Hintergrund (Anzeigen)Der Tag des Kriegsendes war der Tag seiner Geburt. Nicht seiner körperlichen Geburt, falls es so etwas überhaupt gegeben haben sollte, aber es war der Beginn seines eigentlichen Lebens. Was vorher war, liegt hinter einem Nebelschleier - nur manchmal tauchen Gedanken in Guillaumes Kopf auf, Gedanken an Kämpfe, an Krieg, die er verschütteten Erinnerungen zuschreibt. Oder sind es doch nur Albträume?
Der Beginn seines Lebens war schwierig. Nicht zu wissen, wer man ist, was einen ausmacht, und doch in einem gewissen Sinne "fertig" zu sein, nicht die Möglichkeit zu haben, sich selbst in einer Kindheit zu entdecken und zu entwickeln. Und überall, wohin man kam, ausgegrenzt zu werden als eines der Monster, die den Krieg führten, auch wenn zumindest Guillaume keine eigene Schuld daran trug.
Nicht dass Guillaume damals sein Name gewesen wäre. Eine Marke, die er bei sich trug, identifizierte ihn als Soldat 3142, doch mit dieser Vergangenheit wollte er von Beginn an nichts zu tun haben, und so vernichtete er die Marke. Seine Rune jedoch behielt er im Gegensatz zu vielen seiner Artgenossen, denn sie war ein Teil seiner selbst. In den ersten Jahren machte er sich nicht die Mühe, sich einen Namen zu geben. Diejenigen, mit denen er in Kontakt nahm, taten dies für ihn, und selten war etwas positives darin zu finden. Oft war er "der Ambacti", häufiger jedoch "das Ding" oder "das Monster".
Er zog damals durch die Lande auf der Suche nach sich selbst, versuchte sich in vielen Dingen, und ließ sich für kurze Zeit hier, für kurze Zeit dort nieder. Lange blieb er nirgends, die Ablehnung der Menschen trieb ihn schnell wieder weiter, und wo er nicht schnell genug von selbst ging, da halfen die Leute nach. Er wurde, wenn auch unfreiwillig, zum Einzelgänger, lernte sich selbst zu schützen, wobei ihm half, dass er für den Krieg gezüchtet worden war. Zwar besaß er nicht die Kraft vieler seiner Artgenossen, doch machte er das mehr als wett durch seine Schnelligkeit und Geschicklichkeit. Dennoch war sein Leben freudlos, und mehr als nur einmal dachte er darüber nach, diesem selbst ein Ende zu setzen.
Etwa 30 Jahre gingen auf diese Weise ins Land, bis sich alles durch eine besondere Begegnung änderte. Sie hieß Alice, war sechs Jahre alt, und hatte aus irgendeinem Grund einen Narren an dem Ambacti gefressen, der sich zu dieser Zeit in der Nähe ihres Dorfes in Cossmar niedergelassen hatte. Nachdem sie ihn wochenlang jeden Tag besuchte und einfach nicht in Ruhe ließ, schaffte es ihr kindlicher Charme irgendwann, seine Schale der Unnahbarkeit, die er sich in langen Jahren zugelegt hatte, zu durchbrechen, und sein Herz zu erwärmen. Plötzlich hatte er eine Freundin, und merkte, dass es Dinge gab, die seinem Leben einen Sinn geben konnten. Erst durch die Augen eines Kindes wurde ihm bewusst, was es in der Welt alles zu entdecken gab, und begann, seine Neugierde und seine Interessen zu entwickeln. Und eines der ersten Dinge, die sie tat, war ihm einen Namen zu geben. Er selbst konnte auf ihre Frage, wie sie ihn denn nennen sollte, keine zufriedenstellende Antwort geben, und so nannte sie ihn kurzerhand Guillaume Lagrange, denn "jeder Mensch braucht einen Namen, und Guillaume mag ich, und ohne Nachnamen geht es sowieso nicht, weil wie sollen dich die anderen Erwachsenen sonst mit Respekt anreden?". Seither hörte er nie mehr auf einen anderen Namen als Guillaume Lagrange, und ohne dass er es merkte, verlieh der Name ihm zum ersten Mal ein Stück eigene Identität.
In den folgenden Jahren verließ er nie lange seine neue Freundin, und gemeinsam mit ihr lernte er, die Welt spielerisch zu entdecken. Vor allem aber lernte er viel über sich selbst und seine Liebe zur Technologie. Jede noch so unwichtige und lächerliche technologische Spielerei faszinierte ihn über alle Maßen, und immer wollte er wissen, wie alles funktionierte, aber auch, wo es herkam. Denn das meiste, was in der Welt an Technologie existierte, stammte aus der Zeit vor dem Krieg, und so begann er schließlich, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen und damit auch mit seiner Herkunft.
So lernte er schließlich von der Entstehung der Ambacti und der Verstrickung der Qua'kal in diese Ereignisse - denjenigen, die unsägliches Leid über die Welt gebracht hatten, und nun, statt dafür zu büßen, auch noch davon profitierten. Nachdem er von Alice die Emotionen Liebe und Freude erfahren hatte, verspürte er nun zum ersten Mal in seinem Leben einen tiefen, brennenden Hass, der ihn auf seinem weiteren Wege begleiten sollte.
Charakterlich wurde Guillaume immer mehr zu einem Menschen, doch die Zeit zeigte immer deutlicher, dass er etwas anderes war. Bei jeder Rückkehr zu Alice wurde deutlich, wie sehr sie sich veränderte, und wie wenig er dies tat. Sie wurde älter, zur Jugendlichen, erwachsen, sie heiratete, bekam Kinder, wurde Großmutter. In all dieser Zeit kehrte Guillaume immer wieder von seinen Reisen zurück, und jedes Mal war die Freude groß und das Zusammentreffen herzlich. Doch je mehr Zeit verging, desto größer wurde Guillaumes Angst, seine einzige echte Freundin zu verlieren. Natürlich mochten auch ihre Kinder und ihre Enkel den gutmütigen Ambacti, doch es war etwas anderes mit Alice. Noch nie hatte er einen echten Verlust in seinem Leben verspürt, doch er fühlte, dass es bald dazu kommen würde, und war sich nicht im Klaren darüber, ob er jemals damit fertig werden würde.
Als der Tag gekommen war, fast genau einhundert Jahre nach seiner Geburt, war er bei ihr. Schon Monate vorher hatte er sich nur selten mehr als ein oder zwei Tagesreisen von ihrem Dorf entfernt, und als es klar wurde, dass es nun bald passieren würde, verließ er ihr Bett nur noch selten. Ihr Tod löste einen Schmerz in ihm aus, wie er ihn in seinem gesamten Leben noch nicht verspürt hatte. Er hinterließ eine Verzweiflung und eine Leere, die er nicht geahnt hatte, die ihn aber letztendlich komplettierte: Nun hatte er schließlich seine Selbstfindung abgeschlossen, indem er das gesamte Spektrum von unbeschwerter Freude bis unendlichem Schmerz erfahren hatte.
Und der Heilungsprozess begann.
Seither sind erneut dreißig Jahre ins Land gegangen, und das Leben ging trotz seines Verlustes weiter für Guillaume. Wie alle Menschen auch machte er die Erfahrung, dass der Schmerz zwar nie gänzlich verschwindet, aber doch verblasst, und dennoch auch die freudigen Erinnerungen zurückbleiben. Letztlich führte Alices Tod auch zu einem charakterlichen Wandel in dem Ambacti, und nach Jahrzehnten des Einzelgängertums begann er, auf andere zuzugehen und Beziehungen zu knüpfen. Natürlich vollführte er nicht von heute auf morgen eine komplette Kehrwende, aber er ließ sich das ein oder andere Mal auf die Gesellschaft anderer ein - wenn er auch weiterhin eher ruhig und eigenbrötlerisch blieb - solange es nicht um technische Themen ging!
Auch ein Ambacti muss sich irgendwie seinen Lebensunterhalt verdienen, und Guillaume ist keine Ausnahme. Es gibt zahlreiche Sammler in allen Landen, die gutes Geld für technische Artefakte bezahlen, und so hat Guillaume das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden und verbringt seine Zeit mit dem Aufstöbern und Aquirieren von technischen Geräten aller Art. Auch wenn es ihm immer wieder schwerfällt, sich von seinen Errungenschaften zu trennen, so erfüllt ihn die Suche doch mit soviel Befriedigung, dass er sich keinen anderen Lebenswandel vorstellen kann. Meist spürt er auf eigene Faust Hinweise nach, und wenn er etwas interessantes gefunden (und ausgiebig untersucht) hat, verkauft er es an einschlägige Zwischenhändler. Manchmal jedoch heuern spezielle Sammler eigens Leute wie ihn an, um einer ganz bestimmten Spur zu folgen.