Lîf hängt mit den Augen an Esjas Lippen. Die Erklärungen der Alten lassen den Rotschopf ein ums andere Mal den Mund aufsperren. So ist das also..! Nun beginnt ihr vieles klar zu werden. Und auch wenn sie sich ein wenig vor den beiden anderen Weibern geniert, da ihre Lehrmeisterin ihr Seelenleben so vollständig und vor allem treffend vor ihnen ausbreitet, hört sie ihr doch gebannt zu. Bei der Erwähnung des Satyrs schießt die Röte in ihre Wangen, und sie senkt verlegen den Blick. Stumm fragt sich Lîf, ob die alte Esja auch ahnt, welche Gedanken sie gelegentlich bewegen – Gedanken, die sie aus gutem Grund niemals jemandem gebeichtet hat.
Dein Körper weiß schon, was er will, dein Herz und Verstand aber noch nicht – das ist auf eine Art treffend, die ihr das Herz bis zum Hals schlagen und die Hände zittern lässt. Den Blick auf ihre Knie gesenkt, presst die junge Frau die Lippen zusammen. Wenn die Alte es ihr nun ansieht..? Tristan... sie erinnert sich an seine Stimme und kann ein gewisses Kribbeln nicht leugnen, das in ihrem Bauch beginnt und ihren ganzen Körper zu erfassen scheint. Lîf versucht langsam und tief zu atmen, um sich zu beruhigen. Allzu leicht, allzu bequem wäre es, ihre frivolen Träume dem bösen, zügellosen Satyr zuzuschreiben, der seine wollüstigen Tänze in ihrem Blut vollführt. Sie darf dem nicht nachgeben! Darf nicht... darf... soll... muss..?
Eilig hascht sie nach dem Strohhalm, den Esjas Themenwechsel ihr schließlich bietet.
"Nein, Mor: Ein Tier sah ich nicht. Ich hörte viele, fern im Wald, doch gezeigt hat sich mir keines." Mit einem kleinen Seufzer nickt sie, als die Sprache auf die treuen, liebenswerten Tiergefährten der anderen Weiber im Raum kommt. Zu gern hätte sie den kleinen Heuler den ihren genannt... Schweren Herzens wendet sie den Blick von den großen, runden Augen des Tieres wieder ihrer Meisterin zu. Und deren Ratschlag trifft sie erneut an der Stelle, an der sie so unsicher und verlegen wird. Instinktiv will Lîf widersprechen, öffnet schon den Mund, schließt ihn dann aber wieder und reibt ihre Hände aneinander. Er gehört zu ihr, sie zu ihm... die Anzeichen sind zu eindeutig. Schicksal, der Wille der Großen Mutter... wie könnte sie leugnen, dass er ihr Herz zum Pochen bringt wie kein anderer? Gewiss, es ist ihr in der Vergangenheit noch stets gelungen, das auf den Zorn zu schieben. Den gerechten Zorn darüber, dass er sie geraubt, sie gegen ihren Willen entführt und zu seinem Weib gemacht hat. Aber ist es wirklich allein ihre Empörung, ihr aufflammendes Temperament? Oder..? Das Kribbeln verstärkt sich, als wimmelten unter ihrem Kleid tausend Ameisen umher, so dass sie ganz unruhig auf ihrem Hinterteil hin und her zu rutschen beginnt und schließlich widerstrebend zugeben muss:
"Du bist weiser als ich, Mor. Vielleicht... vielleicht hast du das richtige getroffen."Als die Alte sie endlich entlässt, springt sie rasch auf, doppelt verschämt, zum einen, weil sie ihre Hast nicht als Unaufmerksamkeit oder Aufbegehren gegen die Lehrmeisterin verstanden wissen will, zum anderen, weil sie nach wie vor das Gefühl hat, nackt vor Esja zu stehen – die greise
drudkvinde, kann sie bis auf den Grund von Lîfs Seele blicken, ihre geheimsten Gedanken und Empfindungen erraten? Erst als sie schon eine ehrerbietige Abschiedsgeste gemacht und sich bei der Alten bedankt hat, bleibt sie doch noch einmal in der Tür stehen, dreht sich um und fragt vorsichtig:
"Mor..? Woran erkennt man, ob die Große Mutter zwei Menschen füreinander bestimmt hat? Spricht sie durch das Herz zu einem, oder... kann es nicht auch sein, dass man nur glaubt, etwas sei Ihr Wille, weil man es sich selbst so wünscht..?" Wieder steigt das Blut in ihre Wangen. Die Frage klingt in ihren eigenen Ohren verräterisch, fast wie ein Geständnis – aber sie
muss es einfach wissen!
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Ja, wenn er sich Egil so betrachtet, scheint es Tristan sicher, dass der Schmied Gefallen daran gefunden hat, seinem Weib das Hinterteil zu versohlen. Anders kann er sich
[1] den zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht des Hünen nicht erklären. Inga indes empfindet deutlich weniger Freude, wie unschwer vorstellbar und auch leicht an ihren Zügen abzulesen ist. Egil klopft Tristan auf die Schulter, dass dem Skalden die Knochen im Leib zu tanzen scheinen, und brummt gutmütig:
"Keine falsche Bescheidenheit – zu ihr gebracht hast du mein holdes Weibchen. Wärst du nicht so rasch gewesen, wer weiß – Gaya verhüt' es, aber womöglich wär' sie nicht mehr am Leben." Sein Weib sieht den beiden Männern zu, wischt sich mit dem Ärmel über die tränennassen Augen und schnieft noch einmal vernehmlich. Sie scheint zunächst zu zögern, die goldene Brücke zu betreten, die ihr Tristan baut, doch dann nickt sie, murmelt eine Zustimmung und hinkt zu den Weibern hinüber, die sehr wahrscheinlich deutlich mehr Verständnis und weniger Spott für ihre Not haben werden als die Kerle im Inneren des Langhauses, haben doch die meisten von ihnen schon selbst oft genug den Gürtel ihres Mannes oder eine frisch geschnittene Rute zu kosten bekommen.
Egil blickt ihr nach und wendet sich mit einem tiefen Seufzen an Tristan:
"Sie ist mir ein treues Weib, sorgt gut für unsern kleinen Bengel, hält mir das Haus in Ordnung, kocht fein... wenn nur ihr loses Mundwerk nicht wär'..! Ich hab's nur schwer übers Herz gebracht, aber sie war reif für eine Abreibung. Am Ende bringt sie sich und mich noch in arge Schwierigkeiten, wenn sie allzu frech redet. " Mit einem verlegenen Grinsen kratzt er sich im Nacken und fügt leiser hinzu:
"Und dann ist's auch ganz schön, wenn sie mal eine Weile den Schnabel hält." Der Blick, mit dem der riesige Mann Inga dabei nachsieht, ist durchaus liebevoll. Doch ihm ist auch eine gewisse Erleichterung anzuhören. Und nun besinnt sich Tristan auch, wie manche der Männer den langsamen, gutherzigen Schmied schon verspottet haben, weil der seinem Weib keinen Einhalt gebieten könne. Und böses Blut gab es verschiedentlich auch schon, wenn Inga mit ihrer raschen, spitzen Zunge allzu beleidigende Worte gebrauchte... Egil jedenfalls wirkt für diesmal besänftigt und nickt.
"Sicher. Sie können so was eben einfach nicht verstehen. Haben dafür ja auch genug Weibersachen, die für unsereins ewig ein Rätsel bleiben, stimmt's?" Damit ist für den simpel gestrickten Schmied die Angelegenheit offenbar erledigt. Jedenfalls wirkt er wieder völlig unbeschwert, als sie in das Langhaus treten.
Dort treffen den einsam seinen Eintopf löffelnden Tristan gelegentlich die Blicke einiger Weiber. Doch sie wirken nun nicht mehr so sehr ängstlich und misstrauisch als vielmehr... bewundernd? Die wundersame Rettung Ingas scheint sich unter ihnen bereits herumgesprochen zu haben, und während man von der alten Esja Wunder bereits so gewohnt ist, dass man sie regelrecht erwartet, hat ihm sein Eingreifen - wahrscheinlich mit den typischen Übertreibungen des Weiberklatschs gewürzt - anscheinend Respekt unter ihren Geschlechtsgenossinnen verschafft. Immerhin hat die heißblütige, unbeherrschte Inga nicht gerade freundlich von ihm und seiner Lîf gesprochen. Und dennoch hat er nicht gezögert, ihr beizuspringen. Mögen kriegerische Großtaten ihn in den Augen ihrer Männer lobenswert scheinen lassen: Die Weiber hingegen lassen sich offenbar von dieser Handlungsweise deutlich mehr beeindrucken. Nach einer Weile kommt gar die großgewachsene Sigrid mit ihrem herben, beinahe etwas männlich wirkenden Gesicht zu ihm hinüber und reicht ihm mit einem Lächeln eine kleine Holzplatte, auf der sich hauchfein geschnittene Scheiben halbgefrorenen Fisches finden – eine Delikatesse.
"Hier – die Große Mutter segne's dir" nickt sie ihm auffordernd zu und fügt an:
"Lass es dir nur schmecken, denn wir wissen's schon alle: Du bist ein Mannsbild mit einem guten Herzen." Und ihm kommt der Gedanke, dass die Gunst der Weiber, der Herrinnen über Vorräte, Herdfeuer und Kochtöpfe, eine äußerst angenehme und vorteilhafte Sache sein kann.