Die Antwort des Commanders musste noch warten, denn Peter nickte Joris und Sergej ob ihrer Erkenntnisse zu. Er verstand Joris Worte nicht als Affront gegen sich oder gegen die Kirche, was aber auch daran lag, dass der Diakon die Meinung von Joris nur bedingt teilte. Peter kratzte sich an seinen kurzen Bartstoppeln, die mit jeder Stunde sichtbarer wurden. Er wünschte sich eine ganz einfache Rasur, da sein nun stacheliges Kinn ungewohnt in seiner Hand lag, wie immer, wenn er nachdachte.
"Was die Weitergabe von Technologie angeht, ist es durchaus möglich, dass Ihre Theorie stimmt, Mr. van Campen. Die Bilder legen dies nahe, doch wir wissen noch nichts über die evolutionären Vorgänge an diesem Ort, sodass es durchaus auch eine Art oktroyierte oder zumindest vereinfachte Glaubensansicht sein könnte. Sehen Sie, ich habe den Punkt schon ein paar Mal genannt, aber einer der auf der Erde am häufigsten, verkauften Sachbuchautoren ist Erich von Däniken[1], der als Kind einer progressiv-eingestellten Generation auch der festen Überzeugung ist, dass frühe Hochkulturen der Menschen - wie die Erbauer der Stadt Ur, die Ägypter oder selbst später noch bei den Maya - von Außerirdischen mit Technologie beschenkt wurden und so erst der menschliche Fortschritt zustande kam oder Menschen sogar ein experimentelles Spielzeug von Außerirdischen sind. Sie kennen sicherlich alle diese vielen UFO-Sichtungen und Entführungsfälle, welche immer wieder - vor allem von Frauen - berichtet werden. Untersuchungen, gerade zu Vivisektionen, welche die Außerirdischen an ihnen durchführen. Es geht soweit, das selbsterklärte Exobiologen den Schritte zwischen Australopithecus[2] und Homo rudolfensis[3] mit dem Eingriff von Außerirdischen erklären. Was ich sagen möchte ist, dass es nach der Entdeckung der Lebenssteine nicht abwegig ist, dass es in diesem Fall so sein könnte, dass es diese Elder Ones gegeben hat, aber wir auch nur eine mehr oder weniger einperspektivische Erzählung haben. Wir also nur einen geografischen Grenzrahmen haben, den wir betrachten können und dort alle Beschreibungen mehr oder weniger im selben Stil anzutreffen sind und wir hierdurch nur eine sehr beschränkte Sicht haben. Dass die Lebenssteine echt sind, sollte uns nicht in Versuchung führen jede Form der kulturellen Überlieferung automatisch für wahr zu erachten." Peter räusperte sich kurz und überlegte, wer er weiter argumentierte.
"Joris, sie sind doch wahrscheinlich atheistisch, oder zumindest agnostisch[4] geprägt? Selbst wenn sie tiefgläubig sein sollten, werden Sie eine Diskussion geführt haben oder miterlebt haben, in welcher jemand sie davor ermahnte, die ganze Bibel für reine Wahrheit zu halten, nur weil die Kirchenarchäologie gewisse Punkte verifizieren konnte oder weil anderen die kulturellen Annahmen der Bibel bestätigten, nicht wahr? Dasselbe wird es hier sein. Obzwar vieles ein wahren Kern haben mag, können wir aus unserer Position unmöglich sagen, was mystifiziert wurde und wo wir noch Ausläufer der Wahrheit finden können. Das heißt, diese Überwesen könnten auch Stellvertreter für einen Prozess sein, für den kulturellen Wandel, der AnfangEnde abgelöst hat. Die Grenzen zwischen religiöser Anbeteung sind immer und in jeder Kultur schwammig, mal zwischen unterschiedlichen Glaubenstraditionen, mal innerhalb unterschiedlicher Glaubenstraditionen. Wäre dem nicht so, würde es keinen Grund geben, einen Glaubenskanon zu erstellen. Und ob Sie es wahrnehmen oder nicht, derselbe Gott ist nicht immer der gleiche. Jede Generation, jeder Mensch, sieht in der Projektion dessen, was er für Gott hält oder was Gott ist, etwas anderes. Es ist immer von eigenen Erfahrungen, die Erfahrungen einer Kultur und vielen anderen schwer messbaren Variablen abhängig, wie eine jeweilige Generation Gott nun sieht. Da kann es sogar sein, dass sie denselben Namen tragen, aber ganz unterschiedlich interpretiert werden. Dies ist schließlich der Gegenstand vieler, essenzieller theologischer Diskussionen. Dieses Diskussionpotenzial wird auch hier gegeben sein, solange wir nicht beispielsweise die Gebeine eines solchen Wesens finden oder vielleicht sogar nicht verendete Leichen oder - Gott bewahre - ein lebendes Exemplar." Peter erschien es noch sinnvoll, zu erklären, woher er eine seine Einsicht bekam.
"Sehen Sie. Auf den Reliefs haben wir gesehen, dass die Menschen erst diese Wesen bekämpften, aber dann nach einer Weile doch konvertierten. Das könnte mit dem kulturellen Wandel zusammenhängen, den wir schon auf diesen sehr interessanten Stufen gesehen hatten. Oder anders ausgedrückt, es könnte eine mystifizierte Metapher dafür sein, dass es zu einem Religionskrieg zwischen AnfangEnde und diesem neuen Glauben kam, an dessen Ende jedoch die Konversion stand. Solche Bilderwechsel finden wir beispielsweise in der Menschheitsgeschichte auch während der keltisch-irischen Mission, wo erst der alte Glaube steht, wenn auch in anderer Gestalt als bei AnfangEnde, dann das Christentum zu gewinnen scheint und doch am Ende ein synkretistischer Glaube entsteht, nämlich das Keltenchristentum. Der Synkretismus ist besonders gut an den Keltenkreuzen zu erkennen, welche eben beide Glaubensvorstellungen vereinen können. Hier hat eine scheinbar, wie der Doktor anmerkte, eine materielle-polytheistische Ausrichtung eine ideell-monotheistische Ausrichtung verdrängt. Den einzelnen Wahrheitsgehalt der jeweiligen Reliefs können wir aber nur vermuten, auch wenn ich tippen würde, dass wir einen Teil des Rätsels Lösung unter der geschwärzten Stufe finden könnten."Peter wusste, dass er den wissenschaftlichen Diskurs breiter aufgefahren hatte, als es vielleicht notwenig gewesen wäre, um seinen Punkt deutlich zu machen, dass sie ihr erworbenes Wissen nur durch eine scheinbare Wundersichtung überbewerten sollten, sondern es weiter kritisch prüfen sollten. Es hatte sicherlich für viele Laien etwas Paradoxes, wenn ausgerechnet der Kirchenmann diese Haltung trug, obwohl durch den Großteil der Kirchengeschichte gerade viele Kirchenmänner diese Vorsicht als Schild trugen. Er verlängerte seine Ansprache, um auch dabei länger über die Worte von Joris und Sergejs bezüglich eines Glaubensverlustes durch die Lebenssteine nachzudenken.
"Sehen Sie mir nach, dass ich das Mitbringen von Lebenssteinen zur Erde, selbst wenn wir die Möglichkeit dazu bekämen, strikt ablehne. Das liegt nicht an dem Schicksal einer Religion. Grundsätzlich haben sie recht, dass Religion auch von den Nachtodbildern profitiert und insofern gerade die abrahamitischen Religionen darunter leiden werden. Wir sehen es in Teilen der industriellen Welt, dass dort mit steigendem Luxus und Zufriedenheit die Anerkennung von Religion schwindet. Insofern verwenden sogar Marx Gegner hier seine Aussprache, dass Religion lediglich das Opium des Volkes sei. Es gibt auch Ausnahmen, wie die Vereinigten Staaten, in denen Religion eben nicht nur in armen, rückständigen Gebieten gelebt wird, wie viele Kritiker gerne behaupten. Selbst Sekten erheben sich vor allem in wohlhabenden Gebieten, nicht zuletzt lebt Scientology vor allem von Kontakten in die Medienwelt, wie Hollywood. Ihre Annehme streift also nur das eigentliche Probleme. Stellen Sie sich einen Buddhisten vor, der überzeugt ist von seinen Pfaden, und auf einmal mit Lebenssteinen konfrontiert würde? Aber es sind auch nicht die Probleme für die abrahamitischen oder anderer Religionen, die mich beschäftigen, sondern die Auswirkungen für alle Menschen, ganz unabhängig davon welcher Religion sie sich angehörig fühlen oder von welchen Religionen sie sich abgestoßen fühlen. Ganz unabhängig jeder möglichen, theologischen Wahrheit." Peter wandte sich jetzt mehr Sergej zu, hielt Joris aber im Gespräch.
"Grundsätzlich ist eine Religion nicht nur von ihrem Umgang mit dem Tod abhängig, sondern als Anleitung des Menschen zu einem - je nach Kultur anders definierten - gutem Leben. Ich schätze also, dass selbst unter dem Eindruck von Lebenssteinen eine Religion sich anpassen könnte oder die Besonderheit davon gesegneter Wesen herausstellen würde. Das eigentliche Problem ist die Verteilungsgerechtigkeit, denn wenn sie solche Lebenssteine mitbrächten, könnten Sie unmöglich sieben Milliarden Menschen - Tendenz steigend - damit versorgen. Gehen wir davon aus, Sie könnten, Joris. Wir wissen nicht, wie das mit Ernährung und den wirklichen Kapazitäten der Erde aussieht. Die Natalitätsrate würde die Mortalitätsrate überrunden, und die Menschen würden fortan nur noch sterben, um von den Lebenssteinen am Leben gehalten zu werden, weil irgendwann gar nicht mehr genügend Ressourcen vorhanden wären. Denken Sie daran, dass auch Ressourcen deswegen endlich sind, weil alle regenerativ sind. Sich also aus einem Zyklus von Gedeihen und Sterben entwickeln, wenn auch in unterschiedlichen Zeitfenstern. Das gilt von Steinarten über Erdöl bis zu kleinsten Bakterien. Der Mensch ist ewig, der Rest noch nicht. Das würde die Erde ausbluten lassen. Haben Sie sich schon gefragt, warum dieser Ort so trist wirkt und der alte Baum wie ein Mahnmal? Vielleicht liegt es genau daran. Wie würden Sie das Lebensgleichgewicht aufrechterhalten? Sie würden zum Richter allen Lebens werden müssen, damit jeder Mensch leben kann. Und mit Leben meine ich nicht alleine das Atmen." Dem Diakon fielen noch viel mehr Beispiele ein, aber er wollte keine zu langen Monologe führen, weshalb er zum nächsten Punkt kam.
"Oder gehen wir davon aus, Sie könnten diese Steine nicht gerecht verteilen. Die Reichen und Machthungrigen würden sie um sie reißen. Vielleicht sogar Kirchenleute, welche dies als Wunder verkaufen möchten, um ihrem Glauben wieder mehr Zulauf zu verschaffen, und das trifft auf fast jede Religion zu. Und schon hätten sie eine bevorzugte Schicht von Menschen. Stellen Sie sich vor, ein Stalin hätte einen Lebensstein gehabt? Oder ein Mao? Ich will mir dies nicht vorstellen müssen, wie zwei Klassen von Menschen sich bilden, die Bevorzugten und die Leidenden. Diese Schere haben wir schon weit genug gespreizt, ganz ohne diese Lebenssteine. Und es würde genau das passieren, was hier auch passiert ist. Erinnert ihr euch an die Korrespondenz im Schiffswrack zwischen Wässerchen und der Seherin[5]? Wie lange würde es dauern, bis sich auf der Erde Legitimationen ausbreiten über die Generation, welche die Besitzer der Lebenssteine über andere hebt und sie damit auch automatisch zu Elder Ones machen, auch im Namenssinne. Und wer weiß, vielleicht sind die Elder Ones sogar die Elder der alten Religion, nur verändert durch den ewigen Einfluss dieser suchtgebietenden Steine? Aber unabhängig der vielen, feinen Details unserer Betrachtung, die wir zum Großteil nicht klären können, weil uns die Beweismasse fehlt, können wir feststellen, ja, wissen wir es in unserem Herzen, dass es auf unsere Erde am Ende so aussehen würde wie auf Cocytos. Noch mehr Krieg, noch mehr Wahnsinn und keine Erlösung mehr. Darum bitte ich einen jeden inständig, jedem Gedanken an ein Mitnehmen der Lebenssteine zu entsagen. Die Steine sind kein Weg zurück nach Eden." Peter hatte Sergej damit im ausführlichen Rahmen rechtgegeben und fügte die mahnende Bitte an. Er hätte am liebsten jetzt über die Bedeutung des Baumes der Erkenntnis im kantschen Sinne gesprochen, aber er wollte sich nicht auf diesen Pfaden verlieren. Stattdessen fügte er wieder etwas für ihren Auftrag an.
"Ich denke, ich kann die Energiesteine nutzen, um die Terminals kurzzuschließen." Dann blickte er jedoch wieder zu Sergej und Joris, da er das Thema für mehr als spannend erachtete.