sauer ist, umso besser. Dann bitte einen Zweig Ysop dazu, wegen dem Bilde." und es erschien ihm das Vorstellung des gequälten Heilands am Kreuze[2]. Und als er das Bild in aller seiner Deutlichkeit vor seinem inneren Auge ausgemalt hatte, da erschrack er über sich selbst und musste sich fragen, ob er nun toll oder größenwahnsinnig wurde. Indessen, er wußte nicht, warum ihm das Bild gekommen war oder was es ihm bedeuten sollte. Vielleicht waren seine Nerven einfach überreizt. Aber gut.

Als der Pater ihn schon zum zweitenmal aufforderte, zu sprechen, zwang sich Paul sich zusammenzureißen und begann, sich zu erklären. "Pater, ich danke Ihnen, dass Sie uns beide empfangen. Der Grund unseres Besuches liegt darin, dass wir besorgt sind um die jüngsten Geschehenisse in Paris, und dass wir von einer unmittelbaren Gefährdung Ihrer Person wissen. Doch bevor wir ihnen das alles davon berichten, will ich uns vorstellen. Es soll niemand sagen können, dass wir Sie trügen wollten. Neben mir sitzt Carl von Lütjenburg. Er ist Oberst der deutschen Armee vor Paris. Ich bin ebenfalls ein deutscher, noch dazu ein Protestant. Ich habe eine kleine Gemeinde hier in der Stadt, schon einige Zeit. Wir beide haben uns durch einen Zufall kennengelernt und die Sorge um eine blutige und blutigste Revolte der Blanquisten und Socialisten hat uns bewogen, zusammenzuarbeiten, so unterschiedlich unsere Ziele sonst auch sein mögen. Was meine Person angeht, so weiß ich sehr wohl, in welcher Gefahr ich schwebe, mich Ihnen zu offenbaren. Bitte verstehen Sie dies aber insofern, dass ich Ihnen mein Vertrauen anbiete, bevor ich über mein Wissen spreche."

Paul machte eine Pause und wartete darauf, wie der Pater reagieren mochte.
 1. Johann Georg August Galetti: Gymnasiallehrer in Gotha. Bekannt für seine Zerstreutheit, seine wunderliche Art und vor allem für seine Stilblüten. Etwa: Sie wissen wohl, dass der Klügere immer nachgibt, aber da kennen sie mich schlecht, denn ich gebe nicht nach.
 2. Johannesevangelium 19,29f.: Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht!, und neigte das Haupt und verschied.

6
Paul und von Lütjenburg verständigten sich ziemlich schnell darauf, gemeinsam vorzugehen. Es schien ihnen sicherer, nicht alleine durch die unruhigen Straßen von Paris zu gehen. Außerdem waren ihre Pläne noch sehr unausgereift und es wäre wohl besser, nicht alleine mit den Leuten zu sprechen. Gemeinsam würde man wohl mehr ausrichten können, als wenn sie beide getrennt vorgingen.

In wenigen Stunden hatten sie sich unter den Bekannten umgehört. Sie brachten in Erfahrung, dass mit dem Leuchtturm wohl am wahrscheinlichsten der Erzbischof von Paris, seine Würden Georges Darboy, gemeint war. Außerdem erfuhren sie, dass der Tischbeintitan ein Sohn von Lecomte war, ganz so wie von Lütjenburg es gemeint hatte. Zu diesem erfuhren sie, dass sein Vater wohl von den Aufständischen füssiliert worden war und er seitdem auf Rache an den Aufständischen sonn. Von beiden erfuhren sie zudem den gegenwärtigen Wohnort.

Paul war es sehr unwohl. Die ganze Sache nahm ungeheure politische Dimensionen an. Natürlich hatte er sich bereits in der Predigt gegen die Aufstände ausgesprochen. Aber wenn sie jetzt mit den Oppositionellen gemeinsame Sache machten - und dies auch noch bekannt werden würde - dann würde man ihn schnell zum Verräter erklären. Er würde es schwer haben, noch Einfluss auf die Männer auf der Straße auszuüben. An seine Sicherheit dachte Paul dabei noch gar nicht.

Paul und von Lütjenburg verständigten sich, dass sie zuerst den Erzbischof aufsuchen würden, da dieser in unmittelbarer Gefahr schwebte. Sie begaben sich also zu seinem Wohnort und wünschten, mit dem Erzbischof über " eine vertrauliche Angelegenheit" zu sprechen.

7
Paul hörte dem deutschen General unruhig zu. Seinen Cidre hatte er fast nicht mehr angerührt. Er seufzte hörbar auf, als von Lütjenburg geendet hatte. "Und ich dachte, dass ich mit der Politik fertig sei. Ich hatte mir damals gesagt, dass nicht mehr Deutschland oder ein anderes Land meine Heimat sei, sondern nur noch ecclesia[1]."

Paul stand auf und ging im Raum herum. Er brauchte einen klaren Kopf und das Gehen half ihm beim Nachdenken. Da waren viele lose Enden, die sich für ihn nicht zusammenbringen ließen. Viele Dinge störten ihn: das Politische, die persönlichen Feindschaften, das Parteiergreifen und die Aussicht auf Gewalt. "Herr Jesus Christus, was hättest Du getan?", murmelte er, als er die spärlichen Informationen rekapitulierte.
Paul wünschte sich, dass er sich aus der Sache heraushalten könnte, doch dies hätte den Tod von vielen guten Menschen zur Folge. Fakt war, dass Paul Teil dieser Welt war und er wahrscheinlich schon darum nicht ohne Sünde aus ihr heraus kam. 'Ein gottloser Mann, der die Geringen bedrückt, ist wie ein Platzregen, der die Frucht verdirbt', wusste schon König Salomo[2] und auch, dass 'kein Mensch so gerecht ist auf Erden, dass er nur Gutes tue und nicht sündige'[3]. Es war ein Dilemma und ohne Schaden kam er aus der Sache nicht heraus. Paul wusste aber auch, dass er genau aus diesem Grund nun eine Entscheidung treffen musste.

Paul kehrte von Lütjenburg den Rücken und kniete sich vor das kleine Kreuz auf dem Tisch an der Rückwand,eine Geste, die er sonst nicht tat. Doch angesichts der Sache,die zu tun war, war es ihm ein tiefstes Bedürfnis, in Demut vor seinen Herrn und Schöpfer zu treten. "Einem jeden Mensch hast Du ein Leben gegeben. Wir können uns die Umstände nicht aussuchen, aber wir können uns entscheiden, was die Umstände mit uns machen. Mein Herz sagt mir, dass ich für von Lütjenburgs Sache eintreten muss. Ich tue es, Gott, weil ich die Menschen so sehr liebe, wie Du sie geliebt hast. Ich habe nicht die Kraft, dass ich es schaffe, ohne mich zu versündigen. Ich bereue meine Sünde schon jetzt, aber tun muss ich sie. Ich vertraue Dir meine Schuld an und bitte Dich, sie mir um Deines Sohnes Willen zu vergeben oder mich zu richten, wie es Dir gefällt. Aber tun muss ich sie. Amen.", betete er leise.

Er bekreuzigte sich und stand auf. Er blickte von Lütjenburg streng an. "Bemühen Sie sich nicht, mir zu beweisen, wie verdorben und böse die Lavalles sind. Machen Sie mich nicht zu einem Teil einer privaten Rechnung. Ich höre doch, wie sie die Sache aufbringt. Ich möchte, dass sie ihren Freund in liebevoller Erinnerung behalten - aber ansonsten lassen Sie alle ich Gefühle fahren. Böse Gedanken vernebeln Ihren verstand und verleiten zu Dummheiten."

Paul setzte sich wieder an den Tisch zu von Lütjenburg. Er wischte sich mit der flachen Hand über das Gesicht, als könnte er die Anstrengung der Entscheidungen wie Schweiß einfach von sich abwischen. "Also gut. Unser erstes Problem ist, dass wir zu wenig wissen darüber, was in der Stadt vor sich geht und welche Möglichkeiten wir haben. Ich weiß auch nicht, wer oder was der 'Leuchtturm des Mutes' ist. Dass es ein Katholik sein muss, noch dazu einer mit einem gewissen Amt und Einfluss,ist deutlich. Es ist nicht ungefährlich für einen Protestanten in Paris und ich meide den Umgang mit Katholiken. Darum kenne ich mich da nicht aus. Dies herauszufinden, ist das Erste.
Mit diesem Louis, zweitens, kann ich Ihnen weiterhelfen
[4]. Es ist meines Erachtens der Kommunard Louis Auguste Blanqui gemeint. Er ist für den gewaltsamen Umsturz der Verhältnisse und will eine Diktatur des Proletariats erreichen. Auf ihn wird ein Zitat zurückgeführt, dass lautet: 'Dass Frankreich vor bewaffneten Arbeitern strotzt, ist der Beginn des Sozialismus'. Momentan ist er im Gefängnis.
Drittens müssen wir wissen, wer uns helfen kann und auch, was unsere Helfer selbst im Schild führen.Wir wollen doch nicht den Teufel mit dem Beelzebuhl austreiben, nein?
"

Paul schien noch einen Moment nachzudenken. "Also gut, Herr von Lütjenburg, ich schlage vor, dass sie versuchen, etwas über den Leuchtturm herauszufinden und warum dieser so wichtig ist. Ich werde mit dem Sohn von Lecomte sprechen. Oder sollen wir gemeinsam gehen?"
 1. alt-gr.:Kirche bzw. Versammlung von Gläubigen
 2. Spr 28,3
 3. Kohelet, 7,20
 4. Ich hatte den ersten Wurf ja geschafft.

8
Vielen Dank  :) Hab's mir eben durchgelesen und muss sagen, dass recht viele Tippfehler drinn waren. Habe etwas korrigiert und auch noch ein paar Hintergrundinfos hinzugefügt.

9
Nachdem sie in der Rue de Doutes angekommen waren, hatte Paul schnell zwei Stühle zusammengestellt und, nach kurzem Zögern, sich und dem Gast ein Glas Cidre hingestellt. Er dachte, dass er etwas brauchte, um sich zu kräftigen. Es war nur Cidre da, da der Rotwein sauer geworden war, nachdem sie die Flasche für ein Abendmahl angebrochen hatten. So saß er da, nippte immer wieder an dem perlenden Getränk und hörte dem Landsmann zu. Zunächst sagte er sehr wenig und nickte nur hin und wieder. Er wusste kaum, was er zu den Dingen, die ihm von Lütjenburg sagte, sagen sollte.

Er räusperte sich und sagte dann: "Was dieser Tage passiert ist übel, sehr übel. Die Pariser benehmen sich tollkühn, fast wahnsinnig." Als ob damit irgendetwas gesagt wäre. Unwillkürlich fiel im ein Wort ein: Zu der Zeit rief Gott, der HERR Zebaoth, dass man weine und klage und sich das Haar abschere und den Sack anlege. Aber siehe da, lauter Freude und Wonne, Rinder töten, Schafe schlachten, Fleisch essen, Wein trinken: »Lasst uns essen und trinken; wir sterben doch morgen!« Aber meinen Ohren ist vom HERRN Zebaoth offenbart: »Wahrlich, diese Missetat soll euch nicht vergeben werden, bis ihr sterbt«, spricht Gott, der HERR Zebaoth. [1]

Einen Moment sinnierte Paul über das Wort nach, wurde sich dann aber bewusst, dass von Lütjenburg auf eine Antwort wartete. Schwermütig versuchte Paul daher ein paar Worte zusammenzuklauben. Er entschied sich dazu, sich vorzustellen, wie es von Lütjenburg auch getan hatte. "Sie waren sehr aufrichtig gegen mich und dafür danke ich Ihnen, Herr von Lütjenburg. Die Form gebietet es, dass ich nicht minder ehrlich zu Ihnen bin. Sie wissen, dass ich Deutscher war. Ich habe in Jena studiert und war auch dort corporiert. Sie sehen diesen Gehstock?", Paul wies auf seinen Stock[2]. "Dies ist ein Ziegenhainer. In Jena wird mit solchen sekundiert oder auch schon mal zugehauen, wenn man sich auf dem breiten Stein[3] entgegenkommt. Es war eine großartige Stimmung, vor '48. Wir glaubten an den deutschen Staat und waren bereit, für ihn einzutreten. Ich hörte in dieser Zeit von einem Privatdozenten in Bonn namens Ritschl[4]. Er vertrat die Meinung, dass die Kirche nur ein Übergangsphänomen wäre und sie sich im Staat auflösen würde, wenn nur jeder Bürger ein sittliches Leben im Sinne Christu Nachfolge führen würde. Der Staat als das Reich Gottes auf Erden! Verstehen Sie? Was für ein Wahnsinn! Aber so oder so ähnlich dachten alle Commilitonen, der theologischen Fakultät. Es bedürfte erst der blutigen Niederschlagung durch die preußischen und österreichischen Truppen, dass wir zur Besinnung kamen. Und was für ein bitterer Schmerz das gewesen war. Ich konnte meine Torheit kaum ertragen, musste nach Frankreich auswandern und mir hier eine neue Existenz aufbauen. Ich musste durch den Schmerz wieder zurückgeführt werden in die Nachfolge Christi. Wie steht geschrieben? »Denn er erniedrigt die Hochmütigen; aber wer seine Augen niederschlägt, dem hilft er.«[5] Seitdem jedenfalls habe ich jedem weltlichen Bestreben abgesagt und ich muss Ihnen offen sagen: Ob ich Deutscher oder Franzose bin, es kümmert mich nicht - es kümmert mich auch nicht, ob Sie es sind. Es geht mir nur um meinen Glauben. Und wenn Schaf und Wolf beisammen liegen und der Löwe Stroh frisst, die Schlange aber im Staube liegt, wie es heißt[6], dann ist das Gottesreich schon mitten unter uns[7]. Aber nicht das wir es bewirkt hätten, sondern weil bei Gott alles möglich ist."[8], endete Paul. Paul war sich bewusst, dass er zu viel geredet hatte und fragte sich, ob er nicht zu viel Unsinn gesagt hatte.

"Ich denke, Sie sollten das wissen. Ob eine Nation oder eine andere siegt, mir ist es gleich. Für mich gibt es keine Nationen, nur Menschen. Und ich werde tun, was mir möglich ist, um Leben zu erhalten. Sie müssen mir Ihr Wort geben, dass Sie das nicht ausnutzen werden."

Paul atmete tief durch. "Was schlagen Sie vor?"
 1. Jes 22,12-14
 2. Ziegenhainer
 3. Breiter Stein: Schmaler Gehstein, auf dem es oft zu Auseinandersetzungen zwischen Corporierten kam. In Jena besonders, wenn einmal in der Woche die Straße überflutet wurde und es keine Möglichkeit zum Ausweichen gab. Siehe folgendes Studentenlied:
2. Strophe von "In Jene lebt sich's bene" (Anzeigen)
 4. Albrecht Ritschl
 5. Hiob 22,29
 6. Jes 65,25
 7. 
Für die Formulierung siehe Lk 17,20ff. (Anzeigen)
 8. vgl Mk 10,27

10
Paul spürte die leichten Schläge an seiner Wange und blickte von Lütjenburg ins Gesicht. Er fühlte sich noch immer etwas benommen, doch so langsam kam er wieder zu Sinnen und verstand, was geschehen war. Er blickte an von Lütjenburg vorbei und sah auf die Menge, die in eine Schlägerei verwickelt war. Paul spürte, wie sich sein Magen verzogen, als er an Sebastien dachte. Vielleicht war er schon in jenem Moment zu Boden gegangen und die Masse trampelte über ihn hinweg.

Paul musste sich über sich selbst ein wenig wundern. Der junge Mann hatte sich als starrsinnig erwiesen (geradezu 'verstockt', wie es in der Bibel hieß) und er hatte sich auf's Äußerste von Paul distanziert. Ja, und er selbst, Paul, hatte ja auch schon gesagt, dass er den jungen Mann verloren wüsste. Aber doch, er konnte den jungen Mann nicht in sein Unglück ziehen lassen. "Immer um die verlorenen Schafe besorgt. Berufskrankheit, nehme ich an.", dachte er und seufzte innerlich.

Doch im Moment konnte er nichts weiter tun.

"Es geht schon wieder. Danke... für Ihre Hilfe", sagte Paul schwach zu Lütjenburg. "Ich... ähm... bedauere, dass ich die Schlägerei nicht verhindern konnte. Und vielleicht wären sie jetzt lieber in der Menge?", fragte er und versuchte die Miene von Lütjenburgs zu lesen. Es war Paul sehr unangenehm, bewusstlos geworden zu sein. Wie hatte ihm das passieren können, noch dazu als ehemaligen Corpsbruder?

"Ähm..., ja. Ich weiß nicht wie ich Ihnen helfen kann. Aber wir können zur Rue de Doutes gehen. Ich glaube, ich kann aufstehen.", sagte er.

11
Undeutlich, und wie durch einen dichten Schleier, erkannte Paul Bewegungen und hörte aufgeregte Rufe und ersterbendes Aufstöhnen. Sein Verstand konnte mit diesen Eindrücken aber noch nichts anfangen. Paul drehte den Kopf und versuchte sich zu orientieren. Er fragte sich für einen Moment, ob er inmitten der Menge lag und sie ihn in den nächsten Momenten zertreten würden. Er fragte sich, warum er keine Angst hatte. Doch dann wurde er sich des Druckes auf seinen Bauch bewusst. Und er realisierte auch, dass er diese Perspektive vom Boden aus gar nicht haben konnte. Er tastete mit seinen Händen und spürte Stoff und bekam einen Arm zu fassen. Da wurde ihm bewusst, dass er getragen wurde. Und auch verstand er, dass er den Krawall nicht hatte verhindern können. "Ich weiß nicht...", flüsterte er kraftlos.

12
Paul verlor den Blick über die Situation. Alles wurde unübersichtlich. Sein Gesichtsfeld war zunehmend eingeschränkt und das Bild schien sich zu entfärben. Er spürte die Stöße an Schülter und Hüfte kaum noch. Dafür wurde ihm übel. Die Gedanken krochen nur noch langsam durch seinen Kopf. "Was soll ich tun?", fragte er sich, "Was soll ich tun?".

Paul war sich bewusst, dass ihm das Bewusstsein schwand. In der nächsten Minute würde er zusammensinken. "Keine Möglichkeit, hier herauszukommen. Keine Möglichkeit.", sagte er sich. Er fragte sich, warum diese Situation hatte geschehen müssen. "Draußen sind die deutschen Truppen, hier drinnen zermürben sich die Menschen gegenseitig. Taumelbecher[1]Gott, nimm ihn uns wieder aus der Hand. Wer will die Tränen zählen? Ich wurde schon einmal Zeuge eines Wunders. Wende Dich nun nicht von uns ab.".

Paul sammelte sich. Es gab hier keinen Weg heraus - dann nach vorn! Noch einmal tief durchatmen. Und einen Schritt nach vorn.

"GENUG!", schrie der alte Mann und breitete die Arme aus. Er fasste Schultern und Arme und schob diese beiseite, teilte die Menge vor sich, bis er vor dem Hühnen stand. Schwer keuchend sagte er noch: "Genug. Beherrsche Deinen Zorn und lasse Dich... nicht... von ihm beherrschen. Ich bitte Dich... von Herzen, lass... Dich... nicht..."

Dann verließen Paul seine Kräfte. Er sank vorne über. Vor ihm wurde alles schwarz und er hatte die seltsame Sinnestäuschung eines Sogs, der ihn nach unten zog. Er strampelte und schwamm und wurde doch immer mehr nach unten gezogen. Ihm wurde warm, wusste aber nicht, was das bedeutete. Längst hatte er die Orientierung verloren. In alle Richtungen fassten seine Arme, doch nichts gab ihm Halt.
 1. Taumelbecher: Biblisches Motiv für das göttliche Gericht. Für seinen Hochmut und seine zahlreichen Sünden gibt Gott dem Volk den Taumelbecher zu trinken, woraufhin dieses betäubt wird und wankt. Fremdvölker können daraufhin die Schwäche des Volks nutzen.

13
Hoppla. Paul steckt voller Überraschung und Tatendrang!

14
Gewalt, um weiter vorzudringen:

4df4df-1 = (1, 1, 1, 1) -1 Gesamt: 3

15
Ja, möglicherweise könnten wir einen Aspekt anspielen. Je nachdem, wie Sébastien reagiert.

Muss sagen, dass ich selbst gar nicht sicher war, wie Paul reagieren würde.

Seiten: [1] 2 3